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Neue Kräfte in der Welt in Gegenwart und Zukunft | APuZ 12/1964 | bpb.de

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APuZ 12/1964 Neue Kräfte in der Welt in Gegenwart und Zukunft

Neue Kräfte in der Welt in Gegenwart und Zukunft

Pietro Quaron

Das Gleichgewicht des Schreckens Vor zehn Jahren bot die politische Landkarte der Welt ein äußerst einfaches Bild: auf einer Seite Rußland, auf der anderen Amerika. Zwischen diesen beiden gab es verschiedene Mächte, die groß oder klein erscheinen konnten oder sich dafür hielten, die aber überhaupt nicht zählten. Ist die Lage heute noch dieselbe?

Auf militärischem Gebiet hat sich wenig geändert. In einem gewissen Sinn ist diese Zweiteilung sogar deutlicher geworden. Seit 1950 ist der relative Wert der kleineren Mächte noch gesunken. 1950 hatten die Panzerdivisionen, die Waffe, die im Bereich der kleinen Mächte lag, noch größeren Wert als heute. Um die Vorstellungen etwas zu klären, möchte ich einige Zahlen nennen: Die Vereinigten Staaten gaben 1962 etwa 210 Milliarden DM für ihre Rüstung aus; Rußland gewiß nicht weniger. Im Vergleich zu diesen recht bedeutenden Zahlen gaben England 1962 etwa 17 Milliarden jährlich, Frankreich und Deutschland etwa je 15 Milliarden, Italien, um es nicht zu vergessen, etwa 5 Milliarden DM aus. Doch sind im italienischen Militär-Budget eine Anzahl Ausgaben enthalten, die sich in anderen Ländern auf andere Kapitel des Staatshaushaltes verteilen; in Wirklichkeit gibt Italien viel weniger aus.

Es ist schwierig, mit Sicherheit das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen Rußland und Amerika festzustellen. Vielleicht — und ich glaube nicht, daß es mehr als etwa 10 Personen in Moskau und ebenso viele in Washington sind, die die Wahrheit kennen — besteht in dieser oder jener Abteilung des nuklearen Waffenlagers der einen oder der anderen Seite eine Überlegenheit. Die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Entdeckung, die das Kräfteverhältnis eine Zeitlang umstürzen würde, bleibt stets offen. Wir können jedoch annehmen, daß im wesentlichen zwischen beiden ein Gleichgewicht der totalen Zerstörung besteht. Es ist ausgeschlossen, daß der eventuelle Angreifer — Angreifer ist immer derjenige, der den Krieg verliert oder, weniger moralistisch gesagt, der den ersten Schuß abgibt — hoffen könnte, eine mögliche Vergeltung des anderen zu verhindern. Auch der, der als erster schießt, kann sicher sein, umgehend von einer Feuergarbe getroffen zu werden, an die er sich noch lange erinnern wird. Das nennt man das Gleichgewicht des Terrors. Gleichgewicht des Terrors bedeutet — ich glaube nicht zu übertreiben — hundert Millionen Tote auf beiden Seiten am ersten Tag des Krieges.

Dieses Gleichgewicht des Terrors hat den ganzen Mechanismus der auswärtigen Politik grundlegend verändert. Man hat immer zu dieser Welt von Frieden gesprochen, jedoch mit dem geistigen Vorbehalt, daß in einem gewissen Augenblick gewisse Fragen nur durch den Krieg gelöst werden könnten. Heute führt dieses Gleichgewicht des Terrors die Männer, ja sogar die Staatsmänner, zu der Überzeugung, daß der Krieg zu große Zerstörungen mit sich bringt, um eine Lösung der politischen Probleme darstellen zu können. Auswärtige Politik ist zugleich Theorie und Praxis, und nicht immer entsprechen Theorie und Praxis einander. In unserer Zeit entsprechen sie einander noch weniger als gewöhnlich; das ist der Grund der vielen fortwährenden Krisen, die uns den Schlaf und die Verdauung stören. Die Regierungen, zumindest die wichtigsten, setzen die Praxis ihrer auswärtigen Politik fort, so wie sie es im Lauf von 6000 Jahren bekannter Geschichte getan haben, das heißt, sie zählen auf den Krieg als einer möglichen, endgültigen Lösung. Aber an der Schwelle der tödlichen Krise angelangt, erinnert man sich plötzlich, daß man keinen Krieg führen kann. Man wagt nicht, es zu sagen ..., und so wendet man sich an die Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen sind viel nützlicher, als man gemeinhin glaubt. Sie dienen dazu, eine derartige Verwirrung zu schaffen, daß niemand mehr recht versteht, wer gewonnen und wer verloren hat. Und das ist sehr, ja außerordentlich wichtig, denn damit ist die Ehre gerettet und gleichzeitig der Krieg vermieden.

Jemand hat gesagt, gäbe es die Kernwaffen nicht, wäre der dritte Weltkrieg schon ausgebrochen. Er hat recht. Aber trotzdem kann ich nicht sagen, daß die Gefahr eines Krieges vollkommen gebannt sei. Man muß doch noch der menschlichen Dummheit einen gewissen Spielraum lassen. Adenauer hat mir einmal erzählt, er habe einen hohen Prälaten gefragt, warum Gott der menschlichen Intelligenz Grenzen gesetzt habe, nicht aber der menschlichen Bösartigkeit. Es ist keineswegs richtig, daß hochgestellte Persönlichkeiten bösartiger wären als die, die niedriger stehen. Nur ihre Möglichkeiten, Unheil zu stiften, sind viel größer. Da der heiße Krieg zumindest wenig wahrscheinlich geworden ist, sind wir gezwungen, auf dem Gebiet des Kalten Krieges zu bleiben oder, wenn man das vorzieht, auf dem Gebiet der friedlichen Koexistenz. Auch das ist ein Krieg, den man gewinnen oder verlieren kann, der aber mit anderen Waffen geführt wird. Und in diesem Krieg stehen die beiden Großmächte nicht mehr allein. Auch mit anderen muß heute gerechnet werden oder zu rechnen begonnen werden, und diese werden mit größter Wahrscheinlichkeit immer stärker zählen. Aber — ich erlaube mir, dies besonders zu betonen — sie zählen nur und solange der heiße Krieg nicht in Frage kommt.

Die Selbstbeschränkung Europas Welches sind nun diese anderen Kräfte? Vor allem die in Europa! Vor zehn Jahren war Europa von der internationalen Bühne so gut wie verschwunden. Heute fängt es wieder an, gegenwärtig zu sein und rückt rasch in die vorderste Linie; allerdings nicht auf militärischem Gebiet — und das des schnöden Mammons wegen, wie ich oben bemerkte. Militärisch zählt Europa nicht, seine einzelnen Komponenten zählen nicht. Alle Versuche, eine nationale Atommacht zu schaffen, ob älteren oder jüngeren Datums, können mich nicht überzeugen. Mir erscheinen sie so wie das Verhalten eines Hausbesitzers, der angesichts eines Großbrandes in seinem eigenen Haus nicht die Feuerwehr rufen will, sondern sich damit abquält, den Brand mit seinem Haus-Löschapparat zu löschen. Er mag sich vielleicht der Täuschung hingeben, daß er es damit schöner und eindrucksvoller macht, aber es bleibt eben doch nur eine Hausfeuerwehr!

Theoretisch könnte Europa sich eine Atom-Waffenausrüstung leisten, die der der beiden Großmächte gleichkäme, allerdings unter der Bedingung, daß die Europäer bereit wären, tief in ihre Taschen zu greifen und dreimal mehr für ihre Rüstung auszugeben, wenn England auch integriert wird, und wenigstens viermal so viel, wenn es ohne England geschieht. Für uns Italiener würde es sich um das sechs-bis achtfache unserer bisherigen Ausgaben handeln. Von den Sowjetbürgern wird gesagt, sie hätten die Sputniks, aber keine Schuhe. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, ist aber auch nicht ganz falsch. Wenn ein integriertes Europa eine echte, eigene Atomwaffe haben will, dann muß es jedenfalls auch bereit sein, seinen Gürtel, nach dem russischen Beispiel, enger zu schnallen. Ist einmal das finanzielle Problem gelöst, dann bleibt noch der Faktor Zeit. Sollten wir morgen anfangen, dann würden wir dazu mindestens 10 bis 15 Jahre brauchen. Und Gott allein weiß, wie die Welt in 10 Jahren aussehen wird. Wollen wir also in der Wirklichkeit von heute und morgen bleiben, dann müssen wir uns damit abfinden, festzustellen, daß Europa auf militärischem Gebiet so gut wie nicht zählt. Es zählt nur insofern und solange das Gleichgewicht des Terrors bestehen bleibt und damit die stillschweigende Übereinkunft der zwei Großen, keinen Krieg mit Waffen zu führen.

Diese Beschränkung ist keineswegs eine Kleinigkeit, denn ohne eigene militärische Mittel zur Verfügung zu haben, um ihr Nachdruck zu verleihen, ist eine auswärtige Politik eher Geschwätz als auswärtige Politik. Dafür haben wir zur Zeit der Kuba-Krise einen Beweis erhalten. Die europäischen Mächte, von England bis Luxemburg, konnten zustimmen oder mißbilligen, sie haben gehofft oder waren verzweifelt, aber sie haben nichts beschlossen. Die Partie hat ihren Anfang zwischen Rußland und Amerika genommen, sie ist zwischen beiden gespielt und beendet worden, zwischen diesen Zweien allein, unter Ausschluß aller anderen. Die Krise war nicht mehr eine politische, sie war eine militärische, und es ist gut, daß wir dies nicht vergessen.

Ich erlaube mir, dies besonders zu unterstreichen, denn das Wirtschaftswunder uns ist leicht zu Kopf gestiegen; nicht so sehr das deutsche oder italienische oder französische als vielmehr das kollektive wirtschaftliche Wunder des Gemeinsamen Marktes. Eine wirtschaftliche Großmacht zu sein, bedeutet nicht automatisch, daß man es auch politisch ist. Wir Italiener z. B. haben die Illusion, eine Großmacht ohne Geld sein zu können, politisch schon teuer genug bezahlt. Es wäre gut, wenn wir es vermeiden könnten, nun für die Lehre, daß Geld in der Tasche allein nicht genügt, teuer zahlen zu müssen.

Jedoch hat Europa, abgesehen von dem Fall des Krieges, in dieser umfassenden und komplexen politischen Operation, die unter dem Namen „friedliche Koexistenz“ läuft, bereits seine Bedeutung gewonnen. Vor 10 Jahren wandten sich Staatsoberhäupter und Regierungschefs auf der Suche nach Geld — sie sind zahlreich — ausschließlich an Washington. Heute gehen sie auch nach Paris, nach London, nach Bonn und auch nach Rom. Und, was nicht weniger wichtig ist, europäische Regierungschefs wenden sich nicht mehr an Washington, um Gelder zu erbitten. Ganz im Gegenteil drängt Washington Europa mit größtem Nachdruck, seinen Teil der Hilfe für die Entwicklungsländer zu übernehmen. Da das Ringen um die Entwicklungsländer heute den zentralen Punkt der friedlichen Koexistenz darstellt, ist die Erkenntnis, daß Amerika die finanzielle Last dieses Unternehmens nicht mehr allein tragen kann, politisch wichtig. Man muß die Erkenntnis hinzufügen, daß in vielen Teilen dieser Welt Europa erfolgreicher arbeiten könnte als die Amerikaner.

Dies ist nicht der erste Fall, in dem die Amerikaner klarer als wir selbst sehen, was Europa leisten könnte und was für Europa zu leisten gut wäre. Es ist auch wahr, daß wir Europäer mehr als einmal klarer als die Amerikaner gesehen haben, was diese tun könnten; Ich habe gesagt, Europa könnte — aber ich habe nicht gesagt, es handelt. Vieles steht dem im Weg: Erinnerungen an die Vergangenheit, Illusionen, Hoffnungen. Wenn man auch im ganzen gesehen in Europa viel von der Politik der Entwicklungsländer spricht, so folgt den Worten die Tat nur mit erheblicher Verzögerung, und es ist durchaus nicht gesagt, daß die Bedeutung des Problems stets verstanden worden ist. Aber der Kern der Sache ist ein anderer. Damit Europa in der friedlichen Koexistenz seine wirklich wichtige Aufgabe erfüllen kann, muß Europa sich politisch einigen; es muß eine gemeinsame auswärtige und Wirtschaftspolitik schaffen. Wenn England in diese Integration eingeschlossen würde, um so besser. Damit würde der Kräfteblock nur gestärkt. Aus dem Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt würde Europa politisch gesehen nur Vorteile und keinerlei Nachteile ziehen.

Weltpolitik ersetzt europäische Politik Es ist gut, die Dinge so zu sehen, wie sie sind: wir sind von dieser politischen Integration noch weit entfernt. Nicht, weil die Verhandlungen für einen Vertrag über die politische Einigung in eine Sackgasse geraten sind. Dieser Stillstand ist Folge, nicht Ursache. In der Tat und Wahrheit sind sich die einzelnen europäischen Länder über die Hauptprobleme und die Richtlinien der Außenpolitik im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht einig. Von Worten abgesehen, sind wenige bereit, ihre nationale Politik den Erfordernissen einer gemeinsamen Politik unterzuordnen. Hierzu möchte ich noch folgendes präzisieren: Wenn wir auf diesem Gebiet sehr im Rückstand sind, so trifft die Schuld nicht Italien. Italien und alle seine Regierungen waren alle konsequent und aktiv europäisch. Ohne Furcht, mich von nationalistischen Tendenzen auf Abwege führen zu lassen, glaube ich behaupten zu können, daß Italien unter allen europäischen Staaten, die ich kenne — und ihrer sind es etliche —, der einzige ehrlich und wirklich europäische Staat ist.

Die Wiedergeburt Europas hat zur Folge, daß es aufgehört hat, außenpolitisch nur eine passive Rolle zu spielen; viele Jahre nach dem zweiten Weltkrieg ist Europa nur Objekt der Außenpolitik gewesen. Es ist vielleicht notwendig, zu unterstreichen, daß ich, wenn ich von Europa spreche, das westliche Europa meine. Das Europa hinter dem Eisernen Vorhang ist eine andere Sache. Nach dieser Feststellung muß hinzugefügt werden, daß Europa weder das Zentrum der Weltpolitik ist noch es jemals wieder sein wird. Es war immerhin drei Jahrhunderte lang dieser Mittelpunkt. Im wahren Sinn des Wortes ist die Politik welt-weit geworden, und es ist notwendig, daß wir Europäer uns an diese neue Lage gewöhnen. Der übrige Teil der Welt mit seinen Problemen, seinen Erschütterungen, mit der tiefgreifenden Revolution, die er in den Rahmen der allgemeinen Politik hineinträgt und in immer stärkerem Maße tragen wird, dieser Teil der Welt ist unserem Geist noch nicht gegenwärtig genug. Unsere Sicht ist noch europäisch, und wenn wir diese nicht ändern, dann wird es uns nicht gelingen, unsere Politik den neuen Notwendigkeiten anzupassen. Was bedeutet diese Erweiterung des Rahmens der Weltpolitik? Noch im Jahr 1939 konnte man sich vorstellen, daß ein ganzer Kontinent nach einer auf dem europäischen Kontinent gewonnenen oder verlorenen Schlacht aus den Händen einer europäischen Macht in die einer anderen überging. Das, was außerhalb Europas geschah, war — oder erschien — nebensächlich. Heute sind die Augen aller Europäer — und das mit Recht — auf Berlin gerichtet. Aber ich bin nicht sicher, ob der Historiker der Zukunft das, was in Laos und Vietnam geschehen kann, nicht für wenigstens ebenso wichtig halten wird wie das, was in Berlin geschehen kann.

Diese neuen Probleme haben ihren Ursprung in eben diesen neuen Kräften, die sich schon unter der Vorherrschaft Europas abzuzeichnen begannen, die sich entwickelten und die unter der gegenwärtigen Spaltung zu reifen beginnen Diese neuen Kräfte, heute zwar noch im latenten Zustand, können die neuen Elemente auf dem politischen Schachbrett bilden. Es wird nicht behauptet, daß sie es bestimmt werden Nicht alles, was sein könnte, muß notwendigerweise Wirklichkeit werden. In der Geschichte sind die Mißerfolge viel zahlreicher als die Erfolge.

Moskau und Peking Von diesen Kräften der Zukunft ist eine bereits aus dem Zustand der Passivität und der Problematik herausgetreten und beginnt, ihren Platz unter den politischen Faktoren einzunehmen: China.

Man hat sich viel Gedanken gemacht und man philosophiert weiter, man läßt seiner Phantasie freien Lauf über die Beziehungen zwischen Moskau und Peking. Die Beziehungen zwischen Moskau und Peking sind stets äußerst schwierig gewesen. Bereits damals, als Mao Tse-tung ein maßgebender Partisanenführer im abgelegenen Yenan war, stand er schon mit Stalin in Konflikt. Stalin sah in ihm keinen orthodoxen Kommunisten, weil er darauf bestand, die Probleme der chinesischen Revolution mit seinen eigenen und nicht mit Stalins Vorstellungen zu lösen. Auf tausenderlei Art hat Stalin versucht, ihm den Strick zu drehen. Viele chinesische Kommunisten haben schon damals buchstäblich mit ihrem Kopf ihre Teilnahme an Stalins Spiel gegen Mao bezahlt. Was ist der Grund des Konflikts? China lehnt es ab, anzunehmen, daß die kommunistische Welt nur von Moskau dirigiert werden soll. Diese Einheit der kommunistischen Welt, die uns so beeindruckt — wieweit sie eine Realität darstellt, ist eine andere Frage —, beruht im wesentlichen auf dem Prinzip, daß nur ein Zentrum berechtigt ist, eine orthodoxe Auslegung der kommunistischen Theorie und Praxis zu geben. Wenn man diese ideologische Zentralisation ablehnt, kann als verbindendes Glied noch die gemeinsame Ablehnung der kapitalistischen Welt oder die Angst vor seiner Macht bestehen — und sie besteht in der Tat. Aber der verbindende Ansporn dieses Elementes nimmt in dem Maß ab, in dem die Macht der kommunistischen Welt zunimmt, und andere zentrifugale Kräfte schalten sich ein. Im Gegensatz zu dem, was Karl Marx und Lenin glaubten, sind die nationalistischen Gegensätze im Schoß der kommunistischen Welt nicht weniger stark als die, welche die kapitalistische Welt spalten — ja vielleicht heute schon stärker.

Eben klagte ich über das, was uns in unserem Europa noch nicht gelingt. Trotz aller Vorbehalte. die noch gemacht werden müssen, ist uns Kapitalisten auf wirtschaftlichem Gebiet immerhin das gelungen, was den Marxisten strenger Observanz unmöglich schien: die Kapitalisten von sechs Ländern zu einigen, und zwar von Ländern mit einer eher komplexen Struktur Die am schwersten zu überwindenden Schwierigkeiten sind die politischen oder die gefühlsbedingten, nicht die wirtschaftlichen. Den Kommunisten ist es nicht gelungen, dasselbe unter sich zu erreichen. Auf diesem Gebiet sind sie noch weit, sehr weit hinter uns zurück.

Mao Tse-tung ist gewiß kein einfacher, leicht zu handhabender Typ. Ich glaube, daß unter den Lebenden oder Toten — den kürzlich Verstorbenen —, die überzeugt sind oder waren, einen direkten Draht zum Ewigen Vater zu haben, Mao der erste Platz gebührt. Vereinfacht könnte man sagen, daß Mao darauf besteht, der russische Kommunismus und seine Interpretation der Revolution tauge für — nennen wir sie — die imperialistischen oder weißen Länder, was für den Chinesen das gleiche ist, während der chinesische Kommunismus und seine Interpretation der revolutionären Praxis sich am besten für die Länder eignet, die einstmals Kolonien waren. Also, mit anderen Worten, daß Moskau sich ausschließlich um die weißen oder überentwickelten Länder kümmern sollte, während Peking sich die Arbeit unter den farbigen Völkern vorbehält: Asien, Afrika, Lateinamerika.

Es ist ein grundsätzlicher Konflikt, der nicht zu heilen ist. Hinter der Ideologie steht der politische, der nationale Wille. Hier kommt der Ideologie die gleiche Funktion zu wie der Lehre vom Ursprung des Heiligen Geistes im Streit zwischen Rom und Byzanz. Wir werden manches Auf und Ab miterleben, aber der Konflikt bleibt und ist dazu bestimmt, sich zu vertiefen. Wir irren jedoch, sollten wir von diesem Konflikt die Lösung unserer eigenen Sorgen erwarten; ich spreche von den Beziehungen zu Rußland. Ich glaube kaum, daß selbst die Jüngeren unter uns Chruschtschow oder seinen Vertreter nach Washington reisen sehen werden, um Amerikas Hilfe gegen China zu erbitten und damit mit einem Schlag die Probleme der friedlichen Koexistenz in einem spektakulären »Embrassons-nous« der weißen Rasse gelöst zu sehen. Obwohl auch die Russen Weiße sind, neigen sie etwas dazu, dies zu vergessen. Aber die farbigen Völker erinnern sich daran — und dies in steigendem Maß. Eines der interessanten Phänomene unserer Zeit ist eben dieses politische „Ausbleichen" der russischen Haut. Alles kann sich eines Tages ereignen, auch dieses »Embrassons-nous«. Aber gewiß ist dieses Ereignis noch nicht in greifbare Nähe gerückt, und es wäre ein schwerer, unverzeihlicher Fehler, wollte man diese Möglichkeit in die Berechnungen unserer Pläne oder in das diplomatische Spiel des Westens einbeziehen. Es ist heute schwer zu sagen, ob dieser russisch—chinesische Konflikt unsere Beziehungen zu Rußland erschwert oder erleichtert. Das Spiel der internen Kräfte in Rußland und in der kommunistischen Welt hinter dem Eisernen Vorhang entgeht uns weit mehr, als wir zugeben wollen. Es ist schwer zu sagen, in welchem Maß dieser abwechselnd heiße und kalte Wind, der aus Moskau zu uns weht, auf den Charakter und den freien politischen Willen des Mannes Chruschtschow zurückzuführen ist und in welchem Maß auf die Notwendigkeit, gegen. die Anschuldigung des Mangels an Orthodoxie gegenüber seinen internen Rivalen im russischen und internationalen Kommunismus zu reagieren — in einer Welt, in der die Ideologie und sogar die Theologie souverän sind, ist die Anklage der Häresie die am meisten gefürchtete —, schließlich in welchem Maß auf die Notwendigkeit, sich gegen die chinesische Konkurrenz in den sogenannten Entwicklungsländern zu behaupten.

Persönlich habe ich nie an die Koexistenz im wahren Sinn des Wortes geglaubt. Auch heute glaube ich nicht mehr daran als gestern. Sie wird erst möglich sein, wenn die Kommunisten, die in Rußland herrschen, endlich überzeugt sein werden, daß die Zukunft nicht ihnen, jedenfalls nicht ihnen allein gehört. Aber auch in dieser Form des Kampfes ohne Waffen, der ohne Pardon geführt wird, der sich „friedliche Koexistenz* nennt, zeigen sich Höhepunkte und Tiefpunkte, ist die Möglichkeit gegeben, sich dem gefährlichsten Explosionszentrum mehr oder weniger zu nähern. Ich neige jetzt eher dazu anzunehmen, daß das Vorherrschen solcher extremer Formen des Kommunismus in China seinen Teil der Verantwortung für gewisse Ausbrüche Chruschtschows trägt. Die Extremisten sind in der kommunistischen Welt ebenso gefährlich wie überall dort, wo sie auftreten.

China auf dem Wege zur Großmacht China ist in vielem für uns ein Geheimnis, weit mehr als es die Sowjetunion je gewesen ist. Zur Zeit des großen „Sprunges nach vorn“ schien es, als ob die wirtschaftliche Entwicklung Chinas — notwendige Voraussetzung für ihre Bestätigung als wirkliche Großmacht — schon vor der Türe stehe. Dann folgte eine Reihe von Katastrophen, von Enttäuschungen. Als alles gut zu gehen schien, sind wir alle zu sehr in eine Richtung getrieben worden. Jetzt sollte man allerdings nicht im gegenteiligen Sinn übertreiben. Die Zukunft ist immer eine unbekannte Größe. Die Erfahrung lehrt uns jedoch, daß die kommunistischen Regierungen durchaus in der Lage sind, wirtschaftlichen Katastrophen, die sie selbst weitgehend provoziert haben, Widerstand zu leisten. Wir dürfen uns keinen Illusionen über die Möglichkeit hingeben, daß China aufhören könnte, kommunistisch zu sein. .

China ist gewiß noch keine Großmacht im Sinne von Rußland und Amerika. Es wird es auch noch viele Jahre nicht sein, auch wenn es sich als wahr erweisen sollte, daß es bald seine eigene Atombombe haben wird. Der Weg von der Atombombe zur Atommacht ist ein langer und mühsamer; ich sage nicht: ein kostspieliger, denn dort, wo der Kommunismus herrscht, zählt der Faktor Kosten nicht. China ist auch noch nicht einmal eine Macht im Sinne, wie es Westeuropa schon ist. Dennoch ist der Einfluß Chinas auf die Weltgeschehnisse bereits spürbar; der Einfluß Chinas ist wahrscheinlich schon größer als der Europas. Der Unterschied des tatsächlichen Gewichts zwischen Europa und China liegt nicht in seinen Bevölkerungsmassen. Ich bitte Mao Tsetung um Verzeihung, aber die bloßen Massen sind nie der entscheidende Faktor. China ist die Trägerin einer explosiven und verlockenden Botschaft. Europa versucht mit seinen schwachen Kräften, der Welt eine Botschaft zu bringen, die gelegentlich auch eine Botschaft des gesunden Menschenverstandes sein konnte Aber der gesunde Menschenverstand ist nie mitreißend China hat einen unersättlichen Machthunger, den Europa nicht hat, es hat einen Glauben an seine Sendung, den Europa auch nicht besitzt.

Aber nicht alles an diesem Erscheinen Chinas auf der Weltbühne ist negativ. 1945 zeigte sich der Kommunismus wie eine massive Einheitskirche. test in den Händen seines Papstes Stalin Heute sind es zwei Oberhäupter: der Papst Chruschtschow und der Papst Mao Tse-tung. Auf etwas tiefer liegender Ebene gibt es auch den Papst Tito. Man kann ihn nicht mit Mao vergleichen, aber auch er übt seinen Einfluß aus und macht dem russischen Papst viele Sorgen. Auf noch niedrigerer Ebene finden wir schließlich den kleinen albanischen Papst Enver Hodsha. Die kommunistische Kirche ist nicht mehr einheitlich. Der Wurm der Häresie und des Schisma hat sie befallen, und wir wissen, welche explosive Kraft die Häresie in einer theologischen Gesellschaft darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt entwickelt sich die Lage in einer für uns günstigeren Richtung. Ob wir daraus Nutzen ziehen werden, ist eine andere Frage.

Die Auflösung der Kolonialreiche Abgesehen von China ist dieser riesige Teil der Welt, den wir die „Entwicklungsländer* nennen und der fast eine Milliarde Menschen umfaßt, heute mehr Objekt als Subjekt des politischen Kampfes zwischen den Großmächten. Ich habe wiederholt erklärt, wie wichtig in den Augen der Theoretiker und der Praktiker des Kommunismus die Aufgabe ist, die westliche Welt von den Märkten, von den Rohstoffquellen, die einstmals ihr unbestrittenes Privileg waren und die heute diese dritte Welt darstellen, zu isolieren. Das Resultat dieses komplexen Angriffs-und Verteidigungskampfes ist noch unsicher. Und dies auch dann, wenn wir sagen können, daß die Anziehungskraft des Kommunismus auf diese dritte Welt, die eine Zeitlang unwiderstehlich schien, heute viel geringer erscheint, als man auf beiden Seiten glauben konnte. Oder wenn man es von einem weniger theoretischen und mehr praktischen Gesichtspunkt aus ansieht, kann man sagen, daß die Kommunisten sich fähig gezeigt haben, größere Fehler zu machen als die Kapitalisten. Trotzdem bleibt die Bedeutung dieser Welt bestehen, auch wenn sie sich bisher in einer vorwiegend negativen Form ausgedrückt hat.

Am Ende des zweiten Weltkriegs konnte man noch die Illusion hegen, es sei den beiden größten Kolonialmächten, England und Frankreich, gelungen, den Sturm und seine Folgen zu überwinden. Dabei schnitt Frankreich besser ab als England. Aus diesem Grund schien sich die politische Wiedergeburt der beiden Schwerpunkte Paris und London in der Richtung der großen traditionellen und nationalen Linien der weltweiten Machtpolitik zu entwickeln — und tatsächlich betraten sie diesen Weg, wenn auch mit verringerter Kraft. Wenn alles in diesem Sinne weiter hätte gegangen wäre, man nie von Europa gesprochen. Man wäre nie über das nebelhafte Geschwätz von Straßburg hinausgekommen.

Frankreich fing an, sich zu Europa zu bekehren, als es sich bewußt wurde, daß sein Reich bis in seine Fundamente erschüttert war. Und England hätte sich bestimmt nicht dazu entschlossen, den Beitritt zum Gemeinsamen Markt zu beantragen, hätte es sich nicht vor die Notwendigkeit gestellt gesehen, innerhalb weniger Jahre „über 600 Millionen Menschen die Freiheit zu schenken“, eine sehr elegante und sehr englische Form, die Ereignisse zu definieren. Sollte ein geeintes Europa entstehen, so wird es dem Aufstand der farbigen Völker zu verdanken sein.

Diese erzwungene Rückkehr Europas zu sich selbst hat eine andere Wirkung ausgelöst, deren man sich noch nicht so bewußt ist, die aber tiefer geht und deren Folgen wir erst heute zu erkennen beginnen. In einem gewissen Sinn waren es wir Italiener, denen es als ersten bewußt wurde — nicht so sehr aus eigenem Verdienst als durch die Umstände —, daß wir jene Möglichkeit der Ausweitung unseres nationalen Marktes, die wir mit Waffengewalt in der weiten Welt suchten, viel sicherer und verheißungsvoller im eigenen Lande vorfanden. Nach uns haben allmählich alle übrigen europäischen Länder diese wahrhaft revolutionäre Entdeckung gemacht. Dies ist einfach das europäische Wunder, oder auch dieses: die Entdeckung und die Ausbeutung der Möglichkeiten, die wir alle in unseren Ländern hatten, deren wir aber, vor lauter Streit um den Besitz der Welt, nicht gewahr wurden. Eine sensationelle Entdeckung und wichtig, nicht nur, weil sie die echte, feste Grundlage für das europäische Gebäude bildet, sondern auch — und das ist ebenso wichtig —, weil damit ein zweites Dogma des Kommunismus zerstört wird: daß nämlich der Wohlstand der westlichen Welt hauptsächlich, wenn nicht ausschließlich, auf der Ausbeutung der Kolonialvölker beruht. Statt dessen beweisen die Tatsachen, daß es Europa noch nie so gut gegangen ist, als seitdem es die Möglichkeit verloren hat, die Kolonialvölker auszubeuten.

Es ist erstaunlich, daß den Kommunisten erst in jüngster Zeit in diesem Punkte ein Licht aufzugehen beginnt.

Vielen von uns scheint eine Schwäche der westlichen Welt darin zu liegen, daß wir behaupten, an vieles zu glauben, aber in Wirklichkeit an sehr wenig glauben. Wer weiß allerdings, ob sich letztlich dieses nicht sogar als die wahre Kraft der westlichen Welt gegenüber dem Kommunismus erweisen wird, der — der Arme — fest an seine Dogmen glaubt.

Zwei Dogmen sind ins Wanken geraten: das eine, das besagt, der Kapitalismus sei unfähig, sich von allein von gewissen inneren Übeln zu heilen, er sei nicht imstande, sich zu ändern; das andere besagt, daß der Wohlstand der westlichen Welt auf dem Kolonialsystem beruhe. Was werden die Kommunisten tun, wenn sie sich eines Tages bewußt werden, daß diese beiden Dogmen irrig sind?

Wenn wir auch heute noch nicht wirklich vom Eintritt dieser dritten Welt als offene und aktive Kraft in die Weltpolitik sprechen können — trotz der periodischen Krisen, die uns damit beschert werden, kann ich mich noch nicht dazu durchringen, die Zahl der Stimmen, über die diese Länder in den Vereinten Nationen verfügen, ernstlich für politisch wichtig zu halten —, so können wir doch einzelne Kräfteansätze erkennen, die sich entwickeln und die morgen politische Realitäten sein können.

Das indische Experiment Indien hat seine ganz besondere Bedeutung. Es ist in gewissem Sinn der Prüfstein zwischen Kommunismus und Nicht-Kommunismus. Ich zögere etwas, das Wort „Demokratie" auf diesen ganzen Teil der Welt anzuwenden. Ich ziehe es vor, mich nicht zu kompromittieren, und sage also nur Nicht-Kommunismus.

In der Größenordnung stellen Indien und China ungefähr das gleiche Problem dar. Es geht darum, ob es möglich sein wird, hunderte von Millionen Menschen innerhalb einer annehmB baren Zeitspanne vom Zustand des Unter-proletariats in den eines echten Proletariats überzuführen. Daß dies mit Hilfe des kommunistischen Systems möglich sei, hat der Fall Rußland bewiesen. Auch die Mißerfolge Maos in China nicht zum Beweis aus, daß reichen dieses System nicht auch in China erfolgreich sein es möglich, dieses Problem Aber kann. ist mit nicht-kommunistischen Methoden zu lösen? Die indische Methode, ein orientalisches „Labour-regime" sui generis, ist, immer was man auch sagen möge, eine nicht-kommunistische Methode. Indien erfolgreich ist, Wenn wird damit der Beweis erbracht worden sein, daß das Problem der unterentwickelten Länder auch ohne Kommunismus gelöst werden kann. Nebenbei wird damit auch bewiesen, daß an den Hilfsmitteln des Westens nicht immer und nicht nur der Geruch des Neo-Kolonialismus haftet. Wenn das indische Experiment von Erfolg gekrönt wird, bedeutet das allein noch nicht, daß der Westen die Schlacht um die unterentwickelten Länder gewonnen hat; aber ganz gewiß hat er dem Kommunismus eine seiner wichtigsten Trumpfkarten entwunden. Das bestehende Problem kann in dieser oder jener Weise gelöst werden. Die Länder, die es angeht, können wählen. Es ist wahrscheinlich, daß nicht alle den Weg des Nicht-Kommunismus wählen werden. Es ist aber noch viel wahrscheinlicher, daß nicht alle den kommunistischen Weg wählen werden. Vielleicht ist auch Mao Tse-tung sich der Bedeutung Indiens als Prüfstein bewußt. Vielleicht zielen alle Unruhen an der indischen Grenze darauf ab, Indien zu zwingen, einen sehr beträchtlichen Teil seiner beschränkten Mittel für seine Streitkräfte auszugeben, um damit den Erfolg seines Fünfjahresplanes noch mehr in Frage zu stellen.

Davon abgesehen spielt Indien seine Rolle in der Welt. Seine Größe, seine Kultur, das persönliche all trägt dazu Nehrus, das bei, der Stimme Indiens unter gewissen Umständen und in einer gewissen Weise ein ihr eigenes, keineswegs gleichgültiges Gewicht zu geben. Indien ist nicht im geringsten in der Lage, den Lauf der Weltpolitik zu beeinflussen. Aber das Prestige Indiens und seines Führers haben zur Folge, daß es weder für Ruß-land noch für Amerika noch auch für Europa gleichgültig sein kann, nach welcher Richtung hin sich das Denken Indiens wendet.

Die arabische Welt und das schwarze Afrika Jetzt zur arabischen Welt. Nasser kann uns gefallen oder nicht, das ist eine rein persönliche Sache. Wir können jedoch nicht leugnen, daß sein flammender islamischer Nationalismus und seine Formulierung des arabischen Sozialismus, die vielleicht wegen ihrer verwischten Konturen viel anziehender ist, eine revolutionäre Macht ersten Ranges im ganzen Mittleren Osten darstellen. Die Mißerfolge seiner Politik in Syrien und im Irak dürfen uns nicht täuschen. Die von Nasser verkörperte Form des Radikalismus ist in der ganzen Welt des Mittleren Ostens eine lebendige Kraft. Auch seine Freunde und seine Rivalen sind gezwungen, sich derselben Waffen zu bedienen. Das mindeste, was gesagt werden kann, ist, daß seine Gegenwart und sein Handeln alle Könige, Imams und Scheichs, auf die sich über ein Vierteljahrhundert lang die europäische und die amerikanische Kolonialpolitik gestützt hatten, als unbrauchbare Werkzeuge der Vergangenheit abgetan haben.

Wird es Nasser gelingen, die arabische Welt um seinen Namen und um sein Programm zu einigen? Nichts ist auf dieser Welt unmöglich, trotzdem aber halte ich es für schwierig. Es ist vielleicht wahrscheinlicher, daß der Einfluß Nassers nur dazu dient, eine Gattung von Politikern, vom Typ Ben Bellas in Algerien etwa, deren individuelle, nationale Charakteristika jedoch beschränkt und klar erkennbar bleiben, zu vermehren — eine Serie von Nassers, die sich mehr oder weniger grimmig beobachten, die jedoch auf einer sehr ähnlichen, wenn nicht identischen politischen und sozialen Basis handeln. Wie dem auch sei, Nasser hat seine unwiderrufliche historische Aufgabe bereits erfüllt: eine strenge Trennlinie zwischen der kolonialen Welt und der neuen, freien arabischen Welt zu ziehen. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß sich mit der Zeit zwischen der arabischen Welt und der westlichen Welt, oder zumindest mit einigen ihrer Länder, Beziehungen, auch ausgezeichnete, neu anknüpten. Aber der angerichtete Schaden läßt sich nie mehr gut machen. Die arabische Welt, die aus dieser Krise hervorgehen wird, wird nie die arabische Welt sein, die hätte entstehen können, hätten die verschiedenen Könige und Paschas ihre Versuche zu Ende führen können. Das Schicksal des schwarzen Afrika ist noch nicht entschieden. Einerseits haben wir die Houphouet Boigny, die Senghor, die Abu Talewa, die, an englischen oder französischen Schulen — mit sehr verschiedenen Ergebnissen — erzogen, alle versuchen, ein neues afrikanisches Ideal zu verwirklichen, die „Negritude“, wie Senghor es nannte, aber gleichzeitig eine schroffe Zäsur zu vermeiden. Andererseits haben wir die Nkrumah und die Sekou Toure, die wir, etwas vereinfacht, die Nassers des schwarzen Afrika nennen könnten. Wer wird Sieger sein? Vielleicht können wir es so sagen: hat dieser neue afrikanische Typus, der in Frankreich und England erzogen worden ist und der unsere europäische Kultur in einer Art und Weise in sich ausgenommen hat, die beeindruckend ist, aber uns auch manchmal aus der Fassung bringt, mit seinen Landsleuten, die zuhause in ihren Hütten geblieben sind, einen ausreichenden Kontakt behalten, um sie auf dem von ihm gewählten Weg mitreißen zu können: eine Evolution ohne scharf erzogene Zäsur? Oder haben wir im Gegenteil — ich sage wir, weil es heute nicht mehr ein französisches oder englisches Problem ist, sondern ein gesamt-europäisches — aus ihnen etwas von ihrem Volk völlig Losgelöstes gemacht?

Aus diesem Grunde kann man für das schwarze Afrika keine so klare Antwort geben wie für die arabische Welt; die Lage ist anders. Die arabische Welt kann sich auf eine eigene Kultur berufen, die groß war und seit den frühesten Jahrhunderten in Opposition zur europäischen Kultur stand. Historisch gesehen ist für sie — wie für die Inder und die Chinesen — die europäische Kultur eine fremde und feindliche Kultur, die sich mit Hilfe von Kanonen der eigenen Kultur aufgedrängt hat. Wie sehr man sich heute auch bemüht, eine afrikanische Vergangenheit wiederherzustellen, eine wirkliche schwarze Kultur hat es nie gegeben. Für die Schwarzen könnte eine kluge Anpassung an die europäische Kultur nur Fortschritt ohne Namen und ohne Fahne sein. Viel kann von den persönlichen Fähigkeiten der einzelnen Führer der schwarzen Welt, von der Geschicklichkeit oder Unfähigkeit Europas abhängen. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß es beiden Typen, den Nkrumahs und den Senghors, gelingt, zu überleben, und daß sie sich mit der Zeit zu etwas Gemeinsamem zusammenfinden.

Neuralgischer Punkt Lateinamerika Lateinamerika ist heute vielleicht der neuralgischste und gefährlichste Punkt in der ganzen freien Welt und den Entwicklungsländern. Es ist die Welt, wo der Gedanke der Gegensätzlichkeit zwischen Farbigen und Weißen weniger empfunden wird als anderswo, wo die religiöse und kulturelle Tradition in ihrer Grundlage dieselbe ist wie die der westlichen Welt. Dieser Kontinent ist am schwersten vom Kommunismus bedroht. Es muß hervorgehoben werden, daß neben dem Triumph des Kommunismus in China das einzige Land außerhalb der Grenzen der Sowjetunion, in dem es dem Kommunismus gelungen ist, ohne unmittelbaren und brutalen Eingriff russische-oder chinesischer Bajonette Fuß zu fassen, Kuba gewesen ist.

Vielleicht ist das so, weil in Lateinamerika das Problem sich nicht als ein Problem der Abhängigkeit oder der Unabhängigkeit darstellt. Die manchmal schwere Hand der Vereinigten Staaten stellt ein Problem dar, aber nicht das wichtigste. Das Problem ist essentiell — ich möchte sagen ausschließlich — ein soziales Problem, das im Inneren jedes einzelnen Landes gelöst werden muß. Lateinameriak ist heute wie ein Europa, in dem der Prozeß der Industrialisierung nicht weiter fortgeschritten wäre als bei uns in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wo die sozialen Beziehungen durch schlecht getarnte Verfassungen nach liberal-progressivem europäischem Muster die gleichen geblieben sind, wie sie in einigen Ländern Europas im 18. Jahrhundert gewesen sein mochten, ja vielleicht noch früher. Es ist nicht der nationale oder der Rassenkampf gegen den weißen Beherrscher, es ist nur der Kampf des Elenden gegen den Reichen.

Diese anachronistische und täuschende Lage konnte so lange ungestört bestehen, wie die Welt weiter in wasserdichten Schotten gelebt hatte. Aber heute haben die Presse, der Film, das Fernsehen auch den im Urwald verlorenen Menschen erreicht und aufgerüttelt. Es ist sinnlos, zu denken, man könnte mitten im 20. Jahrhundert im Rahmen des 18. Jahrhunderts weiterleben. Will man aber darauf bestehen, dann läuft man Gefahr, daß einer den Sprung über das Jahr 2000 hinaus wagt — und daß er ihm gelingt.

Die Lage ist bedrohlich. Eine kommunistische Explosion in Südamerika, ein revolutionäres Um-Sich-Greifen des „Castrismus“ — was durchaus nicht ausgeschlossen ist — kann einen neuen kommunistischen Brandherd auf einem dritten Kontinent entfachen. Vom Gesichtspunkt der kommunistischen Kirche kann sich eine weitere Komplikation ergeben. Niemand bürgt dafür, daß Castro, oder die Castros der Zukunft, die Oberherrschaft Moskaus mehr annehmen werden, als Mao Tse-tung sie angenommen hat. Sehr wahrscheinlich werden wir da unten einen dritten Papst des Marxismus-Leninismus sich erheben sehen. Trotzdem könnten die politischen Folgen ernst sein. Die Vereinigten Staaten sind wirklich eine Demokratie, das heißt, ein Land, in dem die öffentliche Meinung mit ihren Reaktionen und auch mit ihren Launen herrscht. Die Regierung folgt mehr, als daß sie leitet. Wir sehen, welche Unruhe die Ereignisse in Kuba bei den Amerikanern ausgelöst hatten und wie ihre politische Aufmerksamkeit in diese Richtung abgedrängt zu werden droht. Was würde geschehen, wenn sich der kubanische Olfleck ausbreiten würde? Wir könnten ein Amerika erleben, das, von dem, was neben seinem Heim geschieht, hypnotisiert, dem Geschehen in der übrigen Welt viel weniger Aufmerksamkeit schenkt. Und wer in der ganzen Welt könnte in den Angelegenheiten, die uns Westliche betreffen, die Stellung Amerikas einnehmen? Machen wir uns keine Illusionen: heute niemand Kräfte der Zukunft Die Welt, in der wir heute leben, ist im wesentlichen weiterhin bipolar: Rußland und Amerika. Das Gleichgewicht des Terrors, die praktische Unmöglichkeit, die Atombombe anzuwenden — es sei denn, man wäre vollkommen verrückt —, hat auf der Bühne der internationalen Politik zwei andere Kräfte aufsteigen lassen, wenn man so will, zwei Sterne aus den zwei sich gegenüberliegenden Sternbildern, Europa und China. Wenn die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungslinien, die wir heute ahnen können, keine plötzliche Unterbrechung erleiden — diese Unterbrechung könnte auch ein atomares Feuerwerk sein —, sind ihre Aufgaben dazu bestimmt, in der Zukunft, auch schon in der allernächsten, immer greifbarere Formen und größeres Gewicht anzunehmen.

Die dritte Welt, die wir unterschiedslos die unterentwickelte, die blockfreie nennen, ist heute noch keine eigene politische Macht. Sie ist heute noch mehr Gegenstand des Zankes als Thema der Politik, und die Bedeutung, die sie gelegentlich erlangt zu haben scheint, liegt nur im Dienst der sogenannten friedlichen Koexistenz. Nehmen wir einmal als Hypothese an, die zwei Überkolosse verständigten sich — eine Hypothese, die man nicht ausschließen darf, weil man nichts ausschließen kann, die man jedoch sicher unter die weniger wahrscheinlichen zählen muß —, dann würde die Bedeutung dieser dritten Welt einen jähen Absturz erleiden.

Ihr Problem ist einfach, und es ist überall das gleiche: aus dem Zustand der unterentwickelten Länder herauszutreten und in die Kategorie der entwickelten Länder einzutreten. Kein leichtes Problem. Das wissen wir Italiener, die wir ein Beispiel davon in unserem eigenen Land haben. Vor 15 Jahren haben wir das Problem unserer unterentwickelten Gebiete in Angriff genommen, und wir müssen zugeben, daß wir von einer Lösung weit entfernt sind. Und doch sind die Arbeitsbedingungen in diesen Gebieten außergewöhnlich günstig.

Wird es ihnen gelingen? Wann wird es ihnen gelingen und wie wird es ihnen gelingen? In der Antwort auf diese Fragen liegt die Zukunft. Bis heute sind es negative Kräfte gewesen. Sie haben den Zusammenbruch des Kolonialsystems gebracht, sie haben ein System zerstört, das sich gut oder schlecht aufrecht hielt. Der negativen Funktion kann auch eine große historische Bedeutung zugemessen werden; aber dann ist sie für die anderen wichtig, nicht für sich selbst. Werden sie aufzubauen verstehen?

Wir dürfen uns nicht von einem gewissen Stolz des alten Lehrmeisters und Herrn irre-12 führen lassen. Sie haben gewiß riesige Fehler begangen und begehen sie noch heute. Aber wie viele Fehler haben nicht auch wir in unserer Geschichte begangen? Doch auch Positives ist vorhanden: der Wille zum Erfolg. Ein Hauch neuen Lebens bläst über diese Welt. Wir können heute nicht sagen, ob es ihnen, ihnen allen, gelingen wird, wir können aber auch nicht sagen, daß es ihnen nicht gelingen wird. Nur wenn sie Erfolg hat, wird diese dritte Welt eine Kraft auf der Weltbühne darstellen können. Nehmen wir an, daß sie, im ganzen gesehen, Erfolg haben wird.

Die Überwindung des Nationalismus Die neuen Kräfte werden nicht schon morgen wirksam werden, aber sie beginnen sich bereits abzuzeichnen: Indien, die arabische Welt, die afrikanische Welt, die lateinamerikanische Welt. Werden sie sich vor allem von der schwersten Krankheit, mit der wir sie angesteckt haben, zu heilen wissen: dem Nationalismus? Die arabische Welt, die schwarze Welt müssen sich dazu entschließen, ihre heutigen nationalen Grenzen zu überwinden, wenn sie als aktive politische Kräfte erfolgreich sein wollen; sie müssen sich zu einer größeren Einheit zusammenschließen. Die Welt, der wir entgegengehen, ist eine Welt, in der kein Platz mehr für die Kleinen ist. Es ist eine Welt, in der nur Einheiten, deren Bewohner Hunderte von Millionen zählen, eine politische Aufgabe haben können.

Zum Schluß einer Plauderei, die reicher an Fragezeichen als an Tatsachen ist, möchte ich zwei Punkte unterstreichen: 1. Die Verteidigung Europas beruht auf der amerikanischen Atommacht. Es gibt heute und in der nächsten Zukunft nichts, das sie ersetzen könnte. Die Atomwaffen seine Verpflichtung Amerikas, für die Verteidigung Europas einzusetzen, ist im Nordatlantik-Pakt festgelegt. Für Europa gibt es keinen Ersatz für diesen Pakt, für die Freundschaft und das Bündnis mit Amerika. 2. Die politische Funktion Europas ist gewiß eine Möglichkeit, vielleicht — so hoffen wir — in nicht allzu ferner Zukunft auch eine Wahrscheinlichkeit; aber nur unter einer Bedingung: daß Europa sich vereinigt. Wie, das ist nicht wichtig, wenn es nur überhaupt geschieht.

Die Dinge laufen in Europa nicht so gut und so glatt, wie man zu erwarten geneigt ist. Zu Anfang habe ich gesagt, daß Italien daran keine Schuld trifft, und ich wiederhole es. Aber leider sind wir allein nicht genug, um Europa zu bauen. Daß Europa entsteht, hat zur Voraussetzung eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten jedes einzelnen Staates und die ehrliche Überwindung der politischen Konzeption der Vergangenheit. Europa kann kein Feigenblatt sein, das alte Bestrebungen deckt, die national, nicht europäisch, ja sogar anti-europäisch sind und bleiben. Europa kann aus einem gemeinsamen Willen geboren werden, der aus einem gemeinsamen Einverständnis und aus gleichwertigen Konzessionen entsteht. Will man aber ein Europa, dem man seinen eigenen Willen aufzwingen kann, dann ist man auf einem falschen, Sehr falschen Weg. Nun gibt es aber diese Tendenz, und das nicht in einem Land allein. Es ist unnütz, vor dieser Wirklichkeit die Augen zu schließen. Wenn es uns nicht gelingt, sie im eigenen Land und unter uns Europäern zu überwinden, werden wir nicht nur auf dem Weg zur Integration Europas nicht weiterkommen, wir laufen dann Gefahr, das Erreichte wieder zu zerstören. Die Feinde Europas sind nicht die Anti-Europäer. Die leben nur in der Vergangenheit, und wer in der Vergangenheit lebt, hat in der geschichtlichen Entwicklung nie eine große Rolle gespielt. Die wahren Feinde Europas sind die falschen Europäer.

Wenn es aber Europa nicht gelingt, sich zu einigen, dann können die einzelnen europäischen Staaten keine politische Aufgabe in dieser alten Welt und auch nicht in der neuen Welt, die unter ihren Augen entsteht, erfüllen, und es wird ihnen auch in der Zukunft keine Aufgabe zufallen.

Fussnoten

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Pietro Q u a r o n i, Dr. jur., Diplomat, geb. 3. Oktober 1898 in Rom. Seit 1920 im italienischen diplomatischen Dienst, u. a. in Istanbul, Moskau und Kabul, 1943 Botschafter in Moskau, 1946 Mitglied der italienischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris, 1947 Botschafter in Paris, 1958 in Bonn, seit 1961 in London. Veröffentlichungen u. a.: Diplomaten unter sich. Erinnerungen eines Botschafters, Frankfurt 1954; Diplomatengepäck, Frankfurt 1956, Die Stunde Europas, Frankfurt 1959; Politische Probleme der Gegenwart, Bonn 1960.