Deutschland, Rußland und der Westen Das Problem der „Ost-oder Westorientierung" in der Außenpolitik der Weimarer Republik hat schon mehrfach das Interesse der zeitgeschichtlichen Forschung gefunden, und kürzlich hat Lionel Kochan den Versuch unternommen, die Beziehungen zwischen dem Westen, der Weimarer Republik und der Sowjetunion unter dem Gesichtspunkt eines „Ringens um Deutschland“ zusammenzufassen Dieser Gesichtspunkt ist auch für die diplomatische Vorgeschichte des deutschen Beitritts zum Völkerbund sehr fruchtbar.
Der Versailler Vertrag hatte die Friedensordnung vorwiegend auf die wirtschaftliche, militärische und territoriale Schwächung des Besiegten und seine Kontrolle durch die Sieger gegründet. Tendenzen, Deutschland politisch irgendwie an den Westen zu binden (etwa durch seine Aufnahme in den auf der Pariser Friedenskonferenz gegründeten Völkerbund) und damit ein außenpolitisches Korrelat zur inneren Demokratisierung Deutschlands zu schallen unterlagen gegen das französische Bestreben, den Besiegten zu ächten und einstweilen aus der Friedensordnung auszuschließen. Zwar hat es in Paris an englischen Hinweisen 4) auf die Bedenklichkeit dieses Verfahrens angesichts der Randlage Deutschlands zum kommunistischen Rußland nicht gefehlt, doch der Versailler Vertrag enthielt nur wenige und, wie sich erweisen sollte, unzureichende Vorkehrungen um eine deutsch-russische Verständigung für die Zukunft unmöglich zu machen. Die außenpolitische Handlungsfreiheit blieb Deutschland im wesentlichen erhalten. 1919 lehnte Deutschland die Teilnahme an der alliierten Blockade gegen die Sowjetunion ab; 1920 erklärte es sich im polnisch-russischen Konflikt für neutral. Knapp zwei Jahre später folgte der Vertrag von Rapallo. K. D. Erdmann hat zwar nachgewiesen daß dies Ereignis, das im Konferenzsaal von Genua wie eine Bombe wirkte, ohne unmittelbare Folgen für die materiellen Verhandlungen der Konferenz blieb. Um so stärker waren die allgemein politischen Auswirkungen. Die alliierte Politik zur Isolierung der Sowjetunion, zu der auch der cordon sanitaire der Randstaaten gehörte, war durchbrochen. Deutschland hatte sich aus der ihm in Paris zudiktierten Isolierung gelöst. Eine deutsch-sowjetische Blockbildung gegen den Westen schien nicht ausgeschlossen, die die für das französische Sicherheitssystem so wichtigen Randstaaten, insbesondere Polen, gegen das sowohl Deutschland wie Rußland territoriale Gravamina hegten, in die Zange nahm und den Kontinent in gefährlicher Weise aufspaltete. Das harmlose Gesicht des Rapallo-Vertrags als bloßes Kriegsfolgen-Liquidationsabkommen rief bei den Alliierten das anhaltende (freilich unbegründete) Mißtrauen hervor, in Rapallo könnten viel weiterreichende Geheimabmachungen geschlossen worden sein
Nach dem vergeblichen französischen Ruhrabenteuer beruhte die Anfang 1924 sich anbahnende Regelung der Reparationsfrage auf der Einsicht, daß nur ein wirtschaftlich leistungsfähiges Deutschland zahlen könnte. Der Dawesplan, der aus der Londoner Konferenz (Juli 1924) hervorging, zog die Konsequenzen. Eine absehbare wirtschaftliche Wiedererstarkung Deutschlands ließ aber seine politische Ungebundenheit dem Westen in einem noch bedrohlicheren Licht erscheinen. MacDonald schrieb am 25. September 1924 an Herriot: „So-bald Deutschland sich unter der Wirkung des Dawesplans aufrichten wird, werden wir vielleicht feststellen müssen, daß es seine Handlungsfreiheit und seine Macht gebrauchen will, ohne andere Verpflichtungen anzuerkennen als diejenigen, die es auf Grund des Friedensvertrages annehmen muß, und wenn wir es seine Politik dieser Art auch nur beginnen lassen, werden wir in die größten Verlegenheiten kommen.“ 9) Während die französische Deutschlandpolitik nur langsam aus ihren von Clemenceau und Poincare vorgezeichneten Bahnen herausfand, befürwortete England es. Deutschland durch eine politisch-vertragliche Lösung, an der Deutschland als freiwilliger Partner teilnahm, enger an den Westen zu binden und seine politische Reintegration in das europäische Konzert anzubahnen. Diesem Zweck diente auch das englische Eintreten für Deutschlands Zulassung zum Völkerbund 10). Als Inbegriff einer deutschen Westorientierung galt der Beitritt zum Völkerbund aber auch in Moskau. Die sich 1924 anbahnende Normalisierung der deutschen Beziehungen zu den Westmächten wurde von den Sowjets sofort als eine Bedrohung des deutsch-russischen Verhältnisses empfunden. Sie betrachteten den Abschluß des Dawesplans mit noch stärkerem Unbehagen als seinerzeit die Entente-Mächte den Abschluß des Rapallo-Vertrags. Dem ideologisch geprägten Denken der sowjetischen Politiker mußte unter dem Eindruck des unerwartet günstigen Ausgangs der Londoner Verhandlungen wohl zwangsläufig der Verdacht sich aufdrängen, daß nun die situationsbedingte Rapallo-Solidarität der Kriegsbesiegten der tiefergehenden Solidarität der „kapitalistischen" Mächte gegen das kommunistische Rußland weichen würde Die Sowjetunion dachte nicht daran, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Damit ist der Rahmen abgesteckt, in welchem die Frage des deutschen Beitritts zum Völkerbund, als Frage der „großen" europäischen Politik, zu sehen ist.
Deutschland und der Völkerbund 1919— 1924
Bis zum September 1924 war die Frage des deutschen Beitritts zum Völkerbund ein durchaus sekundäres Problem im Rahmen der Westbeziehungen. Der Völkerbund war, aus der deutschen Perspektive betrachtet, nicht viel mehr als ein Organ der Siegermächte zur Aufrechterhaltung und Durchführung des Versailler Vertrags. Frankreich hatte im Völkerbund die Vorherrschaft. Der Weg nach Genf konnte der deutschen Außenpolitik daher kaum positive Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, er schien eher geeignet, Deutschland in das Netz des Versailler Vertrags noch tiefer zu verstricken als es zu zerreißen Deutschland hat daher in der Völkerbundsfrage nie eine eigene Initiative unternommen. Nur einmal, auf der Pariser Friedenskonferenz, stellte es ein Aufnahmegesuch und das war, bevor der Bund seine endgültige Gestalt annahm. Clemenceau brachte damals den deutschen Antrag zu Fall mit der Begründung, daß man erst einmal den Frieden solide etablieren und dafür sorgen müsse, daß Deutschland ihn auch respektiere Frankreich trachtete den Völkerbund in den Dienst seiner auf die Erhaltung des europäischen Staates Status quo gerichteten Sicherheitspolitik zu stellen, nachdem das Scheitern der Verträge mit Großbritannien und den USA sein Sicherheitsbedürfnis unbefriedigt gelassen hatte. Die französische Völkerbundspolitik richtete sich eo ipso gegen Deutschland, dessen außenpolitische Grundtendenz unter dem Versailler Vertrag kaum anders als revisionistisch sein konnte.
Alle Versuche, Deutschland in den Völkerbund zu bringen, die von dritter Seite, das heißt von exneutralen Staaten, und — wenn auch nur zögernd — von England unternommen wurden, scheiterten daher entweder an der deutschen Unlust, in den Völkerbund einzutreten, oder an der französischen Weigerung, Deutschland hineinzulassen.
Trotzdem gab es in der deutschen Regierung keine grundsätzliche Opposition gegen den Völkerbund und nach der Wendung zur Politik der Erfüllung war abzusehen, daß Deutschland irgendwann im Zuge einer „Generalbereinigung" seines Verhältnisses zu den Westmächten auch in den Völkerbund eintreten würde. Das aber galt als eine Frage poli-tischer Zweckmäßigkeit, und gegenüber so wichtigen Problemen wie der Ruhrräumung, der Sicherung des Rheinlandes, der Militärkontrolle und der Entwaffnungsfrage war der Völkerbund ein sekundäres Problem.
Es stand für Deutschland fest, daß es nur unter gewissen Bedingungen eintreten würde. Deutschland verlangte, sofort bei seinem Beitritt einen ständigen Sitz im Bundesrat eingeräumt zu bekommen, der als Attribut der Groß-mächte eine Prestigefrage, aber auch für die wirksame Wahrnehmung deutscher Interessen im Völkerbund unerläßlich war. Die beim Eintritt in den Völkerbund geforderte Erklärung, daß Deutschland seine internationalen Verpflichtungen einhalten wollte, durfte nach deutscher Ansicht auf keinen Fall dazu führen, daß Deutschland aus freiem Willen noch einmal den sogenannten Kriegsschuldparagraphen (Artikel 231 des Versailler Vertrags) anerkannte. Ebenso wurde die These von der Unfähigkeit Deutschlands, Kolonien zu verwalten, zurückgewiesen und die Forderung nach Beteiligung am kolonialen Mandatsystem des Völkerbundes erhoben.
Als Wichtigstes gesellten sich dazu gewisse deutsche Bedenken gegen den Artikel der Bundessatzung. Die Artikel 16 und 16) bildeten den wichtigsten Teil der Bundessatzung, weil sie die ultima ratio des Völkerbundes, den kollektiven Machteinsatz zu Sanktionen gegen einen unbefugt zum Angriff schreitenden Staat, zu regeln suchten. Dieser Punkt war für die tatsächliche Macht des Bundes wie auch für die Autorität der unter seiner Ägide gefällten rechtlichen und schiedsrichterlichen Entscheidung von höchster Bedeutung. Artikel 16 war aber auch von Anfang an der umstrittenste Artikel der Bundessatzung gewesen, weil in ihm die Gesichtspunkte der internationalen politisch-militärischen Organisation und der nationalen Souveränität am schärfsten aufeinanderstießen. Artikel 16 in seiner damals gültigen Fassung enthielt einen Kompromiß, der weder die Anhänger der organisierten kollektiven Sicherheit noch die auf ihre volle nationale Souveränität pochenden Staaten befriedigte. Und zwar verpflichtete Artikel 16 Absatz 1 alle Bundesmitglieder, ihre Handels-und Finanzbeziehungen zu einem Angreifer abzubrechen und die Blockade zu verhängen. Absatz 3 verlangte bindend die passive militärische Mitwirkung, insbesondere die Gewährung des Durchmarsches an Völkerbundskontingente anderer Staaten. Andererseits konnte der Völkerbundsrat laut Absatz 2 aktive militärische Maßnahmen nicht verbindlich beschließen, sondern sie den Mitgliedstaaten nur empfehlen. Artikel 16 war also ein unvollkommenes, unklares und lückenhaftes Gebilde. Und während Kanada mit anderen überseeischen Staaten Artikel 16 kritisierte, weil er die nationale Souveränität nicht völlig unangetastet ließ, bemühte sich im Gefolge Frankreichs eine ganze Gruppe europäischer Staaten, Artikel 16 zu einem zuverlässigen Instrument der kollektiven Sicherheit 17) auszubauen.
Die deutsche Regierung monierte 18), daß Artikel 16 für das entwaffnete und geographisch exponierte Deutschland ein zu großes Risiko barg, als Teilnehmer einer Bundesexekution in einen Krieg verwickelt zu werden. Zwar stand wegen der deutschen Entwaffnung eine aktive militärische Beteiligung durch Stellung von Truppen außer Frage. Aber Deutschland hielt auch die Durchmarschgewährung für gefährlich, da sie mit der Preisgabe der deutschen Neutralität gleichbedeutend war. Deutschland hielt daher die Vereinbarung einer . gewissen Neutralität'für nötig, die etwa dem Status der Schweiz im Völkerbund entsprach.
MacDonald, der im Februar 1924 die erste englische Labour-Regierung bildete, setzte sich mit mehr Energie für den deutschen Beitritt ein. Er gedachte den französischen Widerstand zu überspielen, indem er sich nicht auf lange diplomatische Sondierungen einließ, sondern den deutschen Beitritt auf der 5. Vollversammlung des Bundes im September 1924 offiziell und öffentlich zur Sprache brachte. Es sei unmöglich, über Frieden und Sicherheit zu sprechen, sagte er in einer aufsehenerregenden Rede am 4. September wenn mitten unter den Völkerbundsmächten ein „drohender leerer Stuhl" bliebe, und er forderte, die Frage des deutschen Beitritts nun ein für allemal zu lösen und nicht länger zu vertagen. Unter dem Druck der völkerbundsfreundlichen öffentlichen Meinung, die auch in Deutschland an Boden ge-wann, schien es nicht ausgeschlossen, daß Deutschland noch während der 5. Völkerbundstagung ein Aufnahmegesuch an den Völkerbund richtete. Reichsaußenminister Stresemann, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, von Maltzan, und der Völkerbundsreferent, B. W.
von Bülow, sträubten sich jedoch heftig gegen Übereilungen und pochten auf die bereits genannten deutschen Beitrittsbedingungen, deren Erfüllung zunächst auf diplomatischem Wege gesichert werden sollte. Da entsprechende Recherchen in London 21) und bei der französischen Delegation in Genf ergebnislos blieben, begnügte sich ein Ministerrat am 23. September mit der unverbindlichen Erklärung 23), den Eintritt in den Völkerbund baldmöglichst anstreben zu wollen. Im übrigen wurde ein an zehn im Bundesrat vertretenen Memorandum die Mächte aufgesetzt, das diplomatische Verhandlungen über die deutschen Bedingungen anbahnen sollte.
Während dies Memorandum im Auswärtigen Amt vorbereitet wurde, trat eine Wendung ein, die der Völkerbundsfrage eine viel größere Bedeutung für die deutsche Politik gab: Die Sowjetunion schaltete sich ein und erhob in einer Note vom 23 September massive Vorstellungen gegen einen deutschen Beitritt zum Völkerbund
Die Sowjetunion nahm den Völkerbund als potentielles Machtinstrument des Westens, als Allianz der „kapitalistischen" Staaten sehr ernst Sie mißtraute vor allem der englischen Politik und fürchtete, Großbritannien könnte sich des Völkerbundes bedienen um die Interventions-und Blockadepolitik der Jahre 1918— 1921 zu erneuern. Während der Amtsperiode MacDonalds wurde dies Mißtrauen nur wenig gemildert, um nach dessen Ablösung durch die konservative Regierung Baldwin (6. November 1924) mit Chamberlain als Außenminister wieder erheblich an Tiefe zu gewinnen.
Es bedarf nur weniger Ausführungen, um die Bedeutung eines eventuellen deutschen Beitritts zum Völkerbund für das sowjetische Sicherheitsbedürfnis sichtbar zu machen. Die Nicht-Mitgliedschaft Deutschlands war für die Sowjetunion ein cordon sanitaire gegen die dem Bunde unterstellte anti-sowjetische Politik.
Solange Deutschland nicht auf den oben erwähnten Artikel 16 der Bundessatzung verpflichtet war, konnte es in einem Konflikt zwischen Sowjetrußland und dem Völkerbund neutral bleiben. Betrachtet man die damaligen Spannungsverhältnisse, so konnte ein solcher Konflikt zum Beispiel seinen Ausgang von einem russisch-polnischen Grenzkonflikt nehmen, bei dem der Völkerbundsrat Rußland zum Angreifer erklärte und die Bundesexekution eröffnete. Die deutsche Neutralität war in diesem Falle ein Faktor von überragender militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Sie muß nicht nur eine französische Hilfeleistung für Polen — im Rahmen der Bundesexekution — weitgehend vereiteln, weil ein neutrales Deutschland den Durchmarsch verweigerte, sie gestattete es Deutschland auch, seine Wirtschafts-
und Finanzbeziehungen zu Rußland aufrechtzuerhalten.
Bereits während der alliierten Blockade und im russisch-polnischen Krieg
hatte die deutsche Neutralität ihren Wert bewiesen.
Trat Deutschland jedoch dem Völkerbund bei und nahm es die Garantie und Sanktionsverpflichtungen der Bundessatzung in vollem Umfang auf sich, so ging Rußland der Schutzschild der deutschen Neutralität verloren.
Die Entscheidung über die letztere lag dann in der Hand des Völkerbundsrates das heißt in der Hand jener Mächte, denen Rußland eine schlechthin anti-sowjetische Politik unterstellte Rußland sah sich dann einem vom Antlantik bis Minsk unter dem Völkerbund zusammengefaßten Europa gegenüber, das Polen in seinen 1920 erkämpften, ethnographisch in keiner Weise gerechtfertigten Grenzen garantierte, und das auf Grund eines Ratsbeschlusses, von dem Rußland sich keiner Unparteilichkeit versah, gegen Rußland vorgehen konnte.
Das hier entworfene Bild wurde von den Sowjets in den nachfolgend zu schildernden Verhandlungen immer wieder heraufbeschworen. War diese sowjetische Furcht vor dem Völkerbund gerechtfertigt? Wurden nicht Geschlossenheit und Aggressivität der „kapitalistischen“ Welt übertrieben und die Funktionsfähigkeit des Bundes überschätzt? Zweifellos enthielt die damals fünfjährige Bundes-geschichte wenig, um diese hohe Meinung zu rechtfertigen. Deutschland mußte sich jedoch, ob dies Bild nun objektiv richtig oder falsch war, mit den sowjetischen Vorstellungen auseinandersetzen, wenn es nicht eine deutsch-sowjetische Entfremdung riskieren wollte. Dabei ist die deutsche Diplomatie allerdings nie ganz den Zweifel los geworden, ob die sowjetische Opposition gegen den deutschen Eintritt in den Völkerbund nur ihren Grund in einem aufrichtigen, defensiven Sicherheitsbedürfnis hatte, oder ob sie nicht vielmehr dem — aggressiven — diplomatischen Ziel diente, die deutsche Verständigungspolitik nach Westen, zu der der Völkerbundsbeitritt gehörte, zu durchkreuzen, Deutschland im Westen zu kompromittieren und es auf diese Weise zu einer Ostorientierung zu zwingen, die den Gegensatz zwischen Siegern und Besiegten verewigte und eine Konsolidierung der . kapitalistischen" Welt gegen Sowjetrußland verkündete. In allen Verhandlungen wirkte sich dieser deutsche Zweifel als restriktives Element aus, und nur aus der Doppelpoligkeit des ständigen Abwägens von berechtigtem Sowjet-interesse und der Furcht vor einer taktisch begründeten Verführung durch Moskau ist die vorsichtige, zähe, in jeder Phase sorgfältig mit den Westverhandlungen abstimmende deutsche Rußland-Politik in der Völkerbundsfrage zu verstehen.
Am 23. September, während in Berlin der Ministerrat über den deutschen Beitritt beriet, übergab der stellvertretende Außenkommissar Litwinow dem deutschen Geschäftsträger in Moskau ein Memorandum zur Frage des deutschen Beitritts, das dieser sofort der Eile halber unverschlüsselt nach Berlin übermittelte In diesem Schriftstück wurde — neben einer mehr oder weniger geschickt auf die deutschen Ressentiments gegen Versailles abgestimmten Polemik — mit der Feststellung, durch seinen Beitritt zum Völkerbund gerate Deutschland „in Kollision mit der Rapallo Politik", ein sehr ernster Ton angeschlagen. Die Behauptung. Rapallo und der deutsche Beitritt seien unvereinbar, deutete an, daß Sowjetrußland Deutschland vor eine Entscheidung zwischen beiden zu stellen gedachte. Das Memorandum bestand darauf, daß es hier nur eine ganze Entscheidung, entweder in der einen oder in der anderen Richtung, geben könne, mit allen Konsequenzen, ohne Mittelweg:
„Durch den Eintritt in den Völkerbund tritt Deutschland einer bestimmten Koalition bei, Deutschland wird dadurch zum Satellit ..
Deutschlands Politik kommt dadurch in Kollision mit der Rapallo-Politik. Dem eigenen Wunsch zuwider, durch die Macht der Tatsachen wird Deutschland auf diese Weise in solche Kombinationen und Aktionen hineingezogen, welche es in Konflikte mit uns führen werden Deutschland wird zu einem Faktor der Machtpolitik der Entente-Staaten herab-sinken." Hier wurde also das Problem einer deutschen Ost-oder Westorientierung in der Völkerbundsfrage zum ersten Male in voller Deutlichkeit gestellt.
Neben der Drohung fehlte nicht die Lockung. Das Memorandum enthielt Anspielungen auf das Problem der osteuropäischen Grenzen. Der Völkerbund sei „eine zum System erhobene Verewigung der bestehenden Grenzen und speziell der Versailles-Grenzen . . Die jetzige Grenze in Schlesien ist auch dabei inbegriffen sowie auch gewisse andere uns näher berührende Grenzen". „Keine formelle Reservation" könne Deutschland über die Anerkennung dieser Tatsachen hinweghelfen, wenn es dem Bunde beiträte. Die Suggestion ließ kaum an Deutlichkeit zu wünschen übrig, wenn die Sowjetnote weiter ausführte, daß das von der Sowjetunion im Gegensatz zum Völkerbund erstrebte Friedenssicherungssystem ethnographisch und plebiszitär regulierte Grenzen zum Ziel hätten Beruhten doch die deutschen Proteste gegen die deutsch-polnische Grenzziehung und die oberschlesische Regulierung eben darauf, daß diese Prinzipien zuungunsten Deutschlands verletzt worden waren. Wenn sich die russischen Erwägungen auch in keiner'. Punkt zu einem konkreten Angebot verdichteten, wurde zwischen den Zeilen doch zweifellos die Möglichkeit eines deutsch-russischen Zusammengehens in der polnischen Frage sichtbar, sofern Deutschland zum Verzicht auf den Völkerbundsbeitritt bereit war. Diese Interpretation ist um so berechtigter, als bald darauf das russische Angebot in deutlicherer Form wiederholt wurde 32). Aus den Vorarbeiten und Entwürfen 33) für das deutsche Memorandum an die Ratsmächte, aus dem Protokoll des Ministerrats vom 23. September 34) und dem endgültigen Text des deutschen Memorandums läßt sich nun rekonstruieren, welchen Einfluß die sowjetische Intervention auf die deutsche Haltung in der Völkerbundfrage nahm. Der deutsche Vorbehalt zu Artikel 16 wurde zur Forderung nach absoluter Befreiung Deutschlands von sämtlichen Verpflichtungen dieses Artikels verschärft. Vor der Ministerratssitzung war nur von einer „gewissen Neutralität" Deutschlands — „wie die Schweiz" — die Rede gewesen, und im Ministerrat selbst wurde dieser Punkt von den meisten Kabinettsmitgliedern nur für „wünschenswert" gehalten, nicht aber für unbedingt nötig. Nach dem endgültigen Wortlaut des Memorandums hingegen verlangte Deutschland bei einem Beitritt zum Völkerbund die Wahrung seiner vollen Neutralität, und in den nachfolgenden Auseinandersetzungen mit Moskau führte die deutsche Regierung ihre Haltung zu Artikel 16 als Beweis dafür an, daß sie bestrebt sei, trotz eines eventuellen Beitritts zum Völkerbund ihr Verhältnis zur Sowjetunion ungetrübt zu erhalten
Auch die Erwähnung der polnischen Frage in der sowjetischen Note ging nicht spurlos am deutschen Memorandum an die Ratsmächte vorüber. Vor dem Ministerrat war erwogen worden ob eine Zurückweisung der deutschen Alleinschuld am Kriege von 1914/18 nach Artikel 231 des Versailler Vertrages, die Deutschland anläßlich seines Beitritts zum Völkerbund aussprechen wollte, auch einen Vorbehalt gegen gewisse materielle Bestimmungen des Versailler Vertrags einschließen könnte. Die juristische Antwort darauf fiel völlig negativ aus, und im Entwurf des Memorandums an die Ratsmächte war dann auch nur eine Formulierung enthalten, die die moralische Belastung des deutschen Volkes durch den Artikel 231 zurückwies. Es ist nun bemerkenswert, daß in der endgültigen Fassung des Memorandums trotzdem der Versuch unternommen wurde, auch einen Vorbehalt gegen materielle Bestimmungen des Versailler Vertrags, und zwar gegen die Regelung der deutschen Ostgrenzen, aufzunehmen. Es hieß, daß Deutschland zur Erfüllung seiner internationalen Verpflichtungen zwar entschlossen sei, aber die Erklärungen aufrechterhalte, die es zu diesen Verpflichtungen bei früheren Gelegenheiten abgegeben habe. Das bezog sich, wie Maltzan nach Moskau telegraphierte auf die deutsch-polnische Grenze. Deutschland habe hiergegen vor und bei der Unterzeichnung des Versailler Vertrags protestiert, da die Grenze Wilsonschen Grundsätzen nicht entspräche und insbesondere mit dem ethnographischen Prinzip nicht vereinbar sei. Mit diesem Argument begegnete Maltzan dem russischen Argument, daß Deutschland nach seinem Beitritt zum Völkerbund in der polnischen Frage die Hände gebunden sein würden.
Im Oktober, November und vor allem im Dezember 1924 fanden weitere deutsch-sowjetische Fühlungnahmen in der Völkerbundsfrage statt wobei die Sowjetunion eindeutig als der treibende Teil zu erkennen ist.
Mehr als einmal suchte Berlin nachzuweisen, daß der deutsche Beitritt unter den genannten Bedingungen weder die Aufrechterhaltung guter deutsch-russischen Beziehungen noch eine Verständigung über die polnische Frage unmöglich machte, wobei das Endziel für Deutschland und Rußland „wohl in der Zurückdrängung Polens auf seine ethnographischen Grenzen läge", wie Maltzan am 13. Dezember nach Moskau telegraphierte Die Sowjetunion benutzte die polnische Frage jedoch nur als Köder für andere Ziele. In der Nacht vom ersten zum zweiten Weihnachtstag 1924 erklärte der sowjetische Volkskommissar Tschitscherin dem deutschen Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau Moskau wünsche den Ra-pallo-Vertrag durch einen deutsch-russischen Neutralitätsvertrag zu ergänzen, und zwar dachten die Russen an einen unbeschränkten Neutralitätsvertrag, der die deutsche Neutralität im Falle eines russischen Verteidigungswie Angriffskriegs gewährleisten sollte Das wurde nun von den Sowjets als Voraussetzung für eine gemeinsame Behandlung der polnischen Frage bezeichnet.
Das Vorgehen der deutschen Regierung in der Völkerbundsfrage nach Beginn der russischen Interventionen im September zeigt, daß sie einen mittleren Kurs einzuschlagen suchte. In dem grundsätzlich gefaßten Entschluß zum Völkerbundseintritt ließ sie sich durch Moskau nicht irremachen. Andererseits versuchte sie die russischen Bedenken wegen eines Verlustes der deutschen Neutralität durch eine Verschärfung ihres Vorbehalts gegen Artikel 16 zu zerstreuen und Rußland auf dieser Basis mit dem deutschen Beitritt zu versöhnen. Nichts wäre verkehrter, als die deutsch-russischen Fühlungnahmen über Polen als konkrete Vorbereitung einer gemeinsamen und gewaltsamen Revisionspolitik und somit als einen frühen Vorläufer des Molotow-Ribbentrop-Paktes anzusehen. Keine von beiden Regierungen konnte damals ernstlich an einen Angriff auf Polen denken, wie denn auch Rantzau den Russen gleich entgegenhielt, die Ansprüche gegen Polen „mit Gewalt durchzusetzen, sei gegenwärtig aber völlig aussichtslos, ein derartiger Versuch wäre Wahnsinn" Moskau dachte im Zusammenhang mit dem deutschen Eintritt in den Völkerbund weniger an Polen als an seine eigene Sicherheit, und Deutschland ging auf die polnische Frage ein, weil sie — neben dem Artikel 16 — ein Mittel zu bieten schien, Sowjetrußland trotz Völkerbundsbeitritt „bei der Stange" zu halten. „Das Haupt-Atout, das wir Rußland gegenüber noch in der Hand haben, ist unsere Aktionsfreiheit gegen Polen", heißt es in einer späteren Aufzeichnung des Auswärtigen Amts
Bei den Sowjets stießen die deutschen Bemühungen, ihnen die praktische Harmlosigkeit des durch einen deutschen Vorbehalt entschärften Artikel 16 zu beweisen, vorerst niditaufdas geringste Verständnis. Im Gegenteil sich hatte die sowjetische Position mit der Forderung eines (unbeschränkten) Neutralitätsvertrags in einer Weise präzisiert, die mit dem deutschen Beitritt zum Völkerbund unvereinbar war und das deutsche Verhältnis zum Westen stark belasten mußte. Deutschland wurde also an Hand der in ihrer Bedeutung letzten Endes doch begrenzten Völkerbundsfrage plötzlich vor außenpolitische Entscheidungen von großer Tragweite gestellt. Solche Entscheidungen vom Range einer Ost-oder Westorientierung lagen damals nicht im deutschen Interesse Die der deutschen Außenpolitik durch den Versailler Vertrag vorgezeichneten Aufgaben machten ein gutes Verhältnis zum Westen unerläßlich, wie durch die Erfüllungs-und Verständigungspolitik auch anerkannt worden war. Die Weiterverfolgung dieses Weges schien einstweilen das aussichtsreichste Mittel zur Erreichung der unmittelbar bedrängenden Nahziele, wie Ruhrräumung, termingerechte Räumung der ersten Rheinlandzone zum 10. Januar 1925 und Militärkontrollfrage, zu sein. Andererseits gab der Rückhalt im Osten Deutschland eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Versailler Mächten, in der angesichts der sonstigen Schwäche Deutschlands sein wichtigstes, wenn nicht einziges außenpolitisches Kapital bestand. Die drohende Zuspitzung der Völkerbundsfrage zur Notwendigkeit einer unerwünschten Option zwischen Ost und West bildete keinen Anreiz für die deutsche Diplomatie, den deutschen Beitritt zu forcieren. Nachdem die Erörterungen mit den Ratsmächten keine Aussicht auf eine Berücksichtigung der deutschen Bedenken gegen Artikel 16 eröffnet hatten, legte Deutschland in einer Note an den Völkerbund noch einmal seinen Standpunkt nieder. Stresemann wollte damit die Völkerbundsfrage einstweilen vertagen und es dem Bund selbst überlassen, Deutschland Lösungsvorschläge zu unterbreiten Dem entsprach es, daß auch die russischen Eröffnungen vom Weihnachtsfest vorläufig unbeantwortet blieben.
Sicherheitspakt, Völkerbundsfrage und Ostbeziehungen Drei Monate später stellte sich die Völkerbundsfrage unter veränderten Umständen wieder für Deutschland. Am 9. Februar 1925 unternahm die deutsche Regierung ihre bekannte Sicherheitsinitiative, die auf den Weg nach Locarno führte. Es war ein defensiver Akt — einmal gegen die französische Rheinpolitik, stark mitbedingt durch die nicht vollzogene Räumung der Kölner Zone am 10. Januar 1925;
ferner gegen die Wiederbelebung der Idee einer angio-französisch-belgischen Entente als Ersatzlösung für das von England abgelehnte Genfer Protokoll. Ziel der deutschen Initiative war die Sicherung der deutschen Westgrenze, während die Ostprobleme völlig unberücksichtigt und offen bleiben sollten. Deutschland wollte sich gegenüber Polen in keiner Weise binden. Aus zwei Gründen war die deutsche Sicherheitsinitiative völlig abseits vom Völkerbund konstruiert. Einmal hatten Sicherheitsregelungen durch den Völkerbund, wie etwa das Genfer Protokoll, generellen Charakter und machten die von Deutschland gewünschte Differenzierung zwischen Ost-und Westfragen unmöglich. Zum anderen mußte ein erneutes Aufwerfen der Völkerbundsfrage wieder zu Schwierigkeiten mit der Sowjetunion führen. Stresemann hatte auch die — allerdings nur vorläufige — Genugtuung, daß der Sowjetbotschafter in Berlin, Krestinski, am 6. März anerkannte ein Westpakt im Sinne der deutschen Vorschläge müsse nicht notwendig eine Trübung des deutsch-russischen Verhältnisses nach sich ziehen. Stresemanns Genugtuung war von kurzer Dauer. Der Westen war nicht gesonnen, die Gelegenheit eines politischen Paktes mit Deutschland ohne den Versuch verstreichen zu lassen, der deutschen Ostpolitik einen Riegel vorzuschieben und Deutschland in ein System zur Isolierung Sowjetrußlands einzubeziehen. Wie schon vermerkt, vollzog sich der Regierungswechsel in England im November 1924 unter antisowjetischem Vorzeichen. Auf der Pariser Entrevue am 5. Dezember 1924 gelang es Chamberlain, Herriot von der Notwendigkeit einer gemeinsamen antirussischen Politik zu überzeugen und die Franzosen davon zurückzuhalten, daß sie von den im Oktober erst aufgenommenen diplomatischen Beziehungen zu Moskau intensiveren Gebrauch machten Die Gegenleistung, die Chamberlain dafür erbrachte, stand allerdings im Widerspruch zu dieser Grundausrichtung seiner Politik Er ging auf die französischen Wünsche einer Wiederbelebung der Entente ein, in der Frankreich einen Ersatz für das Genter Protokoll zu finden hoffte, dessen Ablehnung durch die konservative englische Regierung bereits vorauszusehen war. Das englische Kabinett, das Anfang März 1925 über das Genfer Protokoll, die deutsche Sicherheitsinitiative und die französischen Ententeideen zu entscheiden hatte, kritisierte an den letzteren, daß ein Deutschland ausschließender Westpakt das sicherste Mittel sei, eine deutsch-sowjetische Gegen-allianz heraufzuführen Diese Besorgnis gab den Ausschlag für die englische Entscheidung zugunsten der deutschen Sicherheitsvorschläge.
Nachdem Frankreich sich unter englischem Druck und unter vielen Vorbehalten, über die im Sommer 1925 zwischen Paris, London und Berlin verhandelt wurde, zu einem Sicherheitspakt mit Deutschland bereit erklärt hatte, trat eine für Berlin höchst unerwünschte Wendung ein, als beide Westmächte gemeinsam verlangten, daß Deutschland im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Sicherheitspaktes auch dem Völkerbund beitreten müsse Im Völkerbundsrat einigten England und Frankreich sich darauf, die in der deutschen Note an den Völkerbund vom 12. Dezember 1924 erneut vorgebrachten Bedenken gegen Artikel 16 wiederum abzulehnen, was der deutschen Regierung in einem Memorandum des Rats am 14. März 1925 mitgeteilt wurde.
Dadurch erneuerte sich die Gefahr, anläßlich der Völkerbundsfrage zu einer unerwünschten Entscheidung zwischen Ost und West gezwungen zu werden, in sehr viel krasserer Weise. Die Notwendigkeit einer politischen Abstimmung mit der Sowjetunion trat wieder in den Vordergrund. Bereits am 19. März richtete Stresemann eine ausführliche Instruktion an Brockdorff-Rantzau in der er das Ratsmemorandum verarbeitete und den Sowjets nunmehr einen vorbehaltlosen deutschen Beitritt zum Völkerbund schmackhaft zu machen suchte, wie die Ratsnote ihn verlangte. Er kam zu dem Ergebnis, „daß die Verpflichtungen aus Artikel 16 kein unüberwindliches Hindernis für den Ausbau der deutsch-russischen Beziehungen darstellen würden. Man wird unbedenklich sagen können, daß wir, rein praktisch genommen, durch diesen Artikel die Möglichkeit der Neutralität gegenüber Rußland nicht verlieren". Die Haltung, die Deutschland hier zu Artikel 16 einnahm, war im Grunde völlig realistisch. Von der Unvollkommenheit und Lückenhaftigkeit des Artikels 16 war schon die Rede, und was Stresemann hier niederlegte, entsprach den Mental-reservationen, die viele Völkerbundsmitglieder gegenüber Artikel 16 machten. Die sowjetische Reaktion zeigte jedoch sehr schnell, daß auf dieser Grundlage mit Moskau nicht zu verhandeln warM). Jeglicher deutsche Beitritt zum Völkerbund, und erst recht ein vorbehaltloser, wurde erneut kategorisch abgelehnt. Bezeichnend für den taktischen und beweglichen Charakter der deutschen Position ist es, daß gleichzeitig mit den Sondierungen bei den Sowjets Vorstellungen bei den Westmächten erhoben wurden, in denen der entgegengesetzte Standpunkt vertreten wurde. Während Stresemann den Sowjets einen vorbehaltlosen deutschen Beitritt schmackhaft zu machen versuchte, kritisierte er die Ratsnote gegenüber dem Westen, weil sie mit ihrer Forderung eines bedingungslosen deutschen Völkerbundsbeitritts der deutschen Situation nicht gerecht werde Die Antworten aus dem Westen waren jedoch nicht weniger ablehnend als die aus Moskau 65a).
Die ungewollte Zuspitzung der Situation veranlaßte im Auswärtigen Amt weitgespannte Überlegungen. Sowohl der Verzicht auf den Sicherheitspakt und eine konseguente Ost-orientierung wie eine konsequente Westorientierung unter Bruch mit Moskau wie auch die Suche nach ganz „anderen Wegen" wurden erwogen und fanden Fürsprecher in der Umgebung Stresemanns Der Reichsaußenminister selbst lehnte hingegen radikale Lösungen ab. An Rantzau schrieb er, „daß es ein bedauerlicher Mißerfolg unserer Politik wäre, wenn Deutschland tatsächlich vor eine solche Alternative (Entscheidung zwischen Ost und West — d. Vf. gestellt würde. Unsere ganzen Bemühungen müssen darauf gerichtet sein, diese Alternative zu vermeiden oder zum mindesten ihre gefährlichen Wirkungen abzuschwächen"
Da Stresemann im Westen auf taube Ohren stieß, versuchte er den Sowjets weiterhin den vorbehaltlosen deutschen Beitritt mit allen Mitteln politischer Überzeugung und juristischer Argumentation als unbedenklich hinzustellen Auf die Mitwirkung des eine Ost-orientierung vertretenden Grafen Brockdorff-Rantzau mußte er dabei weitgehend verzichten, da der Botschafter sich außerstande erklärte, die Berliner Ausarbeitungen in Moskau wirkungsvoll zu vertreten. Ende Juni reiste daher Herbert v. Dirksen, der Leiter der Ostabteilung, mit nach Moskau Alle Versuche, die Sowjets mittels Argumenten von der praktischen Harmlosigkeit eines vorbehaltlosen deutschen Beitritts zum Völkerbund zu überzeugen, prallten an der Intransigenz ab, mit der die sowjetischen Außenpolitiker am Standpunkt ihres Memorandums vom 23. September des Vorjahres festhielten, bei einem Völkerbundsbeitritt Deutschlands werde sich eine Westorientierung unter Bruch mit der Rapallo-Politik nicht vermeiden lassen Wenn es Dirksen trotzdem gelang, Tschitscherin in langwierigen Auseinandersetzungen das (mündliche) Zugeständnis zu entlocken, „daß die Aufrechterhaltung der Vorbehalte geeignet sei, diese Bedenken (gegen einen deutschen Beitritt — d. Vf.)
wesentlich herabzumindern" lag das an einer wichtigen deutschen Konzession, die Dirksen mit nach Moskau genommen hatte. Moskau hatte ja seit langem zu erkennen gegeben, daß ihm an einer einseitigen deutschen Argumentation über Artikel 16 nicht viel gelegen war. Sein Ziel waren von Anfang an bindende schriftliche Abmachungen über die Neutralität gewesen. Zu Verhandlungen über solche Abmachungen, die Deutschland bisher strikt abgelehnt hatte, erklärte es sich nunmehr bereit Der Entwurf einer „Präambel", den Dirksen Tschitscherin vorlegte, war die Keimzelle des Berliner Vertrages zwischen Deutschland und Sowjetrußland vom 24. April 1926. Der politische Inhalt dieses ersten Präambel-Entwurfes war jedoch so vage, daß Tschitscherin ihn als „Trinkspruch" abtat. Sowjetische Gegenvorschläge kamen sofort wieder auf das vom Dezember 1924 bekannte Projekt eines unbeschränkten Neutralitätsvertrags zurück, der mit Artikel 16 und dem deutschen Beitritt zum Völkerbund unvereinbar war.
Die hier sichtbar werdenden Gegensätze ließen langwierige Verhandlungen erwarten. Stresemann fürchtete, Parallelverhandlungen mit den Sowjets könnten das Westpaktwerk gefährden, zumindest aber die westlichen Forderungen verschärfen. Es war ein sehr geschickter Schachzug Stresemanns, der von der heiklen Völkerbundsfrage ablenkte, wenn er jetzt die Verhandlungen mit Moskau drosseln ließ, um erst nach Abschluß des Westpaktes weiter zu verhandeln Mitte August kehrte Dirksen ohne jedes konkrete Ergebnis aus Moskau zurück.
Die Sowjets zogen daraus nicht die Konsequenz, die Verhandlungen abzubrechen. Vielmehr erklärte Litwinow am 27. August dem deutschen Botschafter die sowjetische Regierung würde über ihre Vorschläge auch dann weiter verhandeln, wenn Deutschland genötigt sein würde, dem Völkerbund beizutreten. Damit war eine der wichtigsten Voraussetzungen für den deutschen Beitritt geschaffen. Deutschland ging jetzt zwar mit dem sowjetischen Plazet zum Völkerbundsbeitritt in die Locarno-Verhandlungen, aber auch mit der Hypothek, eine Regelung zu Artikel 16 auszuhandeln, zu der es sich den Sowjets gegenüber bereits verpflichtet hatte und die schriftliche Abmachungen mit Sowjetrußland im Sinne der Neutralität ermöglichte. Tschitscherin, der am Vorabend von Locarno in Berlin mit Stresemann konferierte ließ sich von diesem bestätigen, daß die „Richtlinien* für die deutsche Locarno-Delegation die Aushandlung eines Vorbehalts zu Artikel 16 bindend verlangten. Die Fortsetzung der deutsch-russischen Verhandlungen wurden für die Zeit unmittelbar nach der Locarno-Konferenz in Aussicht genommen.
Deutsche Ostpolitik in Locarno Nachdem die Hoffnungslosigkeit der deutschen Bemühungen, Sowjetrußland den vorbehaltlosen deutschen Beitritt in den Völkerbund akzeptabel zu machen, feststand, wurde es unumgänglich, die deutschen Bedenken gegen den Artikel 16 wieder in den Westverhandlungen zur Sprache zu bringen. In der Note an Frankreich vom 20. Juli 1925 in der die deutsche Regierung sich offiziell bereit erklärte, in Verbindung mit dem Sicherheitspakt in den Völkerbund einzutreten, wurde gleichzeitig daran erinnert, daß noch die deutschen Bedenken gegen Artikel 16 zu berücksichtigen seien — sehr zum Befremden Briands und Chamberlains, die diese Frage bereits als erledigt angesehen hatten. Da es vor Locarno weder mit dem Osten noch mit dem Westen zu einer detaillierten Auseinandersetzung über Artikel 16 kam, blieb Deutschland nichts anderes übrig, als von sich aus eine Formel zur Berücksichtigung seines Vorbehalts zu entwikkeln. Diese vom Auswärtigen Amt entworfene Formel verlangte nicht eine individuelle Sonderregelung, die Deutschland auf Grund seiner Entwaffnung vor der Preisgabe seiner Neutralität durch Artikel 16 schützte, sondern eine allgemeine Interpretation des Artikels 16 in dem Sinne, daß der Tatbestand der Entwaffnung grundsätzlich und allgemein berücksichtigt wurde. In den vorbereitenden Dokumenten für die Locarno-Konferenz* taucht schon jene Formel wortwörtlich auf, die in Locarno als Lösung akzeptiert wurde. Artikel 16 bildete nach einem Wort Briands den „Angelpunkt" der Locarno-Verhandlungen. Es kann nicht im einzelnen dargelegt werden, wie der deutsche Standpunkt in dieser am heißesten umstrittenen Frage sich durchsetzte. Das Ergebnis war die sogenannte Anlage F des Schlußprotokolls von Locarno In ihr teilten die Außenminister Belgiens. Frankreichs, Englands, Italiens, der Tschechoslowakeisund Polens der deutschen Regierung als ihre eigene Auffassung von Artikel 16 mit, „daß jeder der Mitgliedstaaten des Bundes gehalten ist, loyal und wirksam mitzuarbeiten, um der Satzung Achtung zu verschaffen und jeder Angriffshandlung entgegenzutreten" — und nun folgt der eigentlich entscheidende Satz, der den ersten Teil völlig entwertet — „in einem Maße, das mit seiner militärischen Lage verträglich ist und das seiner geograpischen Lage Rechnung trägt". Deutschland wurde damit konzediert, daß es sich unter Berufung auf seine Entwaffnung, d. h. auf seine „militärische Lage", notfalls allen Verpflichtungen des Artikels 16 entziehen konnte. Jedenfalls war das die deutsche Interpretation, der von alliierter Seite nicht offiziell widersprochen worden ist Es war allerdings keine formelle, juristisch wirksame Befreiung Deutschlands von Artikel 16, und wieweit die Interpretation im Anwendungsfalle wirklich gebrauchsfähig war, blieb offen. Die Anlage F ist ja nie auf die Probe gestellt worden. Offen blieb vor allem die nach Locarno von den Sowjets in Berlin sofort gestellte Frage was denn geschähe, wenn die Alliierten Deutschland im Falle eines Konflikts die Wiederbewaffnung gestatteten und also die Berufung auf die militärische Lage unmöglich machten.
Die Anlage F des Schlußprotokolls von Locarno und der Berliner Vertrag Mit der Anlage F glaubte Deutschland einen gewissen Spielraum für Abmachungen mit Rußland, die die Neutralität zum Gegenstand hatten, gewonnen zu haben. Zur Zeit von Locarno stand ja bereits fest, daß die Verhandlungen mit den Russen mit dem Ziel derartiger Abmachungen weiterzuführen waren, -nur unter dieser Bedingung war das russische Einverständnis mit dem deutschen Völkerbundsbeitritt gegeben. Der deutschen Ruß-land-Diplomatie stellte sich nunmehr die konkrete Aufgabe, innerhalb dieses Spielraums ein Angebot an Rußland zu entwerfen, das a) die Sowjets hinreichend davon überzeugte, daß Locarno und Völkerbundsbeitritt nicht gleichbedeutend mit einer deutschen Westschwenkung waren, das ferner b) dem Westen gegenüber vertreten werden konnte, ohne daß Deutschland sich den Vorwurf zuzog, seine Abmachungen mit Rußland würden sich mit seinen Völkerbundsverpflichtungen überschneiden. Den Ausweg darin zu suchen, daß mit Moskau Abmachungen getroffen wurden, die wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den deutschen Bundespflichten geheimzuhalten wären, lehnten Stresemann, Schubert und die Mehrzahl der führenden deutschen Diplomaten ab. Deutschland durch die Preisgabe solcher Geheimabmachungen beim Westen zu kompromittieren und das in Locarno angebahnte Vertrauensverhältnis zu stören, schien zu sehr auf der Linie der sowjetischen Politik zu liegen, als daß Berlin die Werkzeuge dazu liefern wollte.
Die Aufgabe der deutschen Diplomatie war unter diesen Voraussetzungen äußerst delikat. Rußland wollte sich nach wie vor der unbeschränkten deutschen Neutralität versichern. Deutschland war zwar de facto bereit, Ruß-land gegenüber bei einem Konflikt mit Polen in jedem Falle neutral zu bleiben. Es meinte, sich in der Anlage F die Möglichkeit dazu verschafft zu haben. Denn wenn der Rat Rußland zum Angreifer erklären sollte, wollte Deutschland unter Verweis auf seine geographische und militärische Lage die Teilnahme der Bundesaktion ablehnen und neutral bleiben. Es schien hingegen völlig ausgeschlossen, diese praktische Schlußfolgerung, die Deutschland gegebenenfalls aus der Anlage F zu ziehen gedachte, von vornherein in einem unbeschränkten Neutralitätsvertrag mit Rußland festzulegen. Dies Bild der juristischen Lage der deutschen Rußland-Politik nach Locarno bedarf jedoch einer diplomatischen Einschränkung. Deutschland hatte in den Diskussionen über Artikel 16 nie ein Hehl daraus gemacht, daß der Zweck der deutschen Bedenken darin bestand, auf keinen Fall durch die Völkerbundsmitgliedschaft seine Beziehungen zu Ruß-land zu belasten oder sich gar in einen Krieg mit ihm verwickeln zu lassen. An der immer wieder als Modellfall herangezogenen Möglichkeit eines polnisch-russischen Krieges, bei der der Bundesrat Rußland zum Angreifer erklärte, hatte Stresemann in Locarno verdeutlicht daß Deutschland höchste Gefahr lief, wenn es sich an den unter Artikel 16 vorgesehenen Maßnahmen beteiligte. Selbst eine ge-ringfügige deutsche Teilnahme an wirtschaftlichen Maßnahmen gegen Rußland könnte von einem gegen Polen und die Bundeskontigente möglicherweise siegreichen Sowjetrußland zum Vorwand genommen werden, um in das entwaffnete und politisch unstabile Deutschland einzulallen — Stresemann erinnerte an die kommunistischen Aufstände in Hamburg. Dresden, Thüringen — und das Regime des Bolschewismus bis an die Elbe auszudehnen. Die Schlußlolgerung, die Deutschland gegebenenfalls aus der Anlage F ziehen würde, mußte auch Briand und Chamberlain völlig klar sein. Hinter der Fassade der Anlage F verbarg sich die politische Tatsache, daß England und Frankreich die Sonderstellung Deutschlands als Völkerbundsmitglied gegenüber Rußland akzeptierten. Das galt freilich nur, solange Deutschland einen offenen, juristisch nachweisbaren Widerspruch zu seinen Bundespflichten vermied. Der diplomatische Spielraum war somit größer als der völkerrechtliche.
In diesen völkerrechtlich und diplomatisch verschieden großen Spielraum hinein ist nun das Werk des Berliner Vertrages mit Sowjetrußland vom 24. April 1926 konstruiert. In den ersten Monaten des Jahres experimentierte Berlin mit verschiedenen Formen und Formeln für schriftliche deutsch-sowjetische Abmachungen. die in der deutschen Regierung selbst sehr umstritten blieben und die alle nicht das Gefallen des sowjetischen Partners fanden Es war der deutsche Botschafter in Paris, v. Hoesch’ der schließlich den zum Erfolg führenden Weg wies. Er schlug vor, anstatt den Abmachungen die vage Form einer Präambel oder eines Protokolls zu geben, den Russen in der Form entgegenzukommen und einen formellen Neutralitätsvertrag zu schließen. Dafür aber sollte der Inhalt unverfänglich und mit dem deutschen Beitritt zum Völkerbund eindeutig vereinbar sein, d. h., es sollte nur ein beschränkter Neutralitätsvertrag geschlossen werden, der allein für den Fall eines sowjetischen Verteidigungskrieges galt. Eine solche Lösung schien möglich, da Artikel 16 bzw. Artikel 17 Rußland nur als potentiellen Angreifer betraf. Das vorher erwogene deutsch-russische Protokoll wurde abgeschwächt und schließlich als Notenwechsel dem Vertrag hinzugefügt. Diese Lösung hatte den Vorteil, daß sie klar und mit Deutschlands Völkerbundsbeitritt juristisch voll vereinbar war. Es gelang, das auch den Westmächten klarzumachen, die kurz vor Abschluß des Berliner Vertrages unterrichtet wurden Das Befremden Londons und Paris'hielt sich in Grenzen und blieb vorübergehender Natur.
Die Lösung hatte jedoch von sowjetischer wie von deutscher Seite eine Schwäche und blieb hinter den vorher gepflogenen Verhandlungen, wie etwa dem deutschen Protokollentwurf’ zurück. Diese Schwäche lag in der Einengung auf die beschränkte Neutralität. Im russischen Interesse lag natürlich die Zusicherung der unbeschränkten deutschen Neutralität, und sie war ja auch beharrlich gefordert worden; noch in letzter Minute schlugen die Sowjets Abänderungen in diesem Sinne vor. Selbst wenn die Sowjetunion keine aggressiven Absichten gegen Polen hegte, war die Bestimmung des Angreifers bei einem Konflikt, der sich etwa aus Grenzzwischenfällen ergab, äußerst schwierig, und von den im Völkerbundsrat vertretenen Mächten erwartete Rußland keine unparteiliche Entscheidung. Es lag aber auch im deutschen Interesse, die Sowjetunion wissen zu lassen, daß Deutschland de facto unbeschränkte Neutralität ihr gegenüber bewahren würde. Nur durch Klarheit in diesem Punkt konnte das sowjetische Mißtrauen gegen einen deutschen Beitritt zum Völkerbund wirklich zertreut werden. Außerdem kam jede Einschränkung der deutschen Neutralität indirekt Polen zugute, ein Sachverhalt, der bei den Erörterungen stets mitsprach. Der Ausweg, den man schließlich im Berliner Vertragswerk fand, war ein kompliziertes, in formaler wie inhaltlicher Hinsicht dreifach abgestuftes Gebilde. In der juristisch absolut bindenden und öffentlichen Form des Berliner Vertrages”) wurde nur die beschränkte Neutralität, die mit den deutschen Bundespflichten vereinbar war, niedergelegt. In der juristisch weniger verpflichtenden, aber doch schriftlichen und ebenfalls öffentlichen Form des Notenwechsels wurde die Anlage F erwähnt. Hier hieß es in Punkt 3 ziemlich vage: . Wegen der Frage, ob und in welchem Maße Deutschland im konkreten Falle überhaupt imstande sein würde, an einem Sanktionsverfahren teilzunehmen, verweist die Deutsche Regierung auf die bei Gelegenheit der Unterzeichnung des Vertrags-werkes von Locarno an die Deutsche Delegation gerichtete Note über die Auslegung des Artikels 16“. Diese Formulierung war, wie die Akten zeigen, das Überbleibsel von Bemühungen, die Sowjetunion wissen zu lassen, daß Deutschland in jedem Falle neutral bleiben würde. Die Anlage F war in Locarno aus Diskussionen über den Fall eines Konflikts in Osteuropa hervorgegangen. Sie war praktisch bedeutungsvoll nur für den Fall, daß der Bundesrat die Exekution gegen ein Polen angreifendes Rußland beschloß, so daß die Anlage F wirklich keinen anderen Zweck verfolgte, als Deutschland in einem Konflikt neutral zu hallen, bei dem Rußland vom Völkerbundsrat zum Angreifer erklärt wurde. Ein sowjetischer Angriff auf Polen und die daraus folgenden Verwicklungen galten im Auswärtigen Amt als der Fall mit den größten Möglichkeiten, die deutschen Revisionswünsche gegen Polen zu verwirklichen Deutschland konnte also nichts daran liegen, durch eine Einschränkung seiner Neutralität Rußland zurückzuhalten und Polen den Rücken zu stärken. Die „Schlußfolgerung", wie sie mehrfach bezeichnet wird, daß die Anlage F auf eine unbeschränkte Neutralität Deutschlands gegenüber Rußland de facto hinauslief, wurde jedoch nur mündlich und geheim gezogen, als Rantzau den Entwurf des Berliner Vertrags Ende Februar in Moskau übergab. Nach Stresemanns Instruktion vom 26. Februar sollte der Botschaftei erklären, aus der der Anlage F in der ergebe sich „Schlußfolgerung, die daß Deutschland selbst wenn es glaubt, daß Rußland der Angreifer sei, mit Rücksicht auf seine geographische und militärische Lage faktisch keine feindlichen Handlungen gegen Rußland vornehmen könnte“. Diesen Punkt jedoch zum Gegenstand schriftlicher Geheimvereinbarungen zu machen, lehnte Stresemann in der gleichen Instruktion ab, nachdem der russische Botschafter in Berlin wenige Tage vorher entsprechende Wünsche geäußert hatte. Diese nur mündlich gegebene Erklärung darf wohl als das wichtigste und treffendste Wort in der ganzen Angelegenhelf angesprochen werden. In ihr kam der eigentliche Zweck zum Ausdruck, und dieser Zweck war zweifellos nicht vereinbar mit dem vollen Maß der deutschen Volkerbundspflichten, von denen Deutschland juristisch durch die Anlage F ja keineswegs entbunden war.
Kann man Deutschland deswegen des doppelten Spiels bezichtigen? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Zur Diplomatie gehört wohl wesensmäßig ein gewisses Maß an Doppelspiel hinzu. Trotzdem wäre dieser Vorwurf gegenüber Stresemann unberechtigt. Ein Doppelspiel hätte Stresemann nur getrieben, wenn er Chamberlain und Briand über die Rücksichten Deutschlands auf Rußland und die polnische Schwierigkeit hinweggetäuscht hätte. Das aber hat er nicht getan. Er hat vielmehr um Verständnis für die besondere deutsche Lage und die daraus folgenden Notwendigkeiten geworben. Er hat die deutsch-russischen Beziehungen offen — wenn auch zuweilen mit „diplomatischer" Offenheit — in den Verhandlungen zur Sprache gebracht. Insofern mußten Chamberlain und Briand wissen, was der Zweck der Anlage F war. Trotzdem, oder vielmehr folgerichtig, haben sie keine Einwände gegen die Erwähnung der Anlage F im deutsch-russischen Notenwechsel erhoben, nur vor einer Interpretation der Anlage F wurde von Chamberlain gewarnt Um das Verhältnis von Locarno und Berliner Vertrag zu definieren, kann man daher sagen, daß im Berliner Vertragswerk mit Sowjetrußland nur das vollzogen wurde, was mit der Anlage F in Locarno bereits ausgehandelt worden war. Der Abschluß des Berliner Vertrags war von Deutschland für die Zeit nach dem deutschen Eintritt in den Völkerbund geplant worden, der im März 1926 auf einer eigens hierzu einberufenen Sondersession der Bundesversammlung vollzogen werden sollte. Er scheiterte damals aus Gründen, die mit dem vorliegenden Thema nur noch mittelbar Zusammenhängen. Es ergab sich also, daß der Abschluß des Berliner Vertrages unmittelbar nach dem Fiasko von Genf stattfand. Das hat schon damals zu Spekulationen geführt, ob der Berliner Vertrag nicht die Quittung für den gescheiterten Völkerbundsbeitritt gewesen sei. Auf Grund der deutschen Akten läßt sich jedoch eindeutig feststellen, daß zwischen beiden Ereignissen kein Kausalzusammenhang besteht. Die zeitliche Aufeinanderfolge war ein reiner Zufall. Stresemann versuchte zunächst sogar, das Zusammentreffen zu vermeiden und die Unterzeichnung des Berliner Vertrages um ein halbes Jahr zu verschieben, d. h. auf die Zeit, in der Deutschland bereits Mitglied des Völker-bundes sein würde, dem es ja endgültig auf der 7 Bundesversammlung im September 1926 beitrat. Aber die Sowjets bestanden auf sofortiger Unterzeichnung und drohten, andernfalls ihre Handlungsfreiheit wieder voll in Anspruch zu nehmen.
Schluß Das Problem einer Ost-oder Westorientierung stellte sich 1924— 1926 für Deutschland nicht als das Problem einer Entscheidung bei freien Wahlmöglichkeiten, je nachdem, ob die positiven Entwicklungsmöglichkeiten im Osten oder im Westen für größer gehalten wurden. Es stellte sich vielmehr als eine unerwünschte, von Ost und West gleichermaßen autgedrungene Alternative. Es darf als der spezifisch Stresemannsche Anteil an der deutschen Außenpolitik gewertet werden, daß diese Alternative vermieden wurde. Deutschlands nationale Interessen — und diese waren in ihrer ganzen Zeit-und Situationsbedingtheit die einzige Richtschnur des Stresemannschen Wollens — geboten nach seiner Ansicht eine Entspannung im Westen, die aber nicht das deutsche Verhältnis zur Sowjetunion beeinträchtigen durfte, das Deutschland vor dem Abgleiten in ein Satellitenverhältnis zum Westen schützen und seine Beweglichkeit bei einer eventuellen späteren Revision im Osten erhalten sollte. Stresemann hat diese Linie mit Konseguenz, aber auch mit großer taktischer Beweglichkeit eingehalten. Daß Artikel 16 zum Mitte] wurde, die Option für eine Seite zu vermeiden, darf nicht zu dem Schluß verführen, daß dieser Artikel selbst oder die Völkerbundsfrage als solche unüberwindliche Schwierigkeiten enthielten. Letzten Endes waren sie sekundäre Probleme Viel deutet darauf hin, daß Deutschland dem Völkerbund auf Grund des Ratsmemorandums vom März 1925 beigetreten wäre, also ohne Vorbehalt gegen Artikel 16, wenn die Sowjetunion das hingenommen hätte. Artikel 16 wurde nur mit Rücksicht auf Rußland hochgespielt. Und wenn der Westen sich lange auf die Übernahme der vollen Völkerbundspflichten durch Deutschland versteifte, geschah das ebenfalls im Hinblick auf das deutsch-russische Verhältnis. Im Grunde war man sich in London, Berlin und Paris darüber einig, daß Artikel 16 nur geringe praktische Bedeutung hatte. Artikel 16 und seine Probleme dienten nur als Spielkarten, mit denen das Spiel um die Stellung Deutschlands zwischen dem Westen und der Sowjetunion gespielt wurde.
Es wäre gleichfalls verfehlt, in der Entwicklung vom Westpakt zum Berliner Vertrag nur das Widerstreiten gegensätzlicher Konzeptionen und Kräfte der deutschen Außenpolitik, nämlich der „östlichen" und der „westlichen* zu sehen. Uber Locarno zum Berliner Vertrag führt von Anlang bis Ende eine ziemlich klare, ungebrochene Linie, und wenn die Locarno-Verhandlungen so schwierig waren, dann nicht, weil Deutschland, wie es die ostdeutsche und sowjetische Geschichtsschreibung wahrhaben will, mit aller Macht in das „imperialistische" Lager strebte, sondern weil Deutschland hartnäckig und kompromißlos die Rücksichten auf sein Verhältnis zur Sowjetunion wahrte. Stresemann selbst hat es abgelehnt, die deutsche Außenpolitik als einen unbehaglichen Kompromiß zwischen den rivalisierenden Führungsansprüchen einer deutschen Ost-und einer deutschen Westpolitik zu verstehen Er setzte dem die Forderung einer autonomen, unteilbaren Außenpolitik des deutschen Reiches entgegen. 1928 schrieb er: „Es gibt keine Ost-und Westpolitik, sondern nur eine Außenpolitik des Deutschen Reiches."