Am Nadimittag des 30. Januar 1933 herrschte, wie die englische Zeitschrift Survey nach einem Augenzeugenbericht wiedergibt
Am nächsten Morgen lagen die Nachrichten über die vollzogene Machtergreifung Hitlers vor. Hatte Stalin mit ihr gerechnet? Hatte er sie begünstigt? Haben seine Weisungen an die KPD mit dazu beigetragen, Hitler in den Sattel zu heben? „Stalin tat ab 1931 alles, um die Kampfkraft der KPD systematisch zu schwächen und auf diese Weise eine kommunistische Revolution zu verhindern", schreibt Margarete Buber-Neumann in ihren Aufzeichnungen
Es ist bekannt, daß von den fünfzig führenden deutschen Kommunisten der Weimarer Republik zweiundzwanzig eines gewaltsamen Todes gestorben sind; von diesen zweiundzwanzig fielen sieben dem Naziterror zum Opfer, elf der „Tschistka" Stalins
Wenn wir aus der Teilrevision des sowjetischen Geschichtsbildes der Stalinzeit Aufschluß für diese Zusammenhänge erwarten, werden wir enttäuscht. Man weiß, es sind Vorwürfe laut geworden, die Stalins Deutschland-politik im Jahr 1941, am Vorabend des deutschen Überfalls, betreffen
Nach 1923 liefen die deutsch-sowjetischen Beziehungen wieder in ruhigeren Bahnen; der Berliner Vertrag von 1926 nahm die Linie von Rapallo wieder auf und die Außenpolitik schien zwischen West und Ost ausbalanciert, während die inneren Verhältnisse sich mehr oder weniger normalisierten. Im Schatten des sowjetischen Machtkampfes war dem deutschen Kommunismus ein gewisser Spielraum gegeben, seine wechselnden Rivalitäten linker und rechter Flügel auszufechten und sich in Grüppchen und Fraktionen zu zersplittern. Dann zog die Weltwirtschaftskrise auf und ließ die Zahl der deutschen Arbeitslosen auf sechs Millionen hinaufschwellen. Mit ca. zwei weiteren Millionen nichtangemeldeter Erwerbsloser lebte ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung von unzulänglichen Unterstützungen, während viele noch unter den Folgen der Inflation litten. Sah das nicht nach einer Bestätigung der kommunistischen Verelendungstheorie aus? Die Zahlen der Wahlstimmen der KPD, die sich wieder fester organisierte, schnellten von einer Reichstagswahl zur anderen empor: die Abgeordnetensitze kletterten von 54 (1928) auf 77 (1930) hinauf, um 1932 im Juli 89 und im November 100 zu erreichen. Bei den Reichspräsidentenwahlen im März 1932 erhielt Ernst Thälmann fünf Millionen Stimmen, nicht nur die klassenbewußter Proletarier, sondern auch vieler verzweifelter, unorganisierter Erwerbsloser. Aber wenn 1932 tatsächlich der Eindruck einer revolutionären Situation entstand, so brauchten keineswegs die Kommunisten die Nutznießer zu sein. Auch der NSDAP war seit 1930 der Einbruch in die Massen des verarmten Mittelstandes, des Kleinbürgertums und der Bauern gelungen; im Juli 1932 erhöhte sich die Zahl ihrer Reichstagsmandate von 105 auf 230.
Hier setzt die Frage nach der Reaktion Moskaus auf diese Veränderung der deutschen Verhältnisse ein. Unter den verschiedenen Maßnahmen, die man ergreifen konnte, lag die Begünstigung einer Einheitsfront der Arbeiterbewegung zur Abwendung einer Machtergreifung Hitlers am nächsten.
Obwohl noch immer mit einer Reihe von verschiedenen Faktoren des Weltkommunismus gerechnet werden konnte, liefen die Entscheidungen zu der Zeit doch letzten Endes schon im Kreml bei Stalin zusammen, der nach der Ausschaltung von Links-und Rechtsopposition Parteiführung, Sowjetregierung und Kommunistische Internationale repräsentierte. Stalin hatte 1923, wie aus seinem Brief zur deutschen Frage an Sinowjew und Bucharin vom Juli/August hervorgeht, vor einer revolutionären Aktion in Deutschland gewarnt
Mit der Niederwerfung der sogenannten rechten Opposition in der Sowjetunion im Jahre 1929 steuerte der Kreml einen harten, ultralinken Kurs gegen jede Zusammenarbeit nicht nur mit den verschiedenen kommunistischen Splittergruppen, sondern auch mit den demokratischen Sozialisten, die als „Sozialfaschisten''geschmäht wurden. Auch in Deutschland, wo noch im Sommer 1923 Koalitionen mit der SPD angestrebt und zum Teil, wie in Sachsen und Thüringen, auch erreicht wurden, wird die SPD nach den blutigen Zusammenstößen in Berlin im Mai 1929 zum Hauptfeind, zur „Partei des Arbeiterverrats und Arbeitermordes", wie der XII. Parteitag der KPD formulierte
Auch Ernst Thälmann hatte sich, wie zu erwarten war, auf diese Linie festgelegt. Er stellte in seinen Reden die These vom „Sozialfaschismus als Waffenträger der faschistischen Diktatur" heraus und wetterte aufs schärfste gegen die sogenannten „Versöhnler", die die „faschistischen Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie leugneten". Die Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie sollte sich, so verlangte er 1930, nicht am Verhandlungstisch, sondern in Massenaktionen abspielen
Gelegentlich der erwähnten Plenarsitzung des EKKI war Heinz Neumann von Stalin empfangen worden. Neumann hatte in den letzten Jahren eine wachsende Rolle in der KPD zu spielen begonnen und gehört mit Thälmann und Remmele zu der Troika, in deren Hand die Führung der Partei lag. Stalin wußte beide, sowohl den ihm ergebenen unkomplizierten Thälmann als auch den auf seine persönliche Karriere bedachten, unruhigen Neumann für seine Zwecke zu verwenden, häufig, indem er sie gegeneinander ausspielte. Neumanns Vorzug war seine gute Beherrschung des Russischen.
Im Verhalten gegenüber der wachsenden Macht des Nationalsozialismus ließ er sich von der bis dahin in der KPD mehr oder weniger unangefochtenen Kampfformel „Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!" leiten. Jetzt wurde Neumann von Stalin zur Rede gestellt wegen seiner „links-sektierischen Massen-politik", nicht zum mindesten wegen des von ihm kurz zuvor befürworteten Zusammengehens mit der SPD in Thüringen, wo gemeinsam ein Mißtrauensvotum gegen den nationalsozialistischen Innenminister Frick eingebracht worden war. Ende des Jahres hatte Stalin wieder ein Gespräch mit Neumann. Neumann versuchte, seine Politik mit der zunehmenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus zu rechtfertigen. Hier unterbrach ihn Stalin mit den Worten: „Glauben Sie nicht auch, daß, falls in Deutschlands die Nationalsozialisten zur Macht kommen, sie so ausschließlich mit dem Westen beschäftigt sein würden, daß wir in Ruhe den Sozialismus aufbauen können?“
Wenn diese Worte authentisch wiedergegeben sind — Margarete Buber-Neumann will sie von ihrem Mann gleich nach seiner Rückkehr aus Moskau so gehört haben werfen —, sie ein deutliches Licht auf Stalins Betrachtung der Weltlage, die in gewisser Weise die Situation von 1939 bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges vorwegnahm. Hitlers Machtergreifung erschien für Moskau als die beste Garantie gegen eine gemeinsame Aktion des Westens und Deutschlands gegen die Sowjetunion, das Schreckgespenst, das sich beim Eintritt Deutschlands in den Völkerbund drohend erhoben hatte und durch einen besonderen Sanktionsparagraphen gekannt werden mußte.
Daß das Zentralkomitee der KPD Ende 1931 Anweisungen vom EKKI aus Moskau erhielt, von seiner „terroristischen Linie" abzugehen, geht auch aus dokumentarischen Unterlagen des Berliner Polizeipräsidiums hervor. Als Grund wird hier die Verschärfung der außenpolitischen Lage in Fernost angegeben
Seit dem letzten Gespräch mit Stalin sank Neumanns Stern; er wurde im Frühjahr 1932 seiner Funktion enthoben und im Oktober des Jahres auf der III. Parteikonferenz der KPD aus der Parteiführung wegen der „zersetzenden Tätigkeit" seiner Gruppe entfernt. Ihm wurde vorgeworfen, den Faschismus unterschätzt und bei Abschwächung des prinzipiellen Kampfes gegen die SPD-Führung die zentrale Bedeutung der „Einheitsfronttaktik von unten“ übersehen zu haben
Wenn Neumann vorgeworfen wurde, den Nationalsozialismus unterschätzt zu haben, so kann für den rückblickenden Betrachter dieser Vorwurf Thälmann ebensogut treffen: auch er hatte am 19. Februar 1932 vor einer „Überschätzung des Hitlerfaschismus" gewarnt
So verpönt die Taktik einer „Einheitsfront von oben" war, so ist es ungeachtet der von Thälmann ausgegebenen Richtlinien doch mehrfach zu einer Fühlungnahme zwischen den Partei-führungen gekommen. Im November 1931 haben Gespräche zwischen KPD-Führern und dem Sozialdemokraten R. Breitscheid stattgefunden. Am 9. Juli 1932 gelang es, 20 sozialdemokratische Funktionäre zu einer Aussprache mit Vertretern des kommunistischen Zentralkomitees zu versammeln und eine Diskussion über die Frage: „Wie schaffen wir die rote Einheitsfront?" abzuhalten
Im Anschluß an den Staatsstreich des Reichskanzlers von Papen gegen die preußische Regierung am 20. Juli 1932 trat die KPD an die SPD-Führung mit der Aufforderung heran, gemeinsam den Generalstreik zu proklamieren. Diese lehnte freilich im Einklang mit den Gewerkschaften den Vorschlag ab. Man tat es im Vertrauen auf die Reichstagswahlen vom 31. Juli, die allerdings keineswegs den gewünschten Erfolg, sondern eine Verdoppelung der Stimmenzahl der NSDAP brachte. Der allein von der KPD ausgehende Appell zum Generalstreik stieß unter diesen Umständen auf schwachen Widerhall. Die mangelnde Bereitschaft der sozialdemokratischen Führung, auf den Appell zum Generalstreik einzugehen, hatte allerdings noch andere Gründe. Wenn es hier und dort zu einer Fühlungnahme „von oben" kam, so lief parallel dazu die kommunistische Agitation in den Massen mit ihrer ausgeprägten Spitze gegen die SPD-Führung auf vollen Touren; sie ging darauf aus, die Arbeiterschaft gegen die SPD-Führung aufzuwiegeln.
Unter diesen Umständen
Unter diesen Umständen mußte ein Zusammengehen mit der KPD höchst fragwürdig erscheinen. Und man war überzeugt, daß die Preis-gabe der Verbindung zu den demokratischen Mittelstandsparteien der Weimarer Koalition Hitler den Vormarsch zur Macht nur erleichtern würde 25). Wenn eine in Moskau 1935 herausgegebene Materialiensammlung lapidarisch formuliert: „Die Sozialdemokratie tat auch weiterhin alles, um die Bildung der Einheitsfront zu verhindern" 26), und eine neuere geschichtliche Darstellung davon spricht, die KPD sei 1932 energisch für eine Einheitsfront eingetreten und habe versucht, eine antifaschistische Massenbewegung aufzuziehen 27), so wird hier wie dort durch den Verzicht auf eine notwendige Differenzierung des Begriffs Einheitsfront die Wahrheit vernebelt und im besten Falle nur eine Teilwahrheit geboten. Bei einer derartigen Sicht der Dinge darf dann auch die Formulierung nicht verwundern, der Widerstand der SPD und des ADGB gegen eine Einheitsfront — auch hier ohne jede nähere Kennzeichnung! — sei die Ursache für die Machtergreifung des Nationalsozialismus gewesen 28)! Innerhalb der SPD-Führung wird man gewußt haben, woher die maßgebenden Direktiven kamen. So ist es zu verstehen, wenn Friedrich Stampfer vom „Vorwärts" sich im Herbst des Jahres an den sowjetischen Bot-sciafter in Berlin, L. M. Chintschuk, wandte, um mit ihm die Situation zu klären. Aber auch diese Gespräche blieben ohne Ergebnis und wurden im Januar 1933 abgebrochen 29).
Die Kehrseite dieses Verhaltens war die Fehleinschätzung der NSDAP. In den zwanziger Jahren hatte man Hitlers Bewegung in Moskau nicht ernst genommen. Stärkere Beachtung findet sie erst seit den Reichstagswahlen 1930.
Auf der schon erwähnten Plenarsitzung des EKKI im März/April 1931 wurde die NSDAP als eine „kleinbürgerliche Bewegung im Dienste der deutschen Bourgeoisie“ bezeichnet 30). Aber schon jetzt sah Stalin das Militär als die eigentlich entscheidende Kraft in Deutschland an; er hat auch im Hinblick auf die Machtergreifung Hitlers gemeint, die Wehrmacht werde den maßgebenden Faktor darstellen. Von der Wehrmacht versprach er sich das Fortwirken der traditionellen Rußlandfreundschaft auf der Linie der von Seeckt eingeleiteten Zusammenarbeit 31).
Eine eigentümliche Beachtung scheint Stalin im Rahmen dieser Konzeption General Schleicher geschenkt zu haben. Der Berliner Botschafter Chintschuk lenkte Stalins Aufmerksamkeit auf ihn: er und die Reichswehr hätten den Schlüssel zur Macht in der Hand. Ein so kenntnisreicher Beobachter der Hintergründe der bolschewistischen Politik wie Boris Nikolajewskij verzeichnet sogar das Gerücht, Stalin habe Kontakte zu Schleicher ausgenommen und ihm geraten, mit Hitler zusammenzuarbeiten:
Hitler sei ein talentierter Agitator und könne nützlich sein
Wenn Hitler demnach einerseits als Exponent deutscher militärischer Kreise begriffen wurde, so billigte man der NSDAP auf der anderen Seite auch nicht mehr als einen Funktionswert zu, wenn man in ihr nach den Worten von Manuilskij bloß einen „Vorspann der Diktatur des Proletariats" erblickte, der dem Kommunismus den Dienst erweisen würde, die SPD und die Gewerkschaften zu zertrümmern. Hier zeigten sich deutlich die Grenzen des doktri-nären Schematismus der kommunistischen Mentalität; im Rahmen des herkömmlichen dualistisch-manichäischen Freund-Feind-Schemas war die Erkenntnisschärfe für das Aufkommen neuer gesellschaftlicher Phänomene getrübt. Wenn in den dreißiger Jahren im kommunistischen Lager jemand die wirkliche Gefahr des Nationalsozialismus erkannte, dann war es nicht Stalin, sondern Trotzkij, der große Abtrünnige. Er forderte, wie die Biographie von Isaak Deutscher nachweist, von 1930 an unablässig die Einheitsfront zwischen SPD und KPD und schlug Alarm in zahlreichen Artikeln der Presse
In diesem Zusammenhang sei auf einen zeitgenössischen Bericht hingewiesen, der mit der der Tagespresse gegenüber notwendigen Vorsicht benutzt werden muß. Auch wenn er im einzelnen an Präzision zu wünschen übrig läßt, entstammt er doch einem Organ, das sowohl um gute Informationsquellen bemüht war, als auch durch die Person seines Herausgebers frei vom Verdacht bloßer Sensationsmacherei sein dürfte. Es handelt sich um die in München von Dr. Fritz Gerlich herausgegebene Wochenzeitung »Der gerade Weg". Gerlich lehnte nicht nur den Kommunismus ab, sondern war zugleich auch einer der unerschrockensten publizistischen Gegner Hitlers; am 24. Juli 1932 forderte er die Absetzung Hindenburgs durch Volksentscheid, weil der Reichspräsident ihm keine Garantie für die Erhaltung der Demokratie mehr darzustellen schien, worauf sein Blatt zeitweise verboten wurde. Im Juli 1934 ist Gerlich im Zusammenhang mit der Aktion gegen Röhm und Schleicher ermordet worden.
Gerlich veröffentlichte am 24. Januar 1932 einen Bericht aus Moskau von einer Plenarsitzung des EKKI, die er irrtümlicherweise auf den Dezember 1931 datiert. In der Auseinandersetzung mit Thälmann habe Manuilskij die Meinung vertreten, der Hauptfeind der KPD sei nicht Hitler, aber auch nicht die SPD als solche, sondern die Front Brüning-Severing-Hindenburg. „Hitler lassen wir seinen Weg gehen und nutzen alles aus, was uns sein Sieg über den bürgerlichen Staatsapparat geben wird. Hitler wird den sozialdemokratischen Polizeiapparat zertrümmern.“ Er spiele die Rolle des General Kornilows im Rußland des Jahres 1917
In Gerlichs Bericht mögen sich sowohl Informamationen über das 11. Plenum vom Frühjahr 1931 als auch neueste Meldungen über den schon stattgefundenen Besuch des Zentralkomitees der KPD in Moskau, von dem oben die Rede war, widerspiegeln. Das Thema der Bundesgenossenschaft mit dem Faschismus hat übrigens Manuilskij tatsächlich etwas später, auf dem 12. Plenum im September 1932, angeschlagen — allerdings in einem anderen Sinne. Er stellte die „Bundesgenossenschaft" als Konsequenz opportunistischer Ansichten in der KPD dar, daß die Massenstreikbewegung keinen Sinn habe. Dann bliebe nichts anderes übrig, als sich auf den Krieg und auf den Faschismus als Bundesgenossen (kak sojuznikov) zu orientieren!“ Derartige schädliche Ansichten, sagte er, müßten überwunden werden
Im übrigen liefert auch die kommunistische Presse des Jahres 1932 eine Fülle von Belegen für die Schärfe der Kampfstellung des „linken Kurses“ gegen die Sozialdemokratie, aber auch für die agitatorische Verwischung der Unterschiede und Gegensätze zwischen ihr, den deutschnationalen Kreisen und der NSDAP. So heißt es z. B. in der Internationalen Presse-korrespondenz (Inprekorr), dem offiziellen Organ der Komintern, am 28. Januar 1932: Der Hauptangriff der revolutionären Politik müsse gegen die wichtigste soziale Festung der Bourgeoisie, die Sozialdemokratie, gerichtet werden; die Mehrheit des Proletariats könne nur nach Vernichtung der Sozialdemokratischen Partei für den Kommunismus gewonnen werden. Zwischen Karl Severing, Hindenburg und Hitler könne kein Unterschied gesehen werden. Und im April führte W. G. Knorin in der Inprekorr aus, die Sozialdemokratie halte die Arbeiter vom Kampf gegen die Bourgeoisie zurück. Sie helfe der Bourgeoisie und sei deshalb der Hauptgegner der arbeitenden Klasse. „Bevor sie nicht endgültig zerschlagen ist, kann die Bourgeoisie nicht gestürztwerden.“
Hand in Hand mit der Agitation gegen die Sozialdemokratie gingen Versuche, die kommunistische Leserschaft über die NSDAP aufzuklären. Hierbei rächte sich freilich die schon seit jeher übliche Terminologie, unter Vermeidung des Ausdrucks „Nationalsozialismus“ immer nur allgemein vom „Faschismus" zu sprechen und diesen zudem nicht genügend zu differenzieren. Auf diese Weise mußte jede Aufklärung letzten Endes zu einer Vernebelung gegenüber den tatsächlichen Realitäten des politischen und Parteilebens führen. Wie schon die Verwendung der Vokabel „Sozialfaschismus" dazu beitrug, die Grenzen des Begriffs „Faschismus" zu verwischen, so hat die Kennzeichnung der Präsidialdemokratie der Ära Brünings und Papens als „faschistische Diktatur" ebenfalls dazu beigetragen, die
Wachsamkeit gegenüber einer Machtergreifung Hitlers zu schwächen.
„Die Herrschaft der Regierung Papen — Schleicher in Deutschland, die mit Hilfe der Reichswehr, des Stahlhelms und der Nationalsozialisten errichtet wurde, für die die Sozialdemokratie und das Zentrum den Weg gebahnt haben, stellt eine Form der faschistischen Diktatur dar": So hieß es in der Resolution der III. Parteikonferenz der KPD im Oktober 1932
Wenn auf der einen Seite eine proletarische Einheitsfront gegen Hitler durch eine derartige Auslegung der Situation unmöglich gemacht wurde, so schimmert auf der anderen Seite immer wieder in unmißverständlicher Weise eine gewisse makabre Affinität zwischen Rechts-und Linksradikalismus durch. Zu Berührungen beider Extreme ist es in der Weimarer Zeit zweimal gekommen: zunächst während des Ruhrkampfes Anfang 1923 im soge-nannten Schlageter-Kurs Radeks und danach zu Beginn der dreißiger Jahre, eingeleitet durch gemeinsame Obstruktionen im Reichstag anläßlich des Kampfes um den Young-Plan, als sich extreme Linke und extreme Rechte einig waren in der Ablehnung der Erfüllungspolitik und jeder Annäherung Deutschlands an die Westmächte. Der ganze zwielichtige Komplex der „linken Leute von rechts“ gehört hinzu; wenn Ernst Niekisch und der „Widerstandskreis", der Lenin verherrlichte und mit Cäsar verglich, eine deutsch-russische Schicksalsgemeinschaft gegen die „brüchige abendländische Welt" propagierte, wenn der „Tatkreis“ in seltsamer Weise mit deutsch-bolschewistischen Gemeinsamkeiten kokettierte und wenn der „Völkische Beobachter“ 1928 lobende Worte für Stalin fand und ihn einen „mutigen Diktator“ nannte — so entspricht dem ein Angebot der kommunistischen „Welt am Abend“ an Goebbels und Otto Strasser, in einer Sondernummer einen Beitrag zu veröffentlichen
Im Juli 1931 sagte die KPD ihren Wählern an, für das Plebiszit der NSDAP und der Deutschnationalen vom kommenden August gegen die preußische Regierung zu stimmen
Und so fehlt es auch 1932 nicht an derartigen gemeinsamen Aktionen. Uber Heinz Neumanns Unterredung mit Stalin hat seine Frau in ihren Erinnerungen berichtet; was sie verschweigt, ist, daß Neumanns Taktik gegenüber dem Nationalsozialismus sich keineswegs mit der simplen, oben zitierten aggressiven Parole erschöpfte. Neumann glaubte, wie O. K. Flechtheim sich ausdrückt, den Nationalsozialismus nicht nur mit der Peitsche, sondern auch mit Zuckerbrot bändigen zu können, das heißt, er versuchte schon vor 1930, durch Verwendung einer nationalistischen Phraseologie in die Reihen der NSDAP einzubrechen bzw. sie zu manipulieren
Im Grunde hatte der Staatsstreich Papens gegen die preußische Regierung am 20. Juli bereits die Wende dargestellt, von der an die KPD auf verlorenem Posten stand. Die damals ausgegebenen Generalstreikparolen hatten, wie dargelegt wurde, ebensowenig Resonanz in der Bevölkerung gefunden wie die von Hans Kippenberger als Leiter des militärischen Apparats in Form von Waffenbeschaffung, Zersetzungsagitation in Polizei und Reichswehr und Organisation von Kampfgruppen forcierten Vorbereitungen für einen bewaffneten Aufstand. Das 12. Plenum des EKKI bestätigte im September 1932 die bisherige Linie des Kampfes gegen die Sozialdemokratie
Welche Motive veranlaßten Stalin, den Dingen in Deutschland ihren Lauf zu lassen und keinen Versuch zu machen, eine Machtergreifung Hitlers zu verhindern? Wir werden zwei Motivgruppen unterscheiden müssen: eine innerpolitische und eine außenpolitische.
Die Sowjetunion befand sich 1932 in einer schweren Krise. Stalin hatte im Zuge seines Machtkampfes zwischen 1924 und 1928 die Links-und anschließend die Rechtsopposition überrundet und auf diese Weise seine Position zu Beginn der dreißiger Jahre gefestigt. Dann stürzte er allerdings das Land durch die forcierte Zwangskollektivierung, durch die Vernichtung der Kulaken in eine schwere wirtschaftliche und soziale Krise, die zur zweiten großen Hungersnot der sowjetischen Ära führte und in ihren Konsequenzen zu einer politischen Vertrauenkrise ausartete. Diese spielte selbst in die höchsten Parteigremien hinein. Ende September 1932 wurde eine Denkschrift aus Parteikreisen, die Stalins Absetzung verlangte, im Plenum des Zentral-komitees verhandelt; in der Roten Armee war die Stimmung schlecht. Im November 1932 erfaßte die Unruhe bereits Stalins engeren Familienkreis und führte zum Selbstmord seiner Frau Nadeschda
Auf diesem Hintergründe mußten sich die Erwartungen auf einen Sieg des Kommunismus in Deutschland, auf ein „Sowjetdeutschland", für das sich vorzubereiten die „Kommunistische Internationale“ am 15. Dezember 1932 empfahl
Man kann in der Tat davon ausgehen, daß die Sowjetunion in der Phase des Aufbaus des „Sozialismus in einem Lande“ dringend an einem Wirtschaftsaustausch mit Deutschland interessiert war. Dieser war in den Jahren nach 1926 in steigendem Maß intensiviert worden und hatte während der Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 eine weitere Ausweitung erfahren
Die zweite Motivgruppe umfaßt außenpolitische Überlegungen. Seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu England im Jahr 1927, die erst 1929 wieder ausgenommen wurden, wurde in Moskau die Psychose einer erneuten Intervention, eines Überfalls der kapitalistischen Mächte auf die Sowjetunion lebendig. Da gleichzeitig am Ende der zwanziger Jahre in Fernost die japanische Aggression auf dem asiatischen Festlande einsetzte und zu Grenzkonflikten mit der Sowjetunion führte, verdichtete sich die Vorstellung einer Gefahr von außen zu der einer regelrechten Einkreisung von West und Ost. So realistisch derjapanische Expansionismus gesehenwerden mußte, so irreal war die Furcht vor gleichzeitigen feindlichen Aktionen seitens der Westmächte in Europa. Es gehörte aber seit jeher zu den charakteristischen Symptomen des sowjetischen Herrschaftssystems, daß man aus der Fiktion einer äußeren Bedrohung eine Rechtfertigung des terroristischen Regimes im Innern ableitete.
Bereits auf dem XVI. Parteikongreß der KPdSU im Juni 1930 hatte Stalin in seinem Rechenschaftsbericht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Bourgeoisie einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise einerseits durch Errichtung einer faschistischen Diktatur, andererseits durch die Entfesselung des Krieges suchen werde
Mußte nicht unter diesen Umständen Hitler mit seiner Agitation gegen Versailles Stalin die bessere Garantie gegen eine gemeinsame Front Deutschlands mit dem Westen bieten als die Weimarer Republik? Konnte man nicht erwarten, daß eine von Hitler angestrebte Aufrüstung ein verstärktes Gewicht des Militärs in Deutschland nach sich ziehen würde, das, wie man zu wissen glaubte, schon immer Anhänger einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit gewesen war? Und mußte nicht Hitlers Machtergreifung zugleich die Chancen eines Konflikts mit England und Frankreich verstärken? Diese Konzeption spiegelt sich in sehr bezeichnender Weise in einem Gespräch, das Erich Wollenberg, ein führendes Mitglied der KPD
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß Stalin Lenins These von der Unvermeidbarkeit von Kriegen zwischen der bürgerlichen und der sowjetischen Welt voll und ganz akzeptierte. Mit der veränderten Bedeutung, die jedoch die Sowjetunion im Rahmen der weltrevolutio-nären Erwartungen gewonnen hatte, und mit dem Aufkommen des Faschismus bekam auch die Frage nach der Unvermeidbarkeit von Kriegen einen anderen Akzent. Neben der Furcht vor dem imperialistischen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion stand die Hoffnung auf einen kriegerischen Zusammenstoß innerhalb der bürgerlichen Welt. „Ein Krieg ist unvermeidlich" — konnte sich gerade auf die Erwartung beziehen, daß die Aktivität Hitlers im Sinne einer Revision des Versailler Vertrages nach Westen gelenkt würde und zu militärischen Auseinandersetzungen mit den Westmächten führte.
Wenn auf diese Weise sowohl die deutschen als auch die westlichen Kräfte absorbiert würden, so wäre im Ergebnis der Westen als Gesamtheit geschwächt. Diese Überlegungen standen freilich unter der Voraussetzung, Hitler selbst werde sich nicht lange halten können: wenn er nicht schon durch innere Schwierigkeiten, deren er nicht Herr würde, zu Fall kommen werde, so durch den im Westen entfesselten Krieg, Dann wäre der Weg freigelegt für den Kommunismus, in einigen Jahren, in denen die Sowjetunion sich so weit gefestigt haben würde, daß Moskau der Primat der Vorrangstellung nicht mehr streitig gemacht werden konnte.
Unsere Untersuchung ist am Ende angelangt. Es wären nur noch zwei Fragen zu klären. Wäre die von Moskau verhinderte Einheitsfront der Linken das wirksame Mittel zur Verhinderung der nationalsozialistischen Machtergreifung gewesen, und ferner: wie lange währte die Fehleinschätzung Hitlers, die noch am 30. Januar den Kurs des Kreml bestimmt hatte?
Die erste Frage ist keine müßige Spekulation. Sie ist von grundlegender Bedeutung für die Frage nach dem Sein oder Nichtsein der deutschen Demokratie; sie kann dazu beitragen, die Vielfalt der politischen Kräfte und Möglichkeiten, die das Jahr vor der Machtergreifung in sich barg, richtig einzuschätzen und gegeneinander abzuwägen. Um ihre Beantwortung haben sich in den letzten Jahren maßgebende Forschungen von Bracher, Matthias-Morsey, Bahne u. a. verdient gemacht
Für unsere Zusammenhänge ist die andere Frage relevanter: Wie lange währte die Unterbewertung Hitlers und seines Regimes? Wenn am 30. Januar 1933 die Schockwirkung, die man vielleicht erwartet hatte, ausblieb, so stellte sie sich um so deutlicher ein Jahr darauf, nach dem Abschluß desHitler-PilsudskiPakts im Januar 1934, ein. Der weitere Verlauf des Jahres mit der Liquidierung Röhms und Schleichers und der Übernahme der Reichs-präsidentschaft offenbarte die Festigung der inneren Machtstellung der nationalsozialistischen Diktatur; die Illusion, Hitler als bloßes Werkzeug der Bourgeoisie und des Militärs zu begreifen, verflog. Das Dritte Reich stellte nicht — wie erwartet — eine Chance, sondern eine Bedrohung dar. Dieser konnte man auf zweierlei Art begegnen entweder durch die kollektive Sicherheitspolitik mit den Westmächten einschließlich der ab 1934 neu propagierten Volksfronttaktik oder durch ein Kriegsbündnis mit Hitler unter Aufteilung Osteuropas. Stalin hat beide Wege nacheinander beschritten.
Aber Stalins politische • Bemühungen liefen nicht erst im Sommer 1939 doppelgleisig. Es fehlt auch in den Jahren zwischen 1933 und 1939 nicht an Hinweisen, Gesprächen und Fühlern; von den ersteren ist Stalins Rede auf dem XVII. Parteikongreß der KPdSU am 26. Januar 1934 bisher zu wenig beachtet worden. Sie malt mit kräftigen Farben, durchaus im Einklang mit den offiziellen Verlautbarungen von 1932, die Gefahr eines Krieges an die Wand, um anschließend anzudeuten, wenn Hitler Position gegen den Westen nehmen würde, sei eine Zusammenarbeit möglich
Stalins Verhalten in der deutschen Frage des Jahres 1932 mit der Fehleinschätzung Hitlers und, damit gekoppelt, der Preisgabe der KPD, deren Führer nacheinander von Gestapo und GPU liquidiert wurden, hat im übrigen auch einen innersowjetischen Aspekt. Er hat nicht unwesentlich beigetragen zur vollen Ausprägung der hochstalinistischen Phase der sowjetischen Geschichte. Stalin beschritt mit dem Jahr 1934 die letzte, blutigste Etappe seines Weges zur Macht, und es liegt alle Veranlassung vor, von einem strukturellen Zusammenhang zwischen der Ermordung Röhms und Schleichers auf der einen und Kirows auf der anderen Seite — im Dezember 1934 — zu sprechen. Stalin sicherte in den Jahren danach seine Diktatur durch Säuberungsprozesse, in deren Protokollen die Beziehungen zu Deutschland als Anklagepunkt eine eigentümlich zwielichtige Rolle spielen. Es war ein weiteres Zeugnis für die innere Affinität der beiden Regime, wenn die Diktion des sowjetischen Anklägers Wyschinskij von Roland Freisler in Hitlers Schauprozeß gegen die Opposition des 20. Juli 1944 kopiert wurde.
Die Machtergreifung Hitlers hat in ihren Konsequenzen für den Stalinismus nicht unwesentlich zur endgültigen Wandlung der Sowjetunion zu einem sowjet-patriotischen Nationalbolschewismus beigetragen, der Hitlers Aggressionsziele im Sinne eines eigenen imperialistischen Expansionsprogramm zu nutzen wußte und unter dessen Vorzeichen die Weltrevolution über die Katastrophen des zweiten Weltkrieges hinweg durch territoriale Eroberungen mehr Gelände gewann als je zuvor.