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Warum ist die Sowjetliteratur interessant? | APuZ 50/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 50/1963 Warum ist die Sowjetliteratur interessant? Das Sowjetregime und die Intellektuellen

Warum ist die Sowjetliteratur interessant?

Karl-Eugen Wädekin

Zahllose Übersetzungen aus dem Russischen

Auf dem deutschen Büchermarkt sind in den letzten Jahren Übersetzungen russischer Romane, Erzählungen und Gedichte in stattlicher Anzahl erschienen. Es gibt mehrere Verlage, die planmäßig von Zeit zu Zeit solche Werke herausbringen. Den Anstoß dazu gaben die großen geschäftlichen Erfolge von Büchern wie Dudinzews „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" und Pasternaks „Doktor Shiwago". Derart spektakuläre Auflagenzahlen haben sich bis jetzt nicht wiederholt, wenn auch zum Beispiel Ehrenburgs „Memoiren" und Baklanows „Ein Fußbreit Erde" verhältnismäßig hohe Auflagenzahlen erreichten. Aber auch die vielen anderen Übersetzungen aus der russischen Literatur müssen im großen und ganzen ihre Leser gefunden haben, sonst würden die Verleger sich kaum in diesem Ausmaß weiter darum bemühen.

Zweifellos spielt bei dem im ganzen zunehmenden Interesse — sowohl der Verleger wie des Leserpublikums — an der russischen Literatur der Gedanke eine Rolle, daß man neben den Werken westlicher Schriftsteller und Dichter auch von denen der kommunistischen Welt etwas kennen und in Übersetzungen zur Verfügung haben muß, daß diese Welt nicht nur politisch, sondern auch literarisch zu große Bedeutung für uns hat, als daß wir sie einfach ignorieren können. Auch wird das Interesse an der russischen Literatur durch politische Ereignisse wachgehalten. Zu diesen gehören sowohl Besuchsreisen in den Westen, wie zum Beispiel die des Lyrikers Jewtuschenko, als auch Veröffentlichungen von in den Westen geschmuggelten Manuskripten, die im Osten nicht erscheinen durften und von denen das bekannteste und bedeutendste, aber durchaus nicht einzige, Pasternaks berühmter Roman ist. Die wichtigsten Ereignisse dieser Art sind aber die Vorgänge an der kommunistischen „Kulturfront" selbst, die zuletzt im Winter und Frühjahr 1962/63 wieder die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zogen. Ist aber das, was diese Literatur für uns interessant macht, ausschließlich politischer Natur?

Vor der Beantwortung dieser Frage ist eine Einschränkung zu machen: Die folgenden Ausführungen befassen sich nur mit der russischen Literatur, weil dem Verfasser die Kenntnisse fehlen, um die gewiß nicht minder wichtigen Literaturen anderer osteuropäischer Völker mehr als nur mit kurzen Seitenblicken zu bedenken, obwohl die polnischen, tschechischen, slowakischen, ungarischen und anderen Autoren ebenfalls unser Interesse verdienen. Besonders in Polen erscheint seit Jahren vieles, was nicht nur dem Inhalt, sondern auch der Form nach durchaus zur großen, modernen Literatur gehört. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß, soweit es Übersetzungen betrifft, nur das in den Westen gelangt, was die Behörden der betreffenden kommunistisch regierten Länder dafür freigeben. Das machte sich zum Beispiel bei einigen Werken tschechischer und slowakischer Autoren stark bemerkbar, die in ihrem eigenen Land erregte Diskussionen auslösten, aber für die Über-setzung nicht freigegeben wurden. Jugoslawien handhabt die Vergabe von Übersetzungslizenzen großzügiger, wenn auch nicht ganz ohne politische Rücksichten, und es sind in letzter Zeit einige bedeutende Werke seiner verschiedenen Nationalliteraturen in deutschen Übersetzungen erschienen. Aber es ist eine Ironie der Weltpolitik, daß gerade aus den Literaturen der Völker der Sowjetunion alles, was im Westen interessiert, in Über-setzungen herausgebracht werden kann. Allerdings gelangt manches schon in der Originalausgabe nie oder nur in wenigen Exemplaren in den Westen, zum Beispiel bestimmte Ausgaben von Provinzverlagen. (Der in Kaluga erschienene Sammelband „Taruskije stranizy" und Ju. Kasakows Erzählungsbände „Na polustanke" und „Po doroge" gehören zu den berühmten bibliographischen Seltenheiten dieser Art.)

Der Grund für diese Sachverhalte ist einfach: Die Sowjetunion ist der Berner Copyright-Konvention nie beigetreten, die anderen osteuropäischen Staaten gehörten ihr schon vor der kommunistischen Machtergreifung an und haben daran auch später nichts geändert. Einem westlichen Verleger also, der ohne Lizenz ein polnisches, tschechisches, rumänisches usw. Werk in der Originalsprache oder in Übersetzung veröffentlicht, können auf Verlangen eines bevollmächtigten Vertreters des Autors oder des ursprünglichen Verlags durch die Gerichte seines eigenen Landes solche Piratendrucke untersagt bzw. kann die schon gedruckte Ausgabe beschlagnahmt werden. Das gilt auch dann, wenn, wie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten, keine diplomatischen Beziehungen bestehen. Die Sowjets dagegen ha3 ben keine Handhabe (wenn sie sich nicht, wie in Frankreich, mit Hilfe eines uralten Gesetzes, durch die Hintertür eine verschaffen), um Nachdrucke oder Übersetzungen zu verhindern. Sie selbst drucken und übersetzen skrupellos alles aus der Schönen und sonstigen (vor allem wissenschaftlichen) Literatur der nichtkommunistischen Welt, was ihnen interessant erscheint, und sie können westliche Verleger nicht am gleichen Vorgehen hindern. Inoffiziell versuchen sie, mit einzelnen westlichen Verlagen Absprachen zu treffen, in Deutschland besonders auf dem Weg über Lizenzausgaben von Übersetzungen ostzonaler Verlage; Paustowskijs lesenswerte Memoiren und P. Nilins „Shestokost" (deutsch: „Genosse Wenka") seien als zwei bekannte Beispiele für viele genannt Aber offiziell halten die Sowjets an dem Verzicht auf die Copyright-Konvention fest.

Traditionelles Interesse an russischer Literatur

Die russische Literatur gehörte in ihrer klassischen Zeit, dem 19. Jahrhundert, unbestritten zu den bedeutendsten Schöpfungen -europäi schen Geistes. Das Interesse an ihr bestand in Deutschland schon lange vor dem Ersten Weltkrieg, und in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts gab es eine Hochkonjunktur für russische Autoren, vor allem für Dostojewskij, aber auch für Tolstoi und die anderen Großen sowie für die in ihren bedeutendsten Vertretern emigrierten Schriftsteller des sogenannten Silbernen Zeitalters der russischen Literatur. Auch heute kehren Namen wie Tolstoi, Leskow, Dostojewskij, Turgenjew in deutschen Verlagsprogrammen immer wieder, sie scheinen ein sicheres Geschäft zu sein, aber Neues wird damit dem Leser nicht geboten. (Ein deutsches Kuriosum sei mit der Tatsache erwähnt, daß Tschechows Kurzgeschichten, die in den angelsächsischen Ländern und auch in Frankreich große Resonanz hatten, in Deutschland kaum Anklang fanden.) Neu sind aus der vorbolschewistischen Zeit höchstens einzelne bisher weniger bekannte Autoren, die nun einem größeren Publikum nahegebracht werden. zum Beispiel Gontscharow. Unsere Betrachtung kann sie aber beiseite lassen, denn es geht uns um die sowjetische, genauer: die sowjetrussische Literatur.

Ob der Begriff Sowjetliteratur überhaupt zulässig ist, soll hier nicht entschieden werden. Man kann gegen ihn vorbringen, daß das, was an dieser Literatur überhaupt den Namen verdient, zum Sowjetsystem nur äußerliche Beziehungen hat, und daß das, was „das Sowjetische" bestimmter Werke ausmacht, zwar mit Politik und Kommunismus sehr viel, mit Literatur und Kunst aber nur wenig oder gar nichts zu tun hat. Und manches, was dem Leser als „typisch sowjetisch" erscheinen mag, zum Beispiel die starke Bezogenheit auf soziale Probleme, war ein Charakterzug schon der vorsowjetischen russischen Literatur. Andererseits kann man doch von gewissen Besonderheiten sprechen, welche der Bolschewismus der russischen Literatur ausgeprägt hat, sei es im Negativen der berüchtigte „Sozialistische Realismus", sei es im Positiven die künstlerische Auseinandersetzung mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen. Aber ohne das Für und Wider des Begriffs hier näher zu erörtern, sollen im folgenden unter „sowjetrussischer" Literatur jene Werke zusammengefaßt werden, die unter der Sowjetherrschaft in Rußland entstanden sind. Auf die Literaturen der nichtrussischen, unter dem Sowjet-system lebenden Völker kann dabei nicht eingegangen werden; sie sind Studienobjekte für sich. Auch beschränken wir uns im folgenden auf eine Auswahl solcher Werke, die in deutschen Übersetzungen vorliegen.

Intellektuelle Neugier auf eine andere Welt

Beruht also, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, das Interesse an dieser Literatur lediglich auf politischen Faktoren?

Gewiß nicht. Da ist zunächst als Motiv die intellektuelle Neugier auf die andere Welt, die zudem als „slawisch", „russisch" oder gar „russische Seele" seit jeher einen gewissen „exotischen" Rhiz hat. Es ist eben ein nicht nur politisch, sondern auch ethnisch und kulturell sehr andersartiges Milieu, in das der Leser russischer Romane und Erzählungen eintaucht. Hinzu kommt, daß im neunzehnten Jahrhundert viele russische Erzähler zweifellos Welt-rang hatten. Den Weltrang kann man ohne Zögern auch einigen aus der frühbolschewistischen Zeit zuerkennen, zum Beispiel Gorkij, Pilnjak, Babel, Samjatin, Scholochow (nur in seinem „Stillen Don"), Olescha und einigen anderen. Für die folgenden Jahre der Stalin-herrschaft und der nachfolgenden Zeit wird man zögern, Namen zu nennen, welchen literarisch die gleiche Bedeutung zukommt, und wer welche nennt, muß sich auf Widerspruch gefaßt machen. Aber unbestreitbar gab es damals (Leonow, Gladkow, Fedin, Kawerin, Paustowskij und viele andere) und gibt es heute (Solshenizyn, Ju. Kasakow, Panowa, Tendrjakow, V. Nekrasow, um nur einige der mittleren Generation zu nennen) bedeutende Erzähler, deren Lektüre auch unter rein literarischen Gesichtspunkten lohnt. Allerdings sind ihre künstlerischen Mittel nach unseren Gesichtspunkten sehr konservativ; hier macht sich die gewaltsame Unterbrechung der modernistischen Strömungen der zwanziger Jahre entscheidend bemerkbar; erst in jüngster Zeit zeigen sich zaghafte Versuche, bei ihnen oder bei ausländischen Vorbildern (Hemingway vor allem, aber auch Gide, Proust, Camus, Joyce, Salinger, Kafka u. a.) wieder anzuknüpfen. In dieser Hinsicht ist die Situation in der sowjetrussischen Literatur grundsätzlich anders als in der polnischen. Aber das ändert nichts Grundsätzliches am künstlerischen Rang sowjetischer Romanciers und Erzähler. Mögen viele von ihnen noch etwas provinziell wirken, mag es viel Durchschnittliches oder sogar Minderwertiges in sowjetischen literarischen Zeitschriften und Büchern geben — ist das nicht auch bei uns so? Sind nicht auch bei uns neue Werke von wirklichem Rang eine Seltenheit? Wer sowjetrussische Literatur in bewußter, qualitativer Auswahl liest, dürfte ästhetisch nicht weniger auf seine Rechnung kommen als bei der Lektüre neuer Werke der deutschen Literatur, sofern er einer traditionellen Erzählweise etwas abzugewinnen vermag.

Trotz diesen künstlerischen — durchaus nicht von allen Fachleuten anerkannten — Qualitäten der sowjetischen Literatur dürften es in erster Linie politische Vorgänge und Einflüsse sein, welche das Interesse an ihren Werken hervorgerufen haben und wachhalten. Sowjetische Autoren schreiben ja für sowjetische Leser, nicht für das Ausland, und gerade deshalb besitzen ihre Erzeugnisse für uns einen hohen Informationswert. Denn außer dem, was die kommunistische Propaganda der Welt mitzuteilen für gut befindet, wissen wir immer noch recht wenig über das Leben in der Sowjetunion, -das wahre, nicht von kommunistischer oder antikommunistischer Propaganda verzerrte Bild dieses Lebens kennen wir nur in wenigen, oft zusammenhanglosen Strichen. Auch Kriegsgefangene und Reisende haben nur bestimmte Ausschnitte davon kennengelernt, und die Schilderungen von Emigranten betreffen meist eine schon recht weit zurückliegende Zeit und sind zudem — bewußt oder unbewußt — oft durch persönliche Motive beeinflußt. Sie alle tragen Wesentliches zu unserer Kenntnis bei, ergänzen die Einzelstriche, geben aber nicht das ganze Bild. Bei dieser Sachlage kann die sowjetrussische Belletristik manche Lücken unserer Kenntnis füllen, vorausgesetzt, daß wir ihre Werke in genügender Breite dazu heranziehen. Sie ist in einem gewissen Sinn authentisch, denn der Verdacht antikommunistischer Schwarzmalerei scheidet bei ihr von vornherein aus. Bei der sowjetischen Kulturpolitik und ihrer rigorosen Durchführung darf man getrost annehmen, daß sie nicht das Erscheinen eines Werkes zuließe, daß die bestehenden Zustände in Farben malt, die düsterer sind als die Wirklichkeit. Zwar wird von der sowjetischen Kritik einzelnen Autoren „Schwarzmalerei" vorgeworfen, aber das können wir als Spiegelfechterei abtun; der wahre Kern daran ist nur, daß solche Farben der Wirklichkeit näher kommen, als es sonst üblich und geduldet ist. Authentisch ist diese Literatur außerdem in dem Sinne, daß man am Kunstwerk besser als irgendwo sonst unterscheiden kann, ob der Autor seine innere Überzeugung vertritt oder ob er sein Werk politischen Direktiven anpaßt. Wenn man also von vornherein in Rechnung stellt, daß sowjetische Romane, und Erzählungen immer einen mehr oder weniger großen Teil an Reverenzen gegenüber dem Regime enthalten müssen, wenn man die Spreu vom Weizen zu sondern versteht, so hat man in ihnen ein wichtiges Zeugnis, nämlich ein Bild des Sowjetlebens, wie es sich denen darbietet, die darin leben, immer darin gelebt haben. Sie mögen gerade deshalb manche Dinge einseitig oder verzerrt sehen, aber die tausend großen und kleinen Einzelheiten kennen sie, wie kein Außenstehender sie je kennenlernen kann. Das gilt ebenso für die Literatur der Sowjetvölker wie für die aller anderen unter kommunistischer Herrschaft stehenden Völker.

Spiegelt die Literatur die sowjetische Wirklichkeit wider?

Dichtung und künstlerische Prosa der kommunistischen Staaten stellen also einen wichtigen Schlüssel zur Kenntnis und zum Verständnis ihres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems und vor allem des Lebens der Menschen in diesem System und der Menschen selbst dar. Aber wenn man anhand der klassischen russischen Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unschwer ein Kolossalgemälde des Rußlands jener Zeit, eine wahre „comedie humaine", entwerfen könnte, das zahllose farbige Details aufwiese, im ganzen eher düsterer als die damalige Wirklichkeit, jedenfalls nicht schönfärbend wäre, so ermöglicht die Literatur der Sowjetzeit ein solches Unternehmen nur in begrenztem Ausmaß; das ihr entnommene Bild ist einerseits lückenhaft, andererseits wesentlich lichter und im kommunistischen Sinne positiver als die Wirklichkeit. Diese Einschränkung ergibt sich aus dem Wesen des totalitären Staates kommunistischer Prägung, der nicht nur — wie schon dargelegt — das Erscheinen von literarischen Werken, die eine ihm feindliche Ein-Stellung zum Ausdruck bringen, verhindert, sondern sich auch ganz bewußt der Literatur als eines Mittels der Massenbeeinflussung bemächtigt hat. Schon im Jahre 1905 hatte Lenin die Einstellung der Bolschewiken zur Literatur definiert:

„Die literarische Tätigkeit... darf überhaupt keine individuelle Angelegenheit sein, die von der allgemeinen Sache des Proletariats unabhängig ist. Nieder mit den parteilosen Literaten! ... Die literarische Tätigkeit muß zu einem Teil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem . Rädchen und Schräubchen'des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen bewußten Vortrupp der ganzen Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird." (Werke, dt., Bd. 10, Ost-Berlin 1959, S. 30 f.) Allerdings hatte Lenin seinerzeit nicht alle Literaten gemeint, sondern nur jene, die in der bolschewistischen (damals: sozialdemokratischen) Parteipresse oder im Namen dieser Partei schrieben. Aber später wurden seine Worte auf jede literarische Tätigkeit überhaupt bezogen, und es ist wichtig, daß auch heute die kommunistischen Parteifunktionäre der Sowjetunion sich auf jenes Lenin-Zitat nur in Anwendung auf die gesamte Literatur berufen. Seit dem Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongreß (1934) sind die Anforderungen der Kommunistischen Partei an die Schriftsteller in dem Begriff des Sozialistischen Realismus zusammengefaßt, der für alle verbindlich gemacht wurde und im Grunde einen Widerspruch in sich darstellt. Denn „Realismus" ist hier mit so schwerwiegenden Vorbehalten verstanden, daß er dem eigentlichen Wortsinn nicht mehr entspricht. A. A. Shdanow gab in seiner Rede auf diesem Kongreß eindeutig zu erkennen, worin diese Vorbehalte bestanden, als er erläuterte, der Schriftsteller müsse „ ... das Leben ... darstellen ..., nicht scholastisch, nicht tot, nicht einfach als . objektive Wirklichkeit’, sondern als die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung"; eine solche Darstellung müsse „ ... mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen“.

Praktisch bedeutete dies, daß der Dichter und Schriftsteller die Schattenseiten des Lebens im Kommunismus nicht darstellen durfte, daß er nicht zu zeigen hatte, wie das Leben und seine Probleme wirklich waren, sondern wie sie „in ihrer revolutionären Entwicklung" zu sehen und zu deuten waren. Die Zukunft, so wie die kommunistische Lehre sie allgemeinverbindlich vor Augen stellte und zu verwirklichen suchte, mußte in der dichterischen Gestaltung der Gegenwart vorweggenommen werden. Und da — immer der kommunistischen Lehre zufolge — diese Zukunft durch den „Sieg der Weltrevolution", durch „Überfluß an materiellen Gütern", durch „hohes kommunistisches Bewußtsein der Massen" usw. gekennzeichnet war, mußten diese „objektiven Entwicklungstendenzen" im Kunstwerk und seinen Gestalten verkörpert und alles ihnen Zuwiderlaufende oder nicht Entsprechende verschwiegen oder lediglich als Übergangserscheinung dargestellt werden. Es war eine grandios-perverse Anwendung des Hegeischen Satzes, wonach alles, was wirklich sei, auch vernünftig, und alles, was vernünftig, auch wirklich sei. An die Stelle von Hegels „Weltgeist" trat nun die „gesetzmäßige" Entwicklung der Menschheit im Sinne der kommunistischen Lehre; nur was ihr entsprach, hatte „Wirklichkeit", was ihr nicht entsprach, war unvernünftig, also unwirklich, hatte also auch keinen legitimen Platz im „Realismus" der sowjetischen Kunst. Wer sich an diese Maximen nicht hielt, hatte keine Aussicht, gedruckt zu werden, und mußte außerdem Verhaftung oder sogar Tod gewärtigen.

Man muß diese Tatsachen und Grundsätze immer vor Augen haben, wenn man Werke der kommunistischen Schönen Literatur liest, besonders solche, die in der Stalinzeit veröffentlicht und von der sowjetischen Kritik gelobt und als repräsentativ im In-und Ausland verbreitet wurden. Infolgedessen erhebt sich die Frage, ob denn eine solche Literatur überhaupt echte Kenntnisse vom Leben in kommunistisch regierten Staaten vermitteln kann.

Wechsel zwischen Lockerung und Dogmatismus

Hier ist zunächst zu bemerken, daß es immerhin auch interessant ist, die Menschen und Lebensverhältnisse, so wie der Kommunismus sie haben und sehen will, anschaulich vor Augen gestellt zu bekommen.

Wichtiger aber ist die Tatsache, daß die Grundsätze des Sozialistischen Realismus nicht zu allen Zeiten der Sowjetherrschaft volle Geltung hatten und daß es selbst zu Zeiten ihrer vollen Geltung immer wieder „Abweichungen" von ihnen gegeben hat. Auch liegt es im Wesen der Kunst und des Schaffens wahrhaft begabter Künstler, daß das von außen Aufgezwungene, ohne echtes Ergriffensein Geschriebene fast immer unlebendig, nicht überzeugend wirkt und sich daher meist leicht erkennen läßt. Bewußt oder unbewußt wird darum der echte Künstler immer wieder versuchen, lebens-wahre Personen und Begebenheiten zu schildern und so die vorgezeichneten Bahnen des Sozialistischen Realismus zu verlassen. Oder er wählt Themen, bei denen politisch-ideolo-gische Gesichtspunkte keine Bedeutung haben (z. B. Naturschilderungen — so z. B. M. Prischwin, Ju. Kuranow u. a.), oder bei denen die Wirklichkeit tatsächlich mit den Anforderungen der Partei übereinstimmt (z. B. Patriotismus während des Zweiten Weltkrieges — s. unten), so daß der Autor tatsächlich aus innerer Über-zeugung heraus gestalten kann, ohne mit der Parteikritik in Konflikt zu kommen.

Auch gab es in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts in der Sowjetunion noch keine völlig einheitliche Kulturpolitik. Die antikommunistischen und „reaktionären" Schriftsteller kamen zwar nicht mehr zu Wort — sie waren emigriert, mundtot gemacht, gestorben oder ermordet —, aber auf dem Boden des Kommunismus oder des Sympathisierens mit ihm (die „Weggenossen", russisch: „poputtschiki", zu denen z. B. auch Ilja Ehrenburg zählte) entfaltete sich eine reiche Literatur in verschiedenen Gruppen und Schulen zu einer Blüte, wie sie seitdem nicht wieder erreicht worden ist. Kühnes Suchen nach neuen Ausdrucksformen und das Bemühen um dichterische Gestaltung der welterschütternden Revolution von 1917, ihrer Vorbedingungen und ihrer Folgen waren die Hauptmerkmale jenes literarischen Schaffens, das gegen Ende der zwanziger Jahre, als Stalin die Alleinherrschaft errungen hatte, immer mehr eingeengt und schließlich auf dem Schriftstellerkongreß von 1934 vollständig und endgültig gleichgeschaltet wurde.

In der darauffolgenden Zeit bis zum Tode Stalins und noch etwas darüber hinaus war der Sozialistische Realismus tatsächlich der beherrschende Zug der Sowjetliteratur und brachte ein fast völliges Erlahmen der künstlerischen Kräfte, in dem nur einige wenige Werke Ausnahmen bildeten — meist Werke älterer Schriftsteller, die ihre geistigen Wurzeln in der vorhergehenden Zeit hatten. Wer sich nicht anpaßte, bezahlte dafür früher oder später mit dem Tode (wie Babel, Pilnjak, Mandelschtam, Jasenskij, Kirschon, Kolzow u. a.), beging Selbstmord (Zwetajewa), überlebte als Lagerhäftling (Olescha, Sabolozkij, Serebrjakowa u. a.) oder verstummte notgedrungen (Achmatowa, Soschtschenko, Pasternak u. a.). Der Zweite Weltkrieg brachte vorübergehend eine gewisse Lockerung im geistigen Leben, der aber durch die berüchtigten, von Shdanow inspirierten „Beschlüsse des Zentralkomitees der KPdSU (B) zu Fragen der Literatur und Kunst" (1946— 48) ein Ende gesetzt wurde.

Den großen Umschwung brachte auch auf dem Gebiet der Literatur der Tod Stalins oder — genauer — die Absage an den „Persönlichkeitskult" Stalins. Ehrenburgs 1954 erschienener Kurzroman „Tauwetter" hat diesem neuen Aufbruch den Namen gegeben, obwohl er durchaus nicht das einzige Symptom war — Namen wie W. Panowa, W. Pomeranzew, F. Abramow, Lifschitz, Twardowskij W. Owetschkin, M. Schtscheglow wären ebenfalls zu nennen. Sie und noch andere haben, zum Teil als Schriftsteller, zum Teil als Literaturkritiker, die Wende angekündigt, noch bevor diese auf dem XX. Parteitag (1956) offiziell zur „Linie“ der Partei wurde, was allerdings dann die Entwicklung bedeutend beschleunigte und zu dem ersten Höhepunkt 1956/57 führte. Sehr bald sah die kommunistische Führung sich zum Eingreifen veranlaßt, um nicht die Kontrolle über die Dinge zu verlieren. Der Rückschlag war fühlbar, bedeutete aber keine grundsätzliche Umkehr, und bald begann sich eine neue, noch umfassendere Welle literarischen Freiheitsund Schaffensdranges zu erheben. Der Name Jewtuschenko (geb. 1933) wurde in der ganzen Welt bekannt als Symbol dieser zweiten Lokkerung, obwohl das mehr eine Folge der Publikumswirksamkeit dieses jungen Dichters als einer überragenden poetischen Begabung sein dürfte. Der Winter 1962/63 brachte dann mit den Veröffentlichungen V. Nekrasows, Solshenizyns und Abramows Werke von noch nicht dagewesener Kühnheit und Allgemein-gültigkeit der kritischen Aussage. Das wurde von maßgebenden Kräften in der Parteiführung als zu weitgehend empfunden und abrupt gestoppt. Der Sommer und Herbst 1963 bedeuteten einen Zustand unbehaglicher Labilität in der Kulturpolitik, in welchem sich die Waage bald zugunsten der „Dogmatiker" (in der Sowjetliteratur steht heute der Name W.

Kotschetow stellvertretend für diese restaurative Richtung), bald zugunsten neuer „Liberalisierung" zu neigen schien.

Die Neubelebung, die in allen europäischen Ostblockländern vor sich geht, wenn auch in sehr unterschiedlichem Grade, erhöht nicht nur den ethischen und künstlerischen Wert der Literatur, sondern auch ihre Bedeutung als Quelle der Kenntnis über unsere östlichen Nachbarn und über den Kommunismus als Herrschaftssystem. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die gegenwärtigen Verhältnisse, sondern auch auf die zurückliegende Zeit des Stalinismus, über die nun wieder offener geschrieben wird, wenn auch die volle Wahrheit noch immer nicht gesagt, geschweige denn gedruckt werden darf.

Abrechnung mit dem Stalinismus

Die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und seinen Auswirkungen im öffentlichen wie im privaten Leben wurde zu einem der großen Themen sowjetischer Schriftsteller. Gleichgül-tig, ob diese Auseinandersetzung direkten politischen Bezug hatte, ob der Autor das wollte oder nicht, sie war für einige Jahre die bewegende Kraft der Lockerung in der Kultur-politik. An ihr entzündeten sich die Diskussionen, und an ihr wurde deutlich, wie weit die Partei in ihrer Absage an den Stalinismus zu gehen bereit war. Namen wie Ehrenburg („Tauwetter"), W. Panowa („Die Jahreszeiten"), Dudinzew („Der Mensch lebt nicht vom Brot allein") standen am Anfang. An sich wurde von ihnen über Stalins Terrorsystem nichts gesagt, was nicht im Westen wie im Osten längst bekannt war, aber daß es nun auch in der Sowjetunion gesagt und gedruckt werden durfte, das erregte die sowjetischen Leser und überzeugte viele Menschen im Westen, die bis dahin die Berichte von Emigranten und heimgekehrten Gefangenen als übertrieben zu betrachten geneigt waren. Ein neuer, wahrhaftigerer Ton klang in den Werken solcher Schriftsteller an, auch wenn die literarische Qualität in manchen Fällen nicht wesentlich über ihrem bisherigen Schaffen stand. Letzteres trifft unter anderem für Dudinzews Roman zu, der als erster weltweites Aufsehen erregte und in viele Sprachen übersetzt wurde. Bedeutender und in der Kritik weitergehend waren Granins Kurzgeschichte „Die eigene Meinung" und Bondarews Roman „Vergiß, wer du bist", aber erst Solshenizyns „Ein Tag des Iwan Denisowitsch" hat wieder ähnliche Wirkung im Ausland gehabt. Diese Erzählung nimmt auch rein als Ereignis der russischen Literatur eine Sonderstellung ein. Ihre Sprache und ihr Stil dürften sich in keiner Übersetzung zulänglich wiedergeben lassen. Solshenizyn, der inzwischen noch einige weitere Erzählungen veröffentlicht hat, war bis 1962 nicht als Schriftsteller hervorgetreten. Er soll an Krebs leiden, so daß ihm vermutlich kein langes Wirken beschieden sein und er eine einmalige, nirgends richtig einzuordnende Erscheinung bleiben wird. Seine erste Erzählung schildert einen Tag im Leben eines sowjetischen Lagerhäftlings, wie er selbst auch einer gewesen war. Gerade durch die Sparsamkeit seiner Mittel, durch den Charakter der Alltäglichkeit, den er dem unmenschlichen Lagerleben verleiht, durch die einfache, auf jeden schreierischen Effekt verzichtende Sprache, die er mit hoher Meisterschaft handhabt, macht Solshenizyn tiefen Eindruck auf seine Leser, besonders aber auf russische Leser, die in seinem Iwan Denisowitsch einen einfachen Vertreter ihres Volkes so überzeugend dargestellt finden wie in keinem anderen neueren Werk. Das schon allzu abgegriffene Wort vom „russischen Menschen" hat hier seine Berechtigung Wir sehen bei Solshenizyn, wie dieser russische Mensch sich seine tiefere Substanz trotz des stalinistischen Terrorsystems bewahrt hat, aber auch, wie er in der lebensnotwendigen Anpassung an die „Gesetze" dieses Systems die Gegebenheiten als unabänderlich hingenommen, sich mit ihnen abgefunden, sich in ihnen eingerichtet hat. Das soll uns nicht zu vorschnellen Verallgemeinerungen in der einen oder anderen Richtung verleiten, aber eine der vielen Seiten der sowjetrussischen Wirklichkeit ist hier sicherlich zutreffend wiedergegeben. Daß man aber auch anderes zu diesem Thema in der sowjetrussischen Literatur finden kann, beweist Abram Terz mit seiner Erzählung „Der Prozeß beginnt", die nur als Manuskript in den Westen gelangte und dort veröffentlicht wurde. Sie atmet den Geist ätzender Kritik und innerer Auflehnung. Neben Pasternaks „Doktor Shiwago" ist sie wohl das literarisch bedeutendste unter den bis heute in der Sowjetunion noch unterdrückten Werken. Es gibt solche Werke aber zweifellos in größerer Zahl, als wir es feststellen können, und sie gehen heimlich von Hand zu Hand oder ruhen völlig unbekannt in Schubladen.

Auch Jurij Bondarews genannter Roman (der russische Titel heißt übersetzt eigentlich: „Die Stille") ist nicht von Fügung in das Unabänderliche durchdrungen, obgleich am Ende die Hoffnung steht, daß alles ohne Umsturz besser werden wird. Er spielt in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und schildert das Erleben eines Mannes, der als sowjetischer Offizier seine Heimat verteidigt hat und es nun schwer findet, im Zivilleben das charakterlose Strebertum der politischen Karrieristen, ihre Ränke und Schiebungen, das Unrecht der Verhaftungen und das angsterfüllte, von vielen wider besseres Wissen vorgetragene Bekenntnis zum System mit anzusehen und mitzumachen. Die meisten Werke, die eine Abrechnung mit dem Stalinismus enthalten, sind in ihrem Hauptthema auf anderes gerichtet. Als ihre indirekten Vorläufer können wir jene Romane und Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg betrachten, die von dem üblichen hurra-patriotischen und überall die Partei herausstreichenden Schema abwichen. Zu ihnen gehören V. Nekrasows „In den Schützengräben von Stalingrad", W. Grosmans „Wende an der Wolga" (genauer übersetzt: „Für die gerechte Sache"). Nekrasows Kriegsroman erschien schon 1946 und hatte den seltenen Erfolg, daß sowohl deutsche wie sowjetische ehemalige Kriegsteilnehmer ihm hohe Anerkennung zollten Er lag früh auch in deutscher Übersetzung vor und verdient eine Neuauflage. Bei Baklanow blitzt in „Ein Fußbreit Erde" zwar gelegentlich Deutschenhaß auf, aber in „Die Toten schämen sich nicht" finden sich bereits Ansätze zur menschlichen Differenzierung gegenüber den einstigen Gegnern, und im ganzen ist sein eigentliches Thema nicht die Feindschaft, sondern Leben und Leiden des Soldaten im Krieg. In dieser Hinsicht sind seine Echtheit und Ehrlichkeit unverkennbar, nicht zuletzt darin, daß in der vordersten Frontstellung Partei und politische Phrasen überhaupt keine Rolle spielen.

Der Generationenkonflikt

V. Nekrasow hat in späteren Werken seine Überzeugungen mit zunehmender Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Sein in Deutschland zu wenig beachteter Roman „Ein Mann kehrt zurück" (genauer übersetzt: „In der Heimatstadt") nahm manches vorweg, was bei Bondarew (s. oben) später und schärfer zum Ausdruck kam. Mit „Kyra Georgijewna" hat er 1961 die Erzählung von einer Frau zwischen drei Männern geschaffen, die Gültigkeit auch über den sowjetischen Bereich hinaus hat, gleichzeitig aber eine der bisher schärfsten indirekten Kritiken am Stalinismus enthält. Denn Nekrasow zeigt hier, daß der Terror die Menschen, die sich ihm anpassen, innerlich aushöhlt. Die positive Gestalt ist bei ihm der ehemalige Lagerhäftling, der ungebrochen blieb und es als den Sinn seines weiteren Lebens betrachtet, dafür zu wirken, daß sich solche Dinge nie wiederholen. Zugleich ist aber sein Wadim dem Helden Solshenizyns (s. oben) insofern innerlich verwandt, als er nicht die Abrechnung mit allen jenen fordert, die unter und mit Stalin für das Unrecht verantwortlich waren, sondern vor allem den Aufbau einer besseren Zukunft. Eine zweite Gestalt dieses Romans, der junge Jurotschka, der die Zeit vor 1953 nur als Kind erlebt hat, geht aber einen Schritt weiter, indem er die Generation derer, die vom Stalinismus geprägt wurden, ablehnt, oder richtiger: überhaupt nicht versteht, und sich zum ehemaligen Häftling Wadim hingezogen fühlt. Ist „Kyra Georgijewna"

in erster Linie der Roman einer Frau und der künstlerisch tätigen sowjetrussischen Intelligenzia, so klingt in der Gestalt Jurotschkas ein anderes Thema an, das in der sowjetischen Gesellschaft leidenschaftlich diskutiert wird:

Der Gegensatz zwischen den Generationen.

Chruschtschow — und andere in seinem Kielwasser — leugnen leidenschaftlich, daß es einen solchen Gegensatz überhaupt gibt. Die Literatur ist aber der beste Beweis für das Gegenteil. Das gilt sowohl für die publizierten Schriftsteller, von denen Aksjonow und Jewtuschenko zu nennen wären, als auch für die nicht publizierten der „vierten Generation" (seit Lenin), von denen wir erstmals durch ein in den Westen gelangtes Heft ihrer Untergrundzeitschrift „Phoenix" genauere Kenntnis erlangt haben. An den Dichtern des „Phoenix" ist verschiedenes bemerkenswert: Sie sind in ihrer Mehrzahl zweifellos begabt; sie verwenden Rhythmen, Reime und Strophenbau, wie sie in der gedruckten sowjetrussischen Poesie in dieser Kühnheit kaum zu finden sind; sie sind sich bewußt, eine ganz neue Generation zu sein, und wenden sich auch von Jewtuschenko als einem Opportunisten ab; sie sprechen vom „Rußland der sechziger Jahre" in deutlicher Anspielung auf das Rußland der „Sechziger" vor einem Jahrhundert, als die Leibeigenschaft aufgehoben, liberale Reformen verkündet wurden, die zu Hoffnungen berechtigten, aber später in der Reaktion Alexanders III. und Pobedonoszews endeten; sie lehnen das Regime Chruschtschows ebenso ab wie das Stalins, glauben nicht an eine grundlegende Wandlung durch Evolution, sondern wollen — in betonter Bezugnahme auf das Jahr 1917 — den gewaltsamen Sturz des bolschewistischen Systems. Es wäre verfrüht, diese Stimmungen als repräsentativ für die Mehrheit oder auch nur einen zahlenmäßig großen Teil der Sowjetjugend zu betrachten, aber der Nachweis, daß es sie gibt, daß begabte junge Dichter zu ihren Trägern gehören, liegt im „Phoenix" vor. (Leider ist noch keine Über-setzung erschienen; einen ausführlichen Bericht mit Übersetzungsproben brachte „Osteuropa", Heft 4/1963, S. 209— 226.)

Daß es sich beim „Phoenix" nicht um eine völlig isolierte Erscheinung ohne weitere Bedeutung handelte, bewies nicht zuletzt die heftige Reaktion der sowjetischen Presse, bewies ein ziemlich deutlich gegen diese jungen Kollegen gerichtetes Antwortgedicht Jewtuschenkos und beweisen vor allem die abgeschwächten Stimmen jugendlicher Opposition in einigen zum Druck zugelassenen Werken.

Von ihnen ist in Deutschland Aksjonows „Fahrkarte zu den Sternen" bekannt geworden, ein talentiert geschriebener Jugendroman, in dem stellenweise der stilistische Einfluß Hemingways unverkennbar hervortritt. Es geht darin um eine Gruppe junger Moskauer, denen das geregelte Leben im Elternhaus mit der ihnen vorgebahnten und vorgeplanten Berufslaufbahn von Grund auf widersteht. Sie wollen Freiheit, Ungebundenheit, Risiko — kurz: das in vollen Zügen gelebte Leben, das ihnen die verbürgerlichte Atmosphäre des wohlsituierten Elternhauses unmöglich macht. So laufen sie von zuhause fort und treiben sich in Estland herum. Ihre Charaktere, ihr Umgangston, ihre jugendliche Unausgeglichenheit, der ein versteckter Idealismus dennoch einen gewissen inneren Halt gibt, sind frisch und lebenswahr gezeichnet und ergeben ein ganz anderes Bild der sowjetischen Jugend als das uns im üblichen Komsomol-Schrifttum präsentierte. Es endet dann — natürlich — doch alles „positiv": Durch Arbeit finden die jungen Menschen zurück zum Kollektiv. Aber bezeichnenderweise spürte die sowjetische Kritik mit aller Deutlichkeit, daß hier ein nicht in das System passender Rest blieb. Da aber andererseits Aksjonow seine Leser zu packen verstand und ein großes Echo fand, haben die kulturpolitischen Instanzen der Verfilmung seines Romans zugestimmt. Allerdings stellten sie eine Bedingung: Der Autor mußte sein Werk im Sinne der Parteikritik umgestalten.

Andere „heiße Eisen"

Jugendproblem und Generationengegensatz gehören zum Erbe des Stalinismus, sind aber nicht ausschließlich sein Produkt. Das trifft auch für zahlreiche andere Probleme zu, die in den kühneren Werken der heutigen Sowjetliteratur behandelt werden. Sie alle hier auch nur zu streifen, würde zu weit führen.

Doch bei einem Gebiet, das wie kaum ein anderes unter dem Erbe Stalins leidet, soll noch kurz verweilt werden: die kollektivierte Landwirtschaft. Solouchins „Ein Tropfen Tau" enthält drei Hauptbestandteile: eine wunderbare, hochpoetische Schilderung russischen Landlebens, zum Teil noch in der Zeit vor der Kollektivierung; eine indirekte, vernichtende Kritik an der Stalinschen Agrarpolitik, deren Folgen Interesselosigkeit der Bauern, verbunden mit scharfem Rückgang der Produktion, und Verelendung und Entvölkerung russischer Dörfer waren; und schließlich eine optimistische Darstellung der agrarpolitischen Maßnahmen Chruschtschows und ihrer Auswirkungen. Solouchin ist vorsichtig genug, alles Negative auf die Zeit vor Stalins Tod zu konzentrieren, und was er da zu sagen hat, ist absolut niederschmetternd. Wer aber nun behaupten wollte, das habe mit der Gegenwart nichts mehr zu tun, der braucht nur zu Abramows „Ein Tag im . Neuen Leben'" (genauer übersetzt: „Um den heißen Brei") zu greifen, um sich eines Besseren — bzw. Schlechteren — belehren zu lassen. Diese meisterhaften Skizzen des sowjetischen Landlebens, unmittelbar aus der Wirklichkeit der jüngsten Zeit genommen, sind das Enthüllendste, was seit der „Gleichschaltung" von 1934 in der Sowjetunion über die Situation auf dem Lande gedruckt werden durfte.

Der Stalinismus und sein Erbe sind längst nicht mehr die einzigen „heißen Eisen", welche sowjetische Schriftsteller in letzter Zeit angefaßt haben. Die Frage der Religion ist ein weiteres, das auch nach mehr als vierzig Jahren kommunistischer Herrschaft noch aktuell ist. Ganz abgesehen von den Konfessionen und von den nichtchristlichen Religionen der asiatischen Landesteile muß man dabei auch im Hinblick auf die europäischen Landesteile immer daran denken, daß orthodoxe Kirche und Religion in Rußland nicht identisch sind: Die Bedeutung der Sekten ist gerade seit der Oktoberrevolution sehr gestiegen. Daher behandelt Jewdokimow in „Xenia, die Sünderin" das Leben von Sektierern, nicht ohne propagandistische Ausfälle gegen diese, aber doch auf gutem literarischem Niveau. Tendrjakow dagegen läßt die Ereignisse um die Ikone des „Wundertätigen Nikolaus" in orthoxem Milieu spielen. Zwei von Kasakows Kurzgeschichten, „Das himmelblaue und das grüne Fenster" und „Der Pilger" in dem (von einem deutschen Verlag zusammengestellten) Sammelband „Musik bei Nacht" spielen unter religiösen, aber nicht streng kirchlich eingestellten Menschen. Im übrigen sei auf Kasakow auch hingewiesen, weil er eines der vielversprechendsten jüngeren Talente der russischen Literatur ist und die Themen seiner Kurzgeschichten bewußt aus dem unpolitischen Leben nimmt.

Die Probleme der modernen Industriegesellschaft und der Welt der Wissenschaftler und Techniker werden von einigen Schriftstellern in zunehmendem Maße unter Loslösung von dem weltanschaulichen Schema behandelt. Als Beispiele dafür seien Tendrjakows „Kurzschluß" (in dem deutschen Sammelband „Die stumme Klaviatur"), Aksjonows Arztroman „Drei trafen sich wieder" und Granins unter Physikern spielender Roman „Zähmung des Himmels" (genauer übersetzt: „Dem Gewitter entgegen") genannt. Natürlich ist für westlichen Geschmack darin noch viel zu viel Politik zu finden, und zwar kommunistische Politik samt ihrer Ideologie, aber es ist doch bedeutend weniger als in früheren Werken und bei manchen politisch stärker engagierten Kollegen dieser Autoren. Die Vertreter der sowjetischen Intelligenzschicht, die uns hier entgegentreten, sind lebendige Menschen und nicht dogmatische Marionetten. Wer schon mit sowjetischen Wissenschaftlern und Künstlern zu tun hatte, findet viele ihrer Züge in diesen Romanfiguren wieder. Der sowjetische Leser aber empfindet vor allem diese Lebensechtheit und nimmt den zugleich erhobenen ideologischen Zeigefinger der Autoren mehr oder weniger gelassen mit in Kauf.

Widerstreit zwischen künstlerischen und politischen Maßstäben

überhaupt muß man immer im Auge behalten, daß wir die Werke der sowjetrussischen Literatur mit anderen Augen lesen als die Menschen, für die sie eigentlich bestimmt sind. Ein besonders schlagendes Beispiel dafür sind V. Nekrasows verschiedene Reiseskizzen, die er nach zwei Aufenthalten in Italien und einem in den USA schrieb. Für den unbefangenen westlichen Leser sind sie gute Prosa und enthalten wenig Auffallendes. Es ist kein Zufall, daß sie bisher noch keinen ausländischen Verleger gefunden haben. Nur der Spezialist spürt in ihnen eine neue Art, über das „kapitalistische" Ausland zu schreiben, und bemerkt manchen interessanten, vergleichenden Seitenblick des Autors auf die Zustände in seiner Heimat. In der Sowjetunion aber haben sie großes Aufsehen erregt und den höchsten Zorn der Partei hervorgerufen. Der Grund ist ein — trotz kommunistischen Standpunkts eindeutig — unverkennbar ehrliches Bemühen Nekrasows, die Menschen und Zustände des Westens objektiv zu sehen und zu verstehen und Vergleiche auch dann zu ziehen, wenn sie nicht eindeutig zugunsten des eigenen Landes ausfallen.

Das Dilemma bei der Beurteilung sowjetischer Literatur wird hier offenbar: Die Maßstäbe der Kunst auf der einen, des Informationsbedürfnisses und politischen Interesses auf der anderen Seite liegen im Widerstreit. Der am Osten Interessierte wird oft jene Werke literarisch überbewerten, in denen er das politisch und menschlich Besondere, das Neue nach der Einöde des Sozialistischen Realismus findet, der ästhetisch Interessierte wird leicht dem Kunstwerk Unrecht tun, weil er den ideologisch-politischen Beigeschmack als zu störend empfindet und nicht beurteilen kann, wieviel Mut und literarisches Können dazu gehören, unter den Bedingungen des Sowjetsystems diesen Beigeschmack in gewissen Grenzen zu halten. Es wird noch lange dauern, bis wir Werke der Sowjetliteratur unter rein künstlerischen Gesichtspunkten beurteilen und ohne Einschränkungen mit dem Besten und auch dem der nur Guten Weltliteratur vergleichen dürfen. Aber ein vielversprechender Anfang trat in den letzten fünf bis acht Jahren unverkennbar in Erscheinung. Das ist es, was die Sowjetliteratur von heute sowohl als Literatur wie als Zeugnis der Wandlungen im Sowjet-system interessant macht.

Fussnoten

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Karl-Eugen Wädekin, Dr. phil., Assistent am Institut für politische Wissenschaft an der Technischen Hochschule Aachen. Mitredakteur der Zeitschrift „Osteuropa". Geb. am 21. Mai 1921 in Bad Wörishofen.