In der Nachkriegsgeschichte der Ost-West-Beziehungen ragt, wenn man sie aus der Distanz des Jahresbeginns 1964 betrachtet, deutlich eine Periode heraus, in der beide Seiten — Kommunismus und westliche Welt — gleichermaßen jedwede Entwicklung außerhalb ihrer direkten Einflußzonen mit einem Übermaß an Mißtrauen. Intoleranz und Indolenz verfolgten und verketzerten. Nach der Formel, daß gegen uns sein müsse, wer nicht für uns sei, hat der Westen beispielsweise in Asien viele Jahre jede Form selbständiger Politik einzelner Staaten und Regionen abgelehnt, in zahllosen Fällen ultimativ die Bündnisfrage gestellt und mehrmals die Allianz selbst solcher Regierungen erzwungen, die schlechterdings kaum für eine Zusammenarbeit mit dem Westen qualifiziert waren. Ärger noch: Im arabisch-afrikanischen Raum wurde zeitweilig jeder Versuch nationalistischer Gruppen, den Kolonialismus zu überwinden und echte Unabhängigkeit und außenpolitische Handlungsfreiheit zu erlangen, kurzerhand als Beweis für eine „kommunistische Unterwanderung", ja sogar Lenkung des Nationalismus diskreditiert. Die westliche Publizistik spiegelte die Leitgedanken einer solchen Betrachtensweise — die heute längst überwunden ist — getreulich wider. Selbst seriöseste Publikationen nannten den Sturz Faruks 1952 in Ägypten eine „kommunistische Machenschaft"; jahrelang galt der Mau-Mau-Aufstand in Kenia als eine vom Kommunismus gelenkte Verschwörung; nach Ansicht selbst zuverlässigster westlicher Kommentatoren mußten die Wortführer des Antikolonialismus in Westafrika — vor allem Guineas Sekou Toure und Ghanas Kwame Nkrumah — entweder Sympathisanten des Kommunismus oder kommunistische Agenten sein. Und noch heute finden von Zeit zu Zeit jene Darstellungen der Regierung Südafrikas Eingang in westliche Publikationen, wonach rundweg alle Organisationen, die Apartheid und Segregation ablehnen, kommunistische Agenturen sind, die „erwiesenermaßen" im Auftrag des Kommunismus handeln.
Die explosiven Wandlungen in der afro-asiatischen Welt haben den Westen freilich in den letzten Jahren zum Umdenken gezwungen. Starre Dogmen wichen einer pragmatischen Politik, und zumal in Washington erkannte man seit dem Tod von John Foster Dulles — zunächst zögernd, dann, unter Kennedy, großzügig — an, daß „antiwestlich" in der afroasiatischen Staatenzone nicht axiomatisch kommunistisch oder pro-kommunistisch bedeutet. Die Politik des Non-Alignment wurde hof-fähig. Indessen sind die untergründigen, die psychologischen Folgen jener engstirnigen „Entweder-Oder-Politik" der fünfziger Jahre doch noch spürbar, gerade bei der Behandlung Afrikas in der internationalen Publizistik. Auf der einen Seite kann man immer noch eine maßlose Überschätzung kommunistischer Möglichkeiten und Fähigkeiten im Schwarzen Erdteil erkennen. Andererseits, und dies scheint mir ungleich gefährlicher, begegnen wir einer zunehmenden Verniedlichung der kommunistischen Afrikapolitik: Da sich die Kassandra-Rufe der fünfziger Jahre als Ausbrüche einer allgemeinen politischen Hysterie erwiesen haben, glauben heute nicht wenige, der Kommunismus könne in Afrika überhaupt keine Rolle mehr spielen. Hinweise auf kommunistische Aktivitäten in diesem Erdteil werden denn auch häufig mit dem Bemerken beantwortet, diese Aktivitäten existieren nur in den Gehirnen ultrareaktionärer Propagandisten des Kolonialismus. Die jungen Führer der neuen Staaten hätten ihre Unabhängigkeit wohl schwerlich erkämpft, um sie sich flugs erneut vom Kommunismus rauben zu lassen.
So argumentieren nicht zuletzt zahlreiche Männer der neuen afrikanischen Elite. Sie fühlen sich durch westliche Ermahnungen vor dem Kommunismus gekränkt und beleidigt. Indessen muß man gerechterweise zugeben, daß der Kommunismus für die Afrikaner auf den ersten Blick weit weniger schrecklich wirkt als auf uns. Wir kennen den Kommunismus seit Jahrzehnten. Wir kennen die einzelnen und grausamen Etappen seiner Machtergreifung und Machtausweitung. Wir wissen um die Barbarei des Stalinismus. Der Afrikaner aber tritt erst in einer Periode in den Dialog oder Disput mit dem Kpmmunismus ein, da dieser sich relativ liberaler und friedfertiger gebärdet, da zumindest der Sowjetkommunismus die „friedliche Koexistenz" auf sein Panier geschrieben hat und alles daran setzt, von den weltrevolutionären Endzielen abzulenken, da sich die Sowjetunion als zweiter Superstaat fest im internationalen Gefüge etabliert hat — als jener Staat, der zu seinem Glanze Luniks und Sputniks in den Himmel schießt und dessen Raumfahrer beim überqueren des afrikanischen Kontinents Grußbotschaften im Namen des Sowjetvolks an die Staatsmänner und Völker Afrikas herunterfunken. Zudem hat die Sowjetunion — und mit ihr das gesamte „sozialistische Lager“ — zweifellos einiges dazu beigetragen, daß der Kolonialismus so überstürzt von der Bühne der Geschichte abtreten mußte. Sieht man einmal von den Motiven der antikolonialen Agitatoren Moskaus ab (und die meisten Afrikaner tun dies bereitwilligst), so ergibt sich die unbestreitbare Tatsache, daß es die Sowjetunion gewesen ist, die als erste Macht etwa in den Organen der Vereinten Nationen für die Befreiung Afrikas auftrat. Das wird widerspruchslos von nahezu allen afrikanischen Führern anerkannt, bis hin zu jenen, die man als „prowestlich" bezeichnen könnte.
Ein gewichtiger Umstand kommt hinzu, der wesentlich zur Verschleierung des Kommunismus in Afrika beigetragen hat: die Nicht-existenz kommunistischer Parteien auf diesem Kontinent. Kommunistische Parteien bestanden bis vor kurzem nur in den nordafrikanischen Ländern, in Ägypten (verboten), Tunesien, Algerien (verboten), Marokko (ebenfalls verboten). Eine alte, aber illegale Partei, die durch zahlreiche Richtungskämpfe ohnehin zersplittert ist, besteht in Südafrika. Völlig bedeutungslos ist die kommunistische Parteiorganisation Basutolands. Als erste wirkliche Kommunistische Partei Schwarz-Afrikas ist daher nur die KP Nigerias anzusehen, die Anfang Dezember 1963 aus der Taufe gehoben, indessen sofort durch Polizeiaktionen behindert wurde. Neben diesen offiziellen Parteien, deren Mitgliederzahl insgesamt nach kommunistischen Quellen nicht über 50 000 hinausreicht, bestehen allerdings noch zwei krypto-kommunistische Parteien im Senegal (der „Parti Africain de l’Indpendance") und in Kamerun (die " Union des Populations du Cameroun“). über diese beiden Gruppen wird noch zu sprechen sein.
Natürlich wissen wir, wie töricht es wäre, die kommunistische Frage auf den Parteienfaktor zu reduzieren. Aber in unserem Zusammenhang ist es wichtig, daß das neue SchwarzAfrika bislang nirgendwo intern mit dem organisierten Kommunismus in seiner ausgeprägtesten Form konfrontiert worden ist. Man kennt hier nicht das Fintieren, Lavieren, Agitieren von Parteien, die radikalste nationale Forderungen verkünden und zugleich doch nicht verbergen können, wie sehr sie von ausländischen Weisungen abhängig, einer fremden Macht und Ideologie dienstbar sind. Und unbekannt ist den Afrikanern auch das instruktive Schauspiel innerparteilicher Machtkämpfe, ideologischer Zänkereien und Schwankungen, des Widerrufes langjährig akklamierter Dogmen und Thesen. Mehr noch: Die Afrikaner konnten sogar beruhigt zur Kenntnis nehmen, daß der Kreml kommunistische Parteien auf dem Schwarzen Erdteil einfach fallen ließ, um die Beziehungen zu den Regierungen dieser Länder nicht zu belasten
Schwenkungen Moskaus Hinter diesem Phänomen verbirgt sich, wie ich meine, freilich weniger eine raffinierte Kalkulation des Kreml, sondern weit eher ein Zugeständnis an eine für den Sowjetkommunismus höchst widrige, komplizierte Lage. Sie hat ihre Wurzeln in eben jenen fünfziger Jahren, von denen wir eingangs bereits sprachen. Wir haben dabei zunächst nur die engstirnige westliche Politik erwähnt, ohne die damals herrschende kommunistische Linie gegenüber der „Dritten Welt“ zu berühren, die eine überraschende Parallele zum Kurs des Westens bildete. Denn auch die Sowjets gingen bis zur Mitte der fünfziger Jahre vom alternativ formulierten Entweder-Oder aus. Entweder hieß Kommunismus, Oder bedeutete Antikommunismus. Eine Zwischenposition — mit welchen Annäherungswerten nach beiden Extremen auch immer — wurde vom Kommunismus nicht zugelassen. Ideologisch resultierte dies in einem maßlos übersteigerten Monopolanspruch des Kommunismus für alle Veränderungen in Asien und Afrika. „Die Geschichte beweist“, hieß es damals, „daß die nationale Bourgeoisie der kolonialen und halbkolonialen Länder, die mit tausend Banden an die Feudalklassen und an den ausländischen Imperialismus gefesselt ist, die nationale Befreiungsbewegung niemals zum Siege führen kann. Die anti-imperialistische und antifeudalistische Revolution kann nur auf der Basis des Bündnisses von Arbeitern und Bauern und geführt von den Kommunisten triumphieren"
Demzufolge ignorierte die sowjetische Propaganda in blindem Fanatismus jedwede Aktion, jedweden Erfolg der „nationalen Bourgeoisie" im Kampf gegen den Kolonialismus. Oder sie wurden hemmungslos diskreditiert, wie es der ägyptischen Offiziersgruppe geschah, die im Juli 1952 das Regime Faruks stürzte. Da diese Männer keine Kommunisten waren, avancierten sie in der „Großen Sowjet-Enzyklopädie" rasch zu Angehörigen einer „reaktionären, mit den USA verbündeten" Clique. Kwame Nkrumahs „Convention People's Party", damals weit entfernt von irgendwelchen Beziehungen zu dem Kommunismus, wurde 1954 in dem damaligen sowjetischen Standardwerk „Narody Afriki" (Die Völker Afrikas) ebenso schonungslos als „Schild, hinter dem sich in Wirklichkeit die Herrschaft des englischen Imperialismus verbirgt", abgehalftert. Glimpflich kamen in jener Periode nur ganz wenige afrikanische Politiker davon, Yomo Kenyatta zumal und Felix-Roland Moumie, der Mitte der fünfziger Jahre mit sowjetischer Unterstützung und unter Anleitung kommunistischer Front-organisationen in Kamerun Guerilla-Operationen gegen die französische Kolonialmacht vorbereitete.
Das Resultat dieses propagandistischen Säuberungsverfahrens war naturgemäß grotesk. Denn die Geschichte — jene Geschichte, von der die Marxisten-Leninisten behaupten, sie allein könnten sie wissenschaftlich exakt vorausbestimmen — setzte sich über die Sowjet-thesen mit Riesenschritten hinweg. Die viel-geschmähte „nationale Bourgeoisie" errang Triumph auf Triumph, und sie führte schließlich in einem historisch kaum meßbaren Zeitraum von nur wenigen Jahren mehr als 30 afrikanische Länder in die Unabhängigkeit. Endlich mußte auch die kommunistische Ideologie kapitulieren. Selbstanklägerisch repetierte 1959 der Engländer Idris Cox auf einem „wissenschaftlichen Forum" über „die Rolle der nationalen Bourgeoisie im nationalen Be-freiungskampf" die alten Dogmen, um schließlich einzugestehen: „In Wirklichkeit aber wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in Indien, Indonesien, Ghana und anderen Ländern die Unabhängigkeit unter der Führung der nationalen Bourgeoisie erreicht."
Urplötzlich drehte sich auch die sowjetische Afrikanistik. War sie jahrelang von den stalinistischen Prämissen einer zunehmenden Erstarkung und Revolutionierung des kaum existenten afrikanischen Proletariats (als potentieller Basis für kommunistische Operationen) ausgegangen, so bewies sie nun sogar statistisch eben die offenbare Schwäche dieses selben Proletariats. Die Schlußfolgerung lautete jetzt nicht mehr Klassenkampf, möglichst geführt von der Avantgarde der Arbeiterklasse, einer kommunistischen Partei — sondern Einheitsfront mit allen antikolonialen Kräften, welcher Klassenzugehörigkeit und Ideologie auch immer.
Diese Schwenkung — eine Wendung zu höherem Realitätsbewußtsein — deutete sich bereits auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 an. Sie wurde dann in den beiden roten Konzilstagungen von 1957 und 1960 kanonisiert. Zum endgültigen Umschwung dürfte vor allem die stürmische Entwicklung im Kongo (Leopoldville) entscheidend beigetragen haben. Hier setzte die Sowjetunion — alles Gerede über Koexistenz rasch vergessend — nach den ersten Wirren im Juli 1960 vorbehaltlos auf die Partei Patrice Lumumbas. Mit Geld, Waffen, Anweisungen zum offenen Terrorismus hoffte sie, Lumumba ganz auf die kommunistische Seite herüberziehen und einen roten Brückenkopf im Herzen des Schwarzen Erdteils aufbauen zu können. Mit dem Putsch des Obersten Mobutu zerstob dieser ganze Traum in ein Nichts. Die heterogene, ideologisch untrainierte, zahlenschwache Anhängerschaft des Kommunismus am Kongo war nicht imstande, den Abzug der ausgewiesenen Ostblockberater wettzumachen.
Als Konsequenz aus dieser fatalen Situation blieb der Sowjetunion nur, sich entweder ganz und für eine längere Frist aus Afrika zurückzuziehen, bis die Gunst der Stunde und ein Stamm revolutionärer Kader ein Neubeginnen erlaubten — oder betont auf die Karte koexistentieller Freundschaft mit den aktuell Mächtigen zu setzen. Die Sowjetunion wählte die zweite Möglichkeit. Die Auswirkungen dieses Schrittes sind heute fast überall in Afrika sichtbar. Freundlich lächelnde Sowjetdiplomaten sprechen auf Empfängen, Parties, Freundschaftsveranstaltungen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Kongressen zwar viel von der so eng mit Afrika verbundenen, freundlichen Sowjetunion, aber wenig von Sozialismus oder gar Kommunismus. In den Filmtheatern von Dakar bis Mogadischu werden Werbefilme für die Friedenspolitik Chruschtschows, für sowjetische Maisanbaumethoden und Studien in der UdSSR, nicht aber für Kollektivierung der Landwirtschaft, Revolutionierung der Massen, die Weltrevolution gezeigt. Dominierten bei den Sendungen von Literaturgeschenken und im Buchexport der Sowjetunion nach Afrika noch 1960 marxistisch-leninistische Klassiker-ausgaben, so sind es heute harmlosere Bücher über Sowjetkunst, die russische Landschaft, über Flora und Fauna Sibiriens und die so „ausgezeichneten" Beziehungen zwischen Sowjetstaat und Sowjetmoslems. Grob geschätzt, sind heute mehr als 75 Prozent aller sowjetischen Propaganda nach und in Afrika Kultur-werbung, überwiegend politisch wertfrei, zumindest kaum ideologisch oder agitatorisch akzentuiert.
In den außenpolitischen Beziehungen mit Afrika macht der Kreml heute keinen Unterschied, ob die angesprochenen Regierungen prowestlich oder strikt neutral, feudalistisch oder sozialrevolutionär, undemokratisch oder demokratisch sind. Der Kaiser von Äthiopien — der Herrscher eines feudalistischen Landes, in dem Macht und Besitz auf die drei Säulen Krone, amharische Grundbesitzerkaste und koptische Kirche verteilt sind — gehört sogar zu den ganz besonders herzlich umworbenen Freunden des Sowjetlandes; und als im Dezember 1960 reformverbundene Offiziere den „Löwen von Juda" vergebens zu stürzen suchten, sandte der Kreml lange vor Washington Solidaritätsadressen an Haile Selassi, der ein Jahr zuvor mit allen ihm gebührenden Ehren in Moskau empfangen und hofiert worden war. Mit mehr als 100 Millionen Rubel hat Äthiopien obendrein die bislang größte sowjetische Kredithilfe irgendeines schwarz-afrikanischen Staates erhalten — mehr als die Sozialrevolutionären Staaten Ghanas und Guineas und das so sowjetfreundliche Mali.
Ein noch bezeichnenderes Beispiel für den außenpolitischen Opportunismus der sowjetischen Afrikapolitik liefern die Beziehungen des Kreml zu Kamerun. Dieses Land wird seit 1955 immer wieder von Unruhen und Aufständen erschüttert, die auch nach seiner Unabhängigkeit am 1. Januar 1960 andauerten.
Urheber der Wirren war und ist die terroristische Fraktion der „Union des Populations du Cameroun" (UPC), die seit 1952, vornehmlich auf eine Filiale des französischen kommunistischen Gewerkschaftsverbandes CGT gestützt, Unabhängigkeit und „Volksherrschaft"
forderte. Auf die schroffe Ablehnung der französischen Kolonialverwaltung und der mit ihr kooperierenden Feudalherren des kamerunischen Nordens antwortete die UPC mit Über-fällen, Entführungen, Morden, Sabotageakten, die schließlich in einen blutigen und auf beiden Seiten verlustreichen Bürgerkrieg mündeten. Dieser Bürgerkrieg ist, woran kein Zweifel besteht, jahrelang vom internationalen Kommunismus moralisch, finanziell, mit Waffen unterstützt worden. Als indessen Frankreich dem Land schließlich doch die Freiheit gewährte, schwenkte der gesamte Ostblock — Rotchina ausgenommen — rasch um. Die Versuche der UPC-Führung, die mittlerweise von Exilbüros in Conakry und Accra den Aufstand leitete, die Gewährung der Unabhängigkeit als bloßes Scheinmanöver zu diskreditieren, fruchteten bei den Sowjets nichts. Der stellvertretende Sowjetaußenminister Firjubih stellte schon während der Unabhängigkeitsfeiern die ersten Kontakte zur Regierung Ahidjo her, und er störte sich nicht daran, daß Ahidjo ganz als Mann des feudalistisch beherrschten kamerunischen Nordens auftrat, der jede bescheidene Demokratisierung seines Landes und dessen Gesellschaft strikt ablehnt. Im September 1961 besiegelte der Freundschaftsbesuch einer kamerunischen Delegation in Moskau endgültig das Schicksal der UPC, deren Ende 1960 ermordeter Präsident Felix-Roland Moumie mir schon im April 1960 bitter enttäuscht erklärt hatte: „Die Russen sind keine Revolutionäre mehr ..." Mittlerweile sprechen Moskau wie Jaunde von „guten gegenseitigen Beziehungen", und gerade in den letzten Monaten 1963 konnten kamerunische Handels-delegationen bei Ostblockvisiten die Berechtigung solcher Floskeln unter Beweis stellen.
Die Motive und Absichten einer hier nur kurz und an einigen wenigen Beispielen illustrierten Politik sind offensichtlich. Angesichts des Fehlens kommunistischer Kader im gesamten Schwarz-Afrika benötigt der Kommunismus — wenigstens nach Ansicht Moskaus — Zeit, viel Zeit. Sie soll genützt werden, um ein Klima des Vertrauens zu den jetzt regierenden Schichten und Gruppen zu schaffen, etwaige antikommuB nistische Ressentiments abzubauen und durch eine möglichst harmlos drapierte Präsenz des Ostblocks in Gestalt von Handelsdelegationen, Experten für Landwirtschaft oder Zement-industrie, Kulturpropagandisten und so weiter vorsichtig Einblick in und schließlich — vorsichtig, versteht sich — Einfluß auf den Gang der Entwicklung zu nehmen. Höchst realistisch hat Anfang 1962 der belgische kommunistische Ideologe Jean Terfve, guter Kenner ein auch der afrikanischen Verhältnisse, in „Le Drapeau Rouge" auf die Notwendigkeit einer so behutsamen Taktik verwiesen: „Auf Grund ihres Entwicklungsgrades, der noch unbestimmten Lage der Klassen und der kolonialen Tradition sind sehr viele junge unabhängige Länder noch nicht in der Lage, klar zu sehen und eine einheitliche Politik zu verfolgen. Sie vermögen ihre Politik noch nicht in Richtung auf den Sozialismus zu orientieren ... Das ist allerdings eine vorübergehende Erscheinung, und der Prozeß der politischen Reife wird schnell voranschreiten ... Immerhin muß man berücksichtigen, daß dieser Prozeß eine gewisse Zeit für seine Entfaltung braucht und die blockfreien Länder eigene Erfahrungen sammeln müssen .. 4)
Diese „gewisse Zeit" will der Kommunismus nützen, und natürlich will er sie, wo immer möglich, beschleunigen. „Im gegebenen Falle“ — schreibt der sowjetische Publizist Alexander Sobolew in „Probleme des Friedens und des Sozialismus" — „pflegen die Marxisten in Abwandlung der bekannten Metapher von W. I. Lenin zu sagen: Wenn ein revolutionärer Demokrat oder ein Vertreter der nationalen Bourgeoisie einen Schritt nach vorn tun will, so ist es die Pflicht des Marxisten, ihm zu helfen, daß er zwei macht." 5)
Die Schlappe in Guinea Freilich kann der Marxist, um bei dem Ausdruck Sobolews zu bleiben, in einem solchen „gegebenen Fall" auch allzu übereifrig seine Pflicht tun und dabei selber stolpern. So jedenfalls erging es dem Sowjetbotschafter Daniil S. Solod in Guinea, als er im Dezember 1961 die Zeit für gekommen hielt, dem „revolutionären Demokraten" Sekou Toure zu „helfen“, statt eines Schrittes nach vorn zwei zu machen. Rapportieren wir kurz die Vorgeschichte; sie ist, für sich selbst genommen, aufschluß-und lehrreich genug. Am 28. September 1958 erkämpfte sich Guinea als einziges Territorium der alten „Union Franaise" bei der Abstimmung über de Gaulles Communaute-Referendum durch ein glänzend organisiertes, nahezu einstimmiges „Non" der Bevölkerung die sofortige Unabhängigkeit. Frankreich — und mit ihm zunächst auch der gesamte Westen, in falschverstandener Solidarität an Paris gebunden — ließ Guinea augenblicklich fallen. Sämtliche Berater, Techniker, Experten wurden unverzüglich zurückberufen; sie rissen, zumal in der Hauptstadt Conakry, technische Installationen, ja sogar lebenswichtige Apparate und Hilfsmittel ab. Jeder Handelsverkehr wurde sofort eingestellt. Die das Land mühsam erhaltenden Zuwendungen und Kredite aus Paris wurden gestoppt.
Guinea stand in diesem Augenblick vor dem Bankrott. Der Ostblock rettete den jungen Staat. Beginnend mit der von Moskau vorgeschickten deutschen Sowjetzone sprachen sämtliche Ostblockstaaten in rascher Folge die Anerkennung der guineanischen Unabhängigkeit aus. Das „sozialistische Lager" erklärte sich überdies schnell bereit, die Erzeugnisse Guineas, vor allem seine Bananen, zu Preisen abzunehmen, die hoch über dem Weltmarkt-niveau lagen. Als Gegenleistung kamen Rübenzucker aus der Zone, Weizen aus der Sowjetunion, Streichhölzer aus der CSSR, O 1 aus Bulgarien, Treibstoff aus Rumänien, Omnibusse aus Budapest und Prag, Bier aus Radeberg und Pilsen, Baustoffe aus Leningrad, Hafenausrüstungen aus Danzig. Mit diesen Waren kamen sogar Waffen, Ausrüstungsteile und Uniformen für Armee und Polizei — und noch wichtiger: Hunderte von kommunistischen Helfern, Beratern, Trainern und Dutzende kommunistischer Jugend-, Gewerkschafts-, Genossenschaftler-und Parteidelegationen. Innerhalb eines Jahres verwandelte sich Guineas Kapitale Conakry in einen Außenposten des Ostblocks.
Die Abhängigkeit Guineas von seinen kommunistischen Freunden wuchs von Monat zu Monat. In den wichtigsten Ministerien und Schlüsselstellungen des jungen Staates konnten die Berater aus Osteuropa schalten und walten, wie sie es wollten. In den Schulen hielten Lehrer aus Prag und Leningrad DIAMAT-Kurse ab. Die Jugendorganisation der guineanischen Staatspartei wurde nach dem Vorbild des Komsomol umgebaut und ideologisch indoktriniert. Staatliche Eingriffe reduzierten den Einfluß der Religionen und Kirchen auf ein Minimum. Gegen „Abweichler“ und „Staatsfeinde" gab es Schauprozesse, aufsässige Dörfer mußten Strafaktionen über sich ergehen lassen.
Maßgeblichen Anteil an dieser bestürzenden Entwicklung, die nur mit der Kubas verglichen werden konnte, hatte schließlich Daniil Semjonowitsch Solod selbst, seit Frühjahr 1960 Chruschtschows Mann in Conakry. Solod hatte zuvor bedeutende Auslandsposten im Nahen Osten bekleidet, und seine Fähigkeit, mit den Arabern zu taktieren und in Kontakt zu kommen, hatte ihm bei westlichen Diplomaten im Orient bald den Spitznahmen „Mr. Troublemaker" eingetragen. Solod erreichte schon rasch nach seiner Ankunft in Conakry, daß sich vor allem die guineanische Außenpolitik mokautreu orientierte. Zumal in der Kongo-frage arbeiteten Sowjets und Guineaner dann Hand in Hand. Solod suchte jedoch mehr als die Zusammenarbeit mit Guinea. Er wollte Guinea zum Brückenkopf für rote Operationen an der gesamten Westküste ausbauen. So zog er, wieder in enger Kollaboration mit den Guineanern, nach und nach zahllose oppositionelle Politiker aus den umgrenzenden Staaten nach Conakry, wo sie in ihrer Radikalität bestärkt, mit Geld und Propagandamaterial, ja auch mit Waffen reichlich ausstaffiert wurden. Zunächst war diese Politik außergewöhnlich erfolgreich. Guineas Abhängigkeit vom Ostblock wuchs 1960 immer mehr, ebenso wie das Zutrauen der Sowjets in den Staat Toures. Das ging soweit, daß die kommunistische Presse Guinea häufiger und häufiger als eine „Volksdemokratie" bezeichnete
Mil anderen Worten: In sowjetischen Augen hatte Guinea nunmehr die vorletzte Stufe vor einer definitiven Umwandlung in einen voll-ausgebildeten „Sozialistischen Staat" erreicht. Die Zuerkennung des Leninpreises an Sekou Toure 1961 kam daher kaum überraschend, ebensowenig wie die Einladung Moskaus an den „Parti Democratique de Guinee" (PDG), eine offizielle Abordnung zum XXII. Kongreß der KPdSU zu entsenden. Bei ihrer Ankunft in der Sowjetmetropole wurden die Angehörigen der Delegation offiziell „towarischtschi" — also Genossen — tituliert. „Jene, die in gemeinsamer Sache gegen die gleichen Feinde und für den Sieg der gemeinsamen Ideale kämpfen", sagte dann auf dem Kongreß der guineanische Delegationschef Saifoulaye Diallo, „stehen ganz natürlich im gleichen Lager." Und an anderer Stelle seiner Rede: „Das revolutionäre Afrika weiß, daß es sich wirklich auf die sozialistischen Länder verlassen kann."
Indessen, diese Worte müssen Saifolaye Diallo fast im Halse stecken geblieben sein; denn die letzten Monate vor dem XXL Parteitag der KPdSU hatten unmißverständlich demonstriert, daß sich Guinea in Wahrheit nicht auf den „selbstlosen Beistand" des Sozialismus verlassen konnte, der dem Lande so oft und so emphatisch versprochen worden war. Im Gegensatz zu den ursprünglichen Starthilfen und den großen wirtschaftlichen Versprechungen unternahm der Ostblock seit dem Frühjahr 1961 von Monat zu Monat weniger, um dem armen und von zahllosen Krisen erschütterten afrikanischen Partnerstaat beizustehen.
Offenbar von der Annahme ausgehend, eine Vertiefung der guineanischen Wirtschaftsmisere werde das Land, das sich selbst den Rückweg zum Westen abgeschnitten habe, rasch und komplett zur kommunistischen Beute machen, traten die Sowjets und ihre Satelliten kurz.
Versprochene Nahrungsmittel blieben entweder ganz aus oder sie erreichten Guinea in verdorbenem, ungenießbarem Zustand (so eine ganze Schiffsladung Getreide, das aus sowjetischen Heeresbeständen stammte). Als wollten sich die Sowjets über die Guineaner lustig machen, schickten sie große Posten von WC-Dekkeln. Russische und tschechische Techniker erwiesen sich als unfähig, die Wasser-und Stromversorgung Conakrys störungsfrei zu machen. Kaum weniger befähigt erwies sich der aus dem Ostblock entsandte Kader für den Betrieb und Ausbau des Flughafens von Conakry — nach heftigen Disputen wurde er endlich durch ägyptische Fachleute ersetzt. Eine von der deutschen Sowjetzone errichtete Großdruckerei mußte schon wenige Wochen nach der gefeierten Inbetriebnahme im Sommer 1961 wegen schwerer Konstruktionsmängel teilweise stillgelegt werden. Andere bedeutende Projekte, die nach sowjetischen Plänen aus einem schon 1959 gewährten Kredit verwirklicht werden sollten, wurden immer und immer wieder hinausgezögert.
Zur gleichen Zeit, da sich diese Fehler und Pannen der sowjetischen „Hilfe" im Land immer spürbarer auswirkten, zeigten sich auf der anderen Seite die Konsequenzen der immateriellen kommunistischen Unterstützung. Denn wenn auch der erhoffte Strom von Nahrungsund Konsumgütern, Betriebsmitteln und Apparaturen aus dem Osten versiegt war — die rote Propagandaflut ebbte keineswegs ab. Trotz einer vorsichtigen Intervention Toures gegen die gesteigerte kommunistische Propaganda kamen unablässig neue Delegationen, Instrukteure, Freundschaftsgruppen, und immer größere Mengen von Filmen, Broschüren, Büchern, Zeitschriften aus dem Ostblock, Bei dem Ausmaß dieser ideologischen Beeinflussung, die lange von der Führung Conakrys toleriert, ja sogar gefördert worden war, konnte es zudem kaum ausbleiben, daß nunmehr auch eine wachsende Zahl vor allem junger Funktionäre der Partei und der Jugendorganisation wie der Staatsgewerkschaft die vom Osten ins Spiel gebrachte These aufgriffen, die akuten Schwierigkeiten Guineas seien Teil einer „natürlichen Wachstumskrise"; diese wiederum erkläre sich aus den fortbestehenden „Klassenwidersprüchen" und der ideologischen Unentschiedenheit des Regimes. Eine Verbesserung der Lage könne folglich nur durch die Preisgabe letzter Vorbehalte gegenüber dem „wissenschaftlichen Sozialismus", mithin durch einen konsequenten Übergang zum Sozialismus orthodoxer Prägung erreicht werden.
Diese Forderungen kamen zum ersten Male in aller Deutlichkeit während eines Prozesses gegen mehrere Funktionäre der guineanischen Lehrer-Union zur Sprache, der am 24. November 1961 endete, stärker aber noch bei sich anschließenden Demonstrationen von Schülern, Studenten, jungen Gewerkschaftlern in den Straßen Conakrys. Das Schicksal Guineas und Sekou Toures stand an diesen Tagen buchstäblich auf des Messers Schneide. Aber Toure zögerte im entscheidenden Moment nicht. Er griff hart durch, regierte mit den Methoden des Ausnahmezustandes, ließ verhaften, die Schulen schließen, deportieren.
Immerhin dauerte es noch zwei Wochen, ehe sich Toure am 11. Dezember 1961 zu einer ersten Erklärung aufraffte und das für Guinea — und die ganze Welt •— sensationelle Wort von einer „kommunistisch inspirierten Verschwörung” aussprach. Zugleich wurde Staatsminister Diallo Alpha nach Moskau entsandt, wo er am 18. Dezember 1961 von Chruschtschow empfangen wurde. Im Auftrage seines Präsidenten forderte Diallo Alpha ultimativ die Abberufung Sowjetbotschafters Solod, die dann auch sofort und überstürzt vollzogen wurde.
Mag im Dunkeln bleiben, was Solod nun wirklich getan hatte — die unmittelbare Reaktion des Kreml war mehr als bezeichnend. Hätte ein westlicher Staat es gewagt, den sowjetischen Botschafter bei Nacht und Nebel davonzujagen, so wäre die Antwort Moskaus unzweifelhaft dramatisch ausgefallen. Im Solod-Fall antwortete der Krem) indessen mit einem Versuch massiver Beschwichtigung. Er schluckte die Ausweisung Solods und beorderte unverzüglich Anastas Mikojan zu einer Blitz-visite nach Conakry. Der Empfang war alles andere als freundlich. Verzweifelt bemühte sich der Armenier, die Guineaner davon zu überzeugen, alles sei ja nur ein „Mißverständnis" gewesen. Auf die Versicherung Mikojans, die sowjetische Politik respektiere die Souveränität und Unabhängigkeit aller Völker vorbehaltlos, antwortete Toure ihm drohend, andere Nationen sollten sich in Zukunft hüten, die Revolution ihres Stils nach Guinea zu importieren.
Seither haben sich die Beziehungen Conakry-Moskau wieder normalisiert — normalisiert im Sinne der diplomatischen Sprache. Sofern noch von einem Einfluß des Ostens auf die politische Willensbildung in Guinea gesprochen werden kann, verläuft er auf halblegalen Bahnen, vornehmlich im Gewerkschaftssektor, wo noch immer zahlreiche Funktionäre ihren sozialistischen Träumen nachhängen. Ökonomisch ist der Westen in die Bresche gesprungen, und Sekou Toure hat im letzten Jahr nicht nur Frieden mit Frankreich geschlossen, er hat auch in der ökonomischen und sozialen Struktur seines Landes für eine Milderung des ursprünglichen sozialistischen Kurses gesorgt. Statt weiter zu verstaatlichen, wird heute reprivatisiert. Statt von einer Anlehnung an fremde sozialistische Modelle spricht man heute in Conakry vom „eigenen Weg", den es zu finden gelte.
Aber kommen wir auf den Fall Solod noch einmal zurück, weil er exemplarischen Charakter trägt. Er demonstrierte zweierlei auf eindringliche Weise:
1. Die sowjetische Afrikapolitik ist da, wo sie den koexistentiellen Rahmen sprengt, nicht nur nicht fehlerfrei, sondern bis zu einem hohen Grade sogar unfähig, die vorhandenen Chancen in diesem Erdteil — und zumal in einem psychologisch so anfälligen Land wie Guinea! — voll auszuschöpfen. Verwirrt durch die spezifischen Bedingungen Afrikas und die daraus resultierende Notwendigkeit, gleichzeitig Antworten unterschiedlicher Natur — d. h. differenzierte Taktiken gegenüber den jeweiligen Gruppen, Parteien, Regimes — zu finden, behindert durch die vielfältigen Schwächen eines überbürokratischen Außenhandels, relativ ungeübt in den Praktiken effektiver Entwicklungshilfe, unterlaufen den Sowjets eminente Trugschlüsse und Fehlleistungen, wie man sie bisher nur beim legendären „häßlichen Amerikaner" zu finden glaubte.
2. Der radikale „afrikanische Sozialismus" hat selbst in der Einfärbung Sekou Toures und bei aller Bereitschaft zur Kooperation mit dem Kommunismus noch immer zahlreiche Vorbehalte, die sich aus dem hohen Grad nationalistischer Leidenschaft und — damit eng verknüpft — aus dem persönlichen Stolz der Führer ergeben. Dieser Stolz ist Ausdruck eines Leistungsbewußtseins, wie es etwa auch einen Mann wie Tito beherrschte, als er gegen die sowjetische Bevormundung aufbegehrte. Wie der jugoslawische Titoismus, so beruft sich auch der guineanische Sozialismus darauf, die Unabhängigkeit selbst erkämpft und eigenständig die organisatorische wie ideologische Basis für diese Aktion geschaffen zu haben. Daß der Vergleich zwischen Toure und Tito, Guinea und Jugoslawien nicht zu weit geführt werden kann, bedarf keines Wortes; daß hier aber auch einige Gemeinsamkeiten vorliegen, steht ebenso außer Zweifel. Und wie im Falle Jugoslawien wird es auch im Fall Guinea — auf lange Sicht berechnet — sicher noch viele Schwankungen, Wendungen, überraschendes Hin und Her geben, ehe die Position dieses Staates eindeutig fixiert werden kann.
Der chinesische Kommunismus in Afrika
Sieht man von dem überstürzten Kongo-Unternehmen der Sowjets einmal ab, so ist Moskau bislang in Guinea am weitesten vorgestoßen. Aber der Sowjetkommunismus überschätzte seine Möglichkeiten, unterschätzte den afrikanischen Nationalismus. Am Ende stand nicht ein Erfolg ä la Kuba, sondern eine schwere Schlappe, überhastet und ungeschickt zerrissen die Abgesandten Moskaus in Conakry selbst den Schleier koexistentieller Phrasen, mit dem die eigentlichen Ziele Moskaus in Afrika sonst so achtsam umflort werden. Unmutig polterte auch Chruschtschow einige Monate später über die mangelnde Einsicht bei den Führern der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegung, die nicht erkennen wollten, daß „der Weg des Sozialismus der kürzeste Weg zu völliger Freiheit ist". Jedes Volk aber werde einmal vor die Entscheidung gestellt, ob es den kapitalistischen oder den sozialistischen Weg wählen wolle. Die nationalen Führer würden begreifen müssen, daß der endgültige Sieg nur in enger Verbindung mit der Arbeiterklasse und allen „progressiven Kräften" möglich sei. „Entweder verstehen sie das, öder dann werden andere kommen."
Aufs ganze gesehen vermeidet es der Sowjet-kommunismus freilich, in so drastischen Worten seine Absichten preiszugeben und somit die umworbenen Führer des neuen Afrika zu schrecken. Wie denn überhaupt der Rückschlag in Guinea die Sowjets eher dazu ermuntert hat, vor-und umsichtig zu taktieren und den zeitbedingten Opportunismus zu kultivieren, über den wir bereits sprachen. Das gilt auch für die Sowjetpolitik in Mali und Ghana, jenen beiden Ländern, die neben Guinea ebenfalls Delegationen zum XXII. Parteitag der KPdSU nach Moskau entsandten und die in der Sowjetpublizistik als Beispiele für,, Staaten der nationalen Demokratie" genannt wur-den. In Bamako wie Accra sucht der Kreml jedenfalls ganz offensichtlich, eine Wiederholung des guineanischen Fiaskos zu vermeiden. Modibo Keita und Kwame Nkrumah gehören mittlerweile ebenfalls zu Leninpreisträgern, aber niemand in Moskau sieht in ihnen wohl leicht zu handhabende Figuren auf einem Schachbrett, auf dem ausschließlich nach Sowjetregeln gespielt werden darf. Es gibt in Mali wie Ghana zahllose Beispiele für eine kommunistische Kulturinfiltration, es gibt in beiden Ländern beträchtliche Sowjeterfolge bei der Manipulation der dortigen Informationsmedien, es gibt auch enge Kontakte zu den beiden herrschenden Staatsparteien — aber ganz im Gegensatz zu Guinea scheint im Umgang mit Ghana und Mali die nüchterne Kalkulation vorzuherrschen.
Dieser Grundzug der sowjetischen Afrikapolitik ist nun allerdings nicht unangefochten geblieben. Der chinesische Kommunismus hat den offenkundigen Opportunismus der UdSSR und der moskautreuen Ostblockstaaten vielmehr heftig kritisiert. Ja, ich glaube sogar, daß die Differenzen über die Afrikapolitik des Ostens einen ganz wesentlichen Bestandteil des Konflikts zwischen Moskau und Peking bilden. In der politischen Praxis sind diese Gegensätze vor allem im Falle Kamerun sichtbar geworden. Wir haben an anderer Stelle schon geschildert, wie die Sowjets — beginnend mit dem Unabhängigkeitstag Kameruns am 1. Januar 1960 — sich schrittweise aus dem kamerunischen Bürgerkrieg herausgezogen, wie sie die UPC Moumies fallengelassen und schließlich koexistentielle Beziehungen zur Regierung von Jaunde ausgenommen haben. Peking hat diese Schwenkung nie mitgemacht. Im Gegenteil: Die Chinesen übernahmen sofort die Finanzierung, Ausbildung und Bewaffnung der kamerunischen Guerillas, und in dem bereits erwähnten Gespräch hat der damalige UPC-Präsident Moumie keinen Zweifel daran gelassen, daß die kamerunische Erhebung nur mehr auf der Unterstützung durch Mao basierte. Die kamerunische Regierung ihrerseits hat gerade 1962/63 wiederholt auf die chinesische Rückendeckung für die Rebellen hingewiesen und mehrmals über die Ausbildung von Guerillakämpfern aus Kamerun in Rotchina berichtet. Peking war es auch, das auf dem Höhepunkt der kongolesischen Wirren des Jahres 1960 den UPC-Präsidenten Moumi mitsamt einer Ausbildergruppe in den Kongo entsandte, damit sie dort Guerillas der Lumumbisten in den Taktiken des Partisanenkampfes unterweisen konnten. Oberst Mobutu vertrieb die Kameruner kurzerhand, nicht ohne zuvor der Presse Material über das beabsichtigte Pekinger Spiel im Kongo präsentiert zu haben.
So massiv Peking aber auch in Kamerun eingegriffen und so sehr es sich auch um Einfluß in den Kongowirren bemüht hat: durchschlagend war der Erfolg weder hier noch dort noch anderswo in Afrika. Das hinderte und hindert die Rotchinesen nicht, die sowjetische Linie scharf zu attackieren, wie es vor allem in Moshi/Tanganjika während der III. Afroasiatischen Solidaritätskonferenz im Februar 1963 geschah. Vor den Augen Hunderter Asiaten und Afrikaner lieferten sich Chinesen und Sowjets harte Rededuelle, in denen die einen für die Zusammenarbeit mit der nationalen Bourgeoisie, für weltweite Abrüstung und friedliche Koexistenz mit allen Völkern plädierten, während die anderen — die Chinesen also — für die „zweite Revolution in Afrika und Asien" Stimmung zu machen suchten und den bewaffneten Kampf gegen die Bourgeoisie und für ein farbiges Proletariat propagierten
Wie sehr sich die Sowjets getroffen fühlten, zeigte eine lange Sendereihe von Radio Moskau für Afrika im August 1963, in der immer wieder auf die rassischen Solidaritätsbeteuerungen der Chinesen verwiesen wurde. Zur gleichen Zeit meinte allerdings auch Mao gegenüber einer Gruppe afrikanischer Peking-besucher,daß Chinas Übereinstimmung mit den afrikanischen Revolutionären sich „nicht auf Rasse, sondern Solidarität" gründe
Trotzdem sucht China zweifellos eine asiatisch-afrikanische „Front der Farbigen' aufzubauen — sowohl gegenüber dem Westen wie gegenüber dem Sowjetkommunismus. Tschou Enlais Afrikatour im Dezember 1963/Januar 1964 diente ganz offensichtlich diesem Ziel. Seine Agitation gegen eine geplante Neuauflage der Belgrader Konferenz nicht-engagierter Mächte (an der China nicht teilnehmen könnte) und sein Liebeswerben für eine Neuauflage der Bandung-Konferenz afro-asiatischer Staaten — selbstredend unter Einschluß Chinas — zeigten das ebenso klar wie die zu gleicher Zeit laufende Radiowerbung Pekings in Sendungen für Afrika, in der immer wieder auf die Gemeinsamkeiten Peking-Chinas mit den „übrigen ehemals kolonialen und halbkolonialen Ländern" verwiesen wurde.
Diese konstruierte geschichtliche Gemeinsamkeit ist in Afrika in der Tat weitgehend als These akzeptiert worden. Wer sich eingehend mit Afrikanern über die Sowjetunion und China unterhalten hat, wird mir zustimmen, daß China weit mehr Bewunderer findet als Rußland. Nicht nur Senegals Präsident Senghor hat davon gesprochen, daß ja eigentlich die Sowjetunion ein europäisch-weißer Staat sei. Auch der Durchschnittspolitiker Afrikas empfindet so. Die Ansicht eines Ghanaers möge für die Ansicht vieler stehen: „Ich kenne den Westen, und jetzt habe ich auch die Sowjetunion kennengelernt. Beide, West wie Ost, reden von ihren großen Gegensätzen. Aber was ist schon für ein Unterschied zwischen dem Ruhrrevier und den großen Stahlkombinaten am Donez? Die Russen mögen vielleicht weniger gut zu essen haben, und sie haben ganz sicher nicht so viele Konsumgüter, Autos und Kühlschränke wie die Leute im Westen. Aber im Prinzip sind die Unterschiede, von Afrika her gesehen, nicht allzu groß, und in zehn Jahren wird die Übereinstimmung noch viel größer sein. Für uns ist jedenfalls der zivilisatorisch-technische Standard der einen wie der anderen unerreichbar weit entfernt." Mein Gesprächspartner war zwar noch nicht in China gewesen, aber er fügte dennoch, wie selbstverständlich, hinzu: „Das ist es gerade, was uns mit den Chinesen verbindet: Sie haben keine Stahlwerksgiganten, sondern pusseln wie wir mit Kleinschmelzen herum. Sie haben, wenigstens vor zehn Jahren, auf der gleichen Stufe wie unsere Völker gestan-den — arm, vom Kolonialismus ausgeblutet, Spielball der mächtigen Weißen. Und was haben sie in diesen zehn Jahren geschafft!"
Das mag für europäische Ohren seltsam klingen. Aus afrikanischer Perspektive sieht es sich indessen ganz anders an, und wir wären schlecht beraten, wollten wir über solche und ähnliche Argumente mit einem mitleidigen Lächeln hinweggehen. Wir sollten dies um so weniger tun, als — wie ich nach manchen Erfahrungen glaube — die radikale chinesische Agitation gegen den „Imperialismus" und „Kolonialismus" und gegen die „nationale Bourgeoisie" bei den jungen, radikalen Intellektuellen in Afrika ganz anders wirkt als die opportunistische sowjetische Methode. Wie Felix-Roland Moumie im April 1960 zu mir sagte-„Die chinesischen Kommunisten sind die einzigen wirklichen Revolutionäre. Sie wissen, worauf es in Afrika ankommt."
Worauf kommt es diesen Leuten vom Schlage Moumies an? Nicht auf komplizierte philosophische Anleitungen im Stile des sowjetischen DIAMAT, nicht auf langfristig gesteckte Kalkulationen, in denen es von Wenns und Abers wimmelt und zur Bedachtsamkeit geraten wird, sondern eben auf jene chinesische Formel, wonach der Kommunismus in den unterentwickelten Ländern eine Sache der Zusammenarbeit zwischen revolutionierten Bauernmassen und Guerilla-Kaders sei und wonach jedwede politische Macht „aus dem Lauf eines Gewehrs" entspringe.
Kommunistische Ansatzmöglichkeiten in Afrika
Damit sind wir bei der entscheidenden Frage angelangt: Für wen und in welcher Form hat der Kommunismus in Afrika heute und in naher Zukunft überhaupt etwas zu bieten? Wo sind die wichtigsten psychologischen und intellektuellen Ansatzpunkte? Und gibt es vielleicht gar „objektive Bedingungen", die den Kommunismus zwangläufig fördern, ihn favorisieren?
Beginnen wir mit dem letzten Faktor, so stoßen wir bei nüchterner Untersuchung der gegenwärtigen Situation Afrikas auf eine ganze Anzahl höchst kritischer Momente, die kaum optimistische Prognosen zulassen. Zwanzigstes Jahrhundert und Mittelalter sind in den meisten Gebieten zugleich präsent. Fanatische Aufgeklärtheit unter den Evoluees und fanatischei Traditionalismus stehen sich meist unmittelbar gegenüber. Tiefe Unwissenheit, ja Obskurantismus kontrastieren mit einem schon hemmungslosen Intellektualismus. Enges Stammesdenken wetteifert mit hohen nationalen Forderungen, Arbeitsverachtung mit dem Zwang zu wirtschaftlichem Aufbau, -Massen elend mit dem Prunk feudalistischer Fürsten und dem Protz junger Emporkömmlinge. Aus diesem gigantischen Wust von Gegensätzen, Konflikten, Unvereinbarkeiten heraus einen klaren Kurs zu steuern, ist eine wahrhaft abenteuerliche Aufgabe, jedermann überfordernd. Die neuen Führer des jungen Afrika haben sie sich zumeist dadurch zu erleichtern gesucht, daß sie jede Diskussion ihrer Methode, diese Aufgabe zu lösen, eingeschränkt haben. Bis auf wenige Ausnahmen haben sie allesamt auf die Diktatur gesetzt, deren Einführung sie mit der Notwendigkeit zu nationaler Einheit und heftigen Argumenten gegen die Demokratie begründen, die für Afrika völlig untauglich sei.
Es kann nicht an uns liegen, sie deshalb zu tadeln. Aber die Männer der neuen Garde blieben unglücklicherweise dort nicht stehen, wo die Diktatur noch „gutwillig", erträglich, durch liberale Züge menschlich gewesen wäre. Sie zentralisieren die Staatsverwaltung bis in die letzten Verzweigungen durch. Sie verstaatlichen die Gewerkschaften, die Presse, kulturelle Institutionen. Sie erklären Opposition für Verrat. Sie schufen, schaffen oder trachten nach der Einführung von „Preventive Detention Acts" und ähnlichen Ausnahmegesetzen, die es ihnen ermöglichen sollen, jeden Konkurrenten auf Jahre hinaus ohne Verfahren von der politischen Bühne zu verbannen, ins Gefängnis oder in Konzentrationslager zu werfen. Das alles im Namen nationaler Einheit, nationalen Aufbaus.
Freilich, die Geschichte läßt sich selten überlisten, und so ist denn auch in Afrika ironischerweise das Resultat dieser „Einigungsprozesse" das Gegenteil des Erhofften. Opposition regt sich selbst dort, wo sie zunächst kaum zu vermuten war. Gewerkschaften, die ursprünglich zu einem Höchstmaß an Zusammenarbeit mit den Regierungen bereit waren, werden — einmal in den Dienst und die Bot-mäßigkeit der Regime gestellt — plötzlich zu Brutstätten nicht mehr nur gewerkschaftlicher, sondern geradezu parteipolitischer Rebellion. Die gegängelte Presse verschafft sich ausgefallenste Ventile. Zahme Opponenten entwickeln sich unter dem Zwang uniformistiB sehen Denkens nicht zu willfährigen Kreaturen, sondern zu Verschwörern großen Formats.
Entscheidend für alle diese Männer, Gruppen, Institutionen ist vor allem, daß ihnen der Rahmen der Gesetze und Konstitutionen ein Handeln im legalen Raum nicht mehr gestattet. Legal ist ja nur die eine Partei des einen Führers. Damit aber ist auch der politische Mittel-katalog auf wenige Seiten zusammengeschrumpft, auf eine einzige Lektion, betitelt „illegaler Kampf". Es ist dies, wie viele Führer Afrikas inzwischen erfahren mußten, eine Lektion, die mit Blut geschrieben ist. Doch es wäre allzu billig, wollte man jene zeihen, die sie studieren oder gar anwenden. Zu tadeln sind die anderen, die sich, hinter einem Stapel selbstgefälliger Dekrete und blindwütiger Verfügungen verschanzt, gegen die Gesetze des Lebens abgeschlossen haben und sich dem Kult der Macht und oft ihrer eigenen Person hingeben. Einerlei, wie geschickt sie dabei auch taktieren mögen: Das unfreiwillige Ergebnis solchen Handelns wird immer das gleiche sein. Es wird — wie in Togo — mit der Ermordung eines Präsidenten enden, der anfänglich alle auf seiner Seite hatte und sich dann doch über die Bedürfnisse wichtiger Gruppen hinwegsetzte. Es wird, wie im ehemals französischen Kongo, mit dem jähen Sturz eines Politikers enden, der sich selbst für einen Beauftragten Gottes hielt und sich in der politischen Praxis doch gegen die elementarsten christlichen Gebote kehrte. Es wird, wie in Dahome, mit der Amtsenthebung eines Präsidenten enden, der sich für mächtig genug hielt, im Stil eines französischen Kolonialgouverneurs mit Stämmen, Gruppen, Politikern umzuspringen. Oder es wird, wie in Ghana, mit der Furcht eines Präsidenten enden, der sich zwischen zwei Auftritten in der Öffentlichkeit monatelang nicht mehr unters Volk traut und in einem kolonialen Fort hinter dreifachem Sicherheitskordon regiert.
überall war und ist die Radikalisierung der Opposition und deren Hinwendung zu extremistischem, gewaltsamen Vorgehen die automatische Folge, die zwangsläufige Konsequenz jener Wendung zum Autoritären und Diktatorischen, die für Afrika noch ungewohnter ist als die Wendung zur Demokratie. Keine Nation, so arm und jung sie auch immer sein mag, ist eben so arm an geistigen, sozialen, politischen Kräften, daß der Wunsch nach Mitverantwortung, Mitdenken und Kritik gar nicht erst entstünde, sich für immer ersticken ließe. Werden aber elementare menschliche und politische Wünsche und Bedürfnisse zurückgedrängt oder gar gewaltsam unterdrückt, so müssen sie sich eben eines Tages zu Forderungen verdichten, die sich am Ende außerhalb der amputierten Struktur eines Einparteienoder Führerstaates Bahn brechen.
In vielen Fällen ist es freilich mit der bloßen Idee des Widerstandes, der Verschwörung, des Putsches nicht getan. Immer wird die Opposition, einmal an die Wand gedrängt, nach äußerer Unterstützung suchen, und sie wird zumeist auch danach trachten, unter einem Programm anzutreten, das in seinen politischen, sozialen, ökonomischen Leitbildern echte Alternativen verheißt. Hier, glaube ich, sind wir an dem Punkt angelangt, an dem der Kommunismus auf die Dauer in Afrika doch Chancen besitzt. Er verfügt nicht nur über ausgefeilte Techniken illegalen Kampfes, er ist schlechthin eine „Ideologie der Verschwörung", die das Opfer seligspricht, die Gewalt als legitimes Mittel verherrlicht und obendrein den in seinem Namen Handelnden das erhebende Gefühl anbietet, sie handelten im Auftrag der Geschichte, im Sinne eines deterministischen Prozesses.
So betrachtet, ist der Kommunismus unabhängig von der Massenbasis, ist er, zumal in seiner chinesischen Spielform, auch nicht an irgendein Proletariat gebunden, das in Afrika noch nicht existiert. Er ist eine Sache intellektueller Eliten, oder — genauer gesagt — eines dafür psychologisch disponierten Teils der intellektuellen Elite. Das gilt auch und gerade für Afrika. Zu den potentiellen Kommunisten dieses Kontinents gehören in erster Linie jene jungen Avantgardisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa studiert haben und denen eine An-oder Einpassung in der westeuropäischen Gesellschaft nicht gelang, die vom Kapitalismus, Individualismus, der geistigen und moralischen Anders-und Vielartigkeit Europas verwirrt und abgestoßen wurden, denen es aber dann in vielen Fällen nach der Rückkehr in die Heimat nicht mehr gelang, die ursprünglichen sozialen Bindungen zu erneuern. Ihr persönliches Dilemma wird von ihnen rasch mit dem allgemeinen Dilemma Afrikas gleichgesetzt, um so mehr, wenn ihnen der Anteil an Macht, der Einfluß, die Positionen versagt werden, die sie von der Gesellschaft als selbstverständliche Anerkennung erwarten. Wenn überdies die konventionellen Theorien und Methoden versagen, um rasch die bestehenden Verhältnisse zu ändern, so ist es nur natürlich, daß diese Intellektuellen auf den Kommunismus stoßen, der ihnen — neben anderem — radikale Wendungen verspricht, ihnen in der exponierten Lage und in ihrer extremistischen Grundstimmung obendrein die Erlösung von allen Zweifeln verheißt. Das mag theoretisch klingen, und doch habe ich in vielen Ländern Afrikas diesen Typ des entwurzelten, radikalen, der aktuellen Situation überdrüssigen jungen Intellektuellen gefunden, der im Kommunismus das Allheilmittel für die Sorgen seines Landes und — das ist mitunter noch wichtiger — seiner ganz persönlichen Nöte sieht. „Viele sind damit einverstanden", schreibt ein Repräsentant dieses Typs in der internationalen kommunistischen Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus", „daß zur Ausrottung der jahrhundertelang gezüchteten äußersten Armut und zersetzenden Korruption in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas etwas notwendig ist, was der unbändigen Energie und Wirksamkeit des Kommunismus gleichen muß". Und er fügt hinzu: „Zweifellos wird der eine oder andere im Prozeß der Revolution Schaden erleiden, aber es ist wichtiger, das gelobte Land zu erreichen, als Menschen zu stützen, die sich nicht einig sind und zurückbleiben. Reglementieren ist schlecht, das ist wahr, aber dahinvegetieren ist noch schlechter, und es wird nur günstig sein, wenn der kollektive Wille der Gesellschaft über den Individualismus der Minderheit die Oberhand gewinnt.“
Das sind vertraute Töne. Sie erinnern an den Stil und den Duktus jener intellektuellen Kommunisten, die in Europa und zumal in Rußland weit mehr zum Entstehen einer linksextremistischen Bewegung beigetragen haben als das Heer der angesprochenen Proletarier. Um diese geht es im Afrika der Gegenwart ebensowenig wie im Europa vor dem Beginn unseres Jahrhunderts, in Rußland vor 1914. Um die Parallele einmal statistisch zu erhellen, seien hier einige Angaben über die Zusammensetzung der Parteitagsdelegierten des kryptokommunistischen „Parti Africain de l’Ind-pendance" (PAI) im Senegal genannt. Ihnen gehörten an: „Nach Altersgruppen: 16 Prozent von 21 bis 25 Jahren, 11 Prozent von 26 bis 30 Jahren, 54 Prozent von 31 bis 35 Jahren . . .; nach dem Berufsmerkmal: 43 Prozent Parteifunktionäre (!!), 20 Prozent Arbeiter, 3 Prozent Bauern, 20 Prozent Lehrer (!!), 7 Prozent Studenten, 3 Prozent Techniker und Ingenieure, 3 Prozent Angestellte: nach dem Bildungsstand: 7 Prozent Analphabeten, 30 Prozent mit Grundschulbildung, 15 Prozent mit mittlerer Schulbildung und 48 Prozent (I!) mit Hochschulbildung.“
Setzt man diese Zahlen in Beziehung zur Gesamtgesellschaft des Senegal, so wird deutlich, wie sehr es sich hier beim PAI um eine Ausnahmepartei, eine Intellektuellengruppe, eine elitäre Organisation handelt. Sie mag gegenwärtig ohne realen machtpolitischen Einfluß sein, vielleicht sogar auf lange Sicht ohne machtpolitische Hoffnung. Sie hat auch, bis heute jedenfalls, kaum Schwesterorganisationen in anderen afrikanischen Ländern. Aber das kann sich ändern, radikal und schnell, wenn es den herrschenden Gruppen des neuen Afrika nicht gelingt, eine Situation zu meistern, in der der Ruf nach extremistischen Lösungen allerorten bereits deutlich zu vernehmen ist.
Zusammenfassung Im Rahmen dieses gedrängten Berichts mußten notwendigerweise wichtige Aspekte der kommunistischen Aktivitäten und Ziele in Afrika ausgeklammert werden. Das gilt vor allem hinsichtlich der Anstrengungen, die die sowjetischen Satellitenstaaten — allen voran der ÖSSR und die „DDR" — in Afrika unternehmen; das gilt für die vielfältige und nicht unbedeutende Kultur-und Radiopropaganda des Kommunismus in Afrika, auch für die wirtschaftspolitischen Ansätze und Operationen des Ostblocks im Schwarzen Erdteil. Das gilt schließlich auch für die Unternehmungen der verschiedenen Frontorganisationen, so des Weltgewerkschaftsbundes, des Weltjugendbundes, der Afroasiatischen Solidaritätsorgani-sation, des kommunistischen Journalistenverbandes und anderer Vereinigungen.
Alle diese Aktivitäten lassen bis heute keine dramatischen Erfolge oder unmittelbaren Erfolgschancen erkennen. Vieles vollzieht sich bis heute noch unkoordiniert, widersprüchlich, manchmal sogar dilettantisch. Afrika ist auch für den Kommunismus ein neuer Kontinent, dessen Spezifika er noch nicht er-und verarbeitet hat, dessen Menschen ihm fremd sind, dessen Probleme er erst studieren muß, vor recht der ihn zahlreiche und heikle Fragen stellt. Das kann sich ändern. Darauf muß sich der Westen vorbereiten, vor allem aber Afrika selbst. Es ist nicht die Aufgabe unserer kurzen Untersuchung, dafür Rezepte zu entwickeln. Sie müssen wohl letzten Endes von den Afrikanern selbst gefunden werden, denen — begreiflich und berechtigt — jede westliche Bevormundung zuwider ist.
Das mag manchem als eine unbefriedigende Antwort erscheinen. Aber jedem, der die afrikanischen Verhältnisse einigermaßen kennt, wird es klar sein, daß eine Rückkehr zur besserwisserischen Methode der Kolonialzeit nicht mehr möglich ist. Zurückhaltung ist also geboten, Zurückhaltung auch bei der Einschätzung des Abhängigkeitsgrades afrikanischer Länder, Gruppen und einzelner Politiker vom Kommunismus. Das Beispiel Guinea zeigt eindringlich genug, daß Kooperation mit dem Kommunismus nicht automatisch zum Verlust der Handlungsfreiheit und der Unabhängigkeit führen muß, um so weniger, wenn der Nationalismus provoziert und somit zur Aktion gezwungen wird.
In diesem Nationalismus ist ohnehin — so sehr er auch gelegentlich dem Westen zu schaffen machen mag — eine bedeutende Abwehrkraft gegen den Kommunismus zu sehen, die bedeutendste vielleicht gar überhaupt. Als nächster Faktor wäre der Panafrikanismus zu nennen, dessen Tendenzen und Zielvorstellungen dem kommunistischen Internationalismus diametral entgegenlaufen. Und schließlich dürfte auf die Dauer auch der „afrikanische Sozialismus“ zu einem beträchtlichen Gegengewicht des orthodoxen Sozialismus heranwachsen. Er tastet sich heute erst zaghaft nach vorn, ist kaum verbindlich definiert, nur als verschwommenes Ideal vorhanden. Und dennoch reagiert die kommunistische Publizistik schon erschreckt und wütend, wenn vom „afrikanischen Sozialismus" als einer Verschmelzung überkommener und spezifisch afrikanischer Vorstellungen gesprochen wird.
Diese wenigen Hinweise zeigen schon, daß der Kommunismus nicht nur unangefochten in Afrika vorstoßen kann; er sieht sich vielmehr zahlreichen innerafrikanischen Potenzen gegenüber, mit denen ein Kompromiß oder eine ideologische Koexistenz unmöglich ist. Dem Westen sollte daran gelegen sein, diese Potenzen zu stärken Und sei es nur dadurch, daß er sie in einem positiven Sinne akzeptiert.