Vor mehr als einem Jahr führte eine Gruppe von Schriftstellern, als sich ihre konservativen Häupter gerade auf einer Rundreise durch die Provinzen befanden, in Moskau die geheime Abstimmung sehr geschickt zur Wahl von acht ihrer jungen und liberalen Mitglieder in den Vorstand der Moskauer Schriftsteller-organisation. Zwei führende Konservative wurden abgewählt und drei andere erst gar nicht zur Wiederwahl aufgestellt. Gekränkt zog sich die alte Garde nach Rostow am Don zurück, dem Sitz der reaktionärsten Schriftstellerorganisation der UdSSR, um sich von ihrer Niederlage zu erholen und auf Rache zu sinnen.
„Ein solcher Schmerz hat meine Seele ergriffen", sagte Leonid Sobolew, der Vorsitzende der Schriftstellerorganisation der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, „daß ich nicht umhin kann, ihm Ausdruck zu verleihen". Die konservativen Schriftsteller, so kündigte er an, würden ihre Rache nehmen und zwar „von einer Parteistellung in der Literatur aus"
Nach weniger als einem Jahr, im März 1963, schienen die Konservativen Rache genommen zu haben. Doch gerade deshalb, weil sie sie „von einer Parteistellung in der Literatur" aus genommen hatten, scheinen sie ebenso wie die Liberalen zu immerwährender Enttäuschung verurteilt zu sein. Denn wie Ereignisse in jüngster Zeit immer deutlicher gezeigt haben, ist es die Politik der sowjetischen Kommunistischen Partei, sich zuerst der Linken, dann der Rechten zu bedienen, beide für ihre Ziele zu nutzen, niemals die Kontrolle aus der Hand zu geben und sich niemals auf die eine oder andere festzulegen.
Gewiß, bis zum letzten Herbst hatten die Liberalen in Kunst und Literatur eine solche Reihe von Erfolgen errungen, daß sich ihrer möglicherweise jenes kommunistische Gefühl des Erfolgsrausches bemächtigt hat. Auf dem Gebiet der Kunst waren einige Bücher und Artikel erschienen, in denen moderne, ja sogar abstrakte Trends in der Malerei vertreten wurden. Es hatten sogar gelegentlich Ausstellungen moderner Malerei und Plastik stattgefunden. An der literarischen Front waren die Erfolge der Liberalen noch augenfälliger und sogar noch weitreichender gewesen. Im Jahre 1962 waren mindestens zwei Versuche der Konservativen vereitelt worden, die liberale Moskauer Schriftstellerorganisation aufzulösen. Gegen Ende des gleichen Jahres wurden Jewgenij Jewtuschenko und Wassilij Aksjonow, beides Symbole eines Geistes jugendlicher Liberalisierung, in den Herausgeberstab der Zeitschrift Junost gewählt. In einer Vollsitzung des Vorstandes der Moskauer Schriftstellerorganisation Ende September hielt der Kritiker Alexander Borschtschagowskij eine mannhafte Rede zum Lobe der Jungen
Nach den Gründen für Achmadulinas Frohlocken brauchte man nicht weit zu suchen. Für eine ganze Generation von Schriftstellern, die noch vor wenigen Monaten als moralische und politische Jugendverderber gegeißelt worden waren, schien jetzt eine Amnestie erlassen worden zu sein Im Rahmen dieser Amnestie konnten die Kritiker nach ihrem freien Belieben über die literarischen Verdienste dieser Schriftsteller schreiben. Sie durften jedoch deren politische Motive nicht öffentlich und schriftlich erörtern. Diese Amnestie schien zu bedeuten, daß die Kommunistische Partei jetzt eindeutig im liberalen Lager stand.
Und trotzdem hat es während des ganzen Sommers und Herbstes Anzeichen dafür gegeben, daß der konservative Impuls in der Kunst keinesfalls erloschen war, mochte er auch eine Schlappe erlitten haben. Im Juli veröffentlichte die partei-theoretische Zeitschrift Kommunist einen nicht unterzeichneten Artikel „Uber die Haltung zum literarischen Erbe" von A. W. Lunatscharskij. Ohne Namen zu nennen, schien sich der Artikel gegen Männer wie Ilja Ehrenburg zu richten, die die Ansichten von Lenins Kommissar für Volksbildung zitiert hatten, um eine nachsichtige Politik der Partei in der Kunst zu rechtfertigen. Im gleichen Monat Juli druckte die literarische Zeitschrift Swesda einen groben, politisch motivierten Angriff auf den angeblichen „Linksdrall" des 29jährigen Dichters Andrej Wosnesenskij. Als der erste liberale Band der Kleinen Literatur-Enzyklopädie im Sommer erschien, deren verantwortlicher Herausgeber Alexej Surkow war, wurde er zuerst mit Lob, dann mit Kritik und zuletzt seltsamerweise mit Schweigen ausgenommen. Und schließlich wurde der Tag der Dichtung, der gewöhnlich am ersten Sonntag im Oktober gefeiert wird, merkwürdigerweise verschoben und erst am 16. Dezember begangen.
Es bestehen wenig Zweifel darüber, daß diese widersprüchlichen Trends in der Literatur, ein liberaler und ein konservativer, eine viel tiefer-greifende Spaltung in der politischen Sphäre widerspiegelten — vor allem den Kampf der aus der Stalin-Ära übriggebliebenen Bürokraten um die Erhaltung ihrer bisherigen Machtposition. Am 21. Oktober veröffentlichte die Prawda ohne große Vorwarnung ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko mit dem Titel „Stalins Erben". In diesem Gedicht forderte Jewtuschenko die Kommunistische Partei auf, die Wache an Stalins Grab „zu verdoppeln und zu verdreifachen, damit Stalin und mit ihm die Vergangenheit nicht wiederauferstehe". Der Autor des Gedichtes und diejenigen, die es zu veröffentlichen beschlossen, beabsichtigten vielleicht, einen Schlag zu führen nicht nur gegen die Erben Stalins im allgemeinen, sondern gegen einen im besonderen. Ein Absatz des Dichters lautet: „Nicht ohne Grund erleiden die Erben Stalins oft Herzanfälle." Das prominenteste Mitglied des Führungsgremiums, von dem man weiß, daß er einen Herzanfall erlitten hat, war Frol R. Koslow
Im November erschien dann in der Literatur-zeitschrift Nowyj mir eine bemerkenswerte, mit dem Stilmittel der Untertreibung arbeitende Geschichte „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch". Die Geschichte war eine erregende Beschreibung des Lebens in einem sowjetischen Gefangenenlager unter Stalin und mußte notwendigerweise in der Öffentlichkeit das Gefühl heraufbeschwören, daß diejenigen, die für die Verbrechen der StalinÄra verantwortlich waren, jetzt zur Rechenschaft gezogen werden müßten. Ihre Veröffentlichung schien ein Zeichen dafür zu sein, daß die Entstalinisierung jetzt gründlicher als je zuvor durchgeführt würde. Es schien zu bedeuten, daß im ganzen Lande die Posten und vielleicht sogar die Leben derjenigen in Gefahr waren, die den Terror unterstützt hatten
Inzwischen wuchs eine weitere Gefahr für die Stalinisten schnell heran. Als das Zentralkomitee der KPdSU am 19. November zusammentrat, ordnete es eine umfassende Überholung des gesamten Wirtschafts-und politischen Apparats des Landes an. Auch das schien teilweise darauf abzuzielen, die engstirnigen und unproduktiven Erben Stalins im Interesse einer größeren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aus ihren Posten zu vertreiben. Eine alte Debatte über die relative Bedeutung wirtschaftlicher und ideologischer Faktoren in einer sozialistischen Gesellschaft war bereits wieder eröffnet worden
Daß er auch die führende Rolle bei der Wiedereröffnung der Anti-Stalin-Kampagne in der Literatur gespielt hat, trat in der Sitzung des Zentralkomitees zutage. In einer Rede am 23. November enthüllte Chruschtschow, daß er es gewesen war, der die Veröffentlichung von Jewtuschenkos „Stalins Erben" und Solshenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch" autorisiert hatte. Andere Mitglieder der sowjetischen Führung hatten Auslassungen in der Geschichte vorgeschlagen, wie er bekanntgab, aber er hatte sie überstimmt mit dem Argument, „daß niemand das Recht habe, die Version des Autors zu ändern"
Chruschtschows Rede war nie veröffentlicht worden. Nur wenige Tage, nachdem er sie gehalten hatte, schien er selbst eine gänzlich entgegengesetzte Politik gegenüber der Kunst einzuleiten. Die letzte Novemberwoche war in der Tat eine jener rätselhaften Perioden, in der ein Trend, der im Anwachsen begriffen zu sein schien, ebenso wie eine Welle, die gerade ihren Kamm gebildet hatte, plötzlich wieder in gefährliche Tiefen absinkt. Für diejenigen, die sich mit den Verhältnissen in der Sowjetunion befassen, ist das eine vertraute Erscheinung. Als sich die Vollversammlung vertagte, gab sie bereits die Bildung einer besonderen ideologischen Kommission des Zentralkomitees unter Leitung von Leonid Iljitschew bekannt. Zweck dieser neuen Kommission war, dafür Sorge zu tragen, daß in der bevorstehenden Zeit der Wirtschaftsreformen die ideologische Aktivität nicht vernachlässigt, sondern vielmehr belebt würde.
Inzwischen hatten die Erben Stalins, in der Hoffnung, ihre Position zurückzuerobern, eine Initiative ergriffen. Während das Zentralkomitee vom 19. bis 23. November tagte, erhielt es eine Petition „von einer großen Gruppe von Künstlern", die sich über zunehmende „formalistische Trends in der Kunst“ beklagten und die Partei baten, einzugreifen. Dies war der erste Schritt einer langen Serie, mit der die Konservativen der Partei den neuen liberalen Trend in der Kunst und Literatur zerstören wollten in dem Bemühen, dem Entstalinisierungsprozeß Einhalt zu gebieten und das Gleichgewicht der Macht innerhalb des Parteipräsidiums zu stören. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß ihnen dabei der erfolgreiche Widerstand der Amerikaner gegen Chruschtschow in Kuba Ende Oktober und die wachsende Kritik an Chruschtschows Politik von Seiten Chinas zu Hilfe kamen. Betrachten wir einmal das zweite Glied der Kette, die zur Aktion führte.
Kunst im Dienste der Partei
Am Abend des Montag, des 26. November, wurde eine halbprivate Kunstausstellung, die nach Moskauer Maßstäben avantgardistisch war, in dem scheunenartigen Studio des 38jährigen Kunsterziehers Eli Beljutin eröffnet. Eine kleine Anzahl westlicher Korrespondenten, sowjetische Kulturfunktionäre und mehrere hundert Moskauer Bürger, die besondere Einladungen erhalten hatten, waren anwesend. Weitere Hunderte warteten draußen, in der Hoffnung, noch Einlaß zu finden. Es wurden etwa 75 Bilder gezeigt, die von Schülern Beljutins in abstraktem oder halb-abstraktem Stil gemalt waren. Das galt auch für die Werke des Bildhauers Ernst Neiswestnyj. Die Ausstellung, zu der die Öffentlichkeit nicht zugelassen war, währte nur wenige Stunden. Rückblickend muß man sie als perfektes Beispiel dafür ansehen, warum es die Strategie der sowjetischen Liberalen in den letzten Jahren war, jeden Schritt nach vorwärts sorgfältig abzuwägen. damit er es nicht ist, der eine Rückkehr zu Methoden der Vergangenheit heraufbeschwört. Am Abend des Donnerstag, des 29. November, sollte eine zweite Ausstellung moderner Kunst im Junost-Hotel in Moskau stattfinden. Einige Stunden vor der Eröffnung wurde die Ausstellung mysteriöserweise verschoben. Später wurde sie gänzlich abgesagt. Inzwischen wurden die Arbeiten des Beljutin-Studios plötzlich in die riesige Manesh-Galerie beordert, wo eine Ausstellung, eine Rückschau auf „Dreißig Jahre Moskauer Kunst" mit 2 000 Bildern und Skulpturen in jetzt üblichen Variationen des offiziellen, sozialistisch-realistischen Stils, seit fast einem Monat geöffnet war. Die Beljutinschen Arbeiten wurden nicht zusammen mit den übrigen Werken, sondern in drei separaten Räumen ausgestellt. Die Maler der Schule Beljutins hatten keine Ahnung, warum ihre gesamten Arbeiten in die Manesh-Galerie gebracht worden waren
Am Nachmittag des Samstag, des 1. Dezember, stattete N. S. Chruschtschow zusammen mit vier Mitgliedern des Präsidiums und mehreren Mitgliedern des Parteisekretariats der Manesh-Galerie einen überraschenden Besuch ab
Wie jeder, der Chruschtschow bei Besuchen westlicher Ausstellungen beobachtet hat, weiß, scheint er moderne Malerei und Bildhauer-kunst im Gegensatz zu funktioneller Architektur aufrichtig zu verabscheuen. Diejenigen, die seinen Besuch in der Manesh-Galerie angeregt hatten und mit abträglichen Bemerkungen über die moderne Malerei neben ihm standen, rechneten demnach wahrscheinlich mit einem Ausbruch von Schmähungen seinerseits und wollten diesen Besuch für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. In der Nach-Kuba-Stimmung, in der die Befürworter einer gemäßigten Politik auf allen Gebieten in der Defensive waren, waren diese Konservativen bereit, die Konsequenzen sehr weit zu treiben. Hinsichtlich des Zeitpunktes hatten sie Glück. Die Panik, die über „Iwan Denisowitsch" bei ihnen ausgebrochen war, fiel zeitlich sehr günstig zusammen mit einem partei-internen Zurückweichen nach Kuba.
So war also wenige Stunden nach Chruschtschows Ausfällen in der Manesh-Galerie die Kampagne für „ideologische Reinheit" in der Kunst bereits im Gange. Die Zeitungen brachten Leitartikel, in denen u. a. gefordert wurde, daß alle Vereinigungen von Künstlern, Schriftstellern, Komponisten, Film-und Theaterschaffenden zu einer einzigen zusammengeschlossen würden, um in Zukunft Abweichungen zu verhindern.
Bürokraten der alten Zeit traten wieder in Erscheinung, und einige wurden in wichtige Ämter gewählt. Aber auch die Liberalen unternahmen etwas. Ohne sich von der Möglichkeit abschrecken zu lassen, daß sie später einmal der Verfolgung eigensüchtiger Interessen angeklagt werden könnten, richteten mindestens drei Gruppen von Intellektuellen jetzt Protest-petitionen an das Zentralkomitee 12). Eine Gruppe junger abstrakter Maler erklärte in einem Brief, daß sie ihren Weg in der „sozialistischen Kunst" suchten und daß es ohne solches Suchen keinen Fortschritt geben könne. Eine Gruppe von 17 hervorragenden Künstlern und Wissenschaftlern bat Chruschtschow in einer Botschaft, die sie direkt an ihn richteten, „dem Zurückgreifen auf Methoden der Vergangenheit in der darstellenden Kunst Einhalt zu gebieten, da sie dem Geist unserer Zeit fremd seien"
Reden und Diskussionen
In einer Zusammenkunft am 17. Dezember im Pionier-Palast auf den Lenin-Hügeln zwischen Parteiführern und 400 Schriftstellern, Künstlern und anderen Intellektuellen erreichte die erste Phase der neuen Kampagne einen Höhepunkt. Chruschtschow hielt eine Ansprache, die nicht veröffentlicht wurde. Die Hauptrede jedoch, die 10 Stunden gedauert haben soll, hielt Iljitschew. Die Kunst, so sagte er, müsse militant sein. Sie müsse „den Geist der Kommunistischen Partei" einschärfen. Der Künst-ler habe keinen Anspruch auf eine eigene Sicht der menschlichen Natur. Er habe kein Recht, Schwächen zu verzeihen oder einem „abstrakten Humanismus" zu frönen. Doch das wirklich Auffallende an Iljitschews Rede war ihre defensive Note. „Es wird für unbequem und unmodern erachtet, korrekte Parteistandpunkte zu vertreten. Man könnte in den Ruf gelangen, so etwas wie ein Reaktionär und ein Konservativer zu sein." Unbeabsichtigt enthüllte er, welchem Druck das Regime ausgesetzt war, eine größere Freiheit des Ausdrucks zu erlauben. Es gäbe Leute, gestand er ein, die das Ende der Zensur forderten: „Ausstellungen ohne Jury, Bücher ohne Herausgeber, das Recht des Künstlers, ohne Mittelsmann auszustellen, was er wünscht. „Laßt uns schöpferisch sein, wie wir es wünschen', sagen diese Leute. . Erlegt uns keine Beschränkungen auf."
Immer wieder beklagte er — es war fast so etwas wie sein Leitmotiv — den Einfluß des Westens auf die sowjetische Kunst. Damit zeigte er, wie empfänglich die Partei für die Anerkennung ihres künstlerischen Exports im Ausland ist, und wie geschickt die Liberalen ihren Ruhm im Westen genutzt haben, um ihre Stellung im eigenen Lande zu verbessern.
Verglichen mit derartigen Reden der Vergangenheit war jedoch Iljitschews Ton, jedenfalls in dem veröffentlichten Text, sanft. Er vermied nicht nur, die Motive des modern gesinnten Intellektuellen fragwürdig erscheinen zu lassen, sondern gab sogar im einzelnen zu, daß er „sich vielleicht im Kriege eingesetzt und gute Absichten haben mag." Einige der zwanglosen Aussprachen während der Versammlung — von denen die Außenwelt dann später erfuhr — sind bemerkenswert dessentwegen, was sie von Chruschtschows Gefühlen offenbarten und was sie über den Widerstand der Intellektuellen gegen die Einmischung seitens der Partei besagen. So führte Ilja Ehrenburg die Fälle Picasso und Majakowskij an, um zu zeigen, daß moderne Künstler nicht, wie die Partei hartnäckig behauptet, politische Reaktionäre zu sein brauchen
Die Tatsache, daß Schostakowitsch das Gedicht Jewtuschenkos „Babij Jar" zum Thema für den ersten Satz seiner neuen Dreizehnten Symphonie gewählt hatte, war für Chruschtschow Anlaß zu einem heftigen Ausfall gegen den Antisemitismus. Es gebe keinen Antisemitismus in der Sowjetunion, erklärte Chruschtschow.
Trotzdem sei es besser, wenn Juden keine hohen Regierungsposten inne hätten, um keine Ressentiments im Volke zu wecken. Chruschtschow fügte hinzu, daß seiner Meinung nach die Unruhen in Polen und Ungarn im Jahre 1956 nur auf die große Zahl von Juden in hohen Stellungen zurückzuführen waren. Nach diesen Bemerkungen erhob sich eine solch mißmutige Unruhe im Saal, daß Chruschtschow später zu Ehrenburg ging und ihm versicherte, daß sich seine Worte nicht gegen ihn persönlich gerichtet hätten. „Sie müssen verstehen", sagte Chruschtschow, „daß ich als Berufspolitiker die Dinge so nehmen muß, wie ich sie finde, und vor Gefahren warnen muß."
Am 24. und 26. Dezember hielt Iljitschew im Sitz des Zentralkomitees mit 140 Schriftstellern, Künstlern und Filmschaffenden eine Versammlung ab. In seiner Rede wandte er die Methode an
Sogar während Iljitschew mit Künstlern und Schriftstellern gleichzeitig zusammentraf, wurde ganz deutlich ein kleiner Kampf ausgefochten zwischen Gemäßigten, die immer noch hofften, die Kampagne auf die Kunst beschränkt zu sehen, und Extremisten, die sie auch auf die Literatur ausdehnen wollten, die wegen ihrer Rolle bei der Entstalinisierung, stets Ziel ihrer Angriffe gewesen war. So erschien am 25. Dezember ein Artikel des konservativen Kritikers Sergej Barusdin auf der ersten Seite der Literaturnaja gaseta, in der die Zeitung aufgefordert wurde, den Künstlerverband und die Kunstakademie nicht länger des Liberalismus zu bezichtigen, sondern vielmehr anzu
Unterstützung in der Partei hatten, darum kämpften, sich zu behaupten. So veröffentlichte z. B. am 28. Dezember die Prawda Jurij Kasakows „Ein leichtes Leben", die Geschichte eines Tunichtgut in Sibirien. Daß die Geschichte gerade zu diesem Zeitpunkt und noch dazu in der Prawda erschien, war auffallend. Denn es war in literarischen Kreisen Moskaus wohlbekannt, daß ein Verleger nach dem anderen Kasakows Geschichte, die schon im Jahre 1957 geschrieben war, abgelehnt hatte, weil die Moral des Helden allzu verschwommen war für eine Literatur, die immer noch für sich in Anspruch nahm, der erzieherischen Richtschnur des sozialistischen Realismus treu zu sein.
Am Neujahrstag trat der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, Konstantin Fedin, öffentlich dafür ein, daß man die Literatur verschone. „Extremismus", so argumentierte Fedin, „habe es dort im Vergleich zu den Schönen Künsten so gut wie nicht gegeben. Wenn es jetzt zu einer . Kampagne'oder . außerordentlichen Maßnahmen'kommen sollte, wären Schriftsteller nicht in der Lage, . einen neuen Schritt vorwärts zu machen’." Außerdem würde eine Kampagne „das Übel nur nach innen verdrängen" 24). Zwei Tage später veröffentlichte die Prawda einen erstaunlich offenen Brief aus der Feder des ehrwürdigen Kornej Tschukowski, des Leninpreisträgers für Literatur von 1962, zum Lobe der jungen Schriftsteller.
Der Januar war im großen und ganzen gekennzeichnet durch ein Paradoxon, es war eine Zeit offensichtlicher Unentschlossenheit in der Führungsspitze. Die Presse reservierte ihr Pulver ausschließlich für den Kampf gegen den „Formalismus" in den Schönen Künsten. Schriftsteller wurden weniger als solche, sondern vielmehr als Befürworter moderner Kunst kritisiert 25). Trotzdem wurde am 17. Januar im Puschkin-Museum eine Ausstellung mit 300 Bildern des französischen Malers Fernand Leger eröffnet, eines Abstrakten, der außerdem den Anstand besaß, Kommunist zu sein. Sie war drei Monate lang geöffnet, ehe die Bilder wieder nach Paris zurückgeschickt wurden. Die jungen Dichter hielten so viele öffentliche Dichterlesungen ab wie möglich, und dem viel kritisierten Bulat Okudshawa wurde erlaubt, in einem Vortragsabend mit seiner Gitarre im Sportpalast eine Menge von 10 000 Menschen zu unterhalten. Valentin Katajew und der Bühnenschriftsteller Viktor Rosow reisten wie vorgesehen nach den USA ab, und Jewtuschenko fuhr nach Westdeutschland und Frankreich. Vor seiner Abreise gab er noch eine recht trotzige Äußerung von sich
In den Schönen Künsten machten sich Anzeichen hartnäckigen Widerstands bemerkbar, sogar von Seiten der Öffentlichkeit, von den Künstlern selbst ganz zu schweigen. In einer Komsomol-Versammlung in der Moskauer Universität Ende Dezember wurde Jewgenij Kazman, ein Funktionär des Künstlerverbandes, ausgepfiffen, als er versuchte, den Studenten die neue Linie zu erläutern. Kunst-funktionäre, die mit einer ähnlichen Mission wie die Kazmans durch das Land reisten, fanden manchmal bei den Zuhörern eine recht kühle Aufnahme, manche sogar eine ausgesprochen feindselige. Sogar von so entlegenen Orten wie Irkutsk kamen Berichte von scharfen Debatten, in denen Studenten sehr heftig den westlichen Abstraktionismus und die avantgardistische Kunst Rußlands der zwanziger Jahre verteidigten. Sogar Kunstfunktionäre zeigten Anzeichen von Widerstand. So hielten sich z. B. Mitglieder des Leninpreis-Ausschusses ostentativ fern, als ein Gemälde von Wladimir Serow, „Mit Lenin", zur Diskussion gelangte.
Während sich die meisten Schriftsteller standhaft in ihrer Opposition erwiesen, als später die Kampagne mit ganzer Wucht gegen sie geführt wurde, so waren es die bildenden Künstler, die sich am schweigsamsten und hartnäckigsten zeigten. Da sie weniger Erfolg gehabt hatten als die Schriftsteller und während der ganzen Nach-Stalin-Ära in geringerem Maße eine öffentliche Rolle gespielt hatten, sind sie vielleicht nicht so sehr mit einem Gefühl der Verantwortung belastet gewesen. Da sie in den letzten Jahren geringere Hoffnung hatten, durch geschicktes Manövrieren die Uhr des Fortschritts vorstellen zu können, hatten sie sich leichter damit abgefunden, nur „für die Schublade" zu malen und ihre Zeit abzuwarten. So besaßen sie eine besondere Immunität gegen Erpressung oder Versuchung. Es gab nur wenige und vereinzelte, die zu Kreuze krochen.
Erst sechs Wochen nach der Partei-Wallfahrt zur Manesh-Galerie konnte ein einziger der jungen Maler, die Chruschtschow dort kritisiert hatte, überredet werden, in der Prawda (in der Ausgabe vom 14. Januar) mit so etwas wie einem Widerruf vor die Öffentlichkeit zu treten. Diese Erklärung von Andrej Wasnezow war kaum ein Beweis von Zerknirschung.
Wasnezow lobte die jungen Kollegen, die der Kritik Chruschtschows anheimgefallen waren. Matisse, Picasso und Leger bezeichnete er als „große Künstler". Er nannte die Arbeit junger Maler eine „natürliche Reaktion" auf die „Schwülstigkeit, Gelacktheit und Seelenlosigkeit" der Stalinistischen Kunst und erklärte, daß „ein neuer Inhalt nicht immer in alte Formen passe". Daß sogar die Prawda eine solche Erklärung veröffentlichte, zeigte die Schwierigkeiten, die die Partei mit den Künstlern hatte und noch hat.
Angriff von rechts
Gegen Ende Januar nahm die Kampagne eine scharfe Wendung. Von jetzt an richtete sie sich vornehmlich gegen die Schriftsteller. Diese Wende trat am 20. Januar ein, als die Iswestija einen scharfen anonymen Angriff auf den 52jährigen Viktor Nekrasow wegen seiner Reisenotizen über Italien und Amerika druckte
Der Vorwurf der pro-westlichen Einstellung, der bereits zu einem Hauptthema der Kampagne geworden war, wurde einige Tage später erneut in einem Gedicht von Nikolaj Gribatschjow in der Prawda erhoben, das den Titel trug „Nein, Jungens!"
„Der Teufel weiß, was sie auf ihre Leinwand schmieren und sich in ihren Versen birgt.
Sie bieten uns des Auslands Ware als wiese sie den Weg zu höchstem Ruhm.“
Die Formel geht etwa so weiter: Sowjetische „Söhne" sind undankbar gegenüber ihren „Vätern", die um ihretwillen Krieg und Revolution auf sich nahmen. Gribatschjow brachte dann die drei — die „Söhne", „abstrakte Kunst" und den „Westen" — in der Person Jewtuschenkow auf einen Nenner. An ihn richtete er eine Warnung, die fast wie eine Ankündigung des bevorstehenden Unheils klingt:
„Da ist dieser schreckliche Augenblick im Ausland, als Du ausgeglitten warst — und Du bist schon eine Waise, gehörst nicht mehr unter die Rote Fahne ...
Du bist allein . ..
der Verachtung Deiner Kameraden ausgeliefert. Auf diese Weise sind viele der Vergessenheit anheimgefallen.
Das Licht ihrer Seele erlosch, ohne Spuren zu hinterlassen.
Keine Zeile mehr, kein Echo ihrer Lieder, nicht einmal ihre Tränen haben uns je wieder erreicht.“
Der stark nationalistische Geist von Gribatschjows Gedicht war von da an ein wichtiger Bestandteil der Kampagne gegen die Schriftsteller. Das Anfangsstadium der Literatur-Kampagne erreichte einige Tage später seinen Höhepunkt, als die Iswestija 30) einen vernichtenden Angriff von Jermilow auf Ilja Ehrenbürg brachte, hauptsächlich wegen dessen Behauptung, die sich in seinen in Nowyj mir veröffentlichten Memoiren findet, daß er und andere Sowjetbürger in den dreißiger Jahren sehr wohl gewußt hätten, daß Millionen von Opfern Stalins unschuldig waren, daß sie aber gezwungen gewesen wären, „die Zähne zusammenzubeißen" und zu schweigen
Die Iswestija druckte die Antwort Ehrenburgs, allerdings zusammen mit einem neuen Angriff Jermilows und einer Anmerkung der Herausgeber, in der dieser Angriff unterstützt wurde. Jermilows Angriff wiederholte seine früheren Unterstellungen: entweder log Ehren-burg oder er hatte „besondere Einsicht" oder genoß „besonderen Vorteil" in den dreißiger Jahren. Mit einem solchen „Vorteil" konnte nur die Protektion durch Stalin selbst gemeint sein. Zum wenigsten war dieses Gefecht ein Versuch, einen führenden Liberalen der älteren Generation als Feigling oder Lügner hinzustellen
Unmittelbar nach dem ersten Angriff auf Ehrenburg ging die Iswestija dazu über, zwei weitere Angehörige der älteren Generation zu geißeln, die die talentierten, aber heißspornigen Jungen protegiert hatten
Auf der anderen Seite ihres doppelt geführten Angriffs nahm sich die Iswestija Polewoi vor, weil er in die Januar-Ausgabe von Junost „banale kleine Verse über Italien" des talentierten Andrej Wosnesenskij „hineingezwängt" habe. Entgegen den Erwartungen vieler, die ihn gekannt hatten, ehe das Tauwetter von 1959— 1962 alle außer den Eisigsten zum Schmelzen gebracht hatte, entschuldigte sich Polewoi nicht. Statt dessen leugnete er, daß die-Verse „banal" seien und meinte, die Iswestija hätte ihre Kritik direkt an Wosnesenskij und nicht allein an den Herausgeber richten müssen
In der zweiten Februarhälfte trat das ein, was ein Beobachter als „einen Waffenstillstand" bezeichnet hatte, „bei dem jedes Lager seine Position behauptet". Eine Zeitlang unterblieben Angriffe der extremen Konservativen (z. B. ein heftiger Angriff, den Jermilow gegen Viktor Nekrasow vorbereitet haben soll, wurde nicht gedruckt
Die Situation Anfang März konnte folgendermaßen kurz zusammengefaßt werden: Die talentierteren Schriftsteller und Künstler forderten ein begrenztes Recht auf formale Experimente und ein Recht auf eigene Gedanken.
Wenige lehnten das Ideal des Kommunismus als solches ab. Wenn die Partei auf ihrem Recht bestand, Schiedsrichter des intellektuellen Gewissens zu sein, hatte sie es nicht mehr wie in den „frostigen" Jahren 1954 und 1957 nur mit einigen wenigen schöpferischen Künstlern zu tun. In Dichterlesungen und Kunst-ausstellungen waren die wenigen Kunstschöpfenden jetzt in Kontakt mit Zehn-vielleicht Hundertausenden von Intellektuellen gekommen, darunter mit vielen Jugendlichen, und das Verständnis für ihre Werke hatte sich verbreitet. Durch die Publizität — der größten seit den Shdanow-Säuberungen der Jahre 1946 bis 1948 —, mit der die Partei den Angriff geführt hatte, hatte sie nur dazu beigetragen, Neugier und Sympathie zu wecken. So blieb nach Chruschtschows Ausfällen in der Manesh-Galerie die Ausstellung selbst geöffnet und wurde anschließend noch zahlreicher besucht als zuvor. Scherzhaft wurde gesagt, daß der Angriff des Ministerpräsidenten auf Neiswestnyj dem Bildhauer mehr wertvolle Publizität verschafft habe, als es jede Ausstellung hätte tun können
Der Höhepunkt der Kampagne
So war es denn eine sorgenvolle Versammlung von 600 Schriftstellern, Künstlern und anderen Intellektuellen, die am 7. März in der Swerdlow-Halle des Kreml zusammen gekommen waren, um wieder einmal den Parteiführern zuzuhören. Jewtuschenko hatte am 28. Februar in Paris ein dringendes Telegramm erhalten, in dem er zu dieser Versammlung zurückbeordert wurde. Er flog am 4. März ab, dem letzten Termin, um noch rechtzeitig nach Moskau zu gelangen. Etwaige Zweifel an der Stimmung der Intellektuellen werden beseitigt durch das in der Prawda veröffentlichte Bild mit seiner Reihe von finsteren Gesichtern und ängstlichen Händen, die die Worte der Sprecher genau mitschreiben.
Iljitschew war der erste wichtige Redner
Der Hauptangriff in Iljitschews Rede war gegen Ehrenburg gerichtet. Ebenso wie Jermilow beschuldigte er den älteren Schriftsteller, die besondere Protektion Stalins genossen zu haben. Hatte nicht Ehrenburg, so fragte er, indem er einige Zeilen von Ehrenburgs Prosa zitierte, Stalin im Jahre 1951 gepriesen? Als ob er vorbeugen wollte, daß diese Waffe einmal gegen ihn selbst gerichtet würde, fügte Iljitschew hinzu: „Wir alle sprachen und schrieben damals in dieser Weise, ohne deshalb Heuchler zu sein. Wir glaubten, was wir schrieben. Aber Sie, so erweist sich jetzt, haben nicht geglaubt, was Sie schrieben. Das sind unterschiedliche Positionen!"
Ehrenburg zog es vor, auf den böswilligen Angriff Iljitschews nicht zu antworten, ebenso-wenig auf diejenigen, die noch folgten. Unmittelbar nach der Rede zog er sich auf seine Datscha außerhalb Moskaus zurück. Dort verlebte er anscheinend mehrere Wochen in aller Abgeschiedenheit. Ehe er jedoch die Kreml-halle verließ, sprach er einem Angehörigen der jüngeren Generation gegenüber aus, daß er seine Hoffnungen begraben hätte: „Ich werde nie die Blüte der sowjetischen Künste erleben", sagte er traurig, „aber Sie werden es — in zwanzig Jahren." Angesichts der Bestürzung unter den in der Halle anwesenden Russen folgerte ein ausländischer Beobachter, es sei schwer zu sagen, ob die Prophezeiung im optimistischen oder im pessimistischen Sinne falsch war
In Iljitschews Angriff auf Ehrenburg fielen auch noch andere ein. So z. B. Scholochow, der auf der Rednertribüne erklärt haben soll: „Ich habe Ehrenburg seit langem kritisieren wollen"
Hauptredner der zweitägigen Versammlung war N. S. Chruschtschow
Wußten sie aber, daß Leute verhaftet wurden, die in keiner Weise schuldig waren? Nein! Sie glaubten Stalin, und es kam ihnen gar nicht der Gedanke, daß ehrenhafte Leute, die unserer Sache treu ergeben waren, unterdrückt werden könnten"
Fast mit einem einzigen Schlag enthüllte er seine Empfindlichkeit in der Frage der Verbrechen Stalins und widersprach seinen eigenen Behauptungen, er habe nichts davon gewußt. Weil es glücklicherweise keine „JaMänner" gegeben habe, so prahlte er, seien größere Säuberungsaktionen in Moskau und in der Ukraine genau zu dem Zeitpunkt verhindert worden, als er an der Spitze der Moskauer bzw.ukrainischen Parteiorganisation stand. Indem er den Anfang von Stalins Irrtümern auf 1934 vordatierte (erst wenige Wochen vorher hatten Parteihistoriker seine Irrtümer auf die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts datiert), rehabilitierte sich Chruschtschow: „Bei Stalins Begräbnis hatten viele Menschen Tränen in den Augen, darunter auch ich. Obgleich wir von einigen persönlichen Fehlern Stalins wußten, so glaubten wir doch an ihn."
Mit diesen Worten hatten die Erben Stalins das gewonnen, was sie suchten: Sie hatten das, was als eine Partei-Untersuchung über „abstrakte Kunst" begann, als einen Hebel benutzt, um die Entstalinisierung abzustoppen. Chruschtschows Anspielungen auf Ehrenburg waren besonders giftig. Er verglich den alten jüdischen Autor, der angeblich Stalins Protektion genossen hatte, nicht nur mit der Schriftstellerin Galina Serebrjakowa
Selbst indem Chruschtschow die Archive zitierte, warnte er sowjetische Schriftsteller davor, allzu tief in ihrem Gedächtnis zu forschen. Die Säuberungsaktionen der dreißiger Jahre seien „ein sehr gefährliches Thema", warnte er. Er verriet, daß die Verlagshäuser mit „Manuskripten über das Leben von Personen im Exil, in Gefängnissen und in Lagern überschwemmt würden" und fügte hinzu, daß solches Material die Feinde der Sowjetunion im Ausland nur „entzücken" könnte
In einer Diskussion über einen Film von M. Chuziew „Iljitsch-Wache“ schnitt Chruschtschow das an, was vielleicht die heikelste Frage im Leben der heutigen Sowjetunion ist: die Frage der „Väter und Söhne". Dieses Thema liegt dem sowjetischen Führer vielleicht besonders nahe am Herzen, denn es wirft ebenfalls die Frage nach der Verantwortung in den dreißiger Jahren auf. Es ist die Verachtung jüngerer Männer, von denen viele ihre eigenen Väter in den dreißiger Jahren verloren haben, für eine ganze Generation von „Vätern", die diese Säuberungsaktionen geschehen ließen. Einerseits handelt es sich um die besondere Verachtung junger Männer der Sowjetunion für alte Männer und alte Ideen, für „Väter", die unter Stalin engstirnige und bürokratische Methoden lernten und jetzt nicht mehr umlernen können, andererseits um die übliche Ungeduld der Jungen, selbst ans Ruder zu kommen. Als er über die „Iljitsch-Wache" sprach, leugnete Chruschtschow, wie er das immer tut, daß das Problem von „Vätern und Söhnen" überhaupt existiert. Aber die Heftigkeit, mit der er es leugnete, zeigte, wie groß seine eigene Empfindlichkeit hinsichtlich der Vorstellung ist, daß sowjetische „Väter" ihren „Söhnen" nichts mehr beibringen können und daß, wie er es ausdrückte, „es keinen Zweck habe, sie um Rat zu fragen"
Ein weiterer Autor, den Chruschtschow mit einem besonders scharfen Tadel bedachte, war Viktor Nekrasow. Er kanzelte den mit dem Stalin-Preis ausgezeichneten Romanschriftsteller wegen seiner Bemerkungen ab, die er während eines Frankreich-Aufenthaltes gemacht hatte, wegen seiner Reisenotizen in Nowyj mir und wegen seines Lobes für den Film „Iljitsch-Wache". Mit seiner Aufgeschlossenheit in Sachen der Kunst und gegenüber dem Westen sei Nekrasow nicht viel anders als Ehrenburg, erklärte Chruschtschow.
Niemandem gegenüber war Chruschtschow so zweideutig wie gegenüber Jewtuschenko. Einmal beschuldigte er Jewtuschenko zusammen mit Ehrenburg eines „großen ideologischen Irrtums", weil er eine Vorliebe für einiges der zeitgenössischen Kunst habe. Er lobte ihn jedoch für seine Rede, die er am 24. /26. Dezember gehalten hatte, und gab dem Dichter einige väterliche Ratschläge: „das Vertrauen der Massen hoch zu schätzen, keine billigen Sensationen zu suchen und sich den Ideen und dem Geschmack der Spießer nicht zu beugen." Er nahm „Babij Jar" zum Anlaß, seine bisher längste öffentliche Erklärung über den Antisemitismus in der Sowjetunion abzugeben („Wir haben keine Juden-Frage, und diejenigen, die sie sich zurechtphantasieren, blasen in das Horn des Auslandes"). Am Ende seiner Rede wandte er wieder in verwirrender Folge abwechselnd Zuckerbrot und Peitsche an. Auf der einen Seite bestätigte er, daß Jewtuschenko sich im Gegensatz zu Wosnesenskij, Nekrasow, Paustowskij und Katajew während seiner Reise nach Westdeutschland und Frankreich „würdig benommen habe", auf der anderen Seite behauptete er aber, Jewtuschenko habe in einem Interview mit Les Letters Franaises „der Versuchung nicht widerstanden, sich um die Gunst der bourgeoisen Öffentlichkeit zu bemühen".
Zum Zeitpunkt der Rede Chruschtschows wurde Jewtuschenko bereits in der Presse angegriffen. In den Angriffen wurde es nicht ausgesprochen, aber es war in Moskau bekannt, daß der Dichter einer fortsetzungsweisen, am 21. Februar beginnenden, Veröffentlichung seiner in fünf Teilen zerfallenden Autobiographie in der französischen Wochenzeitschrift L’Express zugestimmt hatte. Ob die Partei aus seiner Autobiographie einen Fall machen würde, darüber wurden in der sowjetischen Hauptstadt noch Mutmaßungen angestellt. Als Chruschtschow sprach, mußte ihm der Inhalt von mindestens zwei Fortsetzungen der Autobiographie bekannt sein. So läßt also Chruschtschows Rede darauf schließen, daß er hoffte, seinen berühmtesten reisenden Botschafter, den jungen Mann, der zum Symbol des Bildes von einem neuen und liberaleren Rußland geworden war, intakt zu erhalten Die Rede läßt sogar an eine Art Vater-Sohn-Verhältnis zwischen beiden denken, das vielleicht weniger auf persönlicher Bekanntschaft als auf Jewtuschenkos Freundschaft mit Chruschtschows Schwiegersohn Alexej Adshubej beruht, dessen alte Zeitung Komsomolskaja prawda als eine der ersten Werke des Dichters veröffentlicht hatte
Noch ehe die Versammlung zu Ende war, war klar, daß die Konservativen immer noch nicht befriedigt waren und weiter gehen wollten. Sie waren so ungeduldig, daß eines ihrer gemäßigteren Mitglieder, Alexander Tschakowskij, der, um die konservative Richtung wieder durchzusetzen, erst vor wenigen Wochen zum Herausgeber der Literaturnaja gaseta ernannt worden war, davor warnte, die Kampagne allzu weit zu treiben
Von den Intellektuellen, die Chruschtschow persönlich kritisiert hatte, war Neiswestnyj der erste, der sich äußerte
„Ich finde es interessant, am Leben zu sein."
Zum Schluß trat er für „Qualität“ (ein Schlagwort der Liberalen) sowie für „ideologische Reinheit“ (das Schlagwort der Partei) ein.
Die Antwort der jungen Schriftsteller war so unbefriedigend, daß Komsomolskaja prawda (die jetzt konsequent als Sprachrohr der Reaktion fungierte) sich am 17. März bewogen fühlte, einen Vorschlag des 20jährigen Dichters Igor Wolgin zu veröffentlichen, der gleichzeitig eine Drohung enthielt: „Es wäre für uns sehr nützlich, eine Weile in lokalen Zeitungen, Zeitschriften und Druckanstalten zu arbeiten. Die gewonnenen Erfahrungen würden uns in die Lage versetzen, den Platz des Dichters in der Welt der Arbeit besser zu verstehen." Am 17. März lieferte die Prawda zwei weitere neue Hinweise dafür, daß die Konservativen auf dem Kriegspfad waren. Der erste war ein grober Angriff nach stalinistischem Muster auf Michel Tatu, den Moskauer Korrespondenten der französischen Zeitung Le Monde, auf den die Leser außerhalb der Sowjetunion mehr als auf jede andere westliche Quelle angewiesen waren, wollten sie etwas über die Kultur-offensive erfahren. Der von Jurij Shukow unterzeichnete Angriff war ein Versuch
Am gleichen Tag gab die Prawda auch bekannt, daß Stepan Schtschipatschow, ein unpolitischer Dichter, der sich als Chef der Moskauer Organisation durch seine tolerante Haltung gegenüber jungen talentierten Schriftstellern ausgezeichnet hatte, zwar zuvor „auf eigenen Wunsch" seines Postens als Vorsitzender der Moskauer Organisation des Schriftstellerverbandes entkleidet und durch Georgij Markow ersetzt worden war, der ironischerweise Autor eines neuen Romans mit dem Titel „Vater und Sohn" war.
Hauptzielscheibe der Angriffe — die Jungen
Schtschipatschows Sturz deutete auf eine plötzliche Richtungsänderung. In Versammlungen von „Arbeitern der Kunst", die jetzt überall im Lande stattfanden, tauchte mysteriöserweise der Name Ilja Ehrenburg nicht mehr auf. Stattdessen wurden westlich orientierte junge Schriftsteller zur Hauptzielscheibe der Angriffe
Am 26. März begann eine Vollsitzung des Vorstandes des UdSSR-Schriftstellerverbandes in Moskau, während gleichzeitig im In-und Ausland Gerüchte umliefen, daß der gemäßigte, liberale Alexander Twardowski als Herausgeber von Nowyj mir von Jermilow abgelöst werden sollte und die Stellung Konstantin Fedins als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes möglicherweise ebenfalls gefährdet sei. Zusammen mit ihren Berichten über die Sitzung veröffentlichte Literaturnaja gaseta bedeutsamerweise auch zwei Photos, eines von Fedin und das andere von Twardowski, die solche Gerüchte Lügen straften und zeigten, daß sie eine mächtige Unterstützung bei den Gemäßigten genossen. Die Sitzung begann mit einer Ansprache Fedins, in der dieser die Individualität in der Kunst in vorsichtiger Weise verteidigte: „Wir sind froh, daß die Bedeutung künstlerischer Individualität auch von Nikita Sergejewitsch anerkannt wird." Nach Fedin betrat der ältere Dichter Nikolaj Tichonow die Rednertribüne, der trotz eines Untertons von mildem Tadel an den jungen Schriftstellern sich ebenso wie Fedin als gemäßigt zeigte: „Laßt uns dafür Sorge tragen, daß wir nicht durch allerlei Kleinkram und verschiedene interne Streitigkeiten von unserer Hauptaufgabe als Schriftsteller abgelenkt werden, damit unsere ganze Energie zum Wohle unserer sozialistischen Gesellschaft eingesetzt wird und nicht Leidenschaften entfacht, die keiner Notwendigkeit entspringen"
Andere Reden in der Sitzung waren nicht so gemäßigt. Diejenige Alexander Prokofjews, des Dichters, der im Jahre 1961 den Lenin-Preis gewonnen hatte, und der ein entschiedener Gegner von Jewtuschenkos Auslandsreisen ist, schlug den eifersüchtigen, erbitterten Ton an, dem sich viele anschließen sollten. Er beklagte sich, daß der liberale Geist nicht nur in Moskau, sondern auch in Leningrad und Sibirien eingedrungen sei, und stellte die Frage, warum Jewtuschenko, Wosnesenskij und vier oder fünf andere „Neon-Neuerer" in Riesenausgaben von fünfzig-oder hunderttausend Exemplaren erschienen und warum ein erster Gedichtband des jungen Leningrader Dichters Viktor Sosnora vierzehnmal rezensiert worden sei, „während Bücher von Autoren, die einen sowjetischen Standpunkt einnehmen, fast keine Beachtung fänden"
Neid und Wehleidigkeit klingen auch durch die anderen Reden. Wiederholt führten die Redner einen Fragebogen an, der im vorausgegangenen Jahr von Woprosy literatury ausgegangen war. In ihren Antworten, so beklagten die Redner, hätten allzu viele junge Schriftsteller erklärt, daß sie am meisten von Boris Pasternak beeinflußt worden seien (und nicht von Michail Scholochow), von Hemingway, Salinger, Heinrich Böll, Erich Maria Remarque und nicht von einheimischen russischen Autoren. Ein Sprecher griff sowjetische Schriftsteller an, die „unter dem Deckmantel der Kybernetik und modernen mathematischen Methoden hartnäckig versucht hätten, den russischen Formalismus der zwanzi-ger Jahre wieder zum Leben zu erwecken"
Jewtuschenko, Wosnesenskij und in einem geringeren Ausmaß auch Aksjonow waren diejenigen Schriftsteller, deren Namen am meisten und mit Verachtung genannt wurden. Besonders Jewtuschenko war bösartigen Angriffen ausgesetzt, unter denen sich derjenige von Boris Rjurikow, einem früheren Herausgeber der Literaturnaja gaseta und seinerzeitigem für Literatur zuständigen „Apparatschik" des Zentralkomitees, durch grenzenlose Heftigkeit auszeichnete. Rjurikow geißelte nicht nur Jewtuschenko, er bezeichnete auch — was seine Vorredner nicht getan hatten — genauer den Fehler, dessentwegen Wosnesenskij und Aksjonow angegriffen wurden: ein Interview, das sie der polnischen Wochenzeitschrift Politika gegeben und in dem sie die miteinander in Zusammenhang stehenden Probleme der „Väter und Söhne" und der Verantwortlichkeit für die Säuberungen der dreißiger Jahre angeschnitten hatten. Andeutend, daß es sich um eine Sache der Beweggründe handeln könnte, schloß Rjurikow, daß diese jungen Schriftsteller nicht in Rechnung stellten, „welch klägliche Rolle sie im Kalten Krieg spielten, ob sie es beabsichtigten oder nicht"
Die Reden enthüllten den gewaltigen Druck, dem Jewtuschenko und Wosnesenskij ausgesetzt waren — Aksjonow war zu der Zeit gerade nicht anwesend —, ihre Sünden zu bekennen und ihre Herzen erneut der Partei zu weihen. Aber dieser öffentliche Druck war noch nicht alles. Mehr privat wurde ihnen angedeutet, daß ihre Arbeiten in Zukunft überhaupt nicht veröffentlicht würden, wenn sie nicht das Vorrecht der Partei akzeptierten, ihre Arbeit zu lenken
Es lag aber noch eine andere Art von Gefahr in der Luft. In Moskau hatte sich inzwischen eine Atmosphäre von Angst verbreitet. Es herrschte das Gefühl, daß man die Kontrolle verloren habe, daß alles, sogar eine Rückkehr zum Stalinismus möglich sei. Es ist durchaus möglich, daß Wosnesenskij und Jewtuschenko zu dem Eindruck gelangt waren, daß ihre Beichte notwendig sei, um eine solche Möglichkeit auszuschalten.
Es war daher nicht allzu überraschend, daß die schlanke, jungenhafte Gestalt Andrej Wosnesenskij auf das Podium trat und sich an die versammelten Schriftsteller wandte. Was dann folgte, war knapp — nur 114 Worte — und eine in der Geschichte der russischen Reuebekenntnisse recht denkwürdige Erklärung: „Es ist in diesem Plenum gesagt worden, daß ich die harten und strengen Worte Nikita Sergejewitsch'nicht vergessen dürfe. Ich werde sie nie vergessen. Ich werde nicht nur diese strengen Worte, sondern auch die Ratschläge nicht vergessen, die mir Nikita Sergejewitsch gab. Er sagte: . Arbeite'. Ich will mich jetzt nicht rechtfertigen. Ich möchte nur sagen, daß für mich die Hauptsache jetzt arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten ist. Meine Arbeit wird zeigen, wie meine Haltung gegenüber meinem Lande und dem Kommunismus ist, und was ich selbst bin." (Prawda, 29. 3.)
Widerrufen heißt zugeben. Aber hier jedenfalls gab es kein überflüssiges Wort, nicht den Schatten einer Kapitulation, die heraus-gelöst und ausgenutzt werden konnte. Wenn Nuancen entscheidend sind für das, was sie an Talent für die Zukunft retten oder opfern, dann dürfte Wosnesenskijs Begabung ziemlich intakt hinübergerettet worden sein. In der Kunst des Reuebekenntnisses ist er offensichtlich bei Boris Pasternak in die Schule gegangen, der im Leben wie in der Dichtkunst sein Lehrer war.
An Jewtuschenkos Reuebekenntnis läßt sich seine Zwiespältigkeit ermessen. Es war abwechselnd trotzig und unterwürfig. Es wurde nur teilweise veröffentlicht und folglich falsch wiedergegeben, wie gröblich, wissen wir nicht. Einigen Aussagen zufolge verteidigte sich der Dichter und ging sogar zum Gegenangriff über. Bezeichnenderweise verteidigte er energisch seinen Kollegen Neiswestnyj. Auf der anderen Seite war er nicht einverstanden mit Ehrenburgs „geschicktem Satz" vom „Tauwetter" und beharrte darauf, daß „Frühling" gemeint sei. Das war ein Vergehen gegen die Solidarität, das verurteilt wurde, obgleich Jewtuschenko diese Kritik schon früher geäußert hatte. In den Teilen seiner Erklärung, die in der sowjetischen Presse veröffentlicht wur-den
Nach Berichten von Reisenden zu urteilen war die Stimmung unter vielen jungen Leuten in Moskau so sehr auf Unnachgiebigkeit ausgerichtet, daß sie Jewtuschenkos und sogar Wosnesenskijs Erklärung mit Ärger, Enttäuschung und Bestürzung aufnahmen. Ihre Idole waren angeschlagen, obgleich anscheinend nicht zerstört. Die konservativen Schriftsteller im Plenum waren ebenfalls unzufrieden, wenn auch in einem anderen Sinne. Nachdem sie den Dichtern nur ein kleines Schuld-bekenntnis abgerungen hatten, waren sie jetzt darauf bedacht, sie gänzlich zu brechen: sie wollten, wenn möglich, den Unterschied, der hinsichtlich des moralischen Formats und des Talents zwischen der älteren und der jüngeren Generation bestand, symbolisch beseitigen und sie zu immer gefügigeren Werkzeugen der Partei machen. Wie Jewtuschenko von einem seiner Lieblingsautoren, Kipling, hätte lernen können: „Das Blöken der Schafe stört den Tiger."
Es war Jewtuschenkos verhängnisvolle Kombination von Auflehnung und Reue, die ihn mehr als alle anderen unaufhaltsam in den Sturm zu zerren drohte. Seine rebellische Art stachelte seine Feinde noch mehr an, sein Reuebekenntnis ließ sie auf noch mehr hoffen. Und so bemerkte die Prawda, daß die Erklärung Jewtuschenkos „die Teilnehmer des Plenums nicht befriedigt habe. Der Ton seiner Rede zeige, daß Jewtuschenko die Wurzeln seiner Irrtümer bei der Veröffentlichung seiner Autobiographie oder in einigen seiner Gedichte nicht erkenne." Jurij Shukow fragte böse, warum Jewtuschenko zu einer „Position der Kapitulation vor unseren ideologischen Feinden übergegangen sei"
Michail Sokolow, der Herausgeber der Zeitschrift Don, hielt ebenfalls eine aufschlußreiche Rede. Er startete einen Angriff auf Alexej Surkow, weil er zu den Unterzeichnern eines Briefes an Chruschtschow im vergangenen Dezember gehörte, in dem eine „friedliche Koexistenz" unterschiedlicher Trends in der Kunst gefordert wurde. In einer Rede vor dem Moskauer Schriftsteller-Aktiv, die nicht veröffentlicht worden war, offensichtlich, weil sie nicht genügend Selbstkritik enthielt, verriet Surkow laut Sokolow, daß er neun Stunden nach der Unterzeichnung seine Unterschrift wieder zurückgezogen hatte. Sokolow forderte, daß Surkow jetzt unterwürfige Abbitte leiste. Es „kann nicht erlaubt werden, daß die Koexistenz von Ideologien auch nur neun Sekunden, geschweige denn neun Stunden propagiert wird!", rief er aus. Sokolow verlangte ferner, daß Alexander Twardowski Selbstkritik übe, weil er Ehrenburg, Nekrasow und zwei Kurzgeschichten von Solshenizyn veröffentlicht habe
Selbst jetzt hatte die Erbitterung der Konservativen noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Er trat erst auf einer Sitzung des Vorstandes des Schriftstellerverbandes der RSFSR am 2. /3. April ein. Hier drohte die Woge der Reaktion übermächtig zu werden. Vier Sprecher, darunter Iwan Charabarow, einst Schüler Pasternaks und Anführer der jungen Liberalen, verlangten, daß Jewtuschenko aus dem Schriftstellerverband selbst ausgeschlossen würde. Ein Redner beklagte in einer, wie es hieß, „aufrüttelnden Rede", daß die konservativen Schriftsteller in der Periode der liberalen Erfolge an einem „Gefühl der Schutzlosigkeit" gelitten hätten
Inzwischen gelang es den Angreifern, ein weiteres Opfer zur Strecke zu bringen, nämlich Wasilij Aksjonow, und zwar in der Prawda vom 3. April. Ebenso wie seine Freunde Jewtuschenko und Wosnesenskij entschul-digte sich Aksjonow nicht für seine Arbeit selbst — seine respektlosen und mit Jargon überladenen Geschichten „Fahrkarte zu den Sternen" und „Orangen aus Marokko" waren von den Kritikern heftig angegriffen worden —, sondern für ein Interview, das er und Wosnesenskij der polnischen Wochenzeitung Polityka gegeben hatten. Im Verlauf des Interviews, das im Herbst 1962 stattgefunden hatte, bezeichnete Wosnesenskij Lorca, Eluard und Pasternak als seine geistigen Vorläufer in der Dichtkunst. Er distanzierte sich von der gegenwärtigen Generation literarischer „Väter" in der Sowjetunion und erklärte stolz, daß „die Vererbung manchmal eine Generation überspringen könne". Aksjonow stellte das „Väter-und Söhne-Problem" in einen mehr persönlichen als dichterischen Rahmen. Mit dem Hinweis, daß sein eigener Vater ein Opfer Stalins gewesen sei, tadelte er die Generation seines Vaters nichtsdestoweniger: „Wie konnten sie Dinge, wie sie sich im Jahre 1937 abgespielt haben, zulassen?"
In seinem Reuebekenntnis folgte der 30jährige Aksjonow dem Beispiel Jewtuschenkos. Er behauptete, er sei falsch zitiert worden. Als merkwürdige Entschuldigung wies er darauf hin, daß das Interview doch einer kommunistischen und nicht einer kapitalistischen Zeitung gewährt worden sei. Er fügte hinzu, daß es unter offizieller Aufsicht in Moskau und nicht im Ausland unter dem Eindruck bourgeoiser Schmeichelei stattgefunden habe. Er versprach trotzdem, „zu arbeiten", um seine Irrtümer zu korrigieren. Seine Erklärung wurde ungekürzt in der Prawda veröffentlicht und scheint weiter gegangen zu sein als diejenigen Jewtuschenkos oder Wosnesenskijs.
Die Affäre Jewtuschenko
Wie bereits erwähnt, war niemand heftigerem Druck ausgesetzt, ein Reuebekenntnis abzulegen, als Jewtuschenko; er kam zum Ausdruck in „spontanen Leserbriefen", in denen alle Nuancen von der Drohung mit Gewalt bis zur Hoffnung auf Rettung seines Seelenheils anklangen. Man wollte ihm ein neues, viel zerknirschteres Sündenbekenntnis abringen. In einer Erklärung der Redaktion von Junost im April 1963 ließ man durchblicken, daß er seinen Posten im Mitarbeiterstab der Zeitung verlieren würde, wenn er nicht über seine Erklärung vom 29. März hinausgehen würde. Und schließlich drohte der Chef des Komsomol, Sergej Pawlow, in einer Parteikonferenz am 19. April dem jungen Autor ganz deutlich damit, daß sein neuer Gedichtband verboten würde, wenn er sich nicht besserte. („Jewtuschenkos prahlerische Haltung hat ihn vernichtet, öder könnte ihn vielmehr vernichten, wenn er sein schändliches Verhalten nicht aufgibt.") Alle diese Entwicklungen deuteten darauf hin, daß die Treibjagd gegen Jewtuschenkow jetzt zum Mittelpunkt und zum Kern der ganzen Kampagne geworden war
Betrachten wir zunächst einmal die Umstände, unter denen der Dichter dazu kam, im Ausland seine berühmte „Vorzeitige Autobiographie" zu veröffentlichen
Aber der Entschluß zur Veröffentlichung barg ein gewaltiges Risiko in sich, und Jewtuschenko wußte das. Nach dem Fall Pasternak im Jahre 1958 hatte das Zentralkomitee eine neue Richtlinie herausgegeben, nach der es sowjetischen Schriftstellern verboten war, im Ausland Material, besonders Bücher zu veröffentlichen, die im Inland noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben waren. Jewtuschenko hatte gezeigt, daß er diese Richtlinie sehr wohl kannte. In Dichterlesungen in Moskau z. B. pflegte er häufig Verse zu zitieren, die noch nicht im Druck erschienen waren. Doch hatte er wiederholt Ausländern Kopien dieser Gedichte verweigert, vermutlich wegen der „Lex Pasternak". Zweifellos hoffte der Dichter bei der fortsetzungsweisen Veröffentlichung der Autobiographie in einer Zeitung vor ihrem Erscheinen in Buchform, daß seine „Pasternak-Sünde" nicht den offiziellen Zorn heraufbeschwören werde, zumal schon früher einzelne Artikel von ihm im Ausland erschienen waren.
Angeblich war der Grund für den Wunsch des Dichters nach Veröffentlichung die Tatsache gewesen, daß er in vielen seiner Interviews 72 im Ausland falsch zitiert worden sei und jetzt richtig verstanden werden wollte
Fühlte er sich angesichts der Heftigkeit, die die Kulturoffensive in seinem Lande noch annehmen konnte, bewogen, mit einer zu Herzen gehenden , apologia pro sua vita mit fliegenden Fahnen unterzugehen, ehe er schweigen mußte? Oder war er so sehr vom Größenwahn beseelt, daß er einfach annahm, ein Jewtuschenko könne sich alles erlauben? Die Umstände deuten darauf hin, daß sein Motiv vielleicht irgendwo in der Mitte lag. Wir müssen uns zunächst daran erinnern, daß er Mitte Januar sein Heimatland verlassen hatte, nachdem ihn Iljitschew wegen seiner „staatsbürgerlichen Reife" gelobt hatte. Sogar Intellektuelle innerhalb Rußlands unterschätzten bis zur Versammlung vom 7. /8. März das Kesseltreiben, das gegen sie im Gange war. Wolfgang Leonhard, der Jewtuschenko für Die Zeit interviewte, und Freunde, die mit ihm in Paris sprachen, hatten den Eindruck, daß er allzu optimistisch hinsichtlich des Angriffs auf Schriftsteller und Künstler sei.
Auf der anderen Seite ist Jewtuschenko wegen seiner politischen Intuition bekannt, der keine entsprechende Fähigkeit zum Manövrieren zur Seite steht. Während seines Aufenthaltes in Paris wurde er von sowjetischen Geheim-agenten scharf überwacht, und er machte aus seinem diesbezüglichen Verdacht auch kein Geheimnis. Euphorisch und zugleich seltsam entschlossen machte er den Eindruck eines Mannes, der am Rande eines selbst gewählten Abgrundes entlang wandelt. Seine Frau Galina fürchtete, daß die Veröffentlichung der Autobiographie ein Fehler war, und daß sie niemals wieder die Sowjetunion verlassen dürften. Aber auf einer Pressekonferenz vor Erscheinen seiner Autobiographie sagte Jewtuschenko prophetisch von sich und Wosnesenskij (obgleich in einer Diskussion über Formalexperimente in der Dichtkunst): „Wer weiß, ob wir nicht letzten Endes doch eine Generation von Geopferten sind? Wir wären dann wie die Reiter Napoleons, die sich in den Fluß warfen, um eine Brücke zu bilden."
Wie stand es nun aber um die Beweggründe der sowjetischen offiziellen Kreise? Vom Augenblick seiner Ankunft in Paris an machte Jewtuschenko kein Geheimnis aus seiner Absicht, die Autobiographie zu veröffentlichen. Maurice Thorez, der Führer der Kommunistischen Partei Frankreichs, wußte davon, desgleichen der sowjetische Botschafter. Keiner von beiden machte einen Versuch, ihm das auszureden. Im Gegenteil, nachdem zwei Fortsetzungen erschienen waren und ehe Jewtuschenko nach Moskau zurückkehrte, beglückwünschten ihn offizielle Vertreter der Botschaft und französische Kommunisten zu der „guten Arbeit für die UdSSR". Es mag als guter Witz gelten, daß Jewtuschenko für seine Autobiographie bezahlt wurde, während Chruschtschow die Veröffentlichung seiner Rede vom 12. Dezember im L’Express bezahlen mußte
War Jewtuschenko also das Opfer einer riesengroßen Provokation? Hatte der sowjetische Funktionärsapparat ihn nur deshalb bis an das Ende einer langen Straße gelockt, um ihm dann den Rückweg abzuschneiden? Einige sowjetische Funktionäre haben das zweifellos beabsichtigt. Aber die Kette von Ereignissen, die dazu führten, daß er zum Sündenbock für eine ganze Generation wurde — so unvermeidlich diese Folge auch gewesen sein mag — scheint nicht so glatt abgerollt zu sein.
Denken wir zuerst zurück an die Versammlung vom 7. /8. März, in der Ehrenburg und Nekrasow die Hauptziele waren. Keiner von beiden legte Reuebekenntnisse ab. Diese waren auch — außer durch Gewaltanwendung — anscheinend nicht zu erwarten. Den Angriff fortzuführen ohne Aussicht auf ein Reue-bekenntnis würde nicht nur eine Niederlage für die Partei bedeuten, sie könnte sich auch als gefährlich erweisen, da die von Ehrenburg aufgeworfene Frage — die Frage der Verantwortlichkeit in den dreißiger Jahren — sofort zum Angriff auf mehrere Parteiführer hätte benutzt werden können. Eine Anzahl von älteren Mitgliedern des Präsidiums und viele hochgestellten Funktionäre dürften daher nur allzu gern das politische heiße Eisen wieder haben fallen lassen, zu dem der Fall Ehren-burg geworden war. So hörten die Angriffe auf Ehrenburg fast sofort wieder auf, nachdem Chruschtschows Rede vom 8. März in der Prawda erschienen war.
Auf der anderen Seite hatten die Reden Chruschtschows und Iljitschews die antiliberalen Literaten völlig entfesselt. Und sie — die Sobolews und Kotschetows und Sokolows — wollten jetzt ihr Opfer haben. Nach dem Ton von Chruschtschows Rede zu urteilen, war er nicht bereit oder auch vielleicht nicht leicht dazu in der Lage, sie sofort wieder an die Leine zu legen. Es mußte also ein anderes Opfer gefunden werden.
Den konservativen Literaten mußte die gesamte Gruppe der jungen liberalen Schriftsteller als Opfer wünschenswert gewesen sein, denn das Talent, das sie entwickelten, war eine Gefahr für alle Mittelmäßigkeit. Für die Aufpasser in der Partei mußten die jungen Liberalen ebenfalls eine logische Zielscheibe sein, weil sie unter der Jugend des ganzen Landes bereits eine beträchtliche Anhängerschaft gewonnen hatten. Und schließlich hatte gerade ihr Erfolg die Aufmerksamkeit auf das windige Thema von „Vätern und Söhnen" gelenkt. Auf die politische Ebene übertragen, lautet dieses Thema: „Laßt uns die Kommunistische Partei entstalinisieren! Entledigen wir uns all derjenigen, die in den dreißiger Jahren verantwortliche Stellungen innehatten, und stellen wir andere an ihre Stelle, die unschuldig sind."
Wenn also die Jungen geopfert werden sollten, dann könnte das Opfer Jewtuschenko als stellvertretend für alle gelten. Seine forsche, sieghafte Art, die Privilegien, die er genoß, seine riesigen Auflagen hatten ihn inzwischen zum Gegenstand viel privaten Neides gemacht. Vor allem besaß er den mitreißenden neoleninistischen Geist, entfachte er Begeisterung bei Dichterlesungen. Er war die Art von Opfer, wie es den Konservativen zusagte.
Parteiführer bis hinauf zu Chruschtschow scheinen jedoch Hemmungen gehabt zu haben. Im Ausland würde der Sturz Jewtuschenkos den Hohn der Imperialisten heraufbeschwören. „Das soll das neue und liberale Rußland Chruschtschows sein?" würden sie fragen. Wichtiger noch war, daß Jewtuschenko, wie er in seiner Autobiographie offen zugab, die Last des Kompromisses für seine ganze Generation auf sich genommen hatte. Teilweise mit Hilfe seines Kompromisses, auf Grund seiner zwischen Dichter und Politiker gespaltenen Persönlichkeit, war die Partei in die Lage versetzt worden, die gesamte Jugendbewegung unter Kontrolle zu halten. Manche glaubten vielleicht, daß es an der Zeit sei, daß Jewtuschenko nun, da er aus seinen Kleidern her-ausgewachsen war, abtrete. Andere dürften die Frage gestellt haben: „Wird das nächste Idol so leicht zu gängeln sein?"
Wenn es wirklich Männer gab, die zu Zurückhaltung mahnten, so kam ihnen doch der Zeitpunkt dabei nicht zu Hilfe. Bis Mitte März muß die vorletzte Fortsetzung der Autobiographie in Moskau vorgelegen haben. In diesem Kapitel zeigte der Dichter die weiterhin bestehende Stärke stalinistischer Elemente in der Partei, den Kampf, den die jungen Liberalen gegen die „Fehler ihrer Väter" führten, und die Verfolgung, der Jewtuschenko selbst infolgedessen ausgesetzt war. Nichts konnte besser darauf abgezielt sein, „Stalins Erben" in Wut zu bringen. So konnte dem Druck, den jungen Dichter ans Messer zu liefern, nicht länger standgehalten werden. Am 15. März wurde Stepan Schtschipatschow von seinem Posten als Vorsitzender der Moskauer Schriftsteller-Organisation abgesetzt, teilweise mit der Begründung, daß er Jewtuschenkos erste Auslandsreise befürwortet habe
Kehrtwendung ?
Es war Ende März und Anfang April geworden, als der Sturm tatsächlich unkontrollierbar zu werden drohte. Bald darauf flaute das Toben gegen Jewtuschenko und die anderen jungen Schriftsteller jedoch ab. Auf die Frage nach dem Warum gibt es zwei mögliche Antworten. Die eine hat etwas zu tun mit Protesten Kommunistischer Parteien im Ausland und die andere mit Spannungen innerhalb der sowjetischen Führung.
Ende März oder Anfang April, auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die jungen Schriftsteller, wurden alle in Moskau ansässigen Vertreter ausländischer kommunistischer Zeitungen zusammengetrommelt. Der Herausgeber einer führenden sowjetischen Literatur-Zeitschrift zeigte ihnen ein „Dossier des Angeklagten". In einer Ausdrucksweise, die an die Zeit der Säuberungen erinnerte, sprach das „Dossier" von einer „Opportunistengruppe“, von Jurij Kasakow („jenem Nachkommen von Iwan Bunin") bis Jewtuschenko reichend, nach dem Muster „jener zweifelhaften politischen Persönlichkeit Boris Pasternaks". Das Dossier bezeichnete Jewtuschenkos Autobiographie (die Schatten des „Dr. Shiwago") als eine „Blasphemie der Oktoberrevolution"
Dieser Versuch, die Öffentlichkeit in den übrigen kommunistischen Ländern auf weitere drakonische Maßnahmen vorzubereiten, scheint ein Schlag ins Wasser gewesen zu sein. Ein älterer Kommunist sagte in der Versammlung, er fühle sich an Shdanowismus erinnert. Ein Kubaner stand auf, um Jewtuschenko zu verteidigen, der in seinem Lande als Nationalheld verehrt werde
Noch eine andere Reihe von Umständen scheint eine Rolle gespielt zu haben. Während Chruschtschows fast fünfwöchentlichem Ferien-aufenthalt in Gagra vom 20. März bis zum 20. April übernahmen andere hohe Mitglieder des Präsidiums seine Repräsentationspflichten: Koslow, Suslow, Mikojan, Breshnew und Kosygin. Gegen Ende März drangen Gerüchte über Meinungsverschiedenheiten in führenden Kreisen der sowjetischen Partei nach dem Westen, Gerüchte, die sich besonders um den von Chruschtschow zum Nachfolger bestimmten Frol Koslow drehten. Es ist unbekannt, welche Rolle Koslow, wenn überhaupt eine, in der Kulturkampagne spielte. Wir wissen aber, daß Jewtuschenko es in seinem Interview mit der Zeit vom 8. Februar geflissentlich unterließ, in Beantwortung einer diesbezüglichen Frage abzuleugnen, daß ein Teil seines Gedichtes „Stalins Erben" im Gedanken an Koslow geschrieben wurde. Diese Unterlassung konnte den zweitobersten Mann der Sowjethierarchie nur in Wut versetzen. Mag sein wie es will, der letzte einer Reihe von bösartigen Angriffen auf Jewtuschenko fand am 7. April statt
Offensichtlich spiegelte also das dann im April erfolgende deutliche Nachlassen der Kampagne gegen die Intellektuellen — ebenso wie die früheren Stadien im November — Manöver innerhalb der Parteispitze und den Einfluß ausländischer kommunistischer Parteien wider. Am 20. April nahm Chruschtschow seine Arbeit im Kreml wieder auf. In einer energischen Rede vor Industrie-Arbeitern am 24. April bestätigte er erneut die starke Kontrolle des Parteizentrums über Rechte und Linke. Er machte klar, daß Zwang — die Methode, auf die die Rechten drängten, um die Widerspenstigen in die Knie zu zwingen — nicht mehr angewandt werde. Das Regime wende stattdessen einen maximalen moralischen Druck an in der Hoffnung, daß das Gewissen des einzelnen Schriftstellers oder Künstlers mit dem Willen der Partei übereinstimme: „Auch Dichter und Schriftsteller sollten unsere Unzulänglichkeiten kritisieren. Das einzige, worauf es ankommt, ist, von welchem Standpunkt aus das geschieht und zu welchem Zweck, ob es geschieht, um zu vertreten, was neu und kommunistisch ist, oder um es abzulehnen."
Fast drei Wochen später veröffentlichte die Prawda das oben erwähnte Interview Alexan-der Twardowskijs mit dem UPI-Korrespondenten Henry Shapiro, in dem der Herausgeber von Nowyj mir dem Zentralkomitee und Chruschtschow persönlich zu ihrer „Aufgeschlossenheit" beglückwünschte, als sie die Veröffentlichung von „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch" erlaubten. Sanften Tadel sprach er gegen Jewtuschenko und Wosnesenskij aus (die er als „Dichter" bezeichnete, die „jung seien, nicht so sehr hinsichtlich ihres Alters als vielmehr ihrer Berufserfahrung". Er fügte hinzu, daß „ein Dichter ein Schicksal und nicht eine Karriere haben solle"). Er bekannte sich zu allen seinen Autoren, die Angriffen ausgesetzt waren. (Seinem Eintreten für einen von ihnen, für Valentin Owetschkin, kommt eine besondere Bedeutung zu, denn Owetschkin, ein Redakteur von Nowyj mir, soll Chruschtschow in einer öffentlichen Versammlung im Herbst 1962 kritisiert haben. Einem starken Druck ausgesetzt, hat er später einen Selbstmordversuch unternommen und mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden.) Von der Kritik an Ehrenburg sagte er nicht, daß sie richtig sei, sondern nur, daß er sie „ernst nehme, und dies um so mehr, als die Parteiführer ihn als einen bemerkenswerten Schriftsteller, einen talentierten Publizisten und eine hervorragende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens bezeichnet hätten".
In einer Erklärung in der April-Ausgabe, die erst im Mai erschien
Unsicherheit und Widerstand
Wenn auch die Erklärung von Nowyj mir ein Zeichen dafür war, daß der Druck seitens der Partei nach wie vor stark war, lieferte doch ein Leitartikel der Prawda am 19. Mai einen neuen Beweis dafür, daß äußerste Aggressivität letztlich doch nüchternen Überlegungen Platz gemacht hatte. In einer Erklärung, die irgendwie an die Rede Chruschtschows an die sowjetischen Schriftsteller im Mai 1959 erinnerte, verkündete die Prawda jetzt, daß die Partei „keine Notwendigkeit sehe, jeden Schritt der Intellektuellen zu überwachen, im einzelnen zu erklären, wie ein Buch zu schreiben, ein Stück zu inszenieren, ein Film zu machen und Musik zu komponieren sei. Die Partei zeichne das Hauptziel schöpferischer Arbeit auf und empfehle den Meistern der Literatur und Kunst schöpferische Kühnheit und Unabhängigkeit". Wenn diese Erklärung auch keine völlige Kehrtwendung darstellt, so doch, verglichen mit den Reden vom 8. März, zum wenigsten eine größere Richtungsänderung. Inzwischen sollte ein Ereignis stattfinden, das bereits dreimal verschoben worden war und nicht mehr länger aufgeschoben werden konnte. Ursprünglich für Dezember vorgesehen, war die groß angekündigte Konferenz junger Schriftsteller dazu bestimmt, das Wiedererwachen der sowjetischen Literatur und vor allem das Auftauchen junger talentierter Schriftsteller zu feiern. Im Verlauf des Winters fielen stattdessen alle diejenigen, die geehrt werden sollten, der Offensive der Partei zum Opfer. Wie konnte die Versammlung abgehalten werden ohne ihre vorgesehenen Helden, die jetzt alle bei der Partei in „Ungnade" gefallen waren oder doch nahe daran waren: Wosnesenskij, Jewtuschenko, Achmadulina, Aksjonow, Gladilin, Kasakow? Ungeachtet dieser Schwierigkeiten fand die Versammlung schließlich doch statt, nachdem ihr eine Ankündigung vorausgegangen war, daß zwei von denjenigen, die ursprünglich auftreten sollten, stattdessen „ins Hinterland" geschickt worden seien, damit sie „dem Leben näher" seien: Aksjonow nach dem Ort eines Bauvorhabens in Sibirien und Wosnesenskij nach Wladimir, damit er dort teilweise in Fa-briken arbeite
Inzwischen hatte die Kampagne gegen die Intellektuellen so viel Aufmerksamkeit erregt, daß sie Gegenstand lebhafter Anteilnahme im ganzen Lande geworden war. Allein in den Monaten März und April hatten 10 000 Funktionäre in den Provinzen an 16 regionalen Versammlungen teilgenommen, um über die bevorstehende Sitzung des Zentral-komitees zu diskutieren, die ursprünglich auf den 28. Mai anberaumt, ausschließlich ideologischen Fragen gewidmet sein sollte. Die Versammlungen spiegelten „Vorbehalte und Ratlosigkeit" hinsichtlich der Parteikampagne in der Kunst wider, wie der italienische kommunistische Korrespondent in Moskau berichtete
Unter Intellektuellen und Parteifunktionären in Moskau waren zwei Vorschläge Gegenstand heftiger Diskussion. Der eine war die schon früher ausgesprochene Anregung, die gegenwärtigen Verbände von Schriftstellern, Künstlern, Komponisten und Filmschaffenden abzuschaffen und sie in einem einzigen Verband schöpferischer Künstler aufgehen zu lassen.
Auf diese Weise hofften die Konservativen, in Zukunft einen Durchbruch der Liberalen, wie er sich im Moskauer Schriftstellerverband im April 1962 ereignet hatte und in der Zulassungspolitik des Schriftsteller-und Künstler-verbandes zum Ausdruck kam, zu verhindern.
Ein weiterer ernsthafter Vorschlag sollte dem Zweck dienen, die Kontrolle über Veröffentlichungen zu verschärfen. Danach würden die liberalen kulturellen Zeitungen ausgemerzt werden, während Prawda und Iswestija eine Ausweitung ihres kulturellen Teils erfahren würden. Ein riesiger „Glawpetschat" würde geschaffen werden, um das Verlagswesen im ganzen Lande zu kontrollieren. Möglicherweise würde Adshubej mit dieser Aufgabe betraut werden.
Während solch umwälzende Vorschläge in der Luft lagen, wurden von einem Tag zum anderen widerspruchsvolle Schritte unternommen, die darauf hindeuteten, daß grundsätzliche Entscheidungen über die einzuschlagende Politik noch nicht getroffen worden waren. Im Anschluß an den Spionage-Prozeß gegen Wymne und Penkowskij im Mai starteten z. B. die Zeitungen eine neue „ Wachsamkeits" -Kampagne mit einem ungewöhnlich drohenden Leitartikel, in dem die Sowjetbürger vor allen Kontakten mit Leuten aus dem Westen gewarnt wurden. Aber zum gleichen Zeitpunkt, als die offizielle anti-westliche Stimmungsmache auf ihrem Höhepunkt zu sein schien, wurde anscheinend auf hoher Ebene der Beschluß gefaßt, das planmäßige Stören britischer und amerikanischer Rundfunksender in russischer Sprache einzustellen. Im Falle der Stimme Amerikas hörte es am 13. Juni auf. Was die Schriftsteller anging, so wichen die Taten der Partei in überraschender Weise von ihren Worten ab. Entgegen besorgten Gerüchten war seit dem Beginn der Kampagne im Dezember kein einziger Redakteur irgendeiner der größeren Zeitungen, in der liberale Schriftsteller regelmäßig zu Wort kamen, entlassen worden: das gilt für Nowyj mir, Junost, Snamja und Moskwa. Das war gewiß ein Zeichen außerordentlicher Solidarität unter den Herausgebern wie auch einer Unentschlossenheit seitens der Partei!
Die Namen liberaler Autoren (obgleich natürlich mit so auffallenden Ausnahmen wie Jewtuschenkos, Okudshawas, Aksjonows und anderen) tauchten auch weiterhin auf den Seiten von Zeitungen und Zeitschriften auf. Ein größerer Verlag gab seine Absicht bekannt, in der zweiten Jahreshälfte die vorgesehenen Werke Jurij Kasakows in der bisher größten Auflage von 100 000 Exemplaren herauszubringen. Von Wladimir Tendrjakow, dessen Arbeit zu einer offiziellen Zurechtweisung durch Komsomol Anlaß gegeben hatte, wurde am 1. Mai ein Teil eines neuen Romans in Literaturnaja gaseta veröffentlicht, zusammen mit der Bekanntgabe, daß das Ende des Romans demnächst in der Zeitschrift Wissenschaft und Leben erscheinen würde
Am Vorabend der Sitzung des Zentralkomitees begann die Prawda „Hundert Antworten" auf einen Fragebogen zu veröffentlichen, den sie an Schriftsteller mit Fragen über ihre gegenwärtigen Arbeiten verschickt hatte. Zweck dieses Unterfangens war zweifellos, den Eindruck zu erwecken, daß mit der sowjetischen Literatur alles in Ordnung sei. Es ist nicht bekannt, wieviele Schriftsteller, die einen Fragebogen erhielten, ihn nicht beantwortet haben oder welchem Druck sie ausgesetzt waren, ihn zu beantworten. Das Fehlen einiger war jedoch auffallend. So fehlten die Namen von Surkow, Twardowskij und Kotschetow. Scholochow, der es ebenso wie jener andere berühmte Romanschriftsteller der Sowjetunion, Leonid Leonow, abgelehnt hatte, etwas zugunsten der Parteikampagne zu veröffentlichen, war nur mit einem einzigen mürrischen Satz vertreten. Der einzige Liberale, der geantwortet hatte, war Aksjonow. Als sich die Sitzung des Zentralkomitees ihrem Ende näherte, wurde die liberale „Verschwörung des Schweigens" mit bemerkenswerter Standhaftigkeit fortgesetzt.
Der bei weitem ungewöhnlichste Fall war jedoch derjenige Viktor Nekrasows. Vom Standpunkt der Partei aus bestand die „Hauptsünde" dieses angesehenen Schriftstellers vielleicht nicht so sehr in einer einzelnen Bemerkung seiner Reisenotizen über Italien und Amerika als vielmehr in seinem ausdrücklichen Bemühen, nur das wiederzugeben, was er sah, und nichts mit der Brille der Vorurteile zu sehen. Das ist es auch, was das Lesen seiner Reisenotizen so erfreulich macht.
Nach Chruschtschows Rede am 8. März, in der er eines der Hauptangriffsziele darstellte, schwieg Nekrasow. Erst am 9. April wurde er gezwungen, in einer Versammlung von Parteimitgliedern und Intellektuellen in seiner Heimatstadt Kiew Stellung zu beziehen. Es ist zwar schwierig, Nekrasows Bemerkungen zu rekonstruieren — er hat keine Gelegenheit erhalten, sich in der Presse zu verteidigen —, aber er scheint es abgelehnt zu haben, ein Reuebekenntnis abzulegen, und erklärt zu haben, daß er nur die „Wahrheit, die große Wahrheit, die echte Wahrheit" schreiben werde
Das langerwartete Plenum
Der Angriff auf Nekrasow wurde von Chruschtschow in einer Rede fortgesetzt, die er im Plenum des Zentralkomitees hielt, das am 18. Juni eröffnet wurde. Diese Sitzung verlief in einer Atmosphäre der Unentschlossenheit von Seiten der Partei einerseits und des Schweigens, ja sogar Widerstandes von selten der Intellektuellen andererseits. In bezug auf Nekrasow war Chruschtschow allerdings kaum unentschlossen. Er forderte den Aus-Schluß des Schriftstellers aus der Kommunistischen Partei. Erbost über Nekrasows Ansichten sowie seine Weigerung, sie zu ändern
Chruschtschows Zorn war zweifellos auf das zurückzuführen, was die Partei als nichts anderes als eine schimpfliche prowestliche Einstellung Nekrasows betrachten mußte. Das war seine Haltung, die verwandt war mit der christlichen Auffassung von einer einzigen, ungespaltenen Welt, wie sie Jewtuschenko in Deutschland zum Ausdruck brachte: „Die Grundlage jeder fruchtbaren Diskussion ist Vertrauen. Wann wird ein neuer Messias auf Erden auftauchen, der den Menschen nur befiehlt, . einander zu vertrauen', ohne daß wir ihn kreuzigen? Wie können wir ein solches Vertrauen fördern? Ich kann den Westen vieler Dinge wegen kritisieren, und der Westen kann mit gleicher Berechtigung den Osten kritisieren."
Wozu all diese Anschauungen — Pazifismus, pro-westliche Haltung, die Vorstellung von einer einheitlichen christlichen Welt — unter der sowjetischen Bevölkerung führen, ist ein Gefühl von einem „Frieden um jeden Preis", das die Partei durch ihre eigene Friedens-propaganda genährt hatte. Es ist mehr die Stärke dieses Gefühls bei Nekrasow als seine Weigerung, zu bereuen, die Nekrasow zum Sündenbock machte, wie es schon früher dazu beigetragen hatte, auch Ehrenburg und Jewtuschenko zu Sündenböcken zu machen. Und es ist auch die Stärke dieses Gefühls, das die Parteikritiker in den letzten Monaten dazu veranlaßt hatte, ihre Angriffe auf Okudshawa, Bondarow und Baklanow zu verstärken, weil sie in ihren Geschichten vom Zweiten Weltkrieg das Heldentum geschmälert oder Pazifismus an den Tag gelegt hatten.
Obgleich er das Gespenst physischer Gewaltanwendung heraufbeschwor, war Chruschtschows Rede in mancher Hinsicht doch weicher als diejenige vom 8. März. Er gab sich große Mühe, einen Frontalangriff auf die intellektuellen Kreise als Ganzes oder auf einzelne Intellektuelle zu vermeiden, mit deren Hilfe man neue Ausgangspunkte finden könnte, und richtete seine Kritik außer auf Nekrasow nur noch auf den Filmregisseur Michail Romm. Er lobte ausdrücklich Fedin, Scholochow und bezeichnenderweise auch Twardowskij. Auf der einen Seite die Anwendung von Gewalt, auf der anderen die Hoffnung auf Versöhnung.
Der aufschlußreichste Teil von Chruschtschows Rede befaßte sich mit der Entstalinisierung.
Er verteidigte die Richtigkeit der Entstalinisierung gegen die Vorwürfe ihrer Kritiker, daß diese Kampagne die Achtung vor Autorität zerstört habe und für die Krise zwischen „Vätern und Söhnen" verantwortlich sei. Er nahm die Verantwortung für den Beschluß auf sich, Stalins Verbrechen zu verurteilen, wobei er sich gleichzeitig gegen die in Ehrenburgs Memoiren unausgesprochen enthaltene Andeutung verteidigte, daß er an diesen Verbrechen beteiligt gewesen sei. Im Jahre 1956, so erklärte er, als der Beschluß gefaßt wurde, auf dem XX. KPdSU-Kongreß damit herauszukommen, wurde er „hart umstritten". Einige Leute, „die sich großer Schuld bewußt waren wegen der Verbrechen, die sie zusammen mit Stalin begangen hatten, hatten Angst". „Stalin ist tot, ebenso wie viele seiner Opfer", so sagten sie. „Der Staat entfaltet sich, wir haben Führer, warum soll man alles wieder aufrühren?"
Chruschtschow auf der anderen Seite sagte ihnen: „Wir sollten auf dem XX. Parteikongreß die Wahrheit sagen, denn es ist der erste Kongreß nach Stalins Tod. Wenn wir erst auf dem XXL Kongreß damit herauskommen oder noch später, könnten die Leute das nicht verstehen. Was man nicht ans Tageslicht bringt und verurteilt, billigt man und macht es für die Zukunft legitim." Es habe „lange Auseinandersetzungen gegeben", fuhr Chruschtschow fort. „Aber schließlich hätten auch diejenigen, die ein schlechtes Gewissen hatten, einer Erörterung der Frage auf dem Kongreß zugestimmt." Damit sagte also Chruschtschow: was immer Ehrenburg aüch behaupten mag, sein eigenes Gewissen hinsichtlich der Säuberungen sei rein.
Habe er sich selbst vor Stalin gefürchtet (auch dies wurde in Ehrenburgs Memoiren indirekt unterstellt)? Keineswegs! Chruschtschow führt einen Fall an, als er Stalin seine Meinung gesagt habe. Die Bauern der Ukraine seien unzufrieden, habe er dem Diktator gesagt. Der XIX. Parteikongreß (im Oktober 1962) habe festgestellt, daß das Getreide-Problem gelöst sei, und trotzdem hätten die Bauern kein weißes Brot zu essen. Mit der ganzen unwissenden Majestät einer Marie Antoinette habe Stalin geantwortet: „Die Ukrainer müssen weißes Brot erhalten."
An anderer Stelle seiner Rede bezog sich Chruschtschow auf die Vorschläge, die Organisation zur Kontrolle der Kunst zu straffen. Der Gedanke, einen einzigen Verband anstelle der jetzigen verschiedenen Verbände für Künstler, Schriftsteller usw. zu schaffen, fand bei ihm nur eine laue Aufnahme. Er erhob keine Einwände gegen das Fortbestehen getrennter Verbände, wie er sagte, solange ihre Arbeit nicht im Widerspruch zur Parteilinie stünde. Auf der anderen Seite stand er der Schaffung eines einzigen Verlagsunternehmens wohlwollend gegenüber und zwar aus Gründen, die er in seiner üblichen anschaulichen Art illustrierte: „Ein Schriftsteller schreibt ein schlechtes Buch. Er geht zu einem Verleger. Wenn er keinen Erfolg hat, geht er zu einem anderen. Falls er in Moskau oder Leningrad wohnt, und sie sein Manuskript -nicht annehmen, dann begibt er sich häufig in irgendeine abgelegene Gegend. In der einen oder anderen Stadt werden sie dann sein Werk herausbringen, weil sie sich geschmeichelt fühlen, ein Buch eines Schriftstellers aus der Hauptstadt herauszubringen.“
Eine strengere Aufsicht über die Veröffentlichungen sei notwendig, folgerte Chruschtschow, genüge aber allein noch nicht. Neue und wachsamere Leute müßten für die Arbeit des Herausgebens und Zensierens von Büchern, Schauspielen, Symphonien, Filmen und Rundfunksendungen gewonnen werden. Bezeichnenderweise gab er der Partei jetzt auf, sich nicht, wie sie es in letzter Zeit getan hatte, auf Literatur-und Kunstkritiker zu verlassen, wenn es galt, dafür zu sorgen, daß schöpferische Intellektuelle nicht aus der Reihe tanzten. Denn die Kritiker waren oft „nicht aus prinzipiellen Positionen, sondern aus Gruppen-Positionen heraus an ihre Arbeit herangegangen. Wir müssen diese Arbeit neu und anders organisieren".
Nichts illustriert deutlicher den improvisierten Charakter des Plenums, das Fehlen der früheren Koordinierung nach Stalinschem Muster als die Bemerkungen Chruschtschows über die vorgeschlagenen Änderungen im Verlags-wesen und über den Einheitsverband schöpferischer Künstler. Da Chruschtschow als einer der letzten das Wort ergriff, wußten die anderen anscheinend nicht, daß er der vorgeschlagenen Verlagsreform seinen Segen geben würde, und erwähnten sie deshalb so gut wie gar nicht
Einige Reden geben Aufschluß, nicht nur über die Atmosphäre von Unentschlossenheit im Plenum, sondern auch über den von Anfang an sprunghaften Verlauf der Kulturkampagne. Da Chruschtschow mit dringenderen Angelegenheiten beschätigt war, wie z. B. mit dem Streit in China oder dem Besuch Fidel Castros, blieb den kleineren Funktionären genügend Spielraum, um in Rivalitäten miteinander zu schwelgen. Nicht wenige hatten daher die Kampagne dazu benutzt, nicht nur den „Parteigeist" in der Kunst zu fördern, sondern auch ihre eigene Karriere zu verbessern.
So führte Adshubej, dessen Zeitung Iswestija dafür bekannt war, daß sie die Kulturoffensive zu dämpfen versuchte, mehrere Beispiele dafür an, „wie niedrig der Nutzeffekt der ideologischen Arbeit" sei, die von „Arbeitern der Ideologischen Sektion des Zentralkomitees“ geleistet werde. Damit war offensichtlich Iljitschew gemeint. Dieser beschuldigte andererseits die Minister für höhere und Hochschulbildung der „Nachlässigkeit bei der Erziehung der jüngeren Generation". Er fügte hinzu, daß man vom Kultusministerium eine „energischere Führung hätte erwarten können." Darauf antwortete der Kultusminister, Frau Jekaterina Furzewa, untertänigst, daß Iljitschews Kritik „berechtigt" und ihr Ministerium „schuldig" sei
In vielsagendem Gegensatz zu seiner früheren Rolle als Eiferer versäumte es Sergej Pawlow, der Führer des Komsomol, fast, die Kulturkampagne zu erwähnen, und sprach von den jungen Schriftstellern und Künstlern überhaupt nicht. Vielleicht aus dem Gefühl heraus, daß er in seinem Eifer zu weit gegangen war, bedachte er Chruschtschow mit mehr gedrechselten Lobesworten als irgendein anderer Redner der Versammlung.
Das Plenum war deswegen bemerkenswert, weil Kotschetow — er hatte ein Touristenvisum für einen Besuch in England, über sein Eintreffen, wenn es überhaupt erfolgte, wurde aber nicht berichtet — abwesend war und Jurij Shukow, Alexander Prokofjew und andere, die im Zusammenhang mit den schlimmsten Stadien der Kampagne genannt worden waren, keine Ansprache hielten. Extreme wurden verhindert, desgleichen Entscheidungen. Daß die Furzewa den Erfolg der sowjetischen Kulturkontakte mit dem Westen sehr herausstrich, war ein weiteres, ein positiveres Zeichen für das Nachlassen der Kampagne. Sie machte spöttische Bemerkungen über diejenigen, die die modernen Künstler unterstützt haben und noch unterstützten, und versetzte auch den Kritikern der modernen Kunst einen Hieb. Einer dieser Kritiker, so berichtete sie, habe Neiswestnyj in einer Versammlung heftig angegriffen, um ihm dann 12 000 (alte) Rubel für eine Statue zu bezahlen! Daß Gregorij Tschuchari, ein Filmregisseur, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, zum Redner ausersehen wurde, könnte sogar eine Geste der Versöhnung gegenüber den Liberalen gewesen sein.
Iljitschews dreistündige Rede war zwar kaum versöhnlich, nahm aber davon Abstand, Namen zu nennen oder allzu viel Verdruß zu bereiten. Sehr darauf bedacht, in allem, was er sagte, eine Bilanz zu ziehen, gab er sich große Mühe, nicht die Gesamtheit der intellektuellen Kreise vor den Kopf zu stoßen, wie er das in seinen Reden vom 7. und 8. März getan hatte. Sich an diejenigen wendend, die den sehnlichsten Wunsch haben, daß ihnen die Partei nicht hineinredet, fügte er hinzu:
„Denken wir alle daran, daß wir von sowjetischen Künstlern sprechen, von Menschen, die uns politisch nahe stehen. Es ist unsere Aufgabe, sie nicht zu exkommunizieren, sondern ihnen zu helfen, ihre künstlerischen und ideologischen Irrtümer einzusehen. Es widerspräche dem Geist unserer Partei, schöpferische Arbeiter, die Fehler begangen haben, in die Reihen der Hoffnungslosen und Unverbesserlichen zu verweisen." In schärfer gehaltenen Teilen seiner Rede forderte er die Herausgeber von Junost, Nowyj mir und Newa dazu auf, ihre Mißgriffe bei Veröffentlichungen zu erklären. Schließlich warnte er seine Zuhörer davor, anzunehmen, daß es sich nur um eine „zeitweilige Kampagne" gehandelt habe, die bald vorüber sei, daß „alles wieder vergessen" werde und daß man nur ruhig abzuwarten brauche. Damit sei es nicht getan! Die Partei führe keine Kampagne, sondern einen dauernden Kampf.
Wie steht es um die Zukunft?
Wie jedoch die Partei diesen „Kampf" führen solle, konnten weder Iljitschew noch irgendein anderer Redner im Plenum sagen. Die in der Sitzung angenommene Resolution enthielt nicht einen einzigen konkreten Vorschlag. Wenn die Ereignisse des letzten Winters etwas beweisen, dann das, daß die Erhaltung „ideologischer Reinheit" in der Kunst, was immer das auch bedeuten mag, selten für lange Zeit im Mittelpunkt des Parteiinteresses steht. Gelegentlich kann es bei einem Zusammentreffen verschiedener politischer Umstände für kurze Zeit der Fall sein. Sobald die Führer ihre Aufmerksamkeit einer dringenderen Krise oder einem Dilemma mehr praktischer Natur zuwenden, haben zweit-und drittrangige Funktionäre Gelegenheit, auf eigenem politischen Weideland zu grasen in der Atmosphäre, die die Führer hinterlassen haben. Auf diese Weise haben Literatur und Kunst — sozusagen in den Zeiten, in denen die Aufmerksamkeit ihrer Führer von ihnen abgelenkt war — in der Zeit zwischen 1959 und 1962 einiges an Boden gewonnen. Daß das Regime auch in Zukunft von seinen abstrakteren Zielen abgelenkt werden könnte, ist angesichts des zunehmenden Uberhandnehmens von wirtschaftlichen Aufgaben über die ideologischen um so wahrscheinlicher.
Die Partei wird jedoch sehr wahrscheinlich versuchen, ihre Aufmerksamkeit nie allzu lange von der Kunst abzuwenden. Da es der Stil des Chruschtschows-Regimes ist, zu improvisieren, sich über logische Unmöglichkeiten großzügig hinwegzusetzen, prinzipien-bedingten Alternativen aus dem Wege zu gehen — wie der, Konformität des Ausdrucks ohne Zwangsmaßnahmen zu erreichen —, dürfte es zu Mitteln greifen von der Art, wie es sie in der Wirtschaft anwendet: schärfere administrative Kontrollen und Personalveränderungen. Der Vorschlag, die Verbände der Schriftsteller, Künstler, Komponisten und Film-schaffenden zu einer einzigen Organisation zusammenzuschließen, ist vielleicht im Keime erstickt worden, nicht, weil die Liberalen dagegen gewesen wären — was ja zutrifft —, sondern weil die konservativen Schriftsteller selbst dagegen waren, sie, mit den großen Auflagen, den großen Tantiemen und daher auch großen Beiträgern zum Literatur-Fonds des Schriftstellerverbandes. So sehr sie auch daran interessiert sind, daß ihren liberalen Brüdern schärfere Zügel angelegt werden, sind die Privilegierten des Literatur-Fonds noch mehr daran interessiert, zu verhindern, daß die Landhäuser, Sanatorien und die übervollen Reisekassen des Schriftstellerverbandes unter bedürftige Bildhauer und Maler aufgeteilt werden. „Das Problem", schrieb der Dichter Nikolaj Gribatschow in einem aufschlußreichen Artikel, „ist groß, denn wir leben auf Erden und nicht im Himmel"
Die Schwierigkeit bleibt natürlich die, daß die schöpferische Arbeit von allen menschlichen Betätigungsgebieten diejenige ist, die am schwersten bürokratisch kontrolliert werden kann. Wie sollen Zensoren allein das in der Atmosphäre der heutigen Sowjetunion bewerkstelligen? Außerdem wird immer noch die Heuchelei praktiziert, auf die die Furzewa in ihrer Rede hinwies: Funktionäre wettern auf Parteiversammlungen gegen alles Neue, protegieren aber den Neuerer, indem sie seine Bilder zu Hause aufhängen. Aus den unterschiedlichen Maßnahmen, mit denen in den letzten Monaten von offizieller Seite versucht wurde, jeden Abtrünnigen einzeln in die Knie zu zwingen — Wosnesenskij, Neiswestnyj, Jewtuschenko, Nekrasow, Roshdestwenskij, Aksjonow und Ehrenburg —, ist ersichtlich, daß Günstlingswirtschaft und Protektion, die ja gerade das ungünstige Klima der letzten Jahre geschaffen haben, immer noch an der Tagesordnung sind.
Während man auf der einen Seite damit rechnen kann, daß sich die Bürokraten auf neue administrative Kontrollen werfen werden, haben literarische Kritiker seit Monaten ihre Bemühungen verstärkt, das Interesse der Schriftsteller und Leser von den zwanziger Jahren, dem Jahrzehnt funkelnder Experimente, wieder auf das 19. Jahrhundert zu lenken, vom Formalismus auf den Realismus, von der Neuerung zur Tradition, vom Westen zurück auf Rußland selbst. Beim letzten Punkt müssen wir einhaken. In ihrer Sorge über pro-westliche Gesinnung und alles, was damit in Zusammenhang steht — Pazifismus und ein Gefühl, daß „wir vielleicht ebensoviel Schuld haben wie der Westen" —, hat die Partei in den letzten Monaten nationalistische „Rußland-orientierte" Schriftsteller ermutigt. Aus diesem Grund hat sie nicht nur wohlwollend auf konservative Nationalisten wie Firsow und Gribatschow geblickt, sondern auch weiterhin die Werke von Liberalen veröffentlicht, die einen starken „pro-russischen Zug" aufweisen, wie Jaschin und Kasakow und sogar Tendrjakow. Die Schwierigkeiten dieser Politik sind zweifacher Art. Erstens wird es das Regime, wenn es seinen Bruch mit China akzeptiert, immer schwerer haben, die kulturellen Schranken gegen dem Westen aufrechtzuerhalten. Zweitens kritisieren die „pro-russischen" Elemente das Regime ebensosehr und sind in ihrem Versuch, es zu beeinflussen, weniger zurückhaltend als die Liberalen. Das geht aus Fjodor Abramows Roman „Ein Tag im . Neuen Leben'" hervor, der die Sinnlosigkeit und Verarmung von Chruschtschows Kolchosen kritisiert, wie auch aus dem ungezügelten Verhalten der Konservativen im April.
Da es also unwahrscheinlich ist, daß neue Richtlinien für Veröffentlichungen und neue Funktionäre dem Drang nach Experimenten lange Einhalt gebieten können, oder daß das Regime es für ratsam halten wird, mehr zu tun, als Kotschetow und Poltorazkij nur dann Handlungsfreiheit zu geben, wenn es sich ihrer bedienen will, um sie dann später mit einer Fahrkarte für eine Reise in den Westen abzuspeisen, dürfte das Hauptergebnis der Kampagne ihre Wirkung auf die sowjetische Öffentlichkeit sein. Gewiß, das Regime steht vor einem echten Dilemma: auf der einen Seite steht das Ende der Konformität des Denkens, wie sie unter Stalin existierte, auf der anderen das Entstehen einer unabhängigen öffentlichen Meinung. Diese öffentliche Meinung ist, da sie sich einer Kontrolle von oben entzieht, vom Standpunkt der Partei aus potentiell in Opposition. Aber die kürzlich geführte Kampagne um die Künste war kein konsequenter Versuch, mit diesem Problem fertigzuwerden. Von einer Gruppe innerhalb der Partei aus Gründen des politischen Vorteils veranlaßt und von rivalisierenden Bürokraten im Interesse ihrer eigenen widersprüchlichen Ziele aufgegriffen, verschlimmerte sie dieses Dilemma eher, als es zu beseitigen. Weit davon entfernt, die Kontrolle über die Gesinnung des Volkes zu festigen, könnte sich diese Kampagne auf lange Sicht als ein Stadium im Erosionsprozeß der Parteikontrolle erweisen.
Wenn auch nur durch die Art, in der sie die Kampagne aufzog, weitete doch die Partei den Umfang des Problems aus, mit dem sie fertig werden muß. Indem sie ihre Angriffe in der gesamten Presse führte — viel mehr noch als während der „Frostperiode" der Jahre 1954 oder 1957 —, machte die Partei bei vielen Bürgern, die früher nie davon gehört hatten, Reklame für die Arbeiten abstrakter Künstler und pro-westlicher Schriftsteller. Bei diesem Vorgang haben die liberalen Intellektuellen eher Anhänger gewonnen als verloren. Wenn das Entstehen einer öffentlichen Meinung bisher kein nationales Problem war, so ist es das jetzt geworden.
Der Mangel an Logik in dieser Kampagne muß für alle diejenigen eine demoralisierende Lehre gewesen sein, die scharfsinnig genug waren, ihn wahrzunehmen. Vor allem muß Chruschtschows Loblied auf Stalin im vergangenen März, als die Kampagne auf ihrem Höhepunkt war, enttäuschend für die vielen Russen gewesen sein, für die die Entstalinisierung eine schmerzliche, aber ernst genommene Verpflichtung ist. Kann ein so durchsichtiges Manöver, das vor aller Öffentlichkeit durchgeführt wurde, verfehlen, der idealistischen Jugend, die solche taktischen Kehrtwendungen bis jetzt noch nicht kennengelernt hatte, seinen Zynismus zu offenbaren? Wenn sie auch bisher noch nicht in Opposition standen, so dürften wenigstens einige dieser jungen Leute jetzt in Opposition gedrängt sein. Und diejenigen, die schon ihrer Natur nach eine Opposition darstellen, sind in Zukunft vielleicht weniger skrupellos hinsichtlich der Taktik, die sie sich glauben erlauben zu können.
Die größte Lehre der Kampagne ist aber die, daß es nicht nur möglich ist, den Forderungen der Extremisten zu trotzen, sondern daß sich unter gewissen Umständen der Widerstand auch bezahlt macht. Es besteht bereits eine Beziehung zwischen der öffentlichen Meinung und dem Machtkampf innerhalb der Partei. So unterstützen also die „Verschwörung des Schweigens" der Schriftsteller und Künstler und der Beistand, den sie dabei von anderen Intellektuellen erhielten, ganz klar und deutlich die Argumente der Gemäßigten innerhalb der Partei, daß Gewalt keine Antwort ist. Wenn sie stellvertretend gegen einige Einzelpersonen angewandt wird oder in genügend großem Umfang zur Anwendung kommt, um wirksam zu sein, würde man dabei allzusehr die Unterstützung der Öffentlichkeit verlieren.
Umgekehrt, wenige Stunden nach den Reue-bekenntnissen von Jewtuschenko und Wosnesenskij am 29. März, schrie der rechte Flügel nach mehr. Indem sie die Forderungen der Extremisten nur heraufschraubten, hatten diese Reuebekenntnisse den Druck auf die gesamte liberale Linke nur noch verstärkt und damit sogar auf die Parteimitte. Sie brachten nicht nur den Angriff nicht zum Erliegen, sondern gaben ihm neue Nahrung. In der schnellen Erkenntnis, daß ihre Entschuldigungen nicht nur unnötig, sondern auch ein politischer Fehler waren, weigerten sich die Dichter, noch weiter zu gehen.
Seit mehreren Jahren haben die weisesten und erfahrensten Liberalen wie z. B. Twardowskij erkannt, daß man mit Widerstand — wenn dieser geleistet werden kann — die Position der Gemäßigten innerhalb der Partei nur stärkt. Weil sie den Mut aufgebracht haben, auszuhalten, und oft nur unter schwerem Druck, sind Twardowskij und Männer wie er gelegentlich vielleicht sogar für ihren Widerstand mit Unterstützung von gemäßigten Elementen an der Spitze belohnt worden. Was Männer wie Twardowskij immer gewußt haben, haben andere jetzt vielleicht aus der Kulturkampagne der Jahre 1962/63 gelernt.
Während kein Zweifel darüber bestehen kann, daß das Meinungsklima innerhalb der Sowjetunion dazu beitrug, den jetzigen Ausgang der Kampagne zu bestimmen, ist es wahrscheinlich, daß die Intervention kommunistischer Parteien des Auslandes bei dieser Gelegenheit noch wirksamer war. Für alle diejenigen, die sie erlebt haben, muß jedoch die Kampagne eine aufschlußreiche Lehre über das innere Funktionieren einer sich wandelnden Partei gewesen sein. Sie hat dazu beigetragen, die Voraussetzungen für entscheidendere Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der sowjetischen Öffentlichkeit zu schaffen.