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Der naturwissenschaftliche Aspekt | APuZ 1/1964 | bpb.de

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APuZ 1/1964 Rückblick auf eine Ära Wissenschaft und Ethik. Der philosophische Aspekt Der naturwissenschaftliche Aspekt

Der naturwissenschaftliche Aspekt

Helmut Holz

Wenn ein Physiker aufgefordert wird, über die naturwissenschaftliche Seite des Problems „Wissenschaft und Ethik" zu handeln, so ist das, wie ich glaube, ein Ausdruck für die allgemeine Überzeugung, daß dieses Thema den Physiker ganz im besonderen angeht. Die Physik war es doch, die vor bald zwanzig Jahren die Atombombe geschaffen hat, die also, unmittelbar aus dem Schoße der Wissenschaft heraus, der Menschheit ein Vernichtungsmittel in die Hand gegeben hat, das nicht nur in seiner unmittelbaren Wirkung jenseits alles bisher Dagewesenen liegt, sondern das dazuhin noch unübersehbare Nachwirkungen und Gefahren für die ganze Menschheit in sich birgt.

Niemals zuvor war es auf irgendeinem anderen Gebiet so deutlich geworden, daß wissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen auch in zunächst utopisch anmutenden Konsequenzen eines Tages harte, grauenhafte Realität werden können. Es war eben eine noch nie dagewesene Erfahrung, daß sich eine solche Entwicklung innerhalb weniger Jahre, also in einem Bruchteil eines einzigen Menschenlebens vollziehen konnte. Auch dann, wenn der einzelne Wissenschaftler nicht selbst an dieser ganzen Entwicklung mitarbeitet, sieht er sich also unter Umständen persönlich mit Ergebnissen und Konsequenzen seiner Arbeit konfrontiert, die er nicht wollte und die ihn innerlich belasten. So ist es nicht verwunderlich, daß bald nach dem Abwurf der ersten Atombombe und nach dem ersten lähmenden Entsetzen gerade aus den Reihen der Wissenschaftler, der Physiker selbst, der Ruf laut wurde, nicht mehr verantwortungsfrei oder gar verantwortungslos zu forschen, sondern die wissenschaftliche Arbeit dem ethischen Gesetz unterzuordnen.

Dieser Ruf war zwar zunächst an die Physik gerichtet. Wenn wir aber die heutige Naturwissenschaft aufmerksam betrachten, so erkennen wir, daß auch ein anderer Zweig dieser Wissenschaft, nämlich die Biologie, heute an der Schwelle von Bereichen steht, wo unabsehbare ethische Probleme auftauchen. Wir brauchen nur daran zu denken, daß der letzte Nobelpreis für Untersuchungen vergeben worden ist, die die Struktur der Gene zum Gegenstand hatten, und daß heute schon der Gedanke auftaucht, Gene zu manipulieren, also Erbgut nach Wunsch zu gestalten und zu verändern.

Wenn ich mich im folgenden trotzdem im wesentlichen auf die Physik beschränke, so geschieht dies deshalb, weil hier doch zum ersten Male die Problematik in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit sichtbar geworden ist, und weil ich glaube, daß diese auch für andere Bereiche typisch ist. Wir sollen uns also fragen, welche konkreten Gebote oder wenigstens Richtlinien dem Physiker — den wir im folgenden stellvertretend auch für alle anderen Naturwissenschaftler nehmen — mit dem obigen Appell für seine Arbeit gegeben sind. Es liegt eine große Versuchung für den Wissenschaftler selbst darin, sich des Beifalls unserer ganzen beunruhigten Menschheit dadurch zu versichern, daß er erklärt, er habe diesen Auftrag verstanden und werde sich denselben für alle Zukunft zu eigen machen und daß er dies noch bekräftigt, indem er selbst lauthals in diesen Ruf einstimmt. Aber ganz abgesehen davon, daß es nicht richtig ist, in dieser Weise den Physiker als ein Spezialwesen der übrigen Menschheit gegenüberzustellen, wird sich für uns der Inhalt jenes Appells bei näherer Betrachtung als so komplex erweisen, daß jede zu rasche Zustimmung von vornherein unglaubwürdig wird.

Natürlich ist es nicht schwer, hintennach, wenn die Bombe gefallen, wenn der Krieg vorüber ist, zu sagen, daß diese nicht notwendig gewesen wäre, daß es ein Verbrechen war, die Bombe auszudenken, zu bauen, schließlich abzuwerfen und damit Hunderttausende von Menschenleben wahllos und unnötigerweise zu vernichten. Aber waren nicht jede einzelne Bombe, jeder einzelne Bombenangriff — denken wir an Dresden — für sich gesehen genau so überflüssig, genau so wahllos in ihren Opfern, genau so verbrecherisch in ihrem Ansatz? Selbst wenn man verneint, daß die Atombombe noch etwas zur Beendigung des Krieges im Fernen Osten beigetragen habe, muß man es ihren Erbauern doch zugestehen, daß sie mit solchen Möglichkeiten rechnen konnten. Man muß ihnen zugestehen, daß sie sich einem Feind gegenübersahen, den sie im Besitz derselben Waffe glaubten, einem Feind, dessen Leistungen schon beinahe mythisch geworden waren und der mit Drohungen nicht sparte. Man muß ihnen zugestehen, daß der Krieg schon längst in ein Stadium totaler gegenseitiger Vernichtung übergegangen war, in welchem eine ethische Frage längst nicht mehr zur Diskussion stand. Wir sehen also, daß die Situation damals jedenfalls nicht so einfach war, um sich heute mit kurzen Schlagworten erfassen und abtun zu lassen — auch wenn zweifellos viele Wissenschaftler mit tragischer innerer Belastung daraus hervorgegangen sind. Würde oder könnte, so müssen wir also nochmals fragen, der Wissenschaftler heute, im Besitze jener historischen Erfahrung und der dadurch geschärften Wachsamkeit, in einer analogen Situation anders handeln als damals, oder könnte er sich vielleicht einer solchen Situation überhaupt entziehen? Wenn wir eine von Selbsttäuschung freie Antwort auf diese Frage Enden wollen, so müssen wir uns zunächst klar machen, daß die Grundstimmung der Wissenschaftler damals, vor dem zweiten Weltkrieg, ihrer Arbeit gegenüber genau so wenig auf die späteren Ereignisse — Krieg und Atombombe — ausgerichtet war, wie sie es etwa heute ist, und daß es sich für den Wissenschaftler damals genauso um die Erkenntnisse von Naturerscheinungen und Naturgesetzen handelte wie für den Wissenschaftler heute. Wir werden also an die Frage, die uns gestellt ist, am besten dadurch herangehen, daß wir nachsehen, ob wir nicht auch in der heutigen Wissenschaft Ansatzpunkte zu Situationen vorfinden, die den damaligen parallel sind. Und wir können uns dann die Frage vorlegen: was tun wir tatsächlich, wie verhalten wir uns im Sinne unserer Fragestellung heute?

Eine Parallelsituation in diesem Sinne haben wir schon ganz zu Anfang erwähnt: die sich auf dem Gebiet der Biologie abzeichnende Möglichkeit, die Erbstruktur der Organismen, vielleicht sogar des Menschen zu beherrschen. Wir sehen schon in diesem Beispiel wie auch in den folgenden die charakteristische Doppel-wertigkeit neuer Möglichkeiten, zum Guten wie zum Bösen hin: einerseits kann gar kein Zweifel sein, daß sich großartige wissenschaftliche und wirtschaftliche Möglichkeiten auftun — andererseits werden aber Dinge denkbar, die wir von unserem Menschenbild aus nur als entsetzlich bezeichnen können.

Ein anderes Beispiel: Der Physiker kennt heute die Möglichkeit, ungeheuer intensive, sehr scharf gerichtete Strahlen herzustellen.

Es tauchen damit neue Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung auf — aber auch der Gedanke an sogenannte Todesstrahlen erhält neue Nahrung.

Schließlich das zur Zeit gewaltigste Projekt, das der Weltraumfahrt, angefangen bei den Erdbegleitern, den schon so zahlreichen Satelliten, mit denen sich der Mensch in ganz neuer Weise zum Herrn der Erde gemacht hat, über die Mondfahrt bis zur Reise hinaus in den interplanetarischen Raum. Bei den Erdsatelliten ist die oben bemerkte Ambivalenz, die Doppelwertigkeit, schon voll und deutlich ausgeprägt. Einerseits bieten sich neue Möglichkeiten der Nachrichtenübermittlung, der Bildübertragung, der geographischen Ortung, der Wettervoraussage, insbesondere der Vorhersage von Wirbelstürmen — andererseits vielseitige Möglichkeiten zu militärischem Einsatz vernichtendster Art. Wenn wir aber weiter denken an die Fahrt zum Mond und weiter hinaus in das Planetensystem, so sind für diese Projekte, abgesehen von ihrer Prestigebedeutung im Wettkampf zwischen Ost und West, die bewertbaren Aspekte noch so unbestimmt und vage, daß sie kaum ins Gewicht fallen.

Es ist bemerkenswert, daß sich gerade zu diesen Projekten die Stimme eines großen Physikers, Max Borns, erhebt, der im Namen der Vernunft vor einer Weiterverfolgung dieser vorwitzigen Projekte warnt! Sie erhebt sich also gegenüber einem Projekt, welches heute noch gewissermaßen ein ethisches Vakuum darstellt, weil noch keine Seite seiner Doppelgesichtigkeit, weder zum Guten noch zum Bösen hin, irgendwie erkennbar geworden ist, während andererseits das deutliche Heraustreten dieser Doppelgesichtigkeit, wie es der normale Aspekt wissenschaftlicher Arbeit und Zielsetzung ist, eine solche ethisch eindeutige Bewertung auszuschließen oder zu verdrängen scheint. Wenn dies aber so ist, so muß der angesprochene Physiker fragen, woher er die ethischen Normen nehmen soll, nach denen er handeln soll. Was würden wir alle zu den Aposteln sagen, die uns in einer solchen Situation zurufen: haltet ein, denkt an das mögliche Verderben, seid Euch Eurer Verantwortung bewußt! Ein Befolgen dieses Rufes könnte zu nichts anderem führen als zur Einstellung jeder weiteren Forschungsarbeit. Nachdem wir uns überzeugt haben, daß es in der Wissenschaft auch heute Probleme gibt, die im Hinblick auf unsere Fragestellung denen bei der Entdeckung der Kernenergie ähnlich sind, daß es aber sehr schwer ist, von der Sache, vom wissenschaftlichen Gegenstand her die ethischen Normen zu gewinnen, wollen wir von dem persönlichen Verhältnis des Wissenschaftlers zu seiner Arbeit und von der Aufgabe sprechen, die er vor sich sieht. Hier stellte die Entwicklung der Atombombe doch, wie ich glaube, eine ganz besondere Ausnahmesituation dar. Denn damals stand schon ganz am Anfang eine eindeutige Aufgabenstellung, die schon mit aller Deutlichkeit mit dem negativen Vorzeichen des Zerstörerischen behaftet war. Das Besondere war weiterhin, daß diese Aufgabe schon gestellt wurde, bevor die wissenschaftliche Möglichkeit hierzu überhaupt gesichert war, so daß es Physiker selbst sein mußten, die die Waffe bauten, in einer ungeheuren, mit immensen Mitteln forcierten Entwicklung. Daß die ethischen Aspekte in dieser Situation trotzdem durchaus nicht eindeutig, sondern höchst komplex waren, davon haben wir schon gesprochen.

Der normale Fall sieht anders aus: der Physiker findet neue Erscheinungen, Zusammenhänge, Gesetze. Diese gehen in friedlichen Zeiten allmählich, wenn auch zunehmend schneller, in die technisch-wirtschaftliche Anwendung über. Sie werden außerdem, und das ist eine Folge der politischen Situation unserer Menschheit, laufend von militärischer Seite her beobachtet, untersucht, kombiniert und weiterentwickelt. Das geschieht durch Menschen, die ihrer Natur nach nicht mehr reine Wissenschaftler, sondern vielmehr Techniker und Funktionäre sind, die also nicht mehr in eigener Freiheit etwa einer Gewissensentscheidung arbeiten, wie wir es für den Wissenschaftler hier unterstellen. Ganz anders als bei der Entwicklung der Atombombe ist dann bis zu einer etwa zerstörerischen Anwendung solcher Ergebnisse der Abstand zwischen der Arbeit des reinen Forschers und dem Funktionär so groß und die Ambivalenz der ursprünglichen Ergebnisse so deutlich geworden, daß der Forscher nicht mehr mit einer einseitigen Verantwortung belastet wird. Es ist ja auch allzu offenkundig, daß dem Forscher die Ergebnisse längst aus der Hand genommen und in die Hände der Funktionäre übergegangen sind. Da diesen wiederum eine ethische Entscheidung nicht zugemutet wird und auch für uns heute nicht zur Diskussion steht, entfällt unser Problem.

Mir selbst ist dieser Übergang von wissenschaftlichen Ergebnissen in „fremde“ Hände in einer entscheidungsvollen Zeit besonders eindrucksvoll und bedrückend geworden. Ich denke an die Jahre um 1933 herum. Das Radio stand damals immerhin noch in seinen Kinderschuhen, eben hatte es der Physiker aus seiner Hand entlassen und betrachtete es im Grunde doch immer noch als seinen eigenen Besitz.

Und nun tönte aus einem solchen Apparat die Stimme eines Goebbels und entfesselte Massen und Mächte zu unabsehbaren Wirkungen.

Und diese Stimme ertönte mit einer Selbstverständlichkeit, die einen erschauern ließ und die einen spüren ließ, daß jene Stimme sich diesen Apparat, unseren Besitz, angeeignet hatte und ihn für ihre Zwecke einsetzte. Aber es war zu spät, der Physiker konnte seinen Besitz nicht wieder zurückholenl Vielleicht ist hier ein Wort am Platze über die Einsicht des Physikers in die Tragweite seiner Ergebnisse, also eine der grundlegenden Voraussetzungen für etwaige sittliche Entscheidungen. Es gibt natürlich Fälle, wo schon im Ausgangspunkt die ungeheure Tragweite der Ergebnisse wenigstens in Umrissen sichtbar wird. Die Kernspaltung und in ihrem Gefolge die Entwicklung der Kernenergie gehört zu diesen. Der normale Fall ist auch hier ein anderer. Die Wissenschaft ist heute so spezialisiert, daß der einzelne Wissenschaftler nur einen sehr begrenzten Teilaspekt bearbeiten kann. So können sich ganz besonders im Anschluß an unerwartete Ergebnisse, an die man vorher nicht gedacht hatte, bald weite Zusammenhänge und überraschende Möglichkeiten auftun, während dies in anderen Fällen vielleicht nicht eintritt. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die berühmte Entdeckung eines jungen deutschen Physikers, der sogenannte Mößbauereffekt, der in überraschender Weise die verschiedensten Gebiete der Physik mit neuen Methoden befruchtet hat, ein Beispiel für den zweiten Fall die Entdeckung der Nicht-erhaltung der Parität, ebenso wie die vorige mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, von viel grundsätzlicherer Natur als die zuerstgenannte, aber doch in ihren Auswirkungen auf einen schmalen Sektor begrenzt geblieben. Zu allermeist aber arbeitet der einzelne Physiker an einem ganz eng begrenzten Teil-problem, dessen vielseitige und weitgehende Verflechtung im Gesamtgefüge der Wissenschaft er sicher nur ein kleines Stück weit übersehen kann. Denken wir einmal, um nur ein Beispiel herauszugreifen, an die Entwicklung kleinster elektrischer Schalt-und Verstärkerelemente, wie man sie etwa in den Hörgeräten des menschlichen Ohres finden kann. Diese kleinen Elemente haben erst den Elektronenrechner in seiner heutigen Leistungsfähigkeit möglich gemacht, und ohne diesen wäre die heutige Raumfahrt nicht denkbar. Oder denken wir an irgendwelche Werkstoff-fragen: ein Werkstoff mit neuartigen Eigenschaften kann zum Beispiel eine völlige Umwälzung auf dem Gebiet der Raumfahrttechnik, aber auch auf vielen anderen Gebieten der heutigen Technik hervorrufen. Vielleicht aber werden diese Möglichkeiten erst offenbar, wenn man zwei Ergebnisse verschiedener Wissenschaftler kombiniert, die einzeln unter Umständen gänzlich uninteressant erscheinen. Wir sehen daraus: der einzelne Wissenschaftler ist einfach überfordert, wenn ihm eine Einsicht in alle möglichen Konsequenzen seiner Arbeit abverlangt wird. Auch hier bleibe ihm als Alternative nur die völlige Einstellung seiner Tätigkeit. Und wie ist es nun, wenn die Einsicht doch da sein sollte, mit der Zurückhaltungsmöglichkeit der Ergebnisse? Lassen Sie midi diese Frage, zu der es ein vielbeachtetes Bühnenstück, die bekannten „Physiker“ von Dürrenmatt, gibt, noch etwas zurückstellen und uns hier zunächst noch die Frage stellen, was wir von der tatsächlichen ethischen Einstellung großer Wissenschaftler ihrer Arbeit und Aufgabe gegenüber wissen.

Von Max Born und seiner apriori-Ablehnung der Raumfahrt haben wir schon gesprochen. Wir wollen noch einige Stimmen zu dieser Frage hören, die teils aus der Periode vor oder während der Verwirklichung einer solchen Aufgabe, teils aus der Zeit nach ihrem Abschluß stammen. Eine erste Stimme, vor der Verwirklichung, betrifft die Fahrt zum Mond. Ich habe vor ein paar Monaten in Amerika einen alten Freund getroffen, der dort der führende Mann in dem großen Projekt der Mondfahrt ist. Nachdem wir uns über Gegenwart und Zukunft unterhalten hatten, fragte ich ihn, ob er nicht vielleicht doch wieder zu uns in die Heimat kommen wolle, und er antwortete: Sehen Sie, hier stehe ich an dieser Aufgabe, ich kann sie nicht verlassen ... ja, wenn sie geschafft ist, später einmal, dann vielleicht ..., und es klang mir wie ein tragischer Ton in seiner Stimme. Ein anderes Zeugnis kennen wir von Enrico Fermi, dem Erbauer des ersten Atommeilers, der Voraussetzung für die Atombombe. Seine Frau berichtet über ihn in seiner Lebensbeschreibung, wie er fasziniert in der physikalischen Fragestellung aufging und wie die ethische Seite seines Tuns dabei überhaupt nicht an ihn herankam. Weiter denken wir an J. R. Oppenheimer, der auf den Ergebnissen Fermis aufbauend die Atombombe dann verwirklicht hat, der es aber aus ethischen Motiven abgelehnt hat, sich auch an der Entwicklung der Wasserstoffbombe zu beteiligen, und der auf Grund dieser Entscheidung auf Jahre hinaus entehrt und geschändet leben mußte, und an Edward Teller, der an seiner Stelle die Wasserstoff-bombe gebaut hat. Und schließlich denken wir an Otto Hahn, den Entdecker der Kernspaltung, der von seinem Kummer und den schlaflosen Nächten gesprochen hat, die ihm später seine Entdeckung bereitet hat.

Wenn Max Born seine Haltung gegenüber der Fahrt in den Weltenraum als die Haltung der Vernunft gegenüber dem maßlosen und neugierigen Intellekt bezeichnet, so spüren wir darin sehr wohl eine ethische Komponente — aber wir spüren auch, daß im Grunde jeder von uns immer noch die Freiheit eigener, auch andersartiger Entscheidung hat. Im zweiten Falle, den ich von der Fahrt zum Mond erzählt habe, spüren wir die tragische Besessenheit von einer Aufgabe, einer Besessenheit, die durchaus nicht ohne Konflikte ist und darum durchaus ethischen Gehalt hat, obwohl die Aufgabe selbst, wie wir gesehen haben, ethisch gewissermaßen noch nicht einmal valu-tiert ist. Wir sehen in diesem Wissenschaftler aber auch den obersten Exponenten eines Gemeinschaftswillens, und wir spüren, daß ein Mann an einer solchen Stelle so sprechen muß.

In Enrico Fermi schließlich haben wir endlich den Physiker gefunden, an den sich unser Appell von ethischer Verantwortung zu richten hätte. Wenn seine Frau Laura es richtig gesehen hat, so haben ihn Zweifel und Konflikte bei seiner Arbeit nicht erreicht, und wir müssen sagen, daß es sicher Menschen von breiterem seelischen Spektrum, daß es aber kaum bessere Physiker gibt als ihn. Ich brauche die Frage, ob man hätte versuchen sollen, ihn zu „missionieren" oder ob man ihn durch einen anderen hätte ersetzen sollen, nur zu stellen, die Beantwortung ergibt sich von selbst.

Und schließlich als Gegensatz Otto Hahn, der in der entscheidenden Arbeit letztlich die Frage untersuchte, ob eine gewisse chemische Substanz Radium oder Barium war, und das zweite bestätigte — womit die erste Atom-spaltung nachgewiesen war. Wir wissen, daß diese Entdeckung, wenn sie nicht durch Hahn gemacht worden wäre, wenige Wochen später von anderer Seite erfolgt wäre. Und nun ist Otto Hahn aufs tiefste bedrückt, daß mit seinem Namen dieser Vorgang verbunden ist, der die Grundlage der Kernenergie geliefert hat. Bei Fermi also der fasziniert arbeitende Physiker, ganz von seiner Aufgabe besessen, bei Hahn außerdem noch der fast über-sensible Mensch, als Forscher in das Menschheitsdrama der Erkenntnis verstrickt. Wir können ihm nicht helfen, aber wir spüren: Wer an der Aufgabe des Forschens steht, der muß bereit sein, seine Entdeckungen nicht nur zur Freude des eigenen Erkennens hinzunehmen, sondern als einen höheren Auftrag zu tragen. Wie-wenig der einzelne im Grunde bedeutet, haben wir mehrfach gesehen. Zuletzt noch ein Wort zu dem Schauspiel von Dürrenmatt. Es handelt von einem Physiker, der als einzelner die Grundformel gefunden hat, die das System aller Entdeckungen enthält, und der nun versucht, diese Entdeckung zu verheimlichen, indem er ins Irrenhaus geht. Er verläßt seine Familie, er stellt sich irrsinnig, ja er ermordet eine Krankenschwester, um sein Geheimnis zu wahren, nur eines tut er nicht, nämlich das einfachste und wirksamste, um sein Geheimnis zu bewahren, nämlich seine Notizen zu vernichten — und so kann es nicht ausbleiben, daß ihm das Ge30 heimnis entwendet wird, längst entwendet ist, während er noch immer den Irrsinnigen spielt. Ich möchte nun gar nicht von dem doch sehr blassen physikalischen Teil dieses Stückes reden, sondern nur das eine sagen: Es gibt weder eine solche Physik noch hoffentlich solch einen Physiker, und wenn es ihn gibt, dann ist er im Irrenhaus durchaus am richtigen Platz. Ich muß einfach gestehen, daß ich nicht recht sehe, was dieses Stück an wirklicher und echter Aussage enthält.

Wie verwickelt die Verhältnisse und Verknüpfungen zwischen wissenschaftlichen, ethischen und politischen Anliegen sind, erkennen wir an der Tatsache, daß eine nichtkonforme Gewissensentscheidung uns schon praktisch zu Agenten einer feindlichen Macht machen kann. Wir brauchen dazu nur an die Aktion „Spione für den Frieden" zu denken, die vor einiger Zeit in England großes Aufsehen erregt hat. Wir sehen daraus wieder einmal, was es für den einzelnen bedeutet, wenn er sein eigenes Wertgefüge demjenigen der Gemeinschaft, in der er lebt, einfügen kann. Wir sehen aber auch, wie verschieden dieses Wert-gefüge aussieht, je nachdem ob nur allgemein soziale und humane oder ob auch politische und nationale Komponenten darin eingefügt sind. Was für den einen Entscheidungen subjektiver Freiheit und freiwilliger Einsicht sind, das kann für den anderen untragbarer Zwang sein, dem er sich unter persönlicher Gefahr entgegenstellt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Helmut Volz, Dr. rer. nat., o. Professor und Vorstand des Institutes für Theoretische Physik an der Universität Erlangen; geb. 1. August 1911 in Göttingen. Veröffentlichungen zur Quantentheorie, zur Kernphysik und über Mehrkörperprobleme.