Es ist noch nicht lange her, da pflegte man hierzulande von Afrika als dem „dunklen Erdteil"
zu sprechen — und meinte damit nicht nur die Hautfarbe vieler seiner Bewohner, sondern auch ihre „Barbarei" oder „Primitivität". Später bezog man sich wohl auf die rückständigen Länder und das „prälogische Denken", die „Geschichtslosigkeit" der Afrikaner. Nach dem zweiten Weltkrieg übernahmen wir aus dem Westen den Begriff Unterentwickelte Länder, und seit einigen Jahren gilt es als unfein, afrikanische Gebiete anders zu nennen als Entwicklungsländer. Auch dieses Wort begegnet bereits dem Augenzwinkern der Experten: Mag die Entwicklung Afrikas wünschenswert sein — wer wollte behaupten, sie sei schon überall in Gang gekommen?
Das hervorstechende Merkmal Afrikas ist offensichtlich der krasse Gegensatz, die Kluft zwischen einem modernen und einem traditionalistischen, zwischen dem „dynamischen" und dem „statischen", einem aufstrebenden und einem zerfallenden Lebensbereich. Die politischen Strukturen, die beide Welten Zusammenhalten, verklammern sollen, erscheinen vielen Beobachtern moralisch fragwürdig (vor allem im Licht europäischer Erfahrungen mit dem Totalitarismus) und technisch ungeeignet (nämlich von außen autgepfropft und der afrikanischen Wirklichkeit mindestens ebenso „fremd" wie die koloniale Fremdherrschaft, die sie ablösen). Das ganze soziale System ist offenbar unausgegoren. Da spricht der Europäer denn gern (mit einer gewissen Herablassung des Reiferen) von den jungen Staaten und der rasche gesellschaftliche Wandel (rapid social change) tritt bei gewichtigen und aufgeschlossenen internationalen Gremien — z. B.der protestantisch -anglikanisch -orthodoxen Ökumene — als Kennzeichnung der „Dritten Welt" an die Stelle der allzu verschwommenen Vokabel „Entwicklung".
Wie mit allen in Europa und Nordamerika ausgereiften sozialwissenschaftlichen Begriffen, müssen wir auch mit „Staat“ und „Gesellschaft" in Afrika vorsichtig umgehen. Wie verlief denn die europäische Geschichte? Aus einem mittelalterlichen Gesellschaftsgefüge mit höchst komplizierten Gleich-und Gegengewichten, Spielregeln und sittlichen Idealen, das gewiß keine strenge Ordnung darstellte, in dem aber mächtige überregionale Ordnungsfaktoren mit teilweise bedeutender Macht wirkten (die Kirche, das Reich), erhoben sich ungefähr gleichzeitig ungefähr gleich große Nationen; einige von ihnen, ziemlich geschlossen in Westeuropa gruppiert, fanden zu staatlicher, andere wenigstens zu kultureller Einheit. Eine keineswegs gleichmäßige, jedoch fast ausnahmslos vergleichbare wirtschaftliche Entwicklung setzte ein, die nur in Ruß-land und auf dem Balkan durch Invasion von außen (Mongolen, Türken) gestört wurde. Auch die gesellschaftlichen Strukturen verschoben sich durch Revolutionen, Reformen und Restaurationen, aber doch nicht so weit, daß geistige und soziale Kommunikation zwischen irgendwelchen Gliedern der alten „Christenheit" je völlig abgestorben wäre. Nordamerika baute zwar seine Nationen (besonders in den USA) aus verschiedenen nationalen Elementen Europas auf, aber in einer vorgegebenen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, die vielleicht deshalb bis zur Stunde alle Belastungsproben durch neue Einwandererwellen bestanden hat, weil jede von ihnen wenigstens einige altvertraute Elemente darin vortand. Die einzige bedeutende Ausnahme bilden bezeichnenderweise die Neger, die eben nicht aus der alten „Christenheit" zuwanderten. Wir hoffen auf ihre Integration in naher Zukunft; das ist aber nur deshalb möglich, weil die amerikanischen Neger selbst freiwillig oder unfreiwillig auf jegliches gesellschaftlich-politische Erbgut verzichten, weil sie die amerikanische Kultur voll und ganz assimilieren wollen. Ob extremistische Einzelgänger oder Organisationen, wie Marcus Aurelius Garvey in den zwanziger Jahren und die Black Muslims heute, an der Abkehr der amerikanischen Neger von Afrika noch etwas ändern können, steht hier nicht zur Debatte. Die Probleme der Neger-Minorität in Amerika und die Sorgen der jungen Nationen Afrikas sind nicht einfach zwei Aspekte ein und derselben „Rassenfrage". Wohl ergeben sich alle beide aus dem Zusammenstoß europäischer Staats-und Gesellschaftsformen mit Menschen, deren Vorfahren nicht in der Tradition dieser Formen gelebt haben. Aber während die amerikanischen Neger ohne kulturelles Eigen-18 gepäck in diesen Zusammenstoß gehen, denken die Afrikaner keineswegs daran, ihre sehr wohl existenten politischen und sozialen Überlieferungen einfach dem Neuen, das aus Europa kommt, zu opfern. Die Amerikaner afrikanischer Herkunft wollen sich in eine europäisch bestimmte Gesellschaft, in einen aus europäischer Wurzel erwachsenen Staat integrieren. Die Afrikaner wollen zusammen mit Europa und allen anderen Kontinenten, aber durch eigenständig geleistete Beiträge, die universale Zivilisation der „Einen Welt" von morgen aufbauen helfen.
Es ist beinahe rührend zu beobachten, wie sich kommunistische Afrikakenner in den Begriffen und Schemata ihres Historischen Materialismus verstricken, wenn sie ihn, der schon bei der Interpretation der europäischen Geschichte versagt, für die er entworfen wurde, auf das völlig andere Afrika anwenden wollen. Was sie alles in den einen Sack des „Feudalismus" stecken müssen, ist so vielfältig, daß kein Mensch mehr praktisch mit dem ganzen Sack hantieren kann. Was sie als afrikanisches „Proletariat“ oder als „Nationale Bourgeoisie" ausgeben, ist selbst bei äußerster Großzügigkeit in der Zuordnung ein so jämmerliches Häufchen, daß es schwer fällt, hier die bewegenden Kräfte für Afrikas Gegenwart und Zukunft zu suchen. Die Kommunisten stehen vor der Wahl, entweder an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit Afrikas vorbei-zureden — oder ihre Kategorien dieser Wirklichkeit so energisch anzupassen, daß von Marx, Engels und Lenin wenig übrigbleibt.
Westliche Beobachter, die ausziehen, um in Afrika Gewaltenteilung, parlamentarische Opposition, unabhängige Träger der öffentlichen Meinung zu entdecken oder um die Bildung eines unternehmerischen Mittelstandes zu fördern oder um ein christliches Vereinsleben nach dem Vorbild ihrer europäischen Heimat zu organisieren, werden natürlich ebenfalls bitter enttäuscht. Vielleicht fällt es den meisten von ihnen leichter, sich auf die Wirklichkeit zu orientieren, als den Kommunisten, da sie ihre Ideologien seit jeher zu relativieren gewohnt sind. Das ist vermutlich die beste Erklärung dafür, warum die Zusammenarbeit zwischen Afrika und dem Westen trotz der bösen Vergangenheit und allen erdenklichen Krisen sich immer wieder einrenkt, während der Kommunismus seit 1917 einen Werbefeldzug nach dem anderen unternimmt, ohne bisher auf afrikanischer Erde irgendwo festen Fuß fassen zu können.
Die fundamentale gesellschaftliche Spannung besteht in Afrika (einschließlich des arabischen
Nordens) nicht zwischen einer „feudalen“ oder bürgerlichen herrschenden Klasse und einem industriellen oder agrarischen Proletariat; sie besteht auch nicht zwischen demokratischem Freiheitsanspruch und staatlicher Despotie. Sie besteht vielmehr zwischen einem modernen, von außen eingeführten und gesteuerten, nach außen (d. h. nach Europa) orientierten Sektor der Gesellschaft, der wie eine Olschicht auf dem Wasser schwimmt oder wie ein Sauerstoffzelt die von ihm erfaßten Menschen gegen die Außenwelt abschirmt, und dem ganzen übrigen Gesellschaftskörper — dem Wasser-volumen, der Atemluft des Raumes, um in unseren Bildern zu bleiben.
Wir nennen in den folgenden Ausführungen dieses „Wasservolumen", die „Atemluft" — mit anderen Worten: das heute noch weiterlebende Alt-Afrika — kurzerhand den „Busch"; wir nennen die „Ölschicht", das „Sauerstoffzelt" der modernen Sektoren die „Stadt". Das sind symbolische Bezeichnungen, die aber in Afrika selbst gang und gäbe sind. Zwischen Busch und Stadt steht der Staat, zusammengewachsen aus der Nationalen Befreiungsbewegung gegen die Kolonialherrschaft und aus der administrativen sowie konstitutionellen Hinterlassenschaft eben dieser Kolonialherrschaft. Heute ist die Hauptaufgabe des afrikanischen Staates nicht mehr der antikoloniale Kampf (trotz Portugal und Südafrika). Der Staat ist auch im allgemeinen nicht (noch nicht?) ein eindeutiges Herrschaftsinstrument der Stadt über den Busch. Der afrikanische Staat hat und erkennt vielmehr die Aufgabe, die wir bereits nannten: beide Bereiche der gesellschaftlichen Spannung zu verklammern, ihr Auseinanderfallen zu verhüten, den nach Aufbau und Harmonisierung strebenden Kräften das Übergewicht zu verschaffen.
Die Gefahr, in der Afrikas Gesellschaft und Afrikas Staaten schweben, ist erst in zweiter Linie eine Gefahr der Fesselung durch totalitäre Staatsapparate und Ideologien unter Erstickung der Freiheiten und Rechte des Menschen und des Bürgers. Auch diese Gefahr droht; aber vordringlicher und stärker ist heute die Drohung einer Erschlaffung der Massen und Abkapselung der „Eliten"; die Gefahr eines Auseinanderbrechens der Gesellschaft und einer Monopolisierung des Reichtums, der Macht, der Dynamik durch die Minderheit, die heute schon unter dem Sauerstoffzelt der modernen Welt sitzt. Endgültige Scheidung von „Stadt" und „Busch", mit einem Wort: Südamerikanisierung. Der Busch Was bedeutet heute der „Busch", das „Alte Afrika"? Nur mit äußerster Vorsicht wird der Europäer versuchen, diese Frage zu beantworten, und noch unsicherer ist das Terrain, wenn wir fragen wollten: was war der „Busch" früher, ehe die Weißen kamen und nach so kurzer Herrschaft wieder gingen? Nicht einmal Jahrzehnte des Buschlebens erlauben dem Europäer, sich ein klares Bild dieses Afrika zu machen; nach zwanzig Jahren Wirksamkeit wird der Missionar (ich denke an Worte eines bestimmten Priesters) in den Dörfern seines Bezirks, die er wieder und wieder besucht hat, wo er als Gottesmann und Heilkundiger höchstes Ansehen genießt, alte Sitten und Ideen kennenlernen, von deren Existenz er vorher nichts ahnte. Auch ein Albert Schweitzer ist kein Kronzeuge — nicht einmal für dieses sein Alt-Afrika, das er dem neuen so einseitig vorzieht. Wir können nur durch Eliminierungen ein wenig vorankommen. Nein, der „Busch" ist nicht identisch mit Bauerntum und dörflichem Leben: das alte Afrika hat Städte gekannt— nicht nur Karawanen-„Häfen" am Südufer der Sahara, sondern auch die Städte des Jorubalandes, Nubiens, Äthiopiens, Simbabwes. Nein, der Busch ist auch nicht schlechthin „statisch". Er hat einst sein Gesicht ohne Zutun der Europäer oder der Araber verändert. Völker wanderten; der Islam kam. versickerte wieder, breitete sich erneut in weiten Regionen des Sudan aus. Staaten entstanden, von denen wir sicher noch nicht alle kennen, nicht einmal dem Namen nach. Natürlich war auch das vorkoloniale Afrika nicht hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen. Der europäische Sklavenhandel an der Westküste, der Amerika sein schwarzes Bevölkerungselement lieferte, und die arabischen Sklavenjagden im Osten, die vor allem im 19. Jahrhundert einer nicht-europäischen „Erschließung" der afrikanischen Natur-schätze dienten (Elfenbeintransporte), veränderten das Gesicht des „Busches" ohne Zweifel — und sicher zu seinem Nachteil: sie entvölkerten ihn und zerschlugen gesellschaftliche und staatliche Ordnungen. Angola und Tanganjika bieten dafür bis heute erschütternde Beispiele (hier wurde die Sklavenwirtschaft zuletzt beseitigt)
Es mag relativ einfach gewesen sein — und ist es heute —, die Gesellschaft und Politik des alten Afrika zu verheeren oder zu zersetzen, Sklaven zu kaufen, die Herero in der Kalahariwüste verschmachten zu lassen, Arbeiter für die Bergwerke zu werben. Viel schwerer ist es — und war es sicher schon immer —, das Leben im Busch umzugestalten und dennoch zu erhalten. Es bedarf des geschlossenen und energischen Auftretens der gesamten jungen Generation (Männer und Frauen) und zäher Palaver, um den Alten eines westafrikanischen Dorfes heute gewisse hygienische Reformen beim Zurweltbringen der Kinder abzuringen;
für die Jungen ist es der leichtere Weg, sich in die Stadt davonzumachen und das Dorf den Alten zu überlassen.
Wir bewundern die mündlichen Überlieferungen, die in manchen Völkern bis heute vom Geschick längst versunkener Staaten berichten — vom Mali-Reich des Mittelalters z. B. unter den Mande. Die politischen Ordnungen der Mossi, der Joruba, der Baganda scheinen für eine halbe Ewigkeit gemacht. Aber was mögen die alten Herrscher des vorkolonialen Afrika für Mühe gehabt haben, bevor ihre Ordnung den Menschen in Fleisch und Blut überging? Oder täuschen wir uns überhaupt in der Dauerhaftigkeit dieser Staaten (solange kein fremder Einfluß sie überwältigt)? Wäre ein Ereignis wie die Revolution in Ruanda, die 1960 das jahrhundertealte Tussi-Königtum stürzte, wirklich ohne belgische Ermunterung undenkbar gewesen? Es muß in den Staaten des alten Afrikas Entwicklungen gegeben haben, die mehr waren als wechselseitige Eroberungen und Plünderungen.
Auch die Völker, die keine Staaten im europäischen Sinn dieses Wortes kannten, bevor der Weiße Mann kam, und die man daher gern als „kopflose Gesellschaftskörper" bezeichnet, sind keineswegs notwendig als statische Gruppen anzusprechen. Da haben wir in Ost-Nigeria die Ibo, die sich stolz ihrer althergebrachten „Dorfdemokratie" rühmen, weil sie keine „Häuptlinge" hatten: sie zeigten sich so anpassungsfähig an moderne Lebensformen, „assimilierten" den Handel und andere Wirtschaft-zweige so gut, daß ihre Nachbarn sie deshalb nicht gerade liebten. Sollten ihnen diese Eigenschaften im Augenblick des Kontakts mit Europa durch ein Mirakel in den Schoß gefallen sein?
Wir dürfen das alte Afrika, den Busch, auch nicht einfach mit dem Allerwelts-Stempel „Stammesordnung" versehen und dann zur Tagesordnung übergehen Sicher, die modernen politischen Bewegungen selbst ziehen auf Englisch und Französisch allerorten gegen „Tribalism(e)" zu Felde; aber dahinter verbirgt sich wieder eine vielfältige Wirklichkeit. In manchen Gegenden reicht das Gemeinschaftsbewußtsein gar nicht über die Ebene des Dorfes oder einer kleinen Gruppe von Dörfern hinaus; politische Loyalität gegenüber der Sprachfamilie, die die Europäer „Stamm" tauften, existiert nicht. Andererseits sind z. B. die Joruba, mit ihren mindestens 3, 5 Millionen Köpfen ein ansehnliches Volk, durch alte staatliche Tradition verbunden: Ein Joruba-Partikularist zieht sich aber in Nigeria von „nationalistischer" Seite unweigerlich den Vorwurf des „tribalism" zu. Die Fulbe schließlich leben zwischen Guinea und Kamerun verstreut — hier als Aristokraten, dort als mißachtete Viehhüter, hier Moslem, dort Animisten, hier ihre eigene Sprache, dort Haussa sprechend.
Natürlich gibt es an vielen Stellen Afrikas echte politische Probleme, die sich aus der politischen Spaltung oder Bevormundung eines bestimmten Volkes, eines „Stammes”, ergeben: Ewe-Frage zwischen Togo und Ghana, Pan-Somali-Bewegung, die Azande zwischen Sudan und Kongo, Ruanda und Burundi, die Rivalität zwischen UPA und MPLA in der angolanischen Untergrundbewegung. Aber ebenso oft ist es falsch, in „tribalistische" Regungen mystische Kräfte von Blut und Boden hineinzugeheimnissen; sie können auch schlichte regionale Eigenbrötelei, Kirchturmspolitik oder Kantönligeist verraten, die alle bekanntlich selbst in der perfekten Industriegesellschaft überleben. Schließlich gibt es den bewußt von der weißen Regierung geförderten Kultur-Tribalismus für die südafrikanischen Bantu, die als Zulu, Basuto, Xhosa usw. angesprochen (und in der jeweiligen Sprache unterrichtet) werden, weil man sie — vermutlich erfolglos — daran hindern möchte, sich einig als „schwarze Südafrikaner" gegen die Apartheid zu wehren.
Statt von „Stammesordnung", von „statischen Gesellschaftskörpern", von „geschichtslosen Völkern" sollten wir lieber schlicht vom „Busch" sprechen, wie Weiße und Schwarze es an Ort und Stelle tun. Natürlich dürfen wir damit keine Geringschätzung ausdrücken (und ebensowenig romantische Sehnsucht nach einem angeblichen Idyll, in das manch alter Kolonialbeamter sich zurückträumen mag nachdem „Agitatoren aus der Stadt" ihn um seinen arbeitsreichen und doch schönen Posten als Kreiskommandant o. ä. gebracht haben).
Wir wollen mit dem „Busch" schlicht die Weite des afrikanischen Landes meinen, das noch nicht durch Straße und Stromleitung erschlossen ist, mag auch das Flugzeug hier wohl-bekannt sein und das Transistor-Radio Musik aus Paris oder gar Nachrichten aus Peking bringen ... Wir meinen die Masse von 80 bis 90 °/o der Menschen Afrikas, die noch nicht regelmäßig für Entlohnung in Geld arbeiten, die in Selbstversorgungswirtschaft (Subsistence economy) leben oder höchstens am Anbau der landwirtschaftlichen Exportprodukte wie Erdnüsse, Kakao, Baumwolle beteiligt sind.
Freilich, den „unversehrten Busch" gibt es immer weniger. Der eben erwähnte Anbau von Exportprodukten, der seit kurzem an vielen Stellen äußerst rapide Bevölkerungszuwachs, die ebenfalls erwähnte Abwanderung ganzer junger Generationen in die Städte: diese und einige andere Faktoren erschüttern die Stabilität der althergebrachten Gesellschaft und natürlich auch ihre politischen Strukturen, soweit diese die Kolonialzeit überlebten. Das andere Afrika, die „Stadt", ist überall auf dem Vormarsch. Nicht nur jede wirkliche städtische Siedlung mit wirtschaftlicher oder administrativer Funktion, sondern auch jede aus dem Busch gestampfte Universität, ja jede Dorf-schule, jeder Transistor, jedes Fahrrad, jede Blechschüssel ist ein mehr oder weniger starker, mehr oder weniger „gefährlicher" Strahlungsträger dieses modernen Afrika, der das alte Afrika „zersetzt“.
Wir setzen Worte wie gefährlich oder zersetzen in Anführungsstriche, weil wir beim besten Willen nicht wissen, ob diese negativen Beurteilungen gerechtfertigt sind; sie drängen sich gleichwohl selbst dem flüchtigsten Beobachter auf und bleiben auch bei dem haften, der sich vor Busch-Romantik hütet. Es ist unübersehbar, daß die Modernisierung heute Leid und Erschütterung nach Afrika bringt. Wir wissen nicht, ob sie am Ende so segensreich wirken wird wie die (ebenfalls „zersetzende") Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa. Wir wissen aber auch nicht, wie Afrika aussehen würde, wenn es die Modernisierung nicht gäbe. Spekulationen darüber können wir uns sparen, denn es ist und war stets unmöglich, einen Kontinent „sich selbst zu überlassen". Die Stadt Wenn auch, wie wir sagten, jeder kleine Transistor ein Vehikel der Modernisierung darstellt, so ist doch die Stadt der sinnfälligste Ausdruck des neuen Afrika, und das Studium der afrikanischen Städte ist für den Soziologen mindestens so wichtig wie das Forschen nach . intakten" Busch-Gemeinschaften.
Die Städte des neuen Afrika sind jung und werden von jungen Menschen bewohnt. Sie wurden zumeist von Europäern angelegt und gruppieren oft afrikanische Wohnsiedlungen um einen „fremden" Kern weißer Villen und Büros, in den nun allerdings die Elite der neuen Regime eindringt, um dort im Stil der früheren Herren zu wohnen und zu arbeiten (oder müssen wir ironisch verbessern: zu repräsentieren, während der Brite, Franzose oder Israeli als „technischer Berater" im Nebenzimmer das Gleiche tut, was er oder sein Vorgänger vorher als Chef auch schon täten?). Die Verwaltungszentralen der ehemaligen Kolonien, die heute ohne Änderung der Grenzen selbständige Staaten sind, liegen oft an der Küste — Europa zugekehrt, nicht dem „Busch", und ganz buchstäblich per Telefon oder Jet von Europa aus schneller, leichter zu erreichen als von entlegenen Busch-Regionen. Als Hafenplätze sind die Handelszentralen, d. h. zentrale Durchgangs-und Kontrollstationen für die Ausfuhr der Rohstoffe und den Import industrieller Fertigwaren (= Konsumgüter), die zusammen das typische Kennzeichen der kolonialen und neo-kolonialen Wirtschaft sind. Manche dieser Städte blitzen von einer Super-Modernität, die in Europa selbst ihresgleichen sucht; sie bieten dem Besucher aus Übersee nur Luxus-Hotelzimmer zu Super-Luxuspreisen; Taxis in Massen, aber selten ein zuverlässiges Busnetz. Man gewöhnt sich in ihnen sehr schnell daran, keinen Schritt zu Fuß zu gehen (auch wenn es gar nicht so schrecklich heiß ist), und zuckt die Achseln über weltfremde Beamte daheim, die einem zumuten, mit den gleichen 60, — DM Tagessatz auszukommen wie im proletarisch einfachen Paris.
Von europäischen Städten unterscheiden sie sich auch (vor allem natürlich) dadurch, daß sie kaum nennenswerte Industrie besitzen. Wovon leben die Zehntausende, Hunderttausende in den afrikanischen Vorstädten? Zahlen sie für ihre erbärmlichen Blech-und Lehmhütten keine Mieten? Doch, und wie! Sie leben zu einem erheblichen Teil von der traditionellen Gastfreundschaft der „Stammesordnung", die im heimatlichen Dorf selbst-22 verständlich, sinnvoll und keine schwere Last war, hier aber die Löhne der wenigen Verdiener aufzehrt. „Parasitismus“: das oft zitierte Musterbeispiel für eine Sozialtugend des alten Afrika, die unter dem Einfluß der neuen Umwelt zum Hemmschuh der Entwicklung, ja zum Laster wird, die infolgedessen verkümmert, vor der sich immer mehr Afrikaner, die in die moderne Gesellschaft hineinwachsen, heimlich oder offen drücken, deren vorläufiges Weiterexistieren aber Katastrophen und Revolten verhütet. Ein „afrikanischer Ersatz für unsere Sozialversicherung"? Sicher, im Augenblick, aber wehe, wenn nun einer glaubte, dank des Parasitismus könne sich Afrika auf Jahre hinaus den „Luxus" einer Sozialpolitik ersparen, die zwischen Arbeitszwang und Faulheitsprämien einen vernünftigen Mittelweg sucht.
Von den neuen Städten aus werden im Regelfall Territorien regiert, die größer, meist um ein Vielfaches größer sind als die Bereiche gesellschaftlichen und politischen Loyalitätsempfindens im alten Afrika. Der Staat von heute umfaßt zahlreiche „Stämme", und die Hauptstadt ist der wichtigste Schmelztiegel, aus dem die „Nation" hervorgehen soll, d. h., das Bewußtsein einer politischen Loyalität über die alten Gruppierungen hinaus. Gleichzeitig war (und ist) die Hauptstadt der Ort, wo die Präsenz (einst die Herrschaft) des Fremden, des Europäers besonders deutlich wird. Hier liegen daher die Geburtsstätten des afrikanischen Nationalismus, der von Anfang an zwei Fronten kämpfte: gegen Imperialismus und „Tribalismus", gegen die Vorherrschaft der Europäer und die Rückständigkeit, den Partikularismus des Buschs.
Die Afrikaner in den neuen Städten Afrikas sind beileibe nicht alle wohlhabend, sie sind beileibe nicht alle gebildet, sie sind beileibe nicht alle politisch versiert. Wenn sie sich zusammenrotten und auf Anweisung der Gewerkschaftsführer demonstrieren, können sie allerdings als Block — die Armen und Analphabeten und „Unpolitischen" — zu einer politischen Macht werden; wenn die Armee Gewehr bei Fuß steht, können sie ein scheinbar stabiles Regime widerstandslos wegfegen, wie in Brazzaville, wie in Dahome geschehen.
Die tonangebende afrikanische Schicht in den neuen Städten ist aber die sogenannte Elite. Man muß diesem Wort zunächst den Beiklang eines sittlichen Vorrangs nehmen, der ihm anhaften mag. Elite bedeutet hier für uns einfach: die wenigen Ausgesonderten, in deren Händen Macht liegt. Und dann müssen wir sofort hinzufügen: Es handelt sich um eine bürokratische Elite. Sie besitzt Macht nicht, weil sie etwa über Kapital verfügte wie die klassische europäische Bourgeoisie oder weil ihr Maschinengewehre zu Gebote ständen wie den Offiziersjunten Lateinamerikas oder weil sie als spirituelle Autorität anerkannt wären wie die Päpste und Bischöfe des Mittelalters. Afrikas bürokratische Eliten besitzen Macht in dem Ausmaß, wie sie Verwaltungs-Maschinnerien kontrollieren. Das können staatliche Beamtenapparate oder Parteiapparate sein. Im ersten Falle sind sie eine Hinterlassenschaft der europäischen Kolonisation; im wurden zweiten sie von Afrikanern unter der Herausforderung der Kolonialherrschaft, meist nach dem Vorbild europäischer (oft kommunistischer) politischer Organisationen, politischen als Maschinerien Kampfes geschaffen.
Wir wollen uns hier nicht auf die verschiedenen Vorschläge westlicher und kommunistischer Sozialwissenschaftler einlassen, afrikanische Parteien und Regime zu katalogisieren: als Massen-und Patronatsparteien etwa (Thomas Hodgkin und Ruth Schachter) oder als Mobilisierungs-, Versöhnungs-und autokratische Systeme (David Apter und Carl Rosberg). Die Übergänge sind in jedem Fall fließend, und die Grundsituation ist fast überall in Afrika die gleiche: Kluft zwischen „Busch" und „Stadt". Jede weitere Entwicklung droht diese Kluft noch zu vertiefen, wenn man sie sich selbst überläßt. Es kommt aber darauf an, sie zu verringern oder gar nach Möglichkeit einst zu schließen. Das ist die Aufgabe des Staates, der Regierung, der Partei.
Aber blicken wir noch einen Augenblick auf die bürokratischen Eliten. An vielen Orten lassen sie sich unschwer in zwei Generationen unterteilen: Da sind die „Alten" — nach europäischen Maßstäben oft noch halbwegs „junge Politiker" —, die im antikolonialen Kampf zu Führungsstellen aufstiegen. Sie sind oft nur mittelmäßig gebildet, da Afrikaner, als sie jung waren, nur Schulen vorfanden, die sie für subalterne Tätigkeiten vorbereiten sollten. Aber sie haben (vor allem in den ehemals britischen Gebieten) jähre-und jahrzehntelang im eigenen Volk, manchmal im Busch, gelebt. Sie haben feine Organe für die Wünsche und Enttäuschungen der Massen. Auf der anderen Seite stehen die „Jungen", die jetzt in immer größerer Zahl von den hohen Schulen Europas oder den in europäischem Stil erbauten, als europäische „Inseln" konzipierten afrikanischen Universitäten heimkehren. Sie sind im allgemeinen europäischen Akademikern intellektuell ebenbürtig und damit ihren älteren Kollegen überlegen. Aber diese sind ihre Vorgesetzten oder die höchste politische Autorität. Die Jungen drängen, sie pochen auf ihre Diplome; die Alten neigen zum Mißtrauen, werfen ihnen Entfremdung vor, pochen auf ihre Verdienste im antikolonialen Kampf. Solche Rivalitäten können sich in wahren oder erdichteten Verschwörungen entladen.
ist bereits auf Es an Zeit, jetzt der den Blick die dritte Welle zu richten: die Generation der Kinder von heute, die in vielen Ländern schon zu 60 oder 80 °/o Grundschulen besuchen. Eins ist klar: Für sie alle wird in der bürokratischen Elite kein Platz sein, nicht einmal mehr auf den untersten Rängen. Bisher, noch für die heute Zwanzigjährigen, war der Besuch irgendeiner modernen Schule und die Kenntnis des oder Englischen Französischen der Passierschein unter das Sauerstoffzelt des modernen Gesellschaftssektors. Unter diesem Zelt aber konnte man im wesentlichen nur Verwaltungsarbeit tun, da es keine Industrie gibt. Deshalb ist die Elite bürokratisch. Deshalb drängen die Schul-Absolventen in die Büros, und je höher die Schule, um so höher soll der bürokratische Rang, um so schneller der Aufstieg sein.
Wenn das afrikanische Schulwesen sich weiterentwickelt wie bisher, wird Bildung auch auf relativ hohem Niveau nicht mehr automatisch die Aufnahme in die bürokratische Elite sichern. Auch die Masse draußen im „Busch“ wird lesen, schreiben, rechnen, Englisch oder Französisch können. Sie wird fordern, daß man es ihr ermöglicht, das unter Opfern Gelernte sinnvoll anzuwenden.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, auf diese Herausforderung zu antworten: Entweder die Bürokratie igelt sich ein. Dann muß sie so rasch wie möglich verhindern, daß die Masse lesen, schreiben, rechnen, Englisch und Französisch über das Maß hinaus lernt, das „ihrem Platz in der Gesellschaft“ angemessen ist. Also: zurück zum Prinzip der Arbeitsschulen, wie z. B. belgische Missionare sie um 1900 am Kongo und deutsche in Kamerun einrichteten. Die bürokratische Elite würde sich dann aus ihren eigenen Kindern ergänzen, die man weiterhin möglichst in Europa studieren lassen könnte, damit die „Bauern" gar nicht erst auf die Idee kommen, eine Universität wäre vielleicht auch für sie da. So ein System kann gut und gerne einige Generationen lang funktionieren (wie übrigens auch die Apartheid durchaus auf längere Sicht lebensfähig ist). Aber es ist nicht demokratisch. Und es erlaubt der Elite, sich auf die faule Haut zu legen, Korruption und Amtsschimmelei ins Kraut schießen zu lassen. Der andere Weg: Man richtet sich darauf ein, daß auch die Masse Bildung hat. Dann muß man die Lebensbedingungen einer rasch wachsenden Masse so umformen, daß sie Anwendung dieser Bildung gestatten. Also Plätze für Hochqualifizierte nicht nur in den Büros, sondern auch in Werkstätten, ja auf den Feldern. Harmonische Umformung des Buschs. Allmähliche Entfernung des Sauerstoffzelts ... Vermischung von öl und Wasser? Quadratur des Kreises? Sicher, die Aufgabe ist ungeheuer schwierig. Die Investitionen, die aus öffentlichen und privaten Quellen nach Afrika fließen, reichen zwar hier und da für ein frappierendes Entwicklungstempo unter dem Sauerstoffze/t aus. Die Elfenbeinküste z. B. ist gar nicht mehr weit vom Rostow schen Punkt des take off entfernt, wenn wir nur auf die globalen Statistiken blicken; aber diese Entwicklung vollzieht sich innerhalb der Ölschicht und nach den Gesetzen des Neokolonialismus, während der Busch viel, viel langsamer vorankommt. Ist der andere Weg der harmonischen Entwicklung, der sofortigen Beteiligung des Buschs nicht nur an der Alphabetisierung, sondern auch an ökonomisch-sozialer Modernisierung, überhaupt gangbar? Darf man das Sauerstoffzelt fortnehmen? Aber wenn die bürokratischen Eliten mit mehr sachkundiger Kontrolle von außen zu rechnen haben, werden sie sich weniger Schlendrian leisten können. „Busch-Politik" wird sicher weniger spektakuläre Erfolge melden können; aber sie dürfte aut die Dauer den Staats-und Parteiapparat lebendiger, geschmeidiger erhalten und darum einer vernünftigen Entwicklungspolitik besser dienen. Die Apathie der Massen bedroht die Ansätze zu moderner Entwicklung stärker als eine breite Streuung der Investitionen und Profite Die vernünftige Mitarbeit möglichst breiter Schichten ist die beste Garantie für ökonomische und politische Stabilität. Es ist kein Zufall, daß uns bei der Schilderung dieser Alternative zur „Südamerikanisierung“, die Louis-Joseph Lehret und andere „harmonische Entwicklung" nennen, mehrfach das Adjektiv „vernünftig" in die Feder fließt. Diesen Weg kann nur empfehlen oder zu gehen versuchen, wer an Leistungsfähigkeit und Güte der menschlichen Vernunft glaubt — wer Aufklärer ist, wer Bildung ebenso für einen Segen hält wie einst der österreichische Kaiser Joseph II., wer die europäischen Erfahrungen mit der Aufklärung positiv interpretiert; und das ist möglich, ohne der geschichtlichen Wahrheit Gewalt anzutun.
Wir geben offen zu, daß wir dem heutigen Afrika einen gehörigen Schuß Aufklärung wünschen. Wir sehen den Geist der Aufklärung überall wirksam — nicht zuletzt in den christlichen Kirchen Afrikas, die überall nüchterne Bildung und den Appell verbreiten, die unzähligen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Probleme unter Einsatz der Vernunft und der mündigen Persönlichkeit zu lösen. Und wir stellen mit Interesse fest, wie stark Israel die Afrikaner fasziniert — dieser Staat eines par excellence vernünftigen Volkes, ohne das Europas Aufklärung kaum denkbar gewesen wäre, und das unter seiner Über-sättigung mit Gebildeten nicht leidet, sondern intern und für seine Entwicklungshilfe Segen daraus schöpft.
Die Sorge wacher Beobachter vor dem Anrollen einer afrikanischen Bildungswelle ist verständlich. Wenn die gesellschaftliche Kluft so bleibt, wie sie jetzt ist, und wenn die afrikanische Schule demgemäß so bleibt, wie sie ist (und nur in die Verwaltung mündet), dann kann es eine Explosion geben. Aber einige politische Weichenstellungen sollten genügen, um auf dieser gleichen Bildungswelle Afrika — allen Schichten Afrikas — zum Anschluß an die moderne Weltzivilisation zu verhelfen.
Der Staat Nur eine knappe abschließende Bemerkung kann dem afrikanischen Staat von heute gelten Wir haben schon deutlich gesagt, wo nach unserer Auffassung seine Pflichten liegen, und in aller Welt sind viele Bücher und Aufsätze, mit denen wir hier nicht konkurrieren können und wollen, seiner Analyse gewidmet worden.
Natürlich erscheint der Staat auf den ersten Blick als Importware, als bloßer Teil des modernen Sektors, der Olschicht. Aber die rasche und erfolgreiche Formierung mächtiger Nationalbewegungen in den vierziger und fünfziger Jahren läßt sich nicht nur als Kopieren des kommunistischen und anderer europäischer Vorbilder erklären; denn die Massen machten mit, sie „erwachten“ in vielen Ländern buchstäblich zu einer politischen Aktion, in der die Verzahnung von Busch und Stadt für den antikolonialen Kampf Wirklichkeit wurde. Natürlich war die Erlangung der Unabhängigkeit durch Feilschen mit London oder Paris, ja selbst durch Kampf wie in Algerien eine viel einfachere politische Aufgabe, als die „harmonische Entwicklung" es heute in der Stunde nach der Unabhängigkeit ist. Manche Nationalbewegung versank in Apathie, weil ihren Führern diese Umstellung nicht gelang. Aber andere versuchen zumindest mit vorläufigem Erfolg, das einstige anti-imperialistische Kampfinstrument nun als Führungsinstrument für eine Entwicklungspolitik einzusetzen. Je besser das gelingt, um so größer sind die Chancen für ein schließliches Forträumen des Sauerstoffzeltes, um so größer sind die Chancen für eine graduelle, aber schrittweise wachsende Beteiligung der Massen am staatlichen Leben und an der politischen Verantwortung (sofort wird deutlich, wie dieser Prozeß mit der Verbreitung der Schulbildung Hand in Hand gehen muß). Hier liegt die einzige echte Hoffnung auf allmähliche Errichtung einer afrikanischen Demokratie. Hier stecken wir mitten im Problem der Umwandlung, der Umwertung konstitutioneller Formeln, die England und Frankreich ihren Kolonien kurz vor der Unabhängigkeit noch schnell mit auf den Weg gegeben haben.
Afrika hielt sich nicht an diese Formeln, die zusammen die Theorie der „westlichen Demokratie" ausmachen. Es ging in der Praxis über sie hinweg, aber seine Staatsmänner bemühen sich unablässig auch um neue, eigenständige verfassungstheoretische Formulierungen. Mag sein, daß der Afrikaner das Wortspiel besonders liebt, weil ihm nun einmal die Gabe des Wortes zuteil wurde; mag sein, daß hinter dem ganzen „Palaver" nicht überall geistige Anstrengung steckt, die wirklich die Probleme der harmonischen Entwicklung in den Griff bekommen will. Aber es erscheint uns besser, daß Afrika sich heute offen zu notwendigen Modifizierungen der westlichen Demokratie bekennt, als wenn die vom Westen abgeschriebenen Verfassungen formell unangetastet blieben, während die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit an ihnen vorbeirauscht. Wieder müssen wir an Lateinamerika denken, wo außer Castro und den Brasilianern kaum jemand daran denkt, an der sakrosankten Verfassungstheorie des nordamerikanischen Präsidialsystems zu rühren ...
Das wichtigste Element, das die afrikanischen Staatsmänner heute neu in ihren Verfassungen verankern wollen, ist der allgemeine Konsensus an Stelle der Majoritätsentscheidung. Um es auf eine ganz einfache Formel zu bringen: Jede Debatte soll nicht nur solange geführt werden, bis 51 von 100, sondern bis mindestens 80 oder 90 von 100 einen bestimmten Entschluß gefaßt, worauf die 10 oder 20 Restlichen nicht bei ihrer abweichenden Meinung beharren, sondern um der Einmütigkeit willen einschwenken. Die Wirklichkeit ist von diesem Ideal meilenweit entfernt? Gewiß, aber wohl nicht sehr viel weiter als unsere politische Praxis von ihrer Grundidee, der Repräsentation des Volkes durch seine („an keinen Auftrag gebundenen“) Abgeordneten ...
Die auf Einmütigkeit zielende Debatte ist ebenso ein politisches Erbgut aus dem alten Afrika, aus dem Busch, wie die starke Sozialbezogenheit des einzelnen ein gesellschaftliches Erbe aus dem gleichen Busch bedeutet. Die Vernunft sagt uns, daß jene harmonische Entwicklungspolitik, von der wir sprachen, ohne ein starkes unternehmerisches Engagement des Staates, ohne sorgfältige Lenkung der Investitionen, ohne einen möglichst langfristigen und möglichst umfassenden Entwicklungsplan unmöglich ist. Der „afrikanische Sozialismus", von dem fast alle Politiker reden und dessen ideologischen Wurzeln bei Marx, Lenin, Thomas von Aquin oder Teilhard de Chardin die europäischen Kommentatoren nachspüren, ist vor allem der praktische Versuch, die traditionelle Sozialbezogenheit des Buschs mit den logischen Schlußfolgerungen des Modernisierungsprogramms zu verzahnen.
Afrikanische Demokratie, Afrikanischer Sozialismus, harmonische Entwicklung, Südamerikanisierung, Stadt und Busch: Das Begriffs-gebäude, das wir hier errichtet haben, um einen flüchtigen Blick auf die afrikanische Wirklichkeit zu erleichtern, ist gewiß wacklig, und über mehr als einen Definitionsversuch muß sicher noch gründlich nachgedacht und diskutiert werden. Vielleicht sind wir auch, ganz allgemein gesprochen, zu optimistisch, wenn wir an vernünftige Chancen für Afrika glauben, sich durch die zahlreichen drohenden Gefahren zu einer Zukunft in Friede und Wohlstand durchzukämpfen. Wir gestehen diesen Optimismus ein. Für uns Europäer ist es schwer, auf kritische Zergliederung, Registrierung, Abstempelung der afrikanischen Schwächen und Irrtümer zu verzichten. Aber wir sollten gerade das versuchen und an Optimismus und gutem Willen mit den optimistischen und gutwilligen Afrikanern — bürokratischen Eliten und Massen im Busch — wetteifern.