Fast ein Vierteljahrhundert, von 1929 bis 1953, war die kommunistische Weltbewegung durch eine monolithische Einheit gekennzeichnet. Alle kommunistischen Parteien der Welt (mit Ausnahme der jugoslawischen Kommunisten seit 1948) unterordneten sich der Stalin-Führung in Moskau. Jede politische Wendung des Kreml wurde wie ein ungeschriebenes Gesetz von den kommunistischen Parteien aller Länder befolgt. Ein Wink aus Moskau genügte, um mißliebige Führer abzusetzen und gewünschte einzusetzen, eine Wendung in einer sowjetischen Veröffentlichung, um die Linie jeder beliebigen Partei jäh zu verändern. Die uniforme Eintönigkeit ging soweit, daß kommunistische Parteiresolutionen Schwedens, Ceylons oder Venezuelas kaum noch voneinander zu unterscheiden waren. Gewiß gab es auch in dieser Periode — wahrscheinlich mehr als bisher allgemein angenommen wurde — ernste Widerstände gegen die Moskauer Vorherrschaft, Kritik an der von Moskau befohlenen Linie, oppositionelle Strömungen, unterschiedliche Auffassungen und Auseinandersetzungen, aber unter den damaligen Bedingungen konnten diese nicht offen ausgetragen werden. Die kommunistische Weltbewegung in jenem Vierteljahrhundert erschien damit nicht nur für die Außenwelt, sondern selbst für viele der eigenen Mitglieder als ein einheitliches von Moskau dirigiertes und geleitetes Instrument. All dies gehört jetzt weitgehend der Vergangenheit an. In wenigen Jahren hat sich die kommunistische Weltbewegung in einem erstaunlichen Ausmaß und in einem überraschend schnellen Tempo von ihrer früheren monolithischen Struktur entfernt. Die Entwicklung in den letzten Jahren hat zur Herausbildung mehrerer politischer Richtungen geführt, die zu entscheidenden politischen Fragen eine völlig unterschiedliche Stellung einnehmen, zu offenen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Flügeln und damit auch zu neuen Beziehungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Es ist nicht der sowjetisch-chinesische Konflikt selbst, sondern vielmehr seine Auswirkungen auf die kommunistische Weltbewegung, die uns hier interessieren.
Im Rahmen dieses Beitrages ist es natürlich nicht möglich, den Wandlungsprozeß im einzelnen darzustellen, wohl aber einige Haupt-etappen, einige „Brennpunkte" zu erwähnen, die uns Ausmaß und Grenzen der Wandlung verdeutlichen und uns vielleicht auch einige Anhaltspunkte über die zukünftige Entwicklung der kommunistischen Weltbewegung geben können.
Die tieferen Ursachen der „Dezentralisierung“ des Weltkommunismus liegen meiner Meinung nach vor allem in der Tatsache begründet, daß die von Stalin geprägte Funktion und Organisationsform der kommunistischen Welt-bewegung in zunehmendem Gegensatz zu den veränderten Realitäten geraten war. So, wie die inneren Veränderungen in der Sowjetunion notwendig wurden, weil sich viele Merk-Das Problem der Nachfolge Chruschtschows Seite 17 male und Methoden des von Stalin geschaffenen Systems unter den neuen Bedingungen der entstehenden modernen sowjetischen Industriegesellschaft als unbrauchbar erwiesen, so geriet die stalinsche Form des monolithischen Weltkommunismus unter Moskauer Führung in eine Krise, als an Stelle eines Landes — der UdSSR — sich eine Vielzahl, unter unterschiedlichen Bedingungen entstandener, kommunistischer Länder herausgebildet hatten; die dogmatische Ideologie konnte nicht mehr als alleinige Richtschnur, das Sowjetsystem nicht als einziges Vorbild für die so komplexen, verschiedenartigen und sich noch dazu im Wandlungsprozeß befindlichen kommunistischen Länder und Parteien dienen. Einmal in Gang gekommen, war aber dieser Wandlungsprozeß nicht mehr aufzuhalten; eine Kontroverse führte logischerweise zur nächsten.
Die „revisionistische" Phase
Der Moskau-Peking-Konflikt hätte kaum so große Auswirkungen auf die kommunistische Weltbewegung gehabt, wenn nicht der Boden dafür schon durch andere Ereignisse vorbereitet worden wäre. Mit einer gewissen Berechtigung konnte der 12 April 1948 als der Ausgangspunkt für die Abkehr von der monolithischen Struktur bezeichnet werden — jener Tag. an dem die Mitglieder des jugoslawischen Zentralkomitees in der Bibliothek des ehemaligen Schlosses von König Alexander im Belgrader Vorort Dedinje den Beschluß faßten, die sowjetischen Anschuldigungen gegen ihre eigene Partei zurüdezuweisen Damit wurde nicht nur der Beweis erbracht, daß es für eine kommunistische Partei möglich war, sich der scheinbar allmächtigen Stalin-Führung in Moskau zu widersetzen, sondern auch der Grundstein für eine von Moskau unabhängige kommunistische Entwicklung in Jugoslawien gelegt. gewissermaßen eine Entstalinisierung zur Zeit Stalins vollzogen. Erstmalig gab es nun gegenüber der stalinschen Politik eine kommunistische Alternative.
Gewiß war Stalin zu jener Zeit stark genug, den Anschluß anderer kommunistischer Parteien an die „Renegaten in Belgrad" zu verhindern. aber zweifellos hat die eigenständige Politik der jugoslawischen Kommunisten nach 1948 und ihre öffentliche marxistische Polemik gegen den Stalinismus aut nicht wenige oppositionelle Kreise in anderen kommunistischen Parteien einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Dieser Einfluß verstärkte sich schnell nach dem Tod Stalins. Mit der Einstellung der anti-jugoslawischen Kampagne, der „Entschuldigungsreise“ Chruschtschows nach Belgrad im Mai 1955 und dem Belgrader Kommunique, das erstmalig offiziell den „unterschiedlichen Weg zum Sozialismus" proklamierte
Von diesem Zeitpunkt an begannen reformkommunistische („revisionistische") Tendenzen, bis dahin auf Jugoslawien beschränkt, in der gesamten Weltbewegung eine zunehmende Rolle zu spielen. Unter dem Sammelbegriff „Revisionismus“ sind dabei alle Gruppierungen und Strömungen zu verstehen, die sich nicht auf die Verurteilung einiger „Fehler“ Stalins beschränken, sondern den Stalinismus als Ideologie und System überwinden wollen. Jede zentralistische Leitung der Weltbewegung wird abgelehnt. Die kommunistischen Parteien aller Länder sollen unabhängig voneinander operieren; ihre Zusammenarbeit soll auf bilateraler Grundlage in Form eines Erfahrungsaustauschs erfolgen, ohne dabei die eigene Autonomie zu beschränken. Der Weg zum Sozialismus hängt von den Bedingungen und Möglichkeiten des eigenen Landes ab. Jede kommunistische Partei soll daher ihre Politik im Einklang mit den historischen Traditionen und politischen, ökonomischen und kulturellen Besonderheiten des eigenen Lan-des entwickeln. Im Falle eines Sieges kommt es darauf an, den Übergang in möglichst humanen Formen zu vollziehen. In den sozialistischen Ländern sollen sich die kommunistischen Parteien nicht in alles einmischen, sondern sich auf einige zentrale Probleme und Bereiche beschränken. Auf wirtschaftlichem Gebiet ist anstelle einer zentralistischen staatlichen Planwirtschaft eine gesellschaftliche Selbstverwaltung anzustreben; in der Landwirtschaft anstelle einer Kollektivierung eine langfristige evolutionäre genossenschaftliche Entwicklung in den verschiedensten Formen. Die kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung darf nicht unter der Begründung der „Parteilichkeit" und des „sozialistischen Realismus“ eingeengt und behindert werden.
Diese reform-kommunistischen Tendenzen wurden von Moskau schon Ende Juni 1956 — fast vier Monate vor der ungarischen Revolution — als „Revisionismus“ verurteilt und schärfstens bekämpft. Die Resolution des sowjetischen Zentralkomitees
Endlich gelang es der Sowjetführung auf der vom 12. bis 14. November 1957 in Moskau tagenden internationalen kommunistischen Konferenz zunächst die 12 herrschenden Parteien auf eine gemeinsame politische Deklaration zu verpflichten und anschließend auch im Namen von 64 kommunistischen Parteien ein politisches weniger bedeutsames Friedensmanifest herauszugeben. Die Einheit sollte zusätzlich durch eine gemeinsame internationale kommunistische Zeitschrift, die seit September 1958 unter dem Titel „Probleme des Friedens und Sozialismus" erschien, verstärkt werden. Obwohl die jugoslawischen Kommunisten, wie es Chruschtschow ursprünglich gehofft hatte, die politische Deklaration nicht unterzeichneten und während der November-Beratung auch einige Konzessionen, vor allem an polnische und ungarische KP-Delegationen gemacht werden mußten
Die Sowjetführung stand so im Banne der Ereignisse von 1956/57, daß sie noch fast das ganze Jahr 1958 hindurch den Hauptschlag gegen den „Revisionismus" richtete — vor al-lem nachdem die jugoslawischen Kommunisten auf ihrem 7. Parteitag in Ljubljana ihr neues Parteiprogramm angenommen hatten —, ohne dabei in vollem Ausmaß die neuen Gefahren zu sehen, die nun von einer anderen Seite den Moskauer Führungsanspruch bedrohten.
Die Herausbildung des „dogmatischen" Flügels
Abbildung 2
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Derselbe 20 Parteitag im Februar 1956, der durch seine Verurteilung von Stalins Verbrechen und seine neuen Thesen die reform-kommunistischen („revisionistischen“) Kräfte ermuntert hatte, rief auch den ersten Widerstand der chinesischen KP hervor und leitete damit die Herausbildung des „dogmatischen" Flügels ein. Je mehr sich in den anschließenden Jahren die Sowjetführung in ihrer Innenpoli-tik und Ideologie (wenn auch unter Zögern und Rückschlägen) von stalinschen Leitsätzen entfernte und ihre Außenpolitik den Gegebenheiten des atomaren Zeitalters anpaßte, um so mehr wurde es nun möglich, die sowjetische Linie gewissermaßen von „links" zu kritisieren. Die Entwicklung der sowjetischen Raketentechnik und das Anwachsen der national-revolutionären Bewegungen in den Entwicklungsländern bot, nach Auffassung der chinesischen Kommunisten, neue weltrevolutionäre Perspektiven und damit die Möglichkeit einer revolutionären Offensive. Diese Linie, obwohl vorher bereits in einigen Andeutungen sichtbar, wurde anläßlich der 90. Wiederkehr des Geburtstages von Lenin im April 1960 in der Artikelserie „Long live Leninism!" erstmalig in der Öffentlichkeit in zusammenhängender Form vertreten
Von diesem Monat an war nun die bisher gemeinsam gegen den Revisionismus operierende Weltbewegung in sich gespalten. Es standen sich nun zwei neue Konzeptionen des Weltkommunismus gegenüber, eine „Moskauer" und eine „Pekinger", die die Unterschiede in der Entwicklungsstufe, der Aufgabenstellung, der Tradition, der Machtstellung und der internationalen Position der beiden kommunistischen Länder widerspiegelte und die Differenzierung in der kommunistischen Weltbewegung schlagartig beschleunigte.
Die sowjetische Konzeption (soweit sie die kommunistische Weltbewegung betrifft) stellt die sozialistischen Länder in den Mittelpunkt. Durch eine langfristige Periode der Koexistenz (auf staatlich-diplomatischem Gebiet, aber nicht in der Ideologie) sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß die kommunistischen Länder im Verlaufe eines wirtschaftlichen Wettbewerbs mit dem Westen das ökonomische Übergewicht in der Welt erhalten, um damit schrittweise auch politisch das Weltgeschehen entscheidend bestimmen zu können. Die kommunistischen Parteien der kapitalistischen Länder sollen diese Entwicklung unterstützen, ihr politisches Gewicht und ihren Einfluß verstärken sowie alle revolutionären Möglichkeiten nutzen, um, falls möglich, auf friedlichem Wege unter Ausnutzung des Parlaments die Macht zu ergreifen. Obwohl in einigen ideologischen Schriften die politische Machtübernahme beschrieben wird, liegt das Schwergewicht zweifellos auf der verstärkten politischen Einflußnahme der Kommunisten, nicht aber auf einem mit größeren Risiken verbundenen Umsturz. Der „Kampf für den Frieden" — also die Unterstützung entsprechender sowjetischer Vorstöße — hat den Vorrang vor revolutionären Experimenten. Ähnlich sollen auch die Kommunisten der Entwicklungsländer in der Regel nicht voreilig die Macht übernehmen, sondern vielmehr versuchen, die führenden politischen Kräfte dieser Länder zu beeinflussen und zu drängen, einen „nicht-kapitalistischen Weg" zu beschreiten.
Die Pekinger These — wenn wir uns hier wieder stichwortartig auf die für die kommunistische Weltbewegung entscheidenden Punkte beschränken — geht dagegen von der Annahme aus, das revolutionäre Zentrum der Welt habe sich in die Entwicklungsländer verlagert. Die Hauptaufgabe der kommunistischen Länder müßte darin bestehen, die revolutionäre Bewegung in den Entwicklungsländern zu fördern und diese durch eine kompromißlose Haltung gegenüber dem Westen („Imperialismus") zu unterstützen. Die „Massenorganisationen" (Friedensbewegung, Gewerkschaften, Frauen-und Jugendorganisationen) sollen sich fest in den revolutionären Kampf eingliedern, die kommunistischen Parteien in den westlichen Ländern sich für die bevorstehenden revolutionären Kämpfe rüsten. Koexistenz, ökonomischer Wettbewerb, Abrüstung und friedlicher Weg zum Sozialismus seien daher entweder als „revisionistisch" abzulehnen oder könnten bestenfalls als taktische Lösungen verwandt werden.
Die Herausbildung dieser beiden internationalen kommunistischen Konzeptionen, die untrennbar mit dem Kampf um die Führung der Weltbewegung verknüpft war, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die übrigen kommunistischen Parteien und Organisationen Diese hatten nunmehr die Möglichkeit, sich für die eine oder andere Konzeption (und damit für das eine oder andere Zentrum) zu entscheiden bzw. zwischen den beiden zu lavieren und zu manövrieren. Internationale kommunistische Tagungen, Kongresse und Konferenzen verloren von diesem Moment an das Bild der gewohnten Einheit und Eintönigkeit und verwandelten sich in Schauplätze eines mehr oder weniger erbitterten Ringens.
Schon auf der Konferenz des Weltgewerkschaftsbundes in Peking (5. bis 9. Juni 1960) wurde die Pekinger Linie von den Delegierten Albaniens und einiger asiatischen und afrikanischen Länder (Nord-Vietnam, Burma, Ceylon, Somalia, Sudan, Indonesien und Sansibar) unterstützt
Mit der Weltkonferenz der 81 kommunistischen Parteien, die am 10. November in Moskau begann und sich anstelle der vorgesehenen wenigen Tage bis zum 2. Dezember hinzog, war eine neue Stufe der Differenzierung erreicht
Auch über die Beziehungen innerhalb der kommunistischen Weltbewegung wurde hart gerungen. Der sowjetische Entwurf hatte ein Verbot der Fraktionsbildung vorgesehen. Schon in den vorbereitenden Sitzungen hatte sich die Pekinger Richtung geweigert, dies zu akzeptieren. Auf der Konferenz selbst wurde dieser Passus auf Verlangen der brasilianischen und kubanischen KP wieder eingefügt, aber die „Dogmatiker“ lehnten ihn erneut ab, so daß in der endgültigen Fassung nur allgemein die Einheit der kommunistischen Weltbewegung unterstrichen wurde. Der Vorschlag einiger Delegationen, ein ständiges Sekretariat der Weltbewegung zu bilden, wurde von der französischen und — noch stärker — von der italienischen KP-Delegation abgelehnt, die im übrigen noch darum bat, die anti-jugoslawischen Bemerkungen abzuschwächen und (mit Recht) bemängelte, daß die Deklaration zu langatmig sei und viele Wiederholungen enthalte.
Die ,, albanische“ Kontroverse
Abbildung 3
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Tatsächlich war die anschließende am 5. Dezember 1960 veröffentlichte Deklaration der 81 kommunistischen Parteien nicht nur ein Kompromiß, sondern eine kautschukartige Zusammenstellung verschiedener wiederspruchs-voller Thesen. Die verschiedenen Richtungen konnten sich nun auf die ihnen jeweils zusagenden Formulierungen stützen und dabei stets für sich in Anspruch nehmen, „im Geiste der Deklaration von 1960" zu handeln.
Wie wenig die Meinungsverschiedenheiten in Wirklichkeit überbrückt waren, zeigte unter anderem der — zweimal verschobene — 4. Parteitag der albanischen KP (13. bis 20. Februar 1961), auf dem die Anhänger der sowjetischen Richtung, wenn auch ideologisch verklausuliert, gegen die albanischen Gastgeber polemisierten, die griechische KP-Delegation aus Protest den Kongreß verließ, während die chinesischalbanische Linie von den KP-Delegationen Nord-Koreas, Nord-Vietnams, Indonesiens, Burmas und Ceylons (wenn auch in unterschiedlicher Stärke) unterstützt wurde
Der 22. Kongreß der sowjetischen KP (14. bis 30. Oktober 1961), ursprünglich zur Propagierung des sowjetischen Parteiprogramms einberufen, diente nun einer scharfen Abrechnung mit Stalin und der stalinschen Vergangenheit, neuen Beschuldigungen „parteifeindliche gegen die Gruppe" und vor allem einem sowjetischen Generalangriff gegen die albanischen Kommunisten, die von den Sowjetführern auf dem Kongreß als „Spalter" und „Renegaten" gebrandmarkt wurden
Das Resultat des 22. Parteitags war eine weitere Differenzierung. Die jugoslawischen, polnischen und vor allem italienischen Kommunisten benutzten den anti-dogmatischen Charakter des Kongresses, um von sich aus die Verurteilung des Stalinismus und den Polyzentrismus in der Weltbewegung weiter voranzutreiben). Die Pekinger Gruppierung wurde nun durch die öffentliche Annäherung Nord-Koreas verstärkt, die, ebenso wie die kommunistischen Parteien Chinas, Nord-Vietnams, Burmas, Thailands, Malayas und Neuseelands (die australischen Kommunisten hatten sich inzwischen wieder der Moskauer Linie genähert), demonstrative Grußschreiben an die von Moskau ausgestoßenen albanischen Kommunisten sandten
Die „kommunistischen Neutralen"
Die Situation war inzwischen so verwirrend geworden, daß einige kommunistische Parteien — allerdings von einer völlig unterschiedlichen Position aus — sich dafür einsetzten, die Meinungsverschiedenheiten auf einer neu einzuberufenden Weltkonferenz zu überbrücken. Der (damals nicht veröffentlichte) Versöhnungsvorschlag der KP Nord-Vietnams im Januar 1962 wurde bald darauf von den kommunistischen Parteien Schwedens, Großbritanniens, Neuseelands und Indonesiens unterstützt
Die sowjetisch-chinesische Auseinandersetzung hatte sich im Frühjahr und Frühsommer 1962 vorübergehend abgeschwächt und wurde zeitweilig in ideologisch verklausulierter Form ausgetragen; die Pekinger Richtung drückte durch indirekte Anspielungen aus, daß die sowjetische Politik der Kautskys und Bern-steins gleiche
Der „dogmatische" Flügel (der um jene Zeit aus den kommunistischen Parteien Chinas, Albaniens, Nord-Koreas, Burmas, Thailands, Malayas und Neuseelands und den sympathisierenden Parteien Indonesiens und Japans bestand, sowie in den Massenorganisationen einiger Entwicklungsländer manchen Rückhalt hatte) drängte im Dezember 1962 auf die baldige Einberufung einer kommunistischen Weltkonferenz, in der Hoffnung, dort neue Anhänger für sich gewinnen zu können
Besonders bedeutungsvoll aber, auf längere Sicht gesehen, war jedoch, daß Chruschtschow in seiner Rede am 16. Januar 1963 in OstBerlin erstmals ideologisch sanktionierte, was in der Praxis in den letzten Jahren geschehen war. Während bis dahin als sakrosankt galt, daß es zwischen kommunistischen Parteien verschiedener Länder keine Meinungsverschiedenheiten geben könne, weil sie alle „auf dem Boden des Marxismus-Leninismus" stehen, erklärte Chruschtschow jetzt, solche Dif-ferenzen seien durchaus möglich und natürlich. „Selbstverständlich ist es nicht ausgeschlossen, daß die kommunistischen Parteien verschiedener Länder unterschiedliche Auffassungen in einzelnen und sogar in sehr wichtigen Fragen vertreten können". Die von Peking geforderte baldige Einberufung einer Weltkonferenz mit Begründung von Chruschtschow der abgelehnt, eine solche Konferenz würde „keine ruhige und vernünftige Über-windung der Meinungsverschiedenheiten, sondern deren Zuspitzung und die Gefahr einer Spaltung mit sich bringen“. Es sei viel mehr zweckmäßig, zunächst „die Polemik zwischen den kommunistischen Parteien einzustellen und eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, damit sich, wie man so sagt, die Gemüter beruhigen"
Aussöhnung oder Bruch?
Damit begann ein fast drei Monate dauernder grotesker öffentlicher Briefwechsel zwischen Moskau und Peking über die Frage, wann und wo das Treffen stattfinden und worüber beraten werden sollte. Erst Mitte Mai einigten sich beide Kontrahenten darauf, sich am 5. Juli in Moskau zu treffen. Während dieser mehrmonatigen Verhandlungen wurde die Differenzierung des Weltkommunismus jedoch durch zwei neue wichtige Ereignisse verstärkt.
Das eine war die „rumänische Affäre". Schon im Spätherbst 1962 war es zu einer scharfen sowjetisch-rumänischen Kontroverse von Historikern über die Frage gekommen, ob das Antonescu-Regime im Herbst 1944 in erster Linie von sowjetischen Truppen oder von rumänischen Kommunisten gestürzt worden sei. Das demonstrative Fernbleiben des rumänischen Parteiführers Gheorghiu Dej vom Parteikongreß in Ost-Berlin zeigte deutlich an, daß es sich keineswegs nur um einen historischen Disput handelt. Die rumänischen Kommunisten wollten vielmehr ihr Industrialisierungsprogramm fortsetzen und widersetzten sich daher auf der Februar-Sitzung des COMECON einer weiteren Integration. Im März rief die Bukarester Führung eine besondere Tagung des Zentralkomitees ein, informierte anschließend auf geschlossenen Parteiversammlungen ihre Mitglieder über die Meinungsverschiedenheiten und weigerten sich auch auf der April-Sitzung des COMECON, die vorbereiteten Beschlüsse anzunehmen. Die zunehmenden wirtschaftlichen Kontakte Rumäniens mit dem Westen und die gleichzeitig — als Drohung gegenüber Moskau gedachte — Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Albanien (Mitte April) und der Abdruck chinesischer Erklärungen am 20. Juni zeigten deutlich an, daß nun auch die rumänische KP, die seit langem als treuer Satellit Moskaus galt, eigene Wege beschritt.
Die zweite noch bedeutendere Verschärfung der Situation ergab sich dadurch, daß die chinesischen Kommunisten während der Vorbereitungen des Moskauer Treffens keineswegs auf die öffentliche Polemik verzichteten, sondern im Gegenteil neue scharfe Anklagen gegen die KP Frankreichs
All dies war bereits kein sehr positiver Hintergrund für das sowjetisch-chinesische Treffen am 5. Juli. Völlig aussichtslos aber wurde die Aussöhnung, als Mitte Juni die chinesische KP-Führung unter dem Vorwand einer Tagesordnung für die sowjetisch-chinesischen Verhandlungen ein ausführliches 25-Punkte-Programm veröffentlichte, in dem systematisch, klar und scharf die politischen Vorstellungen der dogmatischen Richtung zusammengefaßt waren
Die Veröffentlichung des 25-Punkte-Programms, das sofort von Pekinger Aktivisten in der Sowjetunion und einigen anderen kommunistischen Ländern illegal verbreitet wurde, führte nicht nur zu einer erneuten Verschärfung der staatlichen Beziehungen, sondern machte auch eine scharfe Moskauer Antwort notwendig. In seinem „Offenen Brief“ vom 14. Juli widerlegte das sowjetische Zentralkomitee nicht nur die Pekinger Anschuldigungen, sondern verkündete seinerseits auch genau so scharf, klar und detailliert die eigene Konzeption in allen einzelnen Punkten
Die Kontroverse um die Weltkonferenz
Die Auseinandersetzung hatte nun ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Das Pekinger Zentrum veröffentlichte am laufenden Band scharfe anti-sowjetische „Kommentare“
Damit schien der Sowjetführung der Zeitpunkt gekommen, um nun von sich aus eine kommunistische Weltkonferenz einzuberufen und auf dieser die „Spalter" der Pekinger Richtung ein für alle Mal auszuschließen und damit die übrigen kommunistischen Parteien wieder unter festere Disziplin zu stellen. Davon zeugte zunächst die offensichtlich von Moskau inspirierte Erklärung der KP Portugals, recht bald eine kommunistische Weltkonferenz einzuberufen und auf dieser Konferenz einen einheitlichen (ganz offensichtlich gegen den Pekinger Flügel gerichteten) Beschluß zu fassen, wonach jede Einmischung einer kommunistischen Partei in die Angelegenheiten einer anderen untersagt wird Keine Partei soll das Recht haben, mit den Mitgliedern der Partei eines anderen Landes ohne die Zustimmung der betreffenden Parteiführung politische Verbindungen aufzunehmen
Aber schon wenige Tage später wurde die Kampagne für die geplante Anti-Peking-Weltkonferenz abgebrochen
Unter diesem Widerstand mußte die Sowjetführung auf die geplante Anti-Peking-Weltkonferenz verzichten und stellte sich seit Anfang November 1963 wieder auf eine „weichere“ Linie um. Bis zum Jahresbeginn 1964 hatten sowohl die KPdSU als die mit ihr verbündeten Parteien die Polemik gegen Peking stark eingeschränkt; erst die Zukunft wird zeigen, ob es sich hierbei um eine kurzfristige oder langfristige Wendung handeln sollte.
Zukunftsperspektiven
Die hier nur kurz erwähnten Hauptetappen und Brennpunkte in der Wandlung der kommunistischen Weltbewegung in den letzten Jahren lassen jedoch, wie mir scheint, bereits einige Schlußfolgerungen zu.
Zunächst fällt es auf, daß der Differenzierungsprozeß alle organisatorischen Gliederungen der kommunistischen Weltbewegung erfaßt hat; sowohl die kommunistischen Staaten als auch die kommunistischen Parteien in den entwikkelten westlichen Industrieländern und in den Entwicklungsländern, sowie schließlich — sogar in einem ganz besonders großen Maße — die unter kommunistischer Führung stehenden Massenorganisationen (Weltfriedensbewegung, Weltgewerkschaftsbund, Weltbund der demokratischen Jugend, Internationale demokratische Frauenföderation usw.).
Der Differenzierungsprozeß hat jedoch nicht dazu geführt, daß sich alle 90 kommunistischen Parteien der Welt und alle nationalen Sektionen der Massenorganisationen klar und säuberlich in eine Pro-Peking-und eine Pro-Moskau-Richtung einteilen lassen. Es haben sich vielmehr mehrere Gruppierungen und Strömungen herausgebildet, wobei sich viele (aber keineswegs alle) Parteien mehr oder weniger vage um die beiden wichtigsten Zentren — Moskau und Peking — gruppieren.
Die Entscheidung einer kommunistischen Partei oder Organisation „für Peking“ braucht keineswegs eine hundertprozentige Zustimmung zu den Volkskommunen oder der Pekinger Stellung zu Stalin zu beinhalten, sondern bedeutet meist nicht viel mehr, als daß die Führung einer kommunistischen Partei des entsprechenden Landes aus eigenen Interessen heraus sich mit einigen grundsätzlichen Thesen Pekings verbunden fühlt Ebenso optieren viele kommunistische Parteien oder Organisationen „für Moskau“, weil die sowjetischen Konzeptionen ihren eigenen Bedingungen und ihren eigenen Interessen am ehesten entsprechen. Auch andere Faktoren, wie etwa frühere Verbindungen der betreffenden Partei zu dem einen oder anderen Zentrum, verschiedene Former der organisatorischen oder finanziellen Abhängigkeit (darunter die Ausbildung der Funktionäre), ja selbst Zufälle können hierbei mitunter eine Rolle spielen. Vor allem dürfen nicht jene kommunistischen Parteien unterschätzt werden, die zwischen den beiden Konzeptionen lavieren und manövrieren, sowie die „Neutralen“, von denen einige sich am liebsten aus allem heraushalten wollen, während andere bestrebt sind, durch immer neue Versöhnungsvorschläge die Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken Auf diese Weise haben sich nicht nur zwei Flügel in der kommunistischen Weltbewegung herausgebildet, sondern bereits ein Fülle von Zwischenstufen und Schattierungen.
Unter diesen Gesichtspunkten sollten auch die möglichen Zukunftsperspektiven beurteilt werden. Die eine Möglichkeit wäre eine Wieder-aussöhnung zwischen Moskau und Peking und damit auch der Versuch, zur früheren monolithischen Einheit der kommunistischen Welt-bewegung, vielleicht in etwas „moderneren“
Formen, zurückzukehren. Sicher gibt es in der kommunistischen Weltbewegung verschiedene Kräfte, die dies wünschen und danach streben, und es ist damit zu rechnen, daß auch in Zukunft wiederholt Versuche in dieser Richtung unternommen werden. Der Konflikt im Weltkommunismus hat jedoch inzwischen einen solchen Grad erreicht, daß die Möglichkeit einer völligen Aussöhnung oder gar einer Rückkehr zur monolithischen Struktur recht gering erscheint. Selbst ein Führungswechsel in einem der beiden kommunistischen Zentren — Mao ist im November 1963 70 Jahre alt geworden, und Chruschtschow erreichte im April 1964 das gleiche Alter — würde wohl kaum ausreichen, um die frühere, vor 1953 bestehende Einheit des Weltkommunismus wiederherzustellen. Zu viel ist in den letzten Jahren geschehen, zu tief sind die Widersprüche, als daß es möglich wäre, diese mit einem einzigen Führer-Treffen, einem Kommunique oder einer Entschuldigung aus der Welt zu schaffen. Die zweite Möglichkeit wäre die offene organisatorisch verankerte Spaltung des Weltkommunismus in eine Moskauer und eine Pekinger Richtung Dies könnte zum Beispiel dadurch geschehen, daß die Pekinger Richtung zunächst eine eigene offizielle internationale kommunistische Zeitschrift gründet, anschließend eigene „anti-imperialistische" Konferenzen und Kongresse einberuft und schließlich eine eigene „Internationale" der Pekinger Richtung des Kommunismus formieren würde. In einem solchen Fall würde Peking neben den bisher erwähnten kommunistischen Parteien vor allem die militanten, manchmal mit dem Kommunismus kaum verbundenen aktivistischen national-revolutionären Kräfte verschiedener Entwicklungsländer um sich scharen, und es würde sich damit eine Bewegung herausbilden, die sich wahrscheinlich weit von dem unterscheidet, was bisher als „kommunistisch" bezeichnet worden ist. Zweifellos sind Ansätze für eine solche Entwicklung schon deutlich zu erkennen, obwohl dabei nicht außer acht gelassen werden sollte, daß sich viele Parteien der kommunistischen Weltbewegung einer endgültigen organisatorischen Spaltung mit allen Kräften widersetzen werden.
Die bisherige Entwicklung im Weltkommunismus hat jedoch beide extreme Lösungen vermieden. Auf der einen Seite sind bisher alle Versuche einer Aussöhnung und Rückkehr zur Einheit gescheitert, auf der anderen Seite haben beide Zentren zwar entsprechende Vorbereitungen für eine offene, endgültige organisatorische Spaltung getroffen, aber bis jetzt davon abgesehen, den letzten entscheidenden Schritt in dieser Richtung zu tun. Es ist daher durchaus denkbar, daß auch in Zukunft sich der Differenzierungsprozeß zwischen diesen beiden radikalen Varianten noch eine gewisse Zeit fortsetzt. In einem solchen Fall ist es wahrscheinlich, daß sich die kommunistischen Länder (trotz vieler Gemeinsamkeiten) in ihrer praktischen Politik immer mehr voneinander unterscheiden und daß sich schrittweise auch ein neues Verhältnis zwischen den führenden kommunistischen Zentren und den übrigen in westlichen Industriestaaten und Entwicklungsländern tätigen kommunistischen Parteien und Organisationen herausbildet. Beide Zentren, Moskau wie Peking, sind heute schon vielfach nicht mehr in der Lage, durch eine einfache Anordnung eine sofortige hundertprozentige Unterstützung der eigenen politischen Linie zu erreichen. Je weiter der Differenzierungsprozeß verläuft, um so mehr werden die kommunistischen Parteien und Sektionen der Massenorganisationen aus untergebenen Befehlsempfängern zu umworbenen Verbündeten, die ein gewisses, im Verhältnis zur Stalin-Ära sogar relativ großes, Maß an Entscheidungsfreiheit erlangen. Kommunistische Parteien und Organisationen werden sich damit mehr und mehr auf die inneren Probleme konzentrieren können und nicht mehr ihre Hauptaufgabe darin sehen, Propaganda für Moskau (oder Peking) machen zu müssen Eine längere Fortsetzung der Differenzierung würde zweifellos auch mit zunehmenden Debatten, Diskussionen und Ausein14 andersetzungen in der kommunistischen Welt-bewegung verbunden sein Damit aber würden die Parteien und Organisationen mehr und mehr ihre dogmatische Einstimmigkeit und einschläfernde Eintönigkeit überwinden und zu lebendigeren und vitalen Organisationen werden, die vielleicht in einigen Ländern eine größete Anziehungskraft und einen steigenden politischen Einfluß erhalten können.
Die Veränderungen in der kommunistischen Weltbewegung sollten daher vielleicht nicht ausschließlich als Tendenz zu einer Spaltung, sondern auch als Differenzierung, nicht nur als Konflikt zwischen verschiedenen Zentren, sondern auch als Herausbildung neuer Beziehungen, und nicht unbedingt als Schwächung, sondern auch als beginnende Wandlung gesehen werden.
Das Problem der Nachfolge Chruschtschows
Trn Juni 1959 sprach Averell Harriman mit Chruschtschow und Mikojan. Im Verlaufe des Gesprächs erwähnte Chruschtschow, daß Stalin keinen Nachfolger ernannt hätte und erklärte, er, Chruschtschow, werde diesen Fehler nicht wiederholen. Sich an Mikojan wendend, fügte er hinzu: »Anastas und ich sind übereingekommen, daß dieser Fehler nicht noch einmal gemacht wird. *
Diese Bemerkungen Chruschtschows stellen keineswegs einen Einzelfall dar. In den letzten Jahren hat Chruschtschow wiederholt auf sein hohes Alter angespielt und das Nachfolgeproblem auch in öffentlichen Reden angedeutet. Im März 1961 meinte Chruschtschow, er sei . bereits Urgroßvater*
Alle diese und eine Reihe anderer Aussagen sowie eine Fülle von indirekten Hinweisen zeugen davon, daß das Nachfolgeproblem nicht nur im Westen diskutiert, sondern auch von der Sowjetführung selbst erkannt wird. Den gegenwärtigen Führern der UdSSR sind die Folgen der Auseinandersetzung nach dem Tode Lenins (1924— 1929) und dem Tode Stalins (1953— 1958) wohl bekannt; es ist daher mit Sicherheit anzunehmen, daß die gegenwärtige Sowjetführung bestrebt ist, ähnliche Erschütterungen in der Zukunft zu vermeiden. Es bleibt jedoch die Frage, ob dies in der Praxis unter sowjetischen Bedingungen möglich ist, da die Nachfolgekrisen im Sowjetsystem offensichtlich durch tiefere Ursachen begründet sind.
Die folgenden Faktoren scheinen mir dabei die bedeutendsten zu sein:
1. Trotz mancher gemeinsamer Interessen der politischen Machtelite der UdSSR und der offiziell verkündeten „moralisch-politischen Einheit* gibt es in den führenden Kreisen der sowjetischen Gesellschaft ernsthafte politische Meinungsverschiedenheiten und Differenzen, die beim Vorhandensein einer intakten Führung meist nur indirekt zum Ausdruck kommen, jedoch beim Fehlen eines Spitzenführers leicht zu offenen Konflikten führen können.
2. Diese politischen Widersprüche sind eng, ja oft untrennbar mit funktionellen Kontroversen zwischen den verschiedenen Apparaten verknüpft, sowohl zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Parteiapparates als auch zwischen dem Parteiapparat und den anderen Machtsäulen des Systems.
3. Die politischen und funktionellen Widersprüche werden durch persönliche Machtkämpfe zwischen einzelnen Sowjetführern verschärft, die sich dabei auf unterschiedliche Kräfte stützen und unterschiedliche politische Konzeptionen vertreten.
4. Die genannten Kontroversen erlangen besondere Bedeutung, da in der UdSSR unklare Führungsverhältnisse bestehen. Es ist weder Im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre standen (und stehen) vor allem zwei entscheidende Probleme, die oft miteinander eng verknüpft sind.
Das eine ist das Problem der Entstalinisierung im weiteren Sinne des Wortes, d. h. die Frage, in welchem Tempo, mit welchen Methoden und in welchem Ausmaß sich das sowjetische System von den stalinschen Formen und Methoden lösen und den neuen veränderten Bedingungen der entstehenden sowjetischen Industriegesellschaft anpassen soll
In diesen Auseinandersetzungen nehmen, was unter den Bedingungen des Sowjetsystems verständlich ist, Fragen der Wirtschaftspolitik einen dominierenden Raum ein. Die harten Auseinandersetzungen über die Verteilung der Investitionen, über die Frage, welche Wirtschaftszweige die Priorität erhalten sollten, standen dabei in den letzten Jahren im Vordergrund. Auch über das Verhältnis zwischen moralischen und materiellen Anreizen, über die Formen und Methoden der Wirtschaftsplanung, über die Rolle der Partei und ihre Organe in der Wirtschaft, über die Beziehungen zwischen zentraler Kontrolle und örtlicher Initiative ist wiederholt hart gerungen worden In der sowjetischen Landwirtschaftspolitik eindeutig festgelegt, wie sich die verschiedenen Organe der Führung (Zentralkomitee, Parteipräsidium, Präsidium des Ministerrats und ZK-Sekretariat) zueinander verhalten, noch welche Funktionen die erwähnten Organe ausüben. Es gibt weder eine Regelung für die personellen Umbesetzungen in der Führung noch für den Machtübergang von einem Spitzenführer zu seinem Nachfolger.
Es sind diese vier Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel meiner Auffassung nach in erster Linie das Nachfolgeproblem in der Sowjetunion bestimmen und die hier kurz betrachtet werden sollen.
Die politischen Kontroversen
kam es zu Kontroversen über Chruschtschows Neuland-Kampagne, über das Verhältnis von Sowchosen zu Kolchosen, über die anzuwendenden Anbaumethoden, über die Struktur des Landwirtschaftsapparats und über Ausmaß und Grenzen des Privateigentums der Kolchosbauern. Auf dem Gebiet des Staatsaufbaus und der Gesetzgebung haben Auseinandersetzungen stattgefunden über die Funktionen des Staatssicherheitsdienstes, über das Verhältnis zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Organen, über Ausmaß und Grenzen der Rehabilitierungen von Opfern Stalins, über die Veränderungen der Gesetzgebung der Stalin-Ära und über die Ausarbeitung der neuen Verfassung.
Die nachstalinsche Entwicklung hat darüber hinaus gezeigt, daß auch in anderen Bereichen keineswegs immer eine Übereinstimmung in der Führung In der herrschte. Nationalitäten-politik kam es zu Kontroversen über das Verhältnis zwischen dem russischen Volk und den nicht-russischen Nationalitäten sowie über die im Parteiprogramm verkündete . Verschmelzung der Völker'(wobei auch der Sprachunterricht in den nicht-russischen Schulen eine erhebliche Rolle spielte). In der Sozialpolitik fanden Auseinandersetzungen über die Mitwirkung der Arbeiter und Angestellten an der Betriebsleitung, die Rolle der Gewerkschaften und die Verwirklichung bestimmter sozialer Maßnahmen statt In der Kulturpolitik kam es offensichtlich zu bedeutsamen Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Partei und den Schriftstellern und Künstlern und über die Frage, bis zu welchem Ausmaß sowjetischen Schriftstellern und Künstlern eine Kritik an der stalinschen Vergangenheit und an einzelnen Erscheinungen des Systems zu gestatten sei. Auf dem Gebiet der Ideologie gab es schließlich nicht wenige Kontroversen über die Frage der Abkehr von einigen ideologischen Thesen Stalins, der Darstellung der Stalin-Periode in der sowjetischen Geschichtsschreibung, den Beziehungen zwischen der offiziellen Parteiideologie und den neueren Wissenszweigen (Soziologie, Sozialpsychologie, Kybernetik etc.) sowie schließlich auch über die These des Parteiprogramms von der Verwandlung der „Diktatur des Proletariats" in einen „Staat des gesamten Volkes".
Neben diesen Auseinandersetzungen hat es auch offensichtlich Meinungsverschiedenheiten in der Sowjetführung über bestimmte Probleme der sowjetischen Außenpolitik und, vor allem in Verbindung mit dem Konflikt Moskau—Peking, über verschiedene Aspekte der kommunistischen Weltbewegung gegeben. Obwohl die Meinungsverschiedenheiten hierbei nicht so deutlich zum Ausdruck kamen wie bei den vorher erwähnten innenpolitischen Fragekomplexen, darf man doch annehmen, daß es innerhalb der Sowjetführung recht unterschiedliche Auffassungen über die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen zu westlichen Ländern, darunter auch über Abrüstung und das sowjetische Verhalten während der Kubakrise sowie über die Beziehungen zu den führenden Kräften der Entwicklungsländer gegeben hat 8).
Die hier angedeuteten politischen Meinungsverschiedenheiten sind sowohl durch öffentliche Polemiken Chruschtschows gegen „manche Genossen" oder „einige Genossen“ zum Ausdruck gekommen ’) — ein Ausdruck, der fast immer dann verwandt wird, wenn es sich um ernstere Kräfte in den führenden Kreisen handelt — als auch durch den häufigen Wechsel der „Linie" und den Zickzack-Kurs, der zwar nicht immer, wohl aber häufig ein Ergebnis von Kontroversen in der Führung ist.
Zu verschiedenen Zeiten standen dabei verschiedene Streitfragen im Mittelpunkt. Solange jedoch ein Spitzenführer die absolut dominierende Rolle spielt, werden die politischen Kontroversen meist durch seine Entscheidung gelöst, wobei, falls seine Position vorübergehend geschwächt ist, er bestimmten Gruppierungen nachgibt. Bei einem politischen Interregnum in der Führung aber muß man damit rechnen, daß diese Meinungsverschiedenheiten weit offener zum Ausdruck kommen, daß sie mehr und mehr in der Öffentlichkeit ausgetragen und daß damit auch weitere Kreise der Bevölkerung in diese Auseinandersetzung hineingezogen werden.
Die funktionellen Kontroversen
Die Festlegung einer politischen Linie in der einen oder anderen Frage ist häufig von den funktionellen Interessen dieses oder jenes Apparats kaum zu trennen. Die nachstalinsche Entwicklung hat eine Fülle von Beispielen dafür gegeben, wie sehr die Auseinandersetzungen über die Entstalinisierung mit der Frage verknüpft war, unter wessen Führung diese Umgestaltung erfolgen sollte, in welchem Ausmaß bestimmte Apparate an der Lösung bestimmter Fragen und der Verwirklichung bestimmter Ziele mitwirken oder gar die entscheidende Verantwortung tragen sollten.
Die funktionellen Kontroversen, die sich in den Jahren 1953— 1957 zwischen den einzelnen Machtsäulen und Apparaten abspielten, sind zu bekannt, als daß sie hier wiederholt zu werden brauchen. Nach der Zurückdrängung des Staatssicherheitsdienstes und dem schrittweisen Vordrängen des Parteiapparates gegenüber der Staatsverwaltung sowie der Festigung der Vorherrschaft der Partei über die Armee übernahm die Partei seit 1957/58 immer direkter wirtschaftliche Funktionen. Es ist dabei interessant festzustellen, daß die zunehmenden wirtschaftlichen Funktionen des Parteiapparats selbst in den Reihen der Parteifunktionäre keineswegs immer gern gesehen wurden. Chruschtschow mußte sich mehrmals über Parteifunktionäre beschweren, weil sich diese lieber auf ihre politisch-organisatorische Tätigkeit beschränken und nicht mit wirtschaftlichen Detailfragen überlastet werden wollten
Je mehr der Parteiapparat die anderen Macht-säulen verdrängte und seine Vorherrschaft über alle Lebensbereiche ausdehnte, um so mehr zeigte sich die Tendenz, daß die Auseinandersetzung, die sich früher zwischen den verschiedenen Machtsäulen (Parteiapparat, Staatsverwaltung, Wirtschaftsbürokratie, Armee. Staatssicherheitsdienst) abspielten, nun mehr und mehr innerhalb des Parteiapparates selbst ausgetragen wurden. Die kommunistische Partei, die heute 9 368 000 Mitglieder und 830 000 Kandidaten zählt
würde diese Widersprüche schlagartig ans Tageslicht bringen. Dabei wird man nicht nur Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Flügeln des Parteiapparats erwarten dürfen. Wahrscheinlich werden auch die übrigen Machtsäulen, die in den letzten Jahren weitgehend dem Parteiapparat untergeordnet wurden, wieder versuchen, sich zu verselbständigen und einen zunehmenden Einfluß auf die politische Entwicklung des Landes zu nehmen.
Die personellen Widersprüche in der Führung
Nach offizieller sowjetischer Ansicht gibt es in der Sowjetführung weder personelle Rivalitäten noch personelle Machtkämpfe. Typisch für die Beschreibung der Beziehungen innerhalb der sowjetischen Spitzenführung ist etwa die folgende Erklärung Chruschtschows: „Der führende Kern der Partei ist keine durch persönliche Beziehungen oder gegenseitige Vorteile verbundene Gruppe von Menschen, sondern ein tätiges Kollektiv von leitenden Genossen, deren Beziehungen sich auf prinzipieller ideologischer Grundlage aufbauen, die weder gegenseitige Nachsicht noch persönliche Feindschaft zuläßt."
Die Wirklichkeit zeigt allerdings ein recht anderes Bild — nämlich, daß auch die Sowjetführung keineswegs von persönlichen Macht-kämpfen frei ist. Die personellen Auseinandersetzungen in der sowjetischen Spitzenführung sind gekennzeichnet a) durch die eigentümliche Doppelfunktion eines Mitglieds der Spitzenführung, b) die heterogene Zusammensetzung des Parteipräsidiums und c) durch die Existenz persönlicher Rivalitäten.
Tatsächlich üben die Mitglieder des Partei-präsidiums — und dies trifft vor allem für die nachstalinsche Periode zu — eine gewisse Doppelfunktion aus. Auf der einen Seite sind sie innerhalb des Parteipräsidiums für bestimmte Sachgebiete verantwortlich und damit in gewisser Hinsicht die Interessenvertreter bestimmter Apparate. Anderseits aber sind sie als Mitglieder des höchsten Führungsgremium für die gesamte Situation des Landes verantwortlich und müssen die Gesamtinteressen der Führung gegenüber Einzelinteressen bestimmter Apparate und Gruppierungen vertreten. In Zeiten, da die Führung intakt ist, wird häufig das Gesamtinteresse überwiegen, in Perioden aber, da es Mißverständnisse in der Führung gibt, sehen sich einzelne Mitglieder des Parteipräsidiums in erster Linie als Vertreter einzelner Apparate oder Gruppierungen, wobei die frühere Parteikarriere des Betreffenden und persönliche Sympathien oder Antipathien eine wichtige Rolle spielen können.
Hinzu kommt, daß die sowjetische Spitzen-führung — wobei hier in erster Linie die Mitglieder des Parteipräsidiums betrachtet werden — keineswegs so homogen ist, wie es die offizielle sowjetische Meinung hinstellt. Gewiß gibt es bei den gegenwärtigen Mitgliedern des Parteipräsidiums manche Gemeinsamkeiten, gleichzeitig aber auch recht interessante Unterschiede im Alter, in der Ausbildung, in der Parteikarriere, im politischen Profil und auch in der Rolle, die dieser oder jener Spitzenführer in der Stalin-Ära gespielt hat. Schon diese kurze Darstellung läßt einige interessante Rückschlüsse zu. Zunächst fallen die großen Altersunterschiede auf. Sie schwanken zwischen Poljanskij (47 Jahre) bis zu Kuusinen (82 Jahre). Zur Gruppe der Älteren dürfte neben Kuusinen auch noch Schwernik (76), Chruschtschow (70) und Mikojan (69)
gezählt werden. Podgorny, Kosygin und Suslow stehen am Beginn ihrer 60er Jahre.
Breshnjew, Kirilenko, Koslow und Woronow sind zwischen 54 und 58. Das Durchschnittsalter der gegenwärtigen Mitglieder des Partei-präsidiums ist mit 62 Jahren überraschend hoch.
Was den Bildungsstand anbelangt, so ist deutlich ein Unterschied zwischen den jüngeren und den älteren Präsidiumsmitgliedern zu erkennen. Während die älteren — von dem Sonderfall Kuusinen abgesehen — meist über keine Hochschulbildung verfügen, haben alle neuen Führer, die in den letzten Jahren in das Parteipräsidium aufrückten, eine Hochschule absolviert (meist in den dreißiger Jahren), wobei die technische Ausbildung eindeutig überwiegt. Nur zwei der gegenwärtigen Spitzen-führer erhielten zusätzlich noch eine spezielle ideologische Ausbildung — Poljanskij an der Partei-Hochschule und Woronow am Institut für Marxismus-Leninismus in Nowosibirsk. Interessant erscheinen auch gewisse Unterschiede in der Parteikarriere. Nur drei der gegenwärtigen Führer (Schwernik, Kuusinen und Mikojan) gehörten der bolschewistischen Partei bereits vor der Oktoberrevolution von 1917 an, zwei weitere (Chruschtschow und Suslow) wurden Parteimitglieder während der Lenin-Ära, während alle übrigen sieben Mitglieder des Parteipräsidiums zwischen 1926 und 1931 in die Partei eintraten, das heißt zu einer Zeit, als diese von Stalin geführt und geprägt wurde. Ein etwas anderes Bild ergibt sich dagegen, wenn wir das Datum der Aulnahme in das Zentralkomitee betrachten, das heißt jenen Zeitpunkt, da der Betreffende in die Parteielite aufsteigt. Nur zwei der heutigen Führer (Mikojan und Schwernik) gehörten dem ZK bereits seit den zwanziger Jahren an, als die Mitkämpfer Lenins noch eine Rolle spielten; vier der heutigen Führer (Chruschtschow, Kosigyn, Suslow und Kuusinen) rückten während der Stalin-Ära in das ZK auf.
Sechs der gegenwärtigen Präsidiumsmitglieder sind dagegen erst unmittelbar vor Stalins Tod oder sogar erst 1956 in das Zentralkomitee aufgestiegen; der entscheidende Teil ihrer Parteikarriere liegt damit in der nachstalinsehen Zeit.
Von besonderer Bedeutung — auch für die eventuellen zukünftigen Auseinandersetzungen um die Nachfolge — ist die Frage, wie sich die gegenwärtigen Mitglieder des Parteipräsidiums während der Stalin-Ära, vor allem während der großen Säuberung von 1936— 1938, verhalten haben.
Von den gegenwärtigen Spitzenführern waren vier — Chruschtschow, Schwernik, Kuusinen und Suslow — an der großen Säuberung von 1936 bis 1938 in der einen oder anderen Form aktiv beteiligt; Chruschtschow als Parteisekretär von Moskau (bis Januar 1938) und anschließend als Parteisekretär in der Ukraine, Schwernik als Mitglied des Orgbüros, Kuusinen in der Kominternführung und Suslow als Parteisekretär von Rostow. Eine gewisse Sonderposition nimmt dagegen Mikojan ein, der zwar seit 1935 Vollmitglied des Politbüros war, die entscheidenden Jahre von 1936— 1938 jedoch als Volkskommissar für Nahrungsmittelindustrie verbrachte (und überlebte) und sich in der damaligen Wachsamkeitskampagne als einziges Mitglied des Politbüros sehr zurückhielt. Frol Koslow war zwar als Ingenieur in Ischewsk an der großen Säuberung von 1936— 1938 nicht beteiligt, hat jedoch die letzte Säuberungskampagne Stalins Ende 1952 und Anfang 1953 aktiv unterstützt
Die übrigen sechs gegenwärtigen Präsidiumsmitglieder dürften jedoch in der Frage des Stalinterrors ein relativ reines Gewissen haben. In den Schreckensjahren von 1936— 1938 war Breshnjew Ingenieur in einem Hüttenwerk in Dsershinsk, Kosigyn Direktor der Spinnerei „Roter Oktober" in Leningrad, Podgorny Chef-ingenieur einer ukrainischen Zuckerfabrik, Kirilenko projektierte in einem Betrieg Flugzeugmotore, Woronow hatte einen kleinen unbedeutenden Parteiposten in einem Stadtteil von Tomsk und Poljanskij war Student an einer landwirtschaftlichen Hochschule in Charkow. ist Die Spitzenführung damit keineswegs so homogen, wie dies offiziell in der Sowjetunion verkündet wird. Unterschiedliche Stellungnahmen der Spitzenführer sind unter diesen Umständen leicht denkbar. Hinzu kommt, daß Chruschtschow selbst bereits mehrmals dafür Beispiele gab, wie eng politische Meinungsverschiedenheiten mit persönlichen Rivalitäten zwischen den Sowjetführern verknüpft sind. So ist, laut Chruschtschow, der „Rat für Kolchosangelegenheiten" gegen Ende der Stalin-Ära nicht etwa aus politischen Gründen aufgelöst worden, sondern wegen persönlicher Rivalitäten zwischen Malenkow und dem damaligen Politbüromitglied Andrejew
Schließlich hat Chruschtschow die Existenz persönlicher Feindschaften zwischen Sowjet-führern — wenn auch für die Zeit vor 1957 — unmißverständlich bestätigt, als er erklärte: „Manche Genossen kennen die persönliche Feindschaft zwischen Woroschilow und Molotow, zwischen Woroschilow und Kaganowitsch, zwischen Malenkow und Woroschilow.“
Bei den bisherigen Beispielen handelt es sich nur um solche, die in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Da sich die Sowjetführer aus begreiflichen Gründen nur sehr ungern über die interne Situation in der Führung aussprechen, wird man annehmen dürfen, daß persönliche Rivalitäten in der Führung auch in vielen anderen Fragen zum Ausdruck gekommen sind.
Die unklare Führungssituation
Die politischen, funktionellen und personellen Kontroversen sind für das Nachfolgeproblem um so wichtiger und bedeutender, als viele entscheidende Führungsprobleme in der UdSSR keineswegs institutionell geregelt und geklärt sind. Zwischen der realen Machtsituation und den entsprechenden Dokumenten über die Sowjetführung — die Verfassung der UdSSR und Parteistatut — besteht ein beträchtlicher, ja in manchen Fällen geradezu grotesker Widerspruch.
In Wirklichkeit wird man mit einiger Sicherheit annehmen können, daß das Parteipräsidium, das gegenwärtig (Frühjahr 1964) aus zwölf Mitgliedern besteht, das höchste Führungsorgan der UdSSR ist. Es ist das einzige Gremium, das über alle Lebensbereiche — Innenpolitik, Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Mi-litärfragen, Kulturpolitik und Ideologie — die entsprechenden Beschlüsse fassen kann, ohne dabei in der Regel irgend jemandem verantwortlich oder rechenschaftspflichtig zu sein. Das Parteipräsidium übt seine Tätigkeit in engster Zusammenarbeit mit zwei anderen Gremien aus — dem ZK-Sekretariat und dem Präsidium des Ministerrats.
Das ZK-Sekretariat ist dabei das Spitzen-gremium des „reinen“ Parteiapparats, das heißt jenes Organ, das die Wünsche und Forderungen des Parteiapparats an das Präsidium heranträgt, Beschlüsse des Parteipräsidiums (vor allem, soweit sie Parteifragen betreffen) vorbereitet sowie den Parteiapparat zur Verwirklichung der Beschlüsse des Partei-präsidiums mobilisiert. Das Verhältnis zwi-schen Parteipräsidium und ZK-Sekretariat hat sich wiederholt verändert. Vor allem in den Nachfolgekrisen — sowohl nach Lenins Tod als auch nach Stalins Tod — hat das ZK-Sekretariat eine besonders große Rolle gespielt und in beiden Fällen dem Nachfolger als Sprungbrett und Instrument für seinen Macht-aufstieg gedient, um anschließend wieder in seiner Bedeutung etwas reduziert zu werden.
Die gegenwärtige Verbindung zwischen dem aus zwölf Mitgliedern bestehenden Partei-präsidium und den 14 Mitgliedern des ZK-Sekretariats wird personell auch dadurch verdeutlicht, daß sechs Führer (Chruschtschow, Breshnjew, Suslow, Podgorny, Koslow und Kuusinen) gleichzeitig beiden Gremien angehören. Ähnlich wie das ZK-Sekretariat auf Partei-ebene stellt das Präsidium des Ministerrats auf staatlicher Ebene die Verbindung zwischen dem Parteipräsidium und der Staatsverwaltung her. Das Präsidium des Ministerrats trägt die Wünsche und in einigen Fällen auch Forderungen des Staatsapparates (darunter manchmal auch bestimmter Wirtschaftskreise)
an das Parteipräsidium heran und ist auf der anderen Seite auch für die praktische Verwirklichung der Beschlüsse des Parteipräsidiums auf dem staatlichen Sektor verantwortlich. Das vierte Gremium der sowjetischen Spitzen-führung, das Zentralkomitee, besteht seit dem XXII. Parteitag (Oktober 1961) aus 175 Voll-mitgliedern und 155 Kandidaten und umfaßt damit die 330 höchsten Funktionäre nicht nur des Parteiapparats, sondern auch anderer Apparate und Bereiche. Solange die kleineren Gremien der Spitzenführung — in erster Linie das Parteipräsidium und das ZK-Sekretariat — intakt und einheitlicher Auffassung sind, ist das Zentralkomitee oft nicht mehr als eine Tribüne zur Verkündung der Beschlüsse und ein Forum, um die Öffentlichkeit für die Verwirklichung der neuen Aufgaben zu mobilisieren. Bei ernsten Kontroversen in den kleineren Spitzengremien aber — wie dies vor allem die Ereignisse Ende Juni 1957 zeigten — kann das Zentralkomitee vorübergehend zu einem entscheidenden Machtzentrum werden. In den meisten Fällen wirkt das Zentralkomitee als ein Organ, das mithilft, die Beschlüsse des Parteipräsidiums zu verwirklichen, gleichzeitig aber die Möglichkeit besitzt, bestimmte Veränderungen in diesen Beschlüssen durchzusetzen — vor allem was das Tempo und die Methoden der Durchführung anbetrifft.
Dieses wirklich bestehende Verhältnis zwischen den vier Führungsgremien der UdSSR ist jedoch nirgends offiziell formuliert.
Die beiden entscheidenden Dokumente über die Führungsgremien — die Verfassung der UdSSR und das Parteistatut — halten vielmehr an einer fiktiven Trennung der höchsten Gremien der Partei und des Staates fest; beide Dokumente widersprechen einander und vermitteln darüber hinaus ein Bild, das von der Realität recht weit entfernt ist. Die sowjetische Verfassung stellt den Obersten Sowjet der UdSSR und das Präsidium des Obersten Sowjets in denMittelpunkt, während die entscheidenden Führungsgremien der Partei. — das Partei-präsidium, ZK-Sekretariat und das Zentralkomitee — überhaupt nicht erwähnt werden. Umgekehrt nimmt das Parteistatut von den in der Verfassung genannten höchsten Organen der UdSSR keinerlei Notiz, sondern beschränkt sich auf eine Darstellung der Partei-gremien, wobei das Zentralkomitee — im Widerspruch zur Realität — als das führende Organ herausgestellt wird, während das Partei-präsidium und das ZK-Sekretariat höchst unvollständig in wenigen Worten beschrieben werden.
Die Arbeitsweise des Parteipräsidiums ist nirgends fixiert
Was die Einsetzung von Spitzenführern anbelangt, so läßt sich aus indirekten Hinweisen entnehmen, daß die Vorschläge des Ersten Parteisekretärs in den letzten Jahren dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Während seiner häufigen Reisen durch die Sowjetunion verschaffte sich Chruschtschow ein Bild über die Gebietssekretäre der Partei und erwähnte diese dann in einem Bericht („Sapiska") an das Parteipräsidium. Eine günstige Erwähnung in einer solchen „Sapiska" hat bereits mehrmals dazu geführt, daß der Betreffende schon bald danach als Kandidat oder Vollmitglied in das Parteipräsidium aufrückte
Mit der Annahme des neuen Parteistatuts im Oktober 1961 wurde der erste Versuch sichtbar, die personellen Umbesetzungen in der Führung generell zu regeln. Laut Artikel 25 soll bei jeder neuen „Wahl" des Zentralkomitees und des Parteipräsidiums jeweils ein Viertel der Mitglieder ausgewechselt werden. Die Mitglieder des Parteipräsidiums sol-len „in der Regel" diesem Gremium nicht länger als drei Wahlperioden (also 12 Jahre) angehören. Ausgenommen davon sind jedoch diejenigen Parteiführer, die sich durch eine allgemein anerkannte Autorität sowie hohe politische und organisatorische Fähigkeiten auszeichnen. Falls sie in einer Geheimabstimmung mindestens drei Viertel aller Stimmen erhalten, dürfen sie dem Parteipräsidium auch eine längere Zeit angehören
Im Parteistatut wird jedoch nichts gesagt, ob diese Regelung auch für den Ersten Parteisekretär gilt, wie überhaupt Ernennung, Funk-tion und Aufgabenstellung und eventuelle Absetzung eines Ersten Parteisekretärs während seiner Amtszeit in keinem offiziellen sowjetischen Dokument erwähnt werden. Lediglich ein einziges Mal ist die sowjetische Bevölkerung darüber unterrichtet worden, daß während des XVII. Parteitages (Januar 1934) „bei einigen Delegierten des Kongresses" der Gedanke entstanden sei, „Stalin vom Posten des Generalsekretärs auf eine andere Arbeit zu überführen“
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß auch die personelle Regelung des Nachfolgeproblems in keinem offiziellen Dokument erwähnt wird. Die bekannten historischen Erfahrungen zeugen jedoch davon, daß entsprechende Hinweise und Vorschläge eines Parteiführers für seine Nachfolge bisher zu keinem Erfolg geführt haben. Der Versuch Lenins, in seinem Testament seine Gedanken über die Nachfolge zum Ausdruck zu bringen und in einem Zusatz die Absetzung Stalins vorzuschlagen, ist bekanntlich gescheitert. Sein Schreiben wurde lediglich in einem kleinen Gremium verlesen, und es wurde dabei mit Stimmenmehrheit beschlossen, es geheimzuhalten. Erst im Juni 1956, mehr als 34 Jahre später, wurde Lenins Schreiben veröffentlicht
Zukunftsperspektiven
Es bleibt die Frage, wie sich die genannten politischen, funktionellen und personellen Widersprüche — angesichts des Fehlens institutioneller Regelungen vieler entscheidender Führungsprobleme — im Verlaufe einer Nachfolgeperiode widerspiegeln werden. Die Schwierigkeit, in dieser Hinsicht irgendwelche Prophezeiungen über die sowjetische Entwicklung zu machen, ist offensichtlich. Es hat wohl niemanden im Westen gegeben, der zu Lenins Zeiten prophezeit hätte, daß Stalin einmal der Nachfolger Lenins werden und später die engsten Mitkämpfer Lenins als ausländische Spione hinrichten lassen würde. Nur wenige Menschen dürften auch zu Lebzeiten Stalins vorausgesagt haben, daß Chruschtschow einmal Stalins Nachfolger werden und nur drei Jahre nach dem Tod Stalins den verstorbenen Diktator schärfstens verurteilen und schließlich sogar Stalins Leiche aus dem Mausoleum entfernen würde. Jeder Versuch, sich mit der voraussichtlichen zukünftigen Entwicklung zu beschäftigen — und es hat in der letzten Zeit eine ganze Reihe solcher Versuche gegeben
Mit dieser ausdrücklichen Einschränkung läßt sich heute lediglich sagen, daß für die Führer nach Chruschtschow zunächst wahrscheinlich drei politische Probleme im Vordergrund stehen werden: a) ob die Entstalinisierung im breiten Sinne des Wortes fortzusetzen ist oder nicht, und falls ja, in welcher Richtung, mit welchen Zielsetzungen, b) wie der Widerspruch zwischen den offensichtlich zu hoch gestellten Zielen des Parteiprogramms und den realen Entwicklungsmöglichkeiten zu lösen ist und c) ob die führende Rolle der Partei und ihres Apparats in der gegenwärtigen Form aufrechtzuerhalten ist.
Wahrscheinlich wird die Frage einer weiteren Entstalinisierung zunächst im Blickfeld der zukünftigen Führer stehen. In verschiedenen Kreisen der sowjetischen Gesellschaft, besonders der Manager, der Wirtschaftswissenschaftler, der Schriftsteller und Künstler, haben sich unzweifelhaft die Reformströmungen verstärkt, verbunden mit der Erkenntnis, daß das gegenwärtige System, selbst in der von Chruschtschow etwas modernisierten Form, offensichtlich auf die Dauer nicht unverändert aufrechterhalten werden kann. Das Drängen vieler Wirtschaftskreise auf eine ernsthafte Reformierung des Wirtschaftssystems, das mutige Eintreten von Intellektuellen und Künstlern für größere Freiheiten in der Literatur und Kunst, die wachsende Unzufriedenheit über die Einmischung des Parteiapparats und seiner Organe in alle Bereiche des Lebens, das Streben weitester Kreise der sowjetischen Bevölkerung nach einer Verbesserung des Lebensstandards und die beginnende Herausbildung einer öffentlichen Meinung in der UdSSR — alle diese Tendenzen sind zu deutlich, als daß sie übersehen werden könnten. Es erscheint interessant, daß auch Chruschtschow sich genötigt sah, gegen die These zu polemisieren, wonach „mit der Entwicklung der Kultur in der Sowjetunion sich die Gesellschaftsordnung wandeln werde"
So bedeutsam diese Tendenzen und Strömungen auch sind, so sehr muß man jedoch damit rechnen, daß weitere Reformen des Sowjet-kommunismus auf ernste Widerstände größerer Teile des Staats-und Parteiapparats stoßen werden und sich daher die weitere Entwicklung wahrscheinlich durch harte Auseinandersetzungen zwischen Reformern und konservativen Apparatschiks auszeichnen wird. Die Möglichkeit einer „Restalinisierung“ erscheint zwar unwahrscheinlich, ist jedoch keineswegs völlig ausgeschlossen, da es keine absoluten Garantien gibt, die eine Rückkehr zum Stalinismus völlig unmöglich machen würden. So kann man nicht völlig die Möglichkeit ausschließen, daß einige Spitzenfunktionäre der Nach-Chruschtschow-Ära durch eine „Restalinisierung" versuchen werden, die Verselbständigung verschiedener Kräfte der Sowjetgesellschaft und auch die Differenzierungen im Weltkommunismus aufzuhalten und eine erneute schärfere Kontrolle anzustreben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sowohl der Sowjetunion als auch der kommunistischen Weltbewegung dürfte es allerdings kaum wahrscheinlich sein, daß ihnen auf die Dauer eine solche „Restalinisierung" gelingen würde.
In den meisten Veröffentlichungen wird daher eine Fortsetzung der Entstalinisierung — wenn auch unter Auseinandersetzungen — als die wahrscheinlichste Variante angesehen. Bei einer weiteren Entwicklung der Entstalinisierung wird man, zumindest nach den heutigen Bedingungen zu urteilen, weder mit einem Abgehen von den bestehenden Eigentumsformen noch mit einer Entwicklung zu einer parlamentarischen Demokratie rechnen können. Viel wahrscheinlicher dürften weitere Veränderungen innerhalb und auf dem Boden des sowjetischen Systems sein, die trotzdem in ihrer Bedeutung nicht gering eingeschätzt werden sollten. So könnte man sich vorstellen, daß in einer weiteren Zukunft ideologische Beweggründe eine etwas geringere Rolle spielen, wirtschaftlich-technische Erfordernisse dagegen eine größere Bedeutung erlangen. In einem solchen Fall würde wohl das bürokratische Plansystem drastisch beschränkt und durch eine Dezentralisierung die einzelnen Industrie-unternehmungen sowie Kollektivwirtschaften und Staatsgüter eine bedeutend größere Selbständigkeit erhalten. In der Wirtschaft würden Marktelemente stärker eingeführt und demgemäß auch das bisherige administrative Preissystem verändert werden. In den Betrieben wird man eine stärkere Teilnahme von Arbeitern und Angestellten an der Betriebsleitung erwarten dürfen, in der Landwirtschaft entweder gewisse Konzessionen an die Privatinitiative (Vergrößerung des privaten Hoflands und des privaten Viehbestandes) oder aber, was wahrscheinlicher ist, eine Regelung, wonach die Kolchosbauern wirklich einen nennenswerten Teil der Einkünfte für sich behalten und damit zum erstenmal an der Produktionssteigerung der Kolchose materiell interessiert werden.
Ein zweites Problem der Ära nach Chruschtschow dürfte darin bestehen, daß die weit-gesteckten Ziele des Parteiprogramms nicht erreicht werden und der Widerspruch zwischen den programmatischen Zielen und der Wirklichkeit immer größer wird. Dies gilt sowohl für das Nahziel, bis zum Jahre 1970 die USA in der Produktion pro Kopf der Bevölkerung zu überflügeln als auch in noch weit größerem Maß für die Zielsetzungen bis 1980. Bis dahin sollen ja, laut Parteiprogramm, nicht nur die Industrieproduktion gegenüber 1960 auf das Sechsfache und die Landwirtschaftsproduktion auf das Dreieinhalbfache ansteigen, sondern gleichzeitig auch Wohnungen, Wasser, Gas, Heizung sowie die kommunalen öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos sein und außerdem alle Werktätigen der UdSSR die Hauptmahlzeit (Mittagessen?) umsonst erhalten. Auch die Erklärung, bis 1980 würde die Arbeit „zum ersten Lebensbedürfnis aller (!) Mitglieder der Gesellschaft" werden, ist wohl etwas zu optimistisch. Je näher das Jahr 1980 rückt, desto mehr werden damit die Nachfolger Chruschtschows vor der schwierigen Aufgabe stehen, den Widerspruch zwischen dem bis dahin tatsächlich erreichten Stand und den im Parteiprogramm verkündeten Zielen entweder zu erklären oder irgendwie zu überbrücken. Drei Möglichkeiten bieten sich dabei an. Erstens: Die Führung findet einige Sündenböcke, denen die Schuld für Nicht-Erfüllung des Parteiprogramms in die Schuhe geschoben wird (es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn dazu ausgerechnet Chruschtschow auserkoren würde!). Zweitens: Die Führung erklärt, es sei möglich, den Kommunismus auch ohne die Erfüllung der im Parteiprogramm vorgesehenen Ziele zu erreichen und gibt dabei eine neue Definition und Beschreibung des kommunistischen Endziels, die sich den Realitäten und Möglichkeiten der sowjetischen Entwicklung anpassen (damit allerdings würde das Endziel beträchtlich an Anziehungskraft verlieren). Drittens: Das Parteiprogramm gerät mehr und mehr „in Vergessenheit" und wird durch ein neues, realistischeres ersetzt. Dies könnte entweder stillschweigend vor sich gehen oder aber durch eine öffentliche Kritik an den Autoren des Parteiprogramms von 1961, denen dann etwa „Subjektivismus", „Überschätzung der eigenen Möglichkeiten", ja vielleicht sogar „Abenteuertum" vorgeworfen würde.
Ein weiteres Problem für die Zeit nach Chruschtschow ist sowohl politischer wie funktioneller Natur: die zukünitige Rolle und Funktion der Partei und des Parteiapparats. Es ist kaum wahrscheinlich, daß in der Periode nach Chruschtschow auf die Dauer die kommunistische Partei und ihr Apparat weiterhin gleichzeitig die Funktion des ideologischen Verkünders („Licht unseres Lebens“, „beseligende Kraft", „Herz und Hirn unserer Epoche"), politischen Machtzentrums („richtungweisende Kraft der Sowjetgesellschaft") und praktisch -wirtschaftlich -technischen Leitungsorgans aufrechterhalten kann. Mit der weiteren Entwicklung der immer komplizierter werdenden Sowjetgesellschaft wird es immer schwieriger, diese widersprüchlichen Funktionen miteinander zu vereinbaren. Eine Führung nach Chruschtschow wird sich daher früher oder später wahrscheinlich für eine Veränderung der Rolle der Partei entscheiden müssen. Dies könnte entweder dadurch geschehen, daß die Partei aus den praktischen technisch-wirtschaftlichen Fragen zurückgezogen und sie mehr und mehr auf die Funktionen des politisch-ideologischen Machtzentrums beschränkt wird, das heißt eines Organs, das die ideologischen Thesen verkündet, die politische Generallinie bestimmt und die entscheidenden Schlüsselpositionen besetzt, alle praktischen Fragen aber den örtlichen Behörden, Managern und Technikern überläßt. Eine andere Möglichkeit würde darin liegen, die Partei und ihren Apparat mehr und mehr auf wirtschaftlich-technische Fragen zu konzentrieren, damit aber notgedrungen die politisch-ideologische Funktion der Partei zu vernachlässigen.
Die zukünftige Rolle der Partei und ihres Apparats ist eng mit der Frage verbunden, ob und inwieweit andere Krälte der sowjetischen Oberschicht die Möglichkeit erhalten, einen zunehmenden Einfluß auf die politischen Geschicke des Landes zu erlangen. Es ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß in Zukunft Bedeutung und Einfluß der Wirtschaftler, Techniker, Manager und Wissenschaftler steigen und auch andere Kräfte der sowjetischen Oberschicht (wie zum Beispiel die Armee) in den Führungsorganen stärker repräsentiert werden. Bereits die Praxis der sowjetischen Spitzenführung, in den letzten Jahren vor der Beschlußfassung entsprechende Tagungen und Konferenzen von Spezialisten zu dem betreffenden Sachgebiet einzuberufen, zeigt eine solche Tendenz an Man könnte sich vorstellen, daß in einer weiteren Entwicklung diese ad hocKonferenzen zu einer ständigen Einrichtung und vielleicht sogar auch institutionalisiert werden, beziehungsweise daß die verschiedenen Kreise der sowjetischen Oberschicht durch ständige repräsentative Gremien einen größeren Einfluß auf die politischen Geschicke des Landes erhalten.
In welchem Tempo sich die weiteren Reformen des Sowjetkommunismus vollziehen werden, hängt weitgehend davon ab, wie lange die Nachfolgekrise dauern und welche Intensität sie haben wird. Manches scheint dafür zu sprechen, daß bei einer längeren Nachfolge-krise die verschiedenen Gruppierungen in der Führung sich mehr und mehr genötigt sehen könnten, an breitere Kreise der Sowjetbevölkerung zu appellieren; dies würde wahrscheinlich zu einer Beschleunigung der Entstalinisierung führen. Dabei darf man sowohl Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb des Parteiapparats erwarten als auch eine zunehmende Verselbständigung der übrigen Machtsäulen (vor allem der Wirtschaft, der Armee und des Staats-apparats), die in den letzten Jahren mehr und mehr dem Parteiapparat untergeordnet wurden. Es ist durchaus möglich, daß bei einer längeren Auseinandersetzung auch die Armee als Machtfaktor stark in Erscheinung treten wird aber wohl kaum, um die Macht selbst zu übernehmen, sondern vielmehr in erster Linie, um in dem Ringen zwischen den verschiedenen Kräften die eine oder andere Seite zu unterstützen, wobei eine solche Unterstützung sogar den Ausschlag im Kampf um die Nachfolge geben kann.
Bei einer Nachfolgekrise, vor allem wenn sie einen längeren und schärferen Charakter annimmt, wird man mit persönlichen Machtkämpfen einzelner Führer oder Führergruppen rechnen müssen. Nach Analogien der Vergangenheit wäre es denkbar, daß zunächst in der ersten Periode erneut eine kollektive Führung die Macht übernimmt (wobei auch vorübergehend die Spitzen der Partei und des Staates erneut personell getrennt werden), oder daß sich die widerstrebenden Kräfte zunächst auf einen wenig profilierten „ÜbergangsFührer“ einigen. Auf die Dauer aber dürfte dabei derjenige Führer die größten Chancen haben, die Nachfolge Chruschtschows zu übernehmen, der a) beim Ausgangsstadium bereits in zwei der entscheidenden Führungsgremien vertreten ist (vor allem: Parteipräsidium und ZK-Sekretariat), b) einen entscheidenden Einfluß auf die Personalangelegenheiten (Kader-frage) des Parteiapparats besitzt, c) über eine eigene Machtbasis verfügt (zum Beispiel die Unterstützung der wichtigsten Parteiorganisationen Moskaus, Leningrads und der Ukraine genießt)
Manches spricht dafür, daß die Nachfolger Chruschtschows bereits einer neuen Generation und einem neuen Typ anghören werden, d. h. aus Führern bestehen, die eine gewisse technische Ausbildung besitzen, an Stalins Verbrechen nicht beteiligt waren und den Höhepunkt ihrer Karriere erst in der nach-stalin-sehen Periode erlebten. Von den jetzigen Führern dürften die beiden Vertreter der älteren Generation Kuusinen und Schwernik ausscheiden und wahrscheinlich wohl auch Suslow in Zukunft kaum als aussichtsreicher Nachfolge-Kandidat in Frage kommen. Ein Comeback des im Frühjahr 1963 erkrankten und degradierten Koslow ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber, nach den gegenwärtigen Verhältnissen zu urteilen, recht unwahrscheinlich. Mikojan, nur ein Jahr jünger als Chruschtschow, wird kaum selbst für sich Nachfolgeschaft erstreben, dürfte jedoch durch seinen Einfluß und seine Autorität eine wichtige Rolle bei den Auseinandersetzungen spielen. Sein Eintreten für diesen oder jenen Kandidaten kann dabei von großer Bedeutung sein. Kosigyn, der über große ökonomische Erfahrung verfügt, scheint zu sehr mit der Staatsverwaltung und zu wenig mit dem Parteiapparat verbunden, als daß er als ernsthafter Kandidat für die Parteispitze in Frage käme. Unter den gegenwärtigen Bedingungen (Frühjahr 1964) stehen Leonid Breshnjew und Nikolai Podgorny, die beide sowohl dem Partei-präsidium als auch dem ZK-Sekretariat angehören, als aussichtsreichste Kandidaten im Mittelpunkt der Betrachtung. Aber dies bedeutet keineswegs, daß sie sich in der Nachfolge auch tatsächlich duchsetzen werden. Es erscheint daher angebracht, auch die weitere Entwicklung der neueren Mitglieder des Partei-präsidiums zu verfolgen. Dies gilt in erster Linie für Kirilenko, während Woronow sich bisher noch zu sehr auf Landwirtschaftsfragen konzentriert, um als allround-Führer angesehen zu werden, und die Position Poljanskijs seit der Degradierung Koslows etwas geschwächt erscheint. Von den Kandidaten des Parteipräsidiums sind die meisten in ihrer Bedeutung auf eine bestimmte Unionsrepublik beschränkt; lediglich Jefremow und Grischin könnten in einer weiteren Entwicklung eine größere Bedeutung erlangen. Da in der Vergangenheit in Führungskrisen das ZK-Sekretariat eine entscheidende Rolle gespielt hat, sollten zumindest einige Mitglieder dieses Gremiums — etwa der Leiter für Kaderfragen Vitalij Titow und der für Partei-und Staatskontrolle zuständige Alexander Schelepin — bei den zu erwartenden Auseinandersetzungen in der Führung nicht völlig übersehen werden.
In der personellen Führungssituation kann sich jedoch bis zu dem Moment, da das Nachfolge-problem in ein akutes Stadium tritt, noch viel ändern, und einige gegenwärtig im Zentrum stehende Führer können an Einfluß verlieren, während andere neue Funktionäre ihre Plätze einnehmen werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber wird die Nachfolge mit einem Generationswechsel und dem Übergang zu einem neuen Führertyp verbunden sein. Niemand wird voraussagen können, wie sich diese Nachfolgekrise im einzelnen abspielen wird, und sicher wird man mit unvorhergesehenen Ereignissen und vielleicht Überraschungen rechnen müssen. Die grundlegenden hier angeschnittenen Fragenkomplexe aber — das Problem der Entstalinisierung im weiteren Sinne des Wortes, der Widerspruch zwischen dem Parteiprogramm und den realen Entwicklungsmöglichkeiten und die zukünftige Rolle der Partei und ihres Apparats — dürften in der einen oder anderen Form bei diesen Ereignissen eine wichtige Rolle spielen.