i.
Die sowjetische Einstellung zur Entwicklung der europäischen Einheit ist sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich durch ihren ambivalenten Charakter gekennzeichnet. Der Kreml hat sich außerstande gezeigt, die europäische Bewegung richtig einzuschätzen, und wechselte daher von einer Reaktion zur anderen über. In der Zwischenzeit schufen die Veränderungen innerhalb der kommunistischen Welt, die durch die chinesisch-sowjetische Spaltung noch verstärkt wurden, die Voraussetzungen für ein neues geschichtliches Verhältnis zwischen den westlichen und den östlichen Teilen des alten Kontinents. II.
Der Vertrag von Rom, der EURATOM und den Gemeinsamen Markt ins Leben rief, wurde am 25. März 1957 unterzeichnet. Er stellte keine plötzliche Maßnahme dar. Als Ergebnis jahrelanger Diskussionen und ausgedehnter Verhandlungen bildete er den Schlußpunkt der Bemühungen, die mit dem Marshall-Plan Ende der vierziger Jahre ihren Anfang genommen hatten. Trotz dieser langwierigen Vorbereitungszeit waren die sowjetischen Führer jedoch zunächst offenbar nicht in der Lage, die volle Bedeutung des Gemeinsamen Marktes zu erkennen, und ihre Reaktion darauf zeichnete sich infolgedessen durch ein hohes Maß an Verwirrung und Inkonsequenz aus.
In den seither verstrichenen sieben Jahren unterzogen die Sowjets ihre Analyse der europäischen Entwicklungen, des Gemeinsamen Marktes, der Rolle der Vereinigten Staaten, des Wiederaufstiegs Frankreichs und des neuen deutsch-französischen Verhältnisses verschiedenen radikalen Revisionen; diese wurden zum Teil durch den schnellen Fluß der Ereignisse erforderlich. Es wäre falsch, zu behaupten, daß Flexibilität in der Analyse an sich schon einen Beweis für die Unzulänglichkeit der ursprünglichen Analyse darstellt. Sowjetische Äußerungen lassen aber auch die Tatsache erkennen, daß die für die Planung der sowjetischen Politik Verantwortlichen sich große Mühe geben mußten, um die Auswirkungen der neuen Realität richtig zu ermessen, die sich irgendwie in ihre ideologisch ausgerichteten Kategorien einpassen ließ.
Eine Untersuchung der wesentlichen sowjetischen Erklärungen und, was noch wichtiger ist, der Diskussionen in den seriösen sowjetischen außenpolitischen Organen zeigt, daß man die Entwicklung und Revision des sowjetischen Denkens unter vier aufeinander folgende Grundgedanken gruppieren kann, von denen sich jeder natürlich mit dem nächsten in gewissem Umfang überschneidet. Dieser letztere Hinweis ist deshalb wichtig, weil es irreführend wäre, zu behaupten, daß zu irgendeiner Zeit die sowjetische Einstellung fest und absolut starr gewesen wäre; innerhalb eines bestimmten breiten Spektrums fand die Diskussion fortlaufend statt.
So läßt sich allgemein sagen, daß unmittelbar vor der Unterzeichnung des Vertrages und eine Weile danach die sowjetischen Sprecher mit besonderem Nachdruck den Gedanken vertraten, daß politisch gesehen der Gemeinsame Markt ein amerikanisches Komplott zum Zwecke der Unterordnung Europas darstelle und daß er wirtschaftlich gesehen ohne Bedeutung sei. Ende der fünfziger Jahre verlagerte sich die Betonung auf die von Deutschland verkörperte politische Drohung (oder als Variante auf die Gefahr einer gemeinsamen amerikanisch-deutschen Hegemonie), während vom wirtschaftlichen Standpunkt aus der Gemeinsame Markt eine ambivalente Wertung erfuhr — er wurde nicht mehr einfach als unbedeutendes Nichts beiseite geschoben, aber andererseits noch nicht ganz ernst genommen. Anfang der sechziger Jahre war die politische Analyse von Unsicherheit gekennzeichnet, insbesondere hinsichtlich der Definition der sowjetischen Einstellung zur britischen Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt; wirtschaftlich gesehen wurde die Ambivalenz aber durch eine bestenfalls nur leicht verschleierte Furcht vor den Auswirkungen des Gemeinsamen Markts auf die kommunistische Welt ersetzt. Schließlich begann die politische Analyse seit Mitte des Jahres 1962 die hauptsächliche Betonung auf die deutsch-französische Drohung zu legen, während die wirtschaftlichen Analysen jede offene Bekundung „imperialistischer Widersprüche“ begrüßten. Im Juni 1957 veröffentlichte das maßgebende Moskauer Institut für Weltwirtschaft und Internatioanale Beziehungen seine grundlegenden Thesen „über die Schaffung des Gemeinsamen Markts und EURATOMS", in welchen es kategorisch die von einigen Förderern des Gemeinsamen Markts vorgebrachte Idee als illusorische Hoffnung abtat, daß er Europa schließlich einmal von Amerika unabhängig machen würde. Außerdem wurde er von sowjetischen Beobachtern, die in den maßgeblichen " International Affairs” schrieben, als Ausdruck einer ihm innewohnenden kapitalistischen Tendenz zur Ausübung der Herrschaft „durch eine führende imperialistische Macht über andere" und als Weg zur „amerikanischen Vormundschaft über Frankreich und ganz Westeuropa" bezeichnet. Als Ergebnis würden die westeuropäischen Länder jeder Möglichkeit „beraubt", eine unabhängige Wirtschaftspolitik zu betreiben. Der Vertrag wurde als „eines der wichtigsten Glieder in der Kette der wirtschaftlichen und politischen Unterordnung Europas unter die aggressiven Pläne des amerikanischen Monopolkapitalismus" definiert. Die Autoren, die damit zum ersten Mal einen Gedankengang erwähnten, der später die Hauptrolle spielen sollte, wiesen aber warnend darauf hin, daß auf lange Sicht gesehen Westdeutschland der Nutznießer des Vertrages sein würde.
Bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit wurde den wirtschaftlichenGesichtspunkten gewidmet. Zum Beispiel wurde auf einer gemeinsamen Sitzung des Redaktionsstabes von " International Affairs” und der Wirtschaftspolitischen Abteilung der Akademie für Politökonomie des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im April 1958, die sich mit dem Thema „Die gegenwärtige wirtschaftliche Lage in der kapitalistischen Welt" beschäftigte, der Gemeinsame Markt nur gerade eben am Rande und ganz flüchtig erwähnt, während sich das Interesse vielmehr auf die ideologisch befriedigendere Frage der „Verschärfung der Widersprüche" in Westeuropa konzentrierte. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß diese Widersprüche von ihrem Ursprung her unlösbar waren und daß der Gemeinsame Markt an ihnen scheitern würde.
Zum Teil aus taktischen Gründen und zum Teil vielleicht auch aus echter Besorgnis heraus hatte die Sowjetunion von 1958 an auch den Gedanken der deutschen Überlegenheit in Westeuropa zu betonen begonnen. Es war nicht überraschend, daß diese Warnungen am häutigsten an Frankreich adressiert wurden, in Übereinstimmung mit der allgemeinen Stoßrichtung der sowjetischen Propaganda von dem Augenblick an, als der Westen Anfang der fünfziger Jahre begonnen hatte, die deutsche Wiederbewaffnung in Gang zu bringen. Der Gemeinsame Markt wurde immer stärker als eine gemeinsame amerikanisch-deutsche Verschwörung dargestellt, die besonders darauf abgestellt war, die Unterordnung Frankreichs herbeizuführen. In sowjetischen Zeitschriften erschienen zahlreiche Artikel, die „bewiesen", daß westdeutsche Monopole ihren Einflußbereich über ganz Westeuropa erstreckten und damit den amerikanischen Versuch unterstützten, die politische Oberherrschaft zu erringen. Hinsichtlich der französischen Interessen wurde entweder erklärt, daß diese von den verantwortungslosen führenden Klassen Frankreichs geopfert wurden oder daß sie diesem überwältigenden Ansturm gegenüber machtlos waren. Das dauernde Leitmotiv bestand in der Behauptung, daß die französischen und die deutschen nationalen Interessen miteinander unvereinbar seien. Sogar nachdem General de Gaulle an die Macht gekommen war, blieb dies die herrschende Ansicht. Einige sowjetische Kommentatoren räumten allmählich ein, daß die deutschen und französischen „Bourgeoisien" gewisse gemeinsame Interessen hätten, daß außerhalb der französischen kommunistischen Partei „keine politische Gruppe von irgendwelcher Bedeutung in Frankreich existiert, die eine Beendigung der Bündnispolitik mit dem deutschen Militarismus fordert", und daß die französische Großindustrie vielleicht sogar einigen vorübergehenden Nutzen aus einer solchen Annäherung ziehen könnte. Die Argumentation stützte sich aber im allgemeinen auf die grundsätzliche Behauptung, daß Frankreich der Juniorpartner Westdeutschlands werde und daß dies angesichts der wirtschaftlichen Machtkonstellation unvermeidlich sei.
Die frühere verächtliche Nichtbeachtung der wirtschaftlichen Bedeutung des Gemeinsamen Markts wich schrittweise einem größeren, wenn auch ziemlich ambivalenten Interesse. Innere wirtschaftliche Schwierigkeiten wurden mit Schadenfreude diskutiert und viel Aufmerksamkeit wurde dem Interessenkonflikt zwischen EWG und EFTA gewidmet. Dieser Konflikt diente der Untermauerung der ursprünglichen Behauptung, daß vom wirtschaftlichen Standpunkt aus das Unternehmen mit Sicherheit fehlschlagen mußte. In nicht ganz konsequenter Weise allerdings und zweifellos im Gegensatz zu der im Jahre 1957 vom Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen durchgeführten Analyse tauchte Ende 1959 das Thema der europäisch-amerikanischen wirtschaftlichen Konkurrenz auf. Obwohl von Frankreich und Deutschland wei terhin gesagt wurde, daß sie sich in einem fundamentalen wirtschaftlichen Konflikt miteinander befanden, betrachtete man sie nun mehr bereits als die Gruppe, die gemeinsam die amerikanische Vorrangstellung herausforderte; und die „Prawda" bezeichnete am 12. Dezember 1959 die Mission von Staatssekretär Dillon in Europa als das Bemühen, die westeuropäischen Versuche, „den Lauf der amerikanischen wirtschaftlichen . Lenkung'etwas abzuschwächen, zunichte zu machen“. In dieser Weise wurde die als unmöglich bezeichnete westeuropäische wirtschaftliche Einheit paradoxerweise als eine Kraft dargestellt, welche die amerikanische wirtschaftliche Führungsrolle attackierte, von der wiederum behauptet wurde, daß sie durch die amerikanischen Bemühungen zur Förderung der besagten europäischen Einheit verstärkt worden war.
Innerhalb eines Jahres wurde sodann die ursprüngliche Theorie von der amerikanischen Führungsrolle offiziell begraben. Im September 1960 schrieb ein Mitarbeiter von “ International Affairs”, daß „unter den gegenwärtigen Bedingungen die bisherige amerikanische Einstellung zu den wirtschaftlichen Problemen Westeuropas, nämlich nur mit dem Blick auf die Möglichkeiten zur Verstärkung des militärischen NATO-Blocks, unverkennbar überholt ist. Die Vereinigten Staaten haben die Kontrolle über den Verlauf der wirtschaftlichen Integration Westeuropas verloren." Diese Interpretation wurde ein Jahr später durch Chruschtschows Äußerung vor dem 22. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zur offiziellen Deutung, als er erklärte, daß die Vereinigten Staaten ihre „absolute Überlegenheit" in der Wirtschaft der kapitalistischen Welt verloren hätten und daß dieser Abstieg, den England und Frankreich ebenfalls mitmachten, sein Gegengewicht in der wachsenden Macht Westdeutschlands und Japans habe. Die politischen Auswirkungen scheinen jedoch den sowjetischen Führern nur ganz unklar gewesen zu sein. Chruschtschow, der die Hoffnung auf Kriege innerhalb der imperialistischen Welt aufgegeben hatte, betonte nach wie vor die sich verstärkenden Widersprüche, während er gleichzeitig vom Abstieg der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs sprach.
Der entscheidende Punkt der politischen Ungewißheit lag in dem Problem der britischen Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt. Da das ganze Vorhaben als ein imperialistisches Komplott dargestellt wurde — zunächst rein amerikanischen Ursprungs und dann mehr und mehr von der deutsch-französischen Bourgeoisie übernommen —, fiel es den sowjetischen Führern schwer, sich zum Beitritt anderer Nationen positiv auszusprechen, überdies begrüßte der Kreml instinktiv den Konflikt zwischen der EWG und der EFTA und fürchtete, daß der Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt automatisch das Ende dieses speziellen „imperialistischen Widerspruchs" bedeuten würde. Gleichzeitig waren die sowjetischen Führer aber aufrichtig darüber in Sorge, daß die relative Verringerung der amerikanischen Macht ein entsprechendes Anwachsen des Einflusses Deutschlands oder möglicherweise einer deutsch-französischen Allianz mit sich bringen konnte, wodurch der Gemeinsame Markt einen verstärkt antisowjetischen Charakter erhalten mußte. Sie hatten ohne Zweifel das Gefühl, daß die deutschen Bestrebungen vermutlich in direkterer Weise mit den sowjetischen Zielen in Konflikt geraten würden als der mehr defensive amerikanische und britische Wunsch, eine atlantische Gemeinschaft mit der Elbe als östliche Begrenzung zu errichten.
Die sowjetischen Führer wurden dementsprechend von widersprüchlichen Überlegungen hin-und hergerissen. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus mußte Englands Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt ein weiterer Gegenbeweis gegen die Prämissen der sowjetischen ideologischen Sicht sein; die Mitgliedschaft mußte eine noch stärkere wirtschaftliche „kapitalistische“ Welt abrunden, und sie hatte mit Sicherheit eine weitere negative Auswirkung auf den Handel der Sowjets und des kommunistischen Osteuropas. In einem noch allgemeineren Sinne mußte sie die historisch begründete Anziehungskraft der Einheit Europas verstärken, und dies war eine Überlegung, die Moskau angesichts der revisionistischen Einstellung unter der osteuropäischen und sogar der russischen Jugend nicht völlig außer acht lassen konnte. Mitte 1962 scheinen die sowjetischen Führer erkannt zu haben, daß der Gemeinsame Markt eine Realität war, und sie begannen nunmehr — vielleicht als Überkompensierung ihres bisherigen Glaubens an seine „unlösbaren Widersprüche" — von ihm als einem mächtigen und gefährlichen Instrument imperialistischer Aggression zu sprechen. In diesem Licht war jede weitere Ausweitung des Gemeinsamen Markts unwillkommen. Gleichzeitig konnte jedoch auch etwas gewonnen werden, wenn England beitrat. Es wurde dadurch ein Gegengewicht zu Deutschland geschaffen; ein einschränkendes, vielleicht so-gar pazifistisches Element konnte (nach der Argumentation der Sowjets) Eingang in die politischen Beratungsgremien des Gemeinsamen Markts finden, und — ein offenbar günstiger Faktor — die ganze politische Struktur wurde dadurch komplizierter. Als Moskau verspätet zu erkennen begann, daß sich eine deutsch-französische Achs bildete, sah es so aus, als könne England ein gutes Gegengewicht bilden
Dieser Ambivalenz hinsichtlich der politischen Rolle Englands im Gemeinsamen Markt entsprach die wachsende Besorgnis über die wirtschaftliche Bedeutung der Organisation, und beide zusammen führten zu einer sehr unklaren allgemeinen Einstellung. Im Mai 1962 unternahm Chruschtschow einen heftigen Angriff gegen den Gemeinsamen Markt und drängte darauf, daß eine internationale Konferenz zusammengerufen werde, um statt des Gemeinsamen Markts eine weltweite Handelsorganisation ins Leben zu rufen, welcher der kommunistische Block angehören würde. Es bestand also kaum mehr Zweifel darüber, daß der Gemeinsame Markt nunmehr ernst genommen wurde und nicht nur als direkte Drohung gegen die kommunistische Wel., sondern auch als wirksamer Mechanismus für die Schaffung engerer Beziehungen zwischen der westlichen Welt und den Entwicklungsländern gedeutet wurde. Kurz darauf veröffentlichte neue Aufsätze des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen erkannten widerwillig an — obwohl sie nach wie vor über den „Wirrwarr imperialistischer Widersprüche“ sprachen und nun auch die französischen und deutschen Ansprüche auf die Führung in Europa zur Kenntnis nahmen —, daß der Gemeinsame Markt „einen Antrieb für die Erhöhung des Produktionsvolumens und des Volumens von Binnen-und Außenhandel“ geben konnte. In diesem Zusammenhang wurde eine starke Befürwortung des Prinzips der Meistbegünstigungsklausel vorgebracht
Der sowjetische Optimismus erhielt neuen Auftrieb durch General de Gaulles Pressekonferenz am 14. Januar 1963. Sowjetischerseits wurde triumphierend darauf hingewiesen, daß „dies bestätigt, was die Marxisten immer schon gesagt haben; unter der dünnen Kruste der . atlantischen Einheit’ brodelt die heiße Lava der imperialistischen Widersprüche.“ Für den Augenblick wurden die Befürchtungen vor dem deutsch-französischen Imperialismus beiseite geschoben und der Vorfall als erneuter Beweis des unvermeidlichen Abstiegs des Westens angesehen. Die Dinge wurden so dargestellt, als stehe das gesamte westliche Bündnis auf dem Spiel und, während die sowjetische Berichterstattung im ganzen in mitfühlenden Worten zu der mißlichen britischen Lage Stellung nahm, war die dominierende Tonart der Berichte eindeutig jubilierend. Es ließen sich aber auch einige ernstere Stimmen vernehmen, und es dauerte nicht lange, bis Moskau feststellte, daß sich nicht viel wirklich grundlegend geändert hatte, daß die wirtschaftliche Drohung weiterbestand und daß in bestimmter Hinsicht das politische Bild bedenklicher geworden war. W. Nekrasow wies in der „Iswestija“ warnend darauf hin, daß der Ausschluß Englands die Umwandlung des Gemeinsamen Markts in einen politisch-militärischen Block erleichtern würde (wobei das Thema der Widersprüche stillschweigend übergangen wurde), und Mitte des Jahres richtete Moskau dringende Aufforderungen an Paris (vgl. die Sowjetnote vom 17. Mai 1963), die atomare Bewaffnung Westdeutschlands nicht zu fördern, wobei ohne jedes Schamgefühl an den Stolz der Franzosen appelliert wurde, die kurz zuvor noch als Vasallen Deutschlands dargestellt worden waren: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß im Falle eines gemeinsamen Handelns der Sowjetunion und Frankreichs, der beiden größten Mächte des europäischen Kontinents, hinsichtlich der grundlegenden Probleme, von denen die Zukunft Europas abhängt, sich keine Kräfte erheben und den Versuch zu einer Neuordnung der europäischen Landkarte machen könnten.“ Das Umschalten von der Verachtung zur Schmeichelei wurde sowohl durch die Auswirkung des Gemeinsamen Markts auf den Osten als auch durch das Wiedererscheinen einer französischen Außenpolitik verursacht.
Die vorstehende Diskussion läßt erkennen, daß die Sowjets durch die folgenden Faktoren daran gehindert wurden, eine klare Vorstellung vom Gemeinsamen Markt zu bekommen: 1. die ideologische Starrheit, mit ihrer starken Betonung der dem Kapitalismus „innewohnenden" wirtschaftlichen Widersprüche; 2. die Annahme, daß alte nationale Feindseligkeiten in Europa von Dauer sein würden, insbesondere die zwischen Frankreich und Deutschland; 3.der unablässige Blick auf die amerikanische Position in Europa und die daraus resultierende Tendenz, alles im Verhältnis zu dieser Position zu beurteilen; 4. die Über-schätzung der Bedeutung des Scheiterns der EVG und als Ergebnis daraus der Glaube, daß die EWG ebenfalls scheitern würde; und 5. eine allgemeine Unkenntnis der Entwicklungen im Westen, die durch den Mangel an persönlichen Kontakten und das unzulängliche Verständnis für die herrschenden Strömungen des westlichen Denkens entstanden war und das Ergebnis vieler Jahre selbst auferlegter Isolierung darstellte.
III.
Wenn Anzeichen sowjetischer Schwäche und Besorgnis im Bereich der Politik und Ideologie bereits erkennbar waren, so war dies noch klarer und auch noch berechtigter im wirtschaftlichen Sektor der Fall. Es war einfach eine Tatsache, daß der Handel mit Westeuropa für die kommunistischen Länder wichtiger als für Westeuropa war, und die Entwicklung des Gemeinsamen Markts mit seinen internen Zollvereinbarungen und neuen internen Handelssystemen bedeutete somit eine schwere Bedrohung. Das Mittel, das gewählt wurde, um ihr entgegenzutreten, war die Stärkung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON), einer lange Zeit nicht aktiven stalinistischen Organisation der osteuropäischen Länder und der Sowjetunion, die Mitte der fünfziger Jahre neu belebt worden war, um einen Ausgleich für das Nachlassen der direkten politischen Kontrolle der Sowjets über die Satelliten zu bilden. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe sah sich der Situation gegenüber, daß sein Handel mit der
EWG einen 2,
Auf Grund dieser Gedankengänge fürchteten die kommunistischen Führer die Auswirkungen der Zollsenkung zwischen den Ländern des Gemeinsamen Markts im Zusammenwirken mit der Einführung einheitlicher Zollschranken für Nicht-Mitgliedstaaten. Sie befürchteten außerdem, daß das Bemühen, eine gemeinsame Agrarpolitik zu schaffen, die zur Selbstversorgung hinführen sollte, die Exporte einiger der osteuropäischen Länder ungünstig beeinflussen würde. Schließlich war ihnen der Gedanke unangenehm, daß der Versuch, eine gemeinsame Handelspolitik gegenüber Nicht-mitgliedern zu entwerfen, der wirtschaftlichen Gemeinschaft in den Ländern des Gemeinsamen Markts einen neuen Ansatzpunkt für ihre Geschäfte mit dem Osten geben konnte. Dies wurde offen von einer polnischen Zeitschrift im August 1963 zugegeben: „Eine gemeinsame Handelspolitik der Länder des Gemeinsamen Markts schafft die Möglichkeit einer gleichzeitigen Sperrung der Einfuhren und Ausfuhren durch alle sechs Mitgliedstaaten. Man braucht sich nur an das Embargo in der kürzlichen Periode des Kalten Krieges zu erinnern, um die ganze in dieser Absicht der Länder des Gemeinsamen Markts enthaltene Gefahr zu erkennen." 3)
Nach außen bestand die sowjetische Reaktion auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des Gemeinsamen Markts darin, gegen ihn als politische und wirtschaftliche Verschwörung zu wettern. Die wesentliche sachliche Reaktion, die im Jahre 1960 einsetzte, bestand in der Beschleunigung der Bemühungen, den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe auszubauen.
Unter seinen Anweisungen wurde eine wirtschaftliche Spezialisierung in verschiedenen Zweigen der Schwerindustrie der Mitgliedstaaten eingeführt; die vorbereitenden Schritte wurden getan, um allgemeine Richtlinien für die nationale wirtschaftliche Planung über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg aufzustellen; und nach langer Verzögerung wurden auch multilaterale wirtschaftliche Institutionen ins Leben gerufen. Die Arbeiten des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, der bis dahin im wesentlichen eine ad-hoc-Organisation gewesen war, wurden außerdem festen Regeln unterworfen und institutionalisiert, und es wurde eine formelle Charta verlautbart, die Aufgaben und Arbeitsweise näher darlegte. Im Oktober 1963 kam es zur Unterzeichnung eines COMECON-Übereinkommens, durch welches eine Verrechnungsbank auf der Basis des Goldrubels gegründet wurde (ein Schema, das offensichtlich das westliche Beispiel nachahmte). Außerdem machte man systematische Anstrengungen, um die notwendigen statistischen Unterlagen für eine erfolgreiche gemeinsame Planung zu schaffen (dies war angesichts des Nichtvorhandenseins eines Marktsystems von besonderer Bedeutung), und es wurden verschiedene multilaterale wirtschaftliche Projekte, z, B. in bezug auf gemeinsame Erdölleitungen, Eisenbahnmaterialien, Fernmeldekabel usw. in Angriff genommen. Die Anstrengungen in Richtung auf eine wirtschaftlich „rationelle" Spezialisierung hin erwiesen sich jedoch bald als unvereinbar mit den spezifischen nationalen Interessen im Sowietblock angesichts der weitgehenden Verschiedenheit des Niveaus der industriellen Entwicklung und Leistungsfähigkeit. Wenn das Prinzip rigoros angewandt wurde, mußte es zwangsläufig den industriell weiter entwikkelten Ländern wie z. B.der Sowjetunion, der „DDR" und der Tschechoslowakei Vorteile bringen. Infolgedessen fand die Maßnahme Widerstand innerhalb der weniger weit entwickelten Länder und insbesondere in Rumänien, das günstige Möglichkeiten für seine eigene wirtschaftliche Entwicklung sah. Ein rumänischer Sprecher äußerte dazu: „Ebenso wie im inneren Bereich ein absolutes Kriterium der Leistungsfähigkeit nicht akzeptiert werden kann, so kann im Bereich der Spezialisierung und Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Rentabilität nicht als das ausschließliche Kriterium hingenommen werden, auf Grund dessen neue wirtschaftliche Maßnahmen zu ergreifen sind." Darüber hinaus erklärte er: „Der Aufbau des Kommunismus auf weltweiter Ebene ist unvereinbar mit der Vorstellung von einer Aufteilung der Länder in Industriestaaten und Agrarstaaten, in entwickelte und unterentwickelte Länder."
Zwei Faktoren machten die Zurückweisung der von Rumänien vorgebrachten Argumentation schwierig. Der eine war die Entwicklung des Gemeinsamen Markts, welcher einerseits die schnelle industrielle Entwicklung verhältnismäßig rückständiger Länder wie z. B. Italiens mit sich brachte (und damit einen störenden Präzedenzfall schuf) und andererseits die Rumänen mit verlockenden Handelsvereinbarungen konfrontieren konnte (die Franzosen zeigten z. B. schon Interesse am Ausbau der rumänischen Ölindustrie). Der andere Faktor war das Anwachsen der inneren Schwierigkeiten innerhalb der kommunistischen Welf. In ihren Angriffen gegen Moskau brachten die Chinesen betont die Frage der unterschiedlich zugebilligten wirtschaftlichen Entwicklung auf, und die Rumänen druckten diese Überlegungen demonstrativ in ihrer eigenen Presse ab. Auch hier mußte zwangsläufig die Fähigkeit des Gemeinsamen Markts, ähnliche Probleme zu lösen, einen Einfluß auf die kommunistischen Diskussionen ausüben. Es kann in der Tat vermutet werden, daß die Empörung der chinesischen Führer über das Ausbleiben angemessener sowjetischer Hilfe für die wirtschaftliche Entwicklung Chinas durch den Anblick der umfangreichen und wirkungsvollen amerikanischen Hilfe für Europa zusätzliche Nahrung erhielt. Der hieraus resultierende eindrucksvolle Wiederaufstieg Europas bildete einen scharfen Kontrast zu den fortwährenden chinesischen Mißerfolgen und zu dem von den Sowjets an den Tag gelegten Mangel an Interesse und trug auf diese Weise zu der inneren kommunistischen Entzweiung bei.
Die wirtschaftliche und ideologische Auswirkung des Gemeinsamen Markts war somit ein Angriff gegen die grundlegenden Argumente der Kommunisten, daß der Schlüssel zur Zukunft in ihren Händen liege. Es gab außerdem auch politische Faktoren, die sie dazu brach-ten, der neuen Kraft Westeuropas mehr Aufmerksamkeit zu widmen, darunter ihr Mißerfolg, in der Berlin-Frage eine Lösung zu ihren Gunsten herbeizuführen, ebenso wie auch das schrittweise Wiederauftauchen Frankreichs als unabhängige europäische Macht.
IV.
Die politische Herausforderung wurde durch de Gaulle verkörpert und fand ihren Ausdruck in seiner selbstsicheren Verfolgung einer unabhängigen französischen Europapolitik. Hinsichtlich ihrer kurzfristigen Ziele warf diese Politik die unmittelbare Frage nach der Organisation und Verteilung der Macht im Westen auf; in bezug auf die langfristigen Planungen erforderte sie eine Definition des neuen Verhältnisses zum Osten. Bis zum Jahre 1963 hatten sich die Umrisse des erstgenannten Problems klar herausgeschält, während das letztere allmählich Gestalt gewann, wenn auch vorerst nur versuchsweise.
de Gaulles Politik im Westen stützte sich auf sein Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der neuen Wirtschaftsstruktur Westeuropas und auf die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, die Sowjets durch Abschreckung an jeder gegen Westeuropa gerichteten militärischen Aktion zu hindern. Wenn man sagen kann, daß die grundlegende Motivierung des Handelns in Europa Ende der vierziger Jahre in der Furcht vor einer sowjetischen Aggression zu sehen gewesen war, so bestand sie statt dessen Anfang der sechziger Jahre im Selbstvertrauen. Von diesem Ausgangspunkt drängte de Gaulle beständig auf eine Verringerung des amerikanischen politischen Einflusses auf dem Kontinent und auf seinen Ersatz durch das deutsch-französische Einvernehmen. Angesichts der der deutschen Wiederbewaffnung auferlegten Beschränkung und, noch wichtiger, der damit angesprochenen moralischen und politischen Faktoren konnte er mit Recht von der Vorstellung ausgehen, daß in diesem Verhältnis die politische (und vielleicht auch militärische) Führung unzweifelhaft Frankreich zufallen würde. Um dies sicherzustellen und auch, um Europas Einfluß auf die amerikanische Militärpolitik zu verstärken (zumindest bis zu der Fähigkeit, die Miteinbeziehung der Vereinigten Staaten auch gegen deren eigenen Wunsch erzwingen zu können), unternahm es de Gaulle, Frankreich in eine Atommacht umzuwandeln. Seiner Meinung nach bot die Bedeutung dieses Vorhabens auf lange Sicht mehr als ausreichenden Ersatz für die vorübergehende Isolierung und sogar für die dadurch verursachte Unpopularität Frankreichs. Nur auf diese Weise konnte er die anglo-amerikanische Vorstellung von einer atlantischen Gemeinschaft zunichte machen, in der, so wie er es sah, die politische und militärische Macht fast völlig unter der Kontrolle von Washington und London stand. Ein eng integriertes Westeuropa, das einer solchen Kontrolle „von außen" unterworfen wurde, mußte ein Europa „ohne Seele, ohne Rückgrat und ohne Wurzeln" und „einer oder der anderen der beiden ausländischen Hegemonien" untergeordnet sein, wie er am 28. September 1963 erklärte.
Infolgedessen mußte seiner Ansicht nach ein solches Europa das Werkzeug der beiden Supermächte, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, werden, die damals in der Tat in Europa keine miteinander unvereinbaren Interessen hatten. Es schien, das Moskau nicht mehr damit rechnete (zumindest nicht in der nahen Zukunft), das übrige Europa schlucken zu können, und damit zufrieden war, an der Elbe stehen zu bleiben und eifrig sein rückwärtiges Gebiet zu konsolidieren. Trotz allem, was seine Führer darüber sagten, nahm Amerika diese Teilung hin.de Gaulle äußerte seine Überzeugung hinsichtlich dieser Tatsache ganz offen am 29. Juli 1963: „Die Vereinigten Staaten, welche seit Jalta und Potsdam nichts von den Sowjets verlangt haben, sehen jetzt die Möglichkeit zu einer Verständigung. Das Ergebnis sind die getrennten Verhandlungen zwischen den Anglo-Amerikanern und den Sowjets, welche ausgehend von dem begrenzten Atom-Test-Stop-Abkommen sich offenbar auf andere Fragen, insbesondere europäische Fragen, ausdehnen sollen, und zwar bis jetzt ohne die Hinzuziehung von Europäern. Dies ist offensichtlich im Widerspruch zu den Ansichten Frankreichs." Nachdem er Amerika derart die Verantwortung für die Teilung Europas zugewiesen hatte, behauptete de Gaulle sodann, daß mit der Zeit „eine völlige Umgestaltung der Beziehungen zwischen Ost und West in Europa" möglich werden würde und daß, „wenn dieser Tag kommt, und ich habe dies bereits schon früher gesagt, Frankreich erwartet, konstruktive Vorschläge hinsichtlich des Friedens, Gleichgewichts und Schicksals Europas zu machen."
de Gaulle hat verschiedene Hinweise darauf gegeben, worin diese „konstruktiven Vorschläge" bestehen könnten. Kurz gesagt beziehen sie sich auf die Hineinnahme von Osteuropa und Rußland in eine größere europäische Gemeinschaft, die sich auf das gemeinsame kulturelle und historische Erbe gründet und geographisch von dem französischen Staatsmann am 25. März 1959 definiert worden war. In jener Rede hatte er das Schlagwort vom „Europa bis zum Ural" geprägt und es mit einem beredten Appell zugunsten eines gemeinsamen europäischen Handlungsbewußtseins verknüpft:
„Wir, die wir zwischen dem Atlantik und dem Ural leben, wir, die wir Europa sind und gemeinsam mit der Tochter Europas, Amerika, die hauptsächlichen Quellen und Hilfsmittel der Zivilisation zur Verfügung haben . . ., warum vereinigen wir nicht einen Teil unserer Rohmaterialien, unserer Produktionsgüter, unserer Nahrungsmittel, einige unserer Wissenschaftler, Technologen, Wirtschaftler, einige unserer Fahrzeuge, Schiffe und Flugzeuge, um die Not zu besiegen, die Hilfsmittel zugänglich zu machen, und das Vertrauen in die Arbeit bei den weniger entwickelten Völkern zu fördern? Wir wollen dies nicht tun, um sie als Figuren in unseren politischen Plänen zu benutzen, sondern um die sich für das Leben und den Frieden bietenden Chancen zu verbessern. Wieviel nütztlicher wäre das als die territorialen Forderungen, die ideologischen Ansprüche und die imperialistischen Bestrebungen, die die Welt ihrer Vernichtung zuführen!" Inzwischen hat de Gaulle des öfteren auf Konzept angespielt. Offensichtlich sieht dieses er in seiner Verwirklichung den Höhepunkt eines langwierigen Umwandlungsvorgangs innerhalb der kommunistischen Staaten, der vielleicht durch den chinesisch-sowjetischen Konflikt und durch die wachsende Anziehungskraft Europas und des Gemeinsamen Markts beschleunigt wird. Dementsprechend bemüht sich de Gaulle um China, in der Hoffnung, daß diese neue Umzingelung Rußland vielleicht sogar dazu drängen könnte, ein Teil Europas zu werden.
Trotz der engen Bindungen de Gaulles mit Deutschland, in welchen er das Rückgrat unabhängigen europäischen Handelns erblickt, hofft er, den Vorgang der Verschmelzung Rußlands mit Europa dadurch schrittweise zu beschleunigen, daß er die Furcht der Osteuropäer vor einem erneuten deutschen „Drang nach Osten" abschwächt. In dieser Hinsicht ging er noch weiter als Washington. Er hat erkannt, daß die Akzeptierung der gegenwärtigen polnisch-deutschen Grenze an Oder und Neiße als Dauerlösung das sine qua non ist, um Polen wieder in den europäischen Bereich hineinzuziehen
Die sowjetische Reaktion auf das sich langsam abzeichnende Konzept de Gaulles ist reserviert, aber es gibt bereits Anzeichen wachsender Besorgnis. Zu Anfang schienen die sowjetischen Führer die französische Widerspenstigkeit einfach deshalb zu begrüßen, weil sie eine neue Komplikation für den Erzrivalen, die Vereinigten Staaten, bedeutete
Obgleich die Sowjets eine Zeitlang hofften, daß der Wiederaufstieg Frankreichs den Westen schwächen könnte, waren sie sehr empfindlich hinsichtlich aller Anzeichen französischen Interesses an Osteuropa. Dementsprechend suchte sich Chruschtschow nach Adenauers Besuch in Paris im Frühherbst 1958 einen Satz in dem de Gaulle-Adenauer-Communique für seine Kritik in einem besonderen „Interview" heraus, und zwar den, in welchem von dem späteren Einschluß „der größtmöglichen Anzahl europäischer Staaten" in eine europäische Föderation gesprochen worden war. Nach den Worten Chruschtschows bedeutete dies, daß de Gaulle und Adenauer „jeden Sinn für Realität verloren haben müssen, wenn sie ernsthaft mit einem Erfolg in irgendeinem Unternehmen in Osteuropa rechnen". Er wiederholte diese Bemerkung zwei Tage später einem deutschen Journalisten gegenüber
Diese Befürchtungen wuchsen noch an, als die deutsch-französische Allianz Form gewann. Im Jahre 1960 war aus der Tonart der Anklagen aus dem Munde sowjetischer Sprecher deutlich ersichtlich, daß sie die Rolle Frankreichs einer neuen Beurteilung unterzogen hatten und in ihr eine langfristige politische Gefahr zu erkennen begannen. Frankreich wurde so dargestellt, daß es nicht nur den Versuch mache, Westeuropa zu beherrschen, sondern auch die Weiterverbreitung des Besitzes von Atomwaffen fördere, und daß es von einer olympischen Persönlichkeit geführt werde, die jeden Sinn für Realität verloren habe. 1962 wurde Frankreich bereits häufig als das Haupthindernis gegen das Nachlassen der internationalen Spannungen hingestellt, und de Gaulles Reise nach Deutschland wurde offiziell als Teil eines Komplotts attackiert, ein „Europa bis zum Ural“ zu errichten (dieser Satz wurde zitiert), was die Liquidierung der kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa zur Voraussetzung hätte; dies sollte mit Hilfe einer deutsch-französischen Zusammenarbeit zuwege gebracht werden, die auch den gemeinsamen Besitz von Kernwaffen einschloß. Die Anklagen erreichten ihren Höhepunkt im Jahre 1963 nach Frankreichs Weigerung, das Teststop-Abkommen zu unterzeichnen.
Da de Gaulles Pläne selbst seinen eigenen Anhängern etwas unklar sind, Sowjets haben die vermutlich ebenfalls nur eine unklare Vorstellung von ihnen. Dennoch könnte eben diese Unklarheit, zusammen mit dem französischen betont herausfordernden Auftreten Rußland und Osteuropa gegenüber, den Sowjets noch gefährlicher erscheinen als das bekannte und im Grunde statische anglo-amerikanische „Interesse" an den Gebieten östlich der Elbe. Als Ergebnis wurde die Haltung der Sowjets der amerikanischen Position in Europa gegenüber politischen ambivalenter. Vom und sogar mehr noch vom militärischen Gesichtspunkt aus stellten zweifellos die Vereinigten Staaten und NATO die die größere Bedrohung dar. Für die Sowjets wurde die Bemühung, diese beiden Einklang Alternativen miteinander in zu bringen, immer mehr zu einem alles beherrschenden Dilemma, und von 1963 an sie schienen etwas weniger stark daran interessiert zu sein als zum Beispiel die Chinesen, die politische Verdrängung der Vereinigten Staaten vom Kontinent zu erreichen
In dieser Hinsicht kann die Konfrontierung der Sowjets mit den Vereinigten Staaten in Kuba Ende 1962 als eine besonders bedeutsame Wegscheide angesehen werden. Sie überzeugte die Sowjets davon, daß zum augenblicklichen Zeitpunkt ihre Mittel zur Ausführung ihrer Pläne unzulänglich waren und daß die sowjetische Politik, sowohl politisch als auch militärisch auf einen Durchbruch in Europa mit Hilfe des Drucks auf Berlin zu drängen, zum Scheitern verurteilt war und in der Tat schon die entgegengesetzten Ergebnisse gezeitigt hatte. Die Vereinigten Staaten gaben nicht nach, und die Wirkung des sowjetischen Drucks in Kuba führte zu einer Stärkung der „aggressiven" Kräfte in Frankreich und Deutschland. Jedoch konnte vielleicht durch das Streben nach einer sowjetisch-amerikanischen Annäherung auf der Grundlage der amerikanischen Hinnahme der Teilung Europas die deutsch-französische Herausforderung in eine vernichtende Fehde innerhalb des westlichen Bündnisses umgewandelt werden und möglicherweise zuletzt sogar zu einem neuen Rapallo führen. Während sich der Kreml augenscheinlich zunächst einmal mit der französischen und deutschen feindseligen Haltung abfand, beschloß er, dafür zu sorgen, daß der deutsch-französische Zusammenschluß keine amerikanische politische und militärische Unterstützung erhalten werde. Daher widersetzte sich Moskau lebhaft dem amerikanischen Plan der Aufstellung einer europäischen multilateralen Kernwaffenstreitmacht, und zwar mit der Begründung, daß sie die deutsche politische und militärische Position stärken würde
V.
Die russische und amerikanische Zusammenarbeit könnte die Teilung Europas aufrechterhalten, aber es bestünde keine Garantie dafür, daß Rußland nicht zu irgendeinem Zeitpunkt den Entschluß fassen würde, die europäische Enttäuschung hinsichtlich der gegenwärtigen Politik der Vereinigten Staaten, des wirklichen Konkurrenten Rußlands von globalem Maßstab, für sich auszunutzen. Für die Vereinigten Staaten wäre es daher gefährlich, sich Rußland in der Unterstützung der Teilung Europas anzuschließen. Eine europäische Zusammenarbeit mit Rußland gegen Amerika könnte nur zustandekommen als Folge einer europäischen Verärgerung über die amerikanische Führung, das heißt als Ergebnis der Reaktion auf das, was als eine Art amerika-nischer Verrat an den europäischen Interessen angesehen würde. Die Voraussetzung dafür müßte also eine amerikanisch-sowjetische Entente auf der Grundlage der gemeinsamen Akzeptierung des Status quo in Europa sein. Dies ist das Ziel, das die Sowjets zur Zeit zu erreichen suchen. Ohne eine derartige vorangegangene Entwicklung erscheint eine europäisch-russische Zusammenarbeit als äußerst unwahrscheinlich angesichts des sowjetischen Wunsches, die Hegemonie der Sowjetunion über halb Europa zu verewigen, und angesichts der wachsenden westeuropäischen Entschlossenheit, degegen anzugehen. Die amerikanische Zusammenarbeit mit Europa mit dem Ziel der Wiedervereinigung Europas und der Wieder-einfügung Rußlands in die westliche Zivilisation, ein Vorgang, der jetzt durch die chinesisch-sowjetische Spaltung begünstigt wird, scheint die stärkste und dauerhafteste Kombination zu sein, und zwar eine Kombination, die sowohl mit den amerikanischen als auch mit den europäischen Interessen hinsichtlich der Zukuntt in Einklang steht.
Mehr denn je unterliegt Rußland jetzt der Anziehungskraft Europas. In der Vergangenheit hatte die russische Haltung gegenüber Europa geschwankt. Einerseits wurde Moskau arrogant als das dritte Rom und dann als die Quelle einer neuen und allgemeingültigen Ideologie bezeichnet. Andererseits bestand ein tiefverwurzeltes Minderwertigkeitsgefühl in bezug auf den Westen und der Wunsch, den Westen nachzuahmen. Die russischen Kommunisten vereinigten in sich das Gefühl der Überlegenheit mit dem Drang, die Unterlegenheit zu beseitigen (durch Nachahmung, das heißt durch Industrialisierung). Indem sie die technische, wirtschaftliche und kulturelle Lücke zwischen Europa und Rußland verengten, schufen die sowjetischen Führer zum ersten Male die Möglichkeit eines Verhältnisses zueinander, das auf Ebenbürtigkeit beruht und für beide Seiten ehrenvoll ist. In der Zwischenzeit hat die chinesisch-sowjetische Spaltung den universellen Anspruch der Ideologie beeinträchtigt, während die sowjetische Beherrschung Osteuropas nicht nur die russischen Befürchtungen vor dem Westen verringert, sondern auch Möglichkeiten tür die Weitergabe der westlichen Werte eröffnet hat. Ohne es zu wisen, vollbrachten die sowjetischen Führer das historische Werk, den Boden für ein größeres Europa vorbereitet zu haben, das jedoch — von ihrem Standpunkt aus gesehen bedauerlicherweise — nicht ein kommunistisches Europa sein wird.
Die von Frankreich kommende Herausforderung ist ein Anzeichen dafür, daß Europa jetzt vorwärts blickt und nicht länger um sein überleben fürchtet. Dieses Wiedererwachen hat zwangsläufig eine Umgruppierung der Macht im Westen mit sich gebracht und Spannungen im westlichen Bündnis zur Folge gehabt. Die wirkliche Herausforderung zielt jedoch nach Osten. Ideologisch erweist sich das Konzept der europäischen Einheit, mit dem Gemeinsamen Markt als Startsymbol, als ein faszinierenderes Bild der Zukunft als die kommunistische Version eines Europas, das in rivalisierende Teile aufgespalten ist. Im wirtschaftlichen Bereich hat Westeuropa eine viel eindrucksvollere Entwicklung im Handel, im Zusammenfassen der gemeinsamen Hilfsquellen und in der allgemeinen Erhöhung des Lebensstandards durchgemacht, als dies in den kommunistischen Ländern der Fall war. In der Politik waren die öffentlichen Diskussionen und der Mangel an Übereinstimmung unter den westlichen Mächten viel weniger intensiv und bitter als die entsprechenden Konflikte und gegenseitigen Exkommunizierungen innerhalb der kommunistischen Welt. All dies gibt dem Westen eine günstige Ausgansposition, von der aus er den Osten auffordern kann, seine fruchtlosen und überalterten ideologischen Positionen aufzugeben und an einem Vorhaben mitzuarbeiten, das auch in seinem Interesse liegt.
Eine solche Aufforderung könnte gemeinsam von den Vereinigten Staaten und Westeuropa auf verschiedene Weise an den Osten herangetragen werden, angefangen von langfristigen zweiseitigen Handelsabkommen (wie sie jetzt abgeschlossen werden) bis zu einem zukünftigen multilateralen Plan für die wirtschaftliche Entwicklung auf der Grundlage der europäischen Einheit. Schritt für Schritt sollten die osteuropäischen Staaten ermutigt werden, sich dem Gemeinsamen Markt anzuschließen, zunächst lose und indirekt und dann immer enger und unmittelbarer. Westeuropa könnte auch die Initiative dabei ergreifen, seine Grenzen der Jugend des Ostens zu öffnen, und es den kommunistischen Regimes überlassen, ihre Jugend, falls sie dies wünschen, an der Teilnahme an der wachsenden europäischen Einheit zu hindern. Es ist zu bezweifeln, ob die nachdrückliche Forderung enger Beziehungen, die so offensichtlich im Interesse der betreffenden Völker lägen, auf die Dauer durch den Widerstand ihrer kommunistischen Regierungen zurückgewiesen werden könnte. Widerstand werden diese sicherlich leisten, und die augen-blicklichen Anstrengungen, das COMECON institutionell auszubauen und seine Arbeit zu intensivieren, spiegeln die Erkenntnis der kommunistischen Führer wider, daß ohne eine verbesserte Wirtschaftsstruktur der sowjetische Block nicht in der Lage sein wird, es mit dem Westen aufzunehmen und die Kräfte nationaler Selbstbehauptung in den einzelnen Mitgliedstaaten einzudämmen. Diese Bemühungen sollte man nicht unterschätzen. Zur Zeit ist das Konzept eines geeinten Europas ideologisch noch reizvoller und wirtschaftlich vielversprechender. Europa wird aller Wahrscheinlich, keit nach nicht lange „ohne Seele, ohne Rückgrat und ohne Wurzeln" bleiben. Voraussetzung dafür ist, daß es der Sowjetunion nicht gelingt, die Amerikaner zur Unterstützung des Status quo zu gewinnen. Eine weitere Voraussetzung ist, daß Amerika und Westeuropa die sich jetzt bietenden Gelegenheiten nutzen und nicht tatenlos zusehen, wie sich der Sowjet-block neu konsolidiert.