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Geschichte als Wissenschaft vom Menschen | APuZ 47/1963 | bpb.de

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APuZ 47/1963 Politische Bildung in einem pluralistischen Staat Geschichte als Wissenschaft vom Menschen

Geschichte als Wissenschaft vom Menschen

Die Frage nach dem Menschen wird heutzutage überall in der Welt mit einem Ernste gestellt wie kaum zuvor in der Geschichte. Denn es geht nicht nur darum, ob der Mensch der Zukunft in der einen oder anderen Hinsicht anders sein wird als der der Vergangenheit, sondern es ist ungewiß geworden, ob er überhaupt die Züge tragen wird, die nach unserer Überzeugung den Menschen vor allen anderen Wesen auszeichnen; oder mit anderen Worten: es ist nicht sicher, ob der Mensch der Zukunft „menschlich" sein wird. Diese bange Frage bricht immer wieder auf, seit wir eine bestimmte geschichtliche Erfahrung gemacht haben: die Erfahrung totalitärer Systeme. Dabei geht es jedoch nicht nur um diese Systeme selbst, sondern um eine bisher kaum geahnte Möglichkeit des Menschen schlechthin. Wie Hannah Arendt feststellt, ist in den totalitären Regimen nur eine Krise besonders sichtbar geworden, „in der wir heute alle und überall leben"

Die Frage nach dem Menschen ist ihrer Natur nach mit der Frage nach der Geschichte verbunden. Schon wenn man einen einzelnen Menschen kennenlernen will, ist der bisherige Lebenslauf wichtiger als äußere Daten, wie Körpergröße, Haarfarbe, Gewicht oder Statur, und auch noch aufschlußreicher als allgemeine statische Eigenschaftsangaben wie ehrlich, hinterhältig, egoistisch, charakterfest oder hilfsbereit. Man wird sogar sagen müssen, daß solche Eigenschaftsangaben erst dann ihr volles Gewicht erhalten, wenn der Lebenslauf sie bestätigt, ja daß sie überhaupt nur durch eine gewisse verallgemeinernde Abstraktion aus dem bisherigen Verhalten des betreffenden Menschen gewonnen werden können. Nicht anders steht es bei der allgemeinen Frage nach dem Menschen. Die Geschichte sagt uns, wer der Mensch ist, indem sie uns sagt, was er getan und erlitten hat. So hat schon Dilthey formuliert: „Was der Mensch sei, erfährt er nur durch die Geschichte." Neuerdings hat Heimpel in seiner Rektoratsrede vom 9. Mai 1953 diese Aussage zugleich mit einer Hoffnung verbunden, indem er erklärte, daß geschichtliche Tiefe in der Lage sei, unsere Menschlichkeit zu retten Das würde also bedeuten, daß unsere Geschichtlichkeit und unsere Menschlichkeit eng zusammengehören. Vielleicht wird sich dieser Satz im Laufe der weiteren Überlegungen in einer Weise bestätigen, wie er von Heimpel damals wahrscheinlich gar nicht gemeint war.

Auf jeden Fall gehören Mensch und Geschichte zusammen. Dabei ist Geschichte freilich nicht das gleiche wie Veränderung und Zeit. Die heutige Naturwissenschaft zeigt, daß auch die Materie in viel innigerer Weise der „Zeitlichkeit" angehört, als es frühere Jahrhunderte geahnt haben: „So legt Whitehead dar, daß das Sein eines Wasserstoffatoms Zeit in Anspruch nimmt, die Zeit, die nötig ist, um den besonderen Bewegungsrhythmus zu erzeugen, der es von anderen Atomen unterscheidet." Eine „zeitlos" in sich ruhende Materie ist heute eine überholte Vorstellung. Darüberhinaus hat die Naturwissenschaft erwiesen, daß die Gesamtentwicklung der Materie und des Lebendigen als ein in einer bestimmten Richtung laufender Prozeß aufgefaßt werden muß. Der alte Gedanke des ewigen Kreislaufs und des großen Weltenjahres ist widerlegt. So wird auch innerhalb der materiellen und biologischen Entwicklung ständig das jeweils Gegenwärtige zu einer unwiderruflichen und nie wiederkehrenden Vergangenheit und das Ganze bewegt sich unaufhaltsam auf eine bisher noch nicht dagewesene Zukunft hin.

Trotzdem bleibt, wie Collingwood eindrucksvoll unterstrich, zwischen Geschichte und Entwicklung ein wesentlicher Unterschied: „Die Ereignisse in der Natur sind bloße Ereignisse, also keine Taten von Tätern, deren Denken der Naturwissenschaftler zu erforschen bestrebt sein müßte" dieser untersucht beim einzelnen Ereignis vielmehr nur „seine Beziehungen zu anderen Ereignissen und bringt es so auf eine allgemeine Formel oder unter ein allgemeines Gesetz der Natur" Auch bei Ereignissen, die durch unbekannte Impulse hervorgerufen oder beeinflußt sind — man denke etwa an die von der Biologie postulierten „Großmutationen" —, versagt er es sich, die betreffenden Ereignisse als Taten aufzufassen. Denn er kann mit seinen Experimenten zwar die Natur „auf die Folter spannen" und zu Antworten zwingen, aber kein „Subjekt der Weltbewegung" zur Rede stellen und nach seinen Gedanken fragen. Demgegenüber ist der Historiker in einer anderen Lage: „Die Ereignisse der Geschichte sind ... Abläufe von Taten, die eine innere, aus Denkprozessen bestehende Seite haben." Der Historiker kennt ein Subjekt für die Ereignisse der Geschichte: den Menschen.

Subjekt zu sein bedeutet dabei mehr als Ursache zu sein: Ursachen kennt auch der Naturwissenschaftler, rechnet ständig mit ihnen und berechnet ihre Wirkungen. Ein geschichtliches Subjekt aber ist dadurch gekennzeichnet, daß es sich nicht berechnen läßt, daß es vielmehr bewußt und frei handelt. In diesem Sinne lautet Rothackers „erster Satz": „Der Mensch ist ein handelndes Wesen" und mit den gleichen Worten definiert Gehlen als „erste Formel" „den Menschen als handelndes Wesen" womit er ihn als ein „stellungnehmendes, nicht festgelegtes, verfügendes (auch über sich selbst verfügendes) Wesen" charakterisieren will.

Handelndes Subjekt zu sein setzt auch ein besonderes, neues Verhältnis zur Zeit voraus: „Wir unterliegen nicht blind dem , hic et nunc'des Gegenwärtigen, wir gehen darin nicht auf, wie die Pflanze und das Tier im jeweils Gegenwärtigen aufgehen." „Beides, der Rückgriff auf Vergangenes und der Vorgriff auf Künftiges, das erkennende und wieder-erweckende Sich-beziehen auf zeitlich Zurückliegendes sowie das planende, wollende, gestaltende Sich-beziehen auf zeitlich Voraus-liegendes, ist in gleicher Weise wesentlich für den Menschen als Ursprung der Geschichte." Das heißt mit anderen Worten: Für ein als Subjekt in der Geschichte handelndes Wesen genügt es nicht, in der Zeit zu stehen bzw. abzulaufen, sondern es ist ebenso nötig, die jeweils gegenwärtigende Zeit denkend zu transzendieren

Trotzdem wird man freilich Collingwood nicht zustimmen können, wenn er angesichts der engen Bezogenheit von denkendem Menschen und Geschichte den Satz wagt: „Die ganze Geschichte ist Geschichte von Gedanken." Denn so sehr Geschichte die Geschichte des Menschen ist, so wenig macht der Mensch allein Geschichte. Die Geschichte vollzieht sich vielmehr im gleichen Raume, in dem auch die materielle und biologische Entwicklung samt ihrer Struktur und ihren Gesetzen weiter-läuft, deren Subjekt der Mensch nicht ist. Das Ineinander von Geschichte und Entwicklung ist um so unauflöslicher, als auch der Mensch selbst, das Subjekt der Geschichte, zugleich Teil der materiellen und biologischen Welt bleibt.

In dem so bestehenden komplexen Raume können auch kosmische und biologische Ereignisse zu geschichtlichen Tatsachen werden: Man denke an die Pest in Athen, den Tod der Zarin Elisabeth oder den Sturm, der die Armada trat Vor allem aber: der Mensch bleibt trotz seines die Zeit transzendierenden Denkens immer und überall zugleich auch in der Zeit. Nicht nur „Gedanken", sondern auch biologische Bedürfnisse des Augenblicks können ständig zu Motiven seines Handelns wer-* den, wobei sich beide zuweilen kaum durchschaubar überlagern und verbinden.

Aber es gibt nicht nur eine „Beeinträchtigung" der Geschichte durch materielle und biologische Ereignisse, sondern auf der anderen Seite greift die Geschichte in die materielle und biologische Entwicklung über: Wenn wir heute durch „die Natur" wandern, treffen wir vornehmlich auf Pflanzen, Bäume und Tiere, die nicht das Ergebnis einer rein biologischen Entwicklung sind, sondern vom Träger der Geschichte planvoll gepflanzt und gezüchtet wurden; wir wandern durch ganze Landschaften mit Talsperren, Kanälen, Hügeln und Tälern, die die Natur so nicht geschaffen hat.

Das Ineinander von Entwicklung und Geschichte besteht, seit es Menschen gibt. Wie Gehlen mit Nachdruck herausstellt, ist der Mensch im Gegensatz zum Tier an keine vorgegebene Umwelt gebunden, sondern er selbst schafft sich die ihm gemäße und von ihm gewünschte Umwelt, indem er die jeweils vorgefundene Welt verändert Daher steht beim Menschen „an genau der Stelle, wo beim Tier die . Umwelt'steht, ... die Kulturwelt, d. h.der Ausschnitt der von ihm bewältigten und zu Lebenshilfen umgestalteten Natur"

Die moderne Biologie vertritt mit Recht die Auffassung, daß ein Lebewesen stets im Zusammenhang mit seiner Umwelt erforscht werden muß. Die gleiche Forderung muß auch bei der Erforschung des Menschen gestellt werden: Daher wird, wie Erich Rothacker formuliert, niemals „eine Anthropologie ihren Namen verdienen, welche versäumt, auch das gewaltige Feld der kulturellen Sphäre des Menschen methodisch zu durchforschen" Dabei gilt es jedoch den grundlegenden Unterschied zwischen der Umwelt der Pflanzen und Tiere und der Kulturwelt des Menschen zu berücksichtigen: Die Umwelt bei Pflanze und Tier ist jeweils eine ganz bestimmte Umwelt. Der Mensch aber hat sich seit den frühesten Zeiten in allen Teilen der Erde Kulturwelten geschaffen und sie im Laufe der Zeit ständig verändert. Die Kulturwelt, die Welt des Menschen, ist also keine konstante Umwelt, sondem sie ist nur als in stetem Wandel befindliche geschichtliche Welt faßbar So ergibt sich, daß nicht nur der Mensch selbst, sondern auch die ihm eigene Welt ohne die Geschichte nicht zulänglich erforscht werden kann.

Alle diese Überlegungen zeigen die Notwendigkeit einer historischen Anthropologie. Anderseits aber stellen sich jedem Versuch, von der Geschichte her zu einer Anthropologie zu kommen, ungeheure Schwierigkeiten entgegen: Vor allem scheint die erdrückende Fülle von Erscheinungen sich jeder Gesamtschau zu entziehen, und gerade der ständige Wechsel der Geschichte und die Verschiedenheit der zahlreichen Kulturwelten scheinen allgemeine Aussagen über den Menschen geradezu unmöglich zu machen

Allerdings ist der Blick der Geschichte auf den Menschen trotz allem nicht nur durch eine für manchen vielleicht schockierende Weite, sondern auch durch eine für die anthropologische Frage vielleicht sehr heilsame Beschränkung ausgezeichnet. Der Blick des Historikers erreicht durchaus nicht jeden Menschen, sondern er erreicht den Menschen nur, soweit er im eben gekennzeichneten Sinn Subjekt der Geschichte ist. Weder der Säugling, noch der „ungeschichtliche" Geisteskranke, noch der oft sehr phantasievoll rekonstruierte „Urmensch" ist Gegenstand des Historikers. Der Historiker hat es also nur mit Menschen im Vollsinn des Wortes zu tun. Die Frage, wieweit der „Urmensch", der Säugling oder auch der Kranke sich „rein animalisch" und wieweit sich „schon eindeutig menschlich" verhalten, und ähnliche wohl kaum lösbare und wahrscheinlich infolge einer sehr willkürlichen Fragestellung unfaßbare Probleme kommen bei ihm nicht vor. Er ist also nicht in Gefahr in einen dunklen — oder auch durch falsche Fragestellung verdunkelten — Raum abgedrängt zu werden, in dem sich das typisch Menschliche nur noch vage erschließen oder vermuten läßt, sondern er begegnet trotz aller Verwobenheit von Geschichte und Entwicklung stets dem Menschen als Menschen. Damit steht der Historiker weniger in Gefahr, im Gestrüpp von Grenzfragen seinen eigentlichen Gegenstand aus dem Griff zu verlieren oder in gewagte, imponierende, aber letztlich unerweisbare wissenschaftliche Spekulationen zu verfallen

Versucht man die historischen Tatbestände nach anthropologischen Gesichtspunkten zu ordnen, so ergeben sich zunächst drei Gruppen von möglichen Aussagen: 1. Aussagen über Phänomene, die immer und überall anzutreffen sind, wo es überhaupt Geschichte gibt. Durch solche Aussagen werden Erscheinungen erfaßt, die für das bleibende Wesen des Menschen als Subjekt der Geschichte belangvoll sind. Hierin gehört etwa die bereits genannte Aussage, daß der Mensch ein handelndes und ein kulturschaffendes Wesen ist. 2. Aussagen über Veränderungen, die nach den bisherigen Erfahrungen in einer bestimmten Richtung laufen und die — soweit sich jetzt beurteilen läßt — nicht willkürlich aufgehalten werden können. Hierhin gehört etwa das bereits erwähnte immer stärkere Eindringen von Geschichte in die Entwicklung der Materie und des Lebens. Hier werden also Grenzen menschlicher Möglichkeiten sichtbar. 3. Aussagen über Erscheinungen, die es irgendeinmal irgendwo in der Geschichte gegeben hat. Diese Aussagen kennzeichnen den mindesten Spielraum menschlicher Möglichkeiten. Denn was geschichtlich tatsächlich war, ist geschichtlich möglich. Hierhin gehören Erscheinungen wie Sokrates und Machiavelli, Hitler und Franz von Assisi, Kleopatra und Hilde Benjamin

Damit ist klar, daß zur historischen Anthropologie nicht nur das Typische, sondern auch das Atypische gehört; auch im Einmaligen kann sich eine besondere Seite des Menschen offenbaren, die als beglückende oder auch grauenerregende Möglichkeit erkannt wird. Aus all dem folgt, daß eine historische Anthropologie nur auf dem Hintergründe der gesamten historischen Wirklichkeit möglich ist, daß sie um so „wahrer" wird, je mehr sie diese gesamte Wirklichkeit in sich einbezieht, und daß sie somit angesichts der Unerschöpflichkeit der historischen Wirklichkeit und insbesondere angesichts der noch offenen historischen Zukunft stets eine vorläuige und unvollendete Anthropologie sein wird.

Jede historische Anthropologie erhält ihre besondere Prägung dadurch, daß sie Selbstbesinnung ist. Schon das Thema dieser Untersuchung enthält die Feststellung, daß Geschichte eine Wissenschaft vom Menschen ist. Im Laufe der Überlegungen hat sich zudem ergeben, daß historisch-anthropologische Aussagen Wesensmerkmale, Möglichkeiten und Grenzen des Menschen zum Gegenstand haben. Das bedeutet, daß jede historische Anthropologie — selbst wenn das nicht beabsichtigt wäre — zwangsläufig auch Aussagen über den Sprechenden selbst macht. Tatsächlich aber ist das nicht nur eine Zwangsläufigkeit, sondern weithin Anstoß und bleibende Triebfeder der Forschung.

Es gehört zu den Eigenschaften des Menschen, „zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen" Der Mensch ist in diesem Sinne ein „sich selbst thematisches Wesen" dem „nicht von Natur schon mitgegeben" ist „was er sein wird" Auch wenn man billigerweise zugesteht, daß ein fortschreitender Prozeß „der Bewußtseinsaufhellung durch die Menschheit als ganzes hindurchläuft" muß man — sofern man auf phantasievolle Konstruktionen utopischer Menschen verzichtet — Theodor Litt darin zustimmen, „daß die Reflexion auf das eigene Sein einer der Züge ist, die die Grundverfassung des Menschen ausmachen" Dabei handelt es sich, wie Litt weiter bemerkt, freilich um „eine Tatsache, die ... leicht übersehen wird, weil, verglichen mit der ungeheuren Gedankenarbeit, die der moderne Mensch auf seine Selbsterforschung verwendet, die einschlägigen Bemühungen zurückliegender Zeiten belanglos erscheinen oder übersehen werden." Die Reflexion des Menschen beschränkt sich nicht auf sein jeweiliges persönliches Leben, sondern darüber-hinaus wird „das menschliche Dasein ... als Geschichte Gegenstand des Nachdenkens"

Selbstbesinnung setzt stets eine Identität von Subjekt und Objekt der Besinnung voraus. In der Art dieser Identität unterscheidet sich die historische Selbstbesinnung wesentlich von der persönlichen. Bei der persönlichen Selbstbesinnung des einzelnen handelt es sich um eine Identität des Ich, bei der historischen Selbstbesinnung um eine Identität des Wir. — Daran ändert auch ein grammatischer Singular wie „der Mensch" oder „der Deutsche" nichts, da sich ja unter diesem kollektiven Singular der tatsächliche Plural nur formal verbirgt. — Während bei der persönlichen Selbstbesinnung die Identität des Ich eindeutig ist, ist die Identität des Wir bei der historischen Selbstbesinnung vielschichtig. Die historische Selbstbesinnung wird jeweils eine andere bei einer anderen „Wahl" des Wir. Sie kann das „nationale Gedächtnis" sein, „die Weise, wie sich ein Volk in seiner Geschichte versteht, als die Form seines Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins " Geschichtliche Besinnung kann aber auch sein: Selbstbesinnung der Christenheit an einem entscheidenden Punkte ihrer Geschichte. Oder geschichtliche Besinnung kann sein: Selbstbesinnung eines bestimmten Standes, einer Partei, ja eines Vereins. So fließt historische Selbstbesinnung ein in Predigten, Wahlreden und Festvorträge. Und endlich kann historische Besinnung „das Gedächtnis der Menschheit" sein, die „Bemühung, die gemeinsamen Erinnerungen unseres Geschlechtes zu reinigen und wachzuhalten"

Jede Festlegung eines Wir bei der geschichtliehen Selbstbesinnung hat die Festlegung des Ihr und des Sie zur Folge. Wer „wir Deutsche" sagt, wird andere Völker, die mit uns zu tun haben, als „ihr Franzosen" oder „ihr Polen* betrachten müssen, und von Völkern, uns die völlig ferne stehen, in der dritten Person denken. Wer „wir Sozialdemokraten" sagt, muß „ihr von der CDU" und „ihr Freien Demokraten“ mitdenken. So wird jede Selbstbesinnung dieser Art zu einer Scheidung und zu einer Festlegung des eigenen Standortes. Weder das eine noch das andere kann nach Willkür geschehen. Unsere Stellung in der Gegenwart legt auch unsere Beziehung zur Vergangenheit fest und umgekehrt. Nur beides zusammen kann geändert werden. Dabei ist diese Änderung um so schwieriger und gewichtiger, je tiefer die geschichtliche Verankerung reicht: So kann z. B.der Übertritt von einem Verein zum anderen und auch von einer Partei zur anderen fast von heute auf morgen erfolgen, der „Wechsel" von einem Volk zum anderen ist ungleich schwieriger, ja in einer Generation kaum ganz vollziehbar. Jedoch in keinem Falle genügt es, sich rein geistig von einer Gruppe zu distanzieren: Jeder Schritt des Übergangs muß vom ganzen Menschen mit allen Konsequenzen vollzogen sein, damit er im vollen Sinne geschichtlich wirksam wird

Der heutige Mensch steht in einer Vielzahl von Wir-Beziehungen, die bei einer historischen Selbstbesinnung wirksam werden können Der gleiche Mensch kann „wir Bayern", „wir Deutsche", „wir Europäer", „wir Katholiken", „wir Christen", „wir Ärzte" und noch manches andere „wir" sagen. Der Mannigfaltigkeit des Wir entsprechend wird jeweils auch die Mannigfaltigkeit des Ihr gesetzt: „Ihr Rheinländer", „ihr Franzosen", „ihr Afrikaner", „ihr Evangelischen", „ihr Heiden", „ihr Schulmeister" usw. Dabei umfaßt das größere Wir oft das kleinere Wir und Ihr. Zu uns Europäern gehört ihr Franzosen ebenso wie wir Deutsche, zu uns Deutschen ihr Rheinländer ebenso wie wir Bayern. Zudem ist es auch noch möglich und nötig das Wir und Ihr auch in der anderen Koordinate mitzudenken: Hier stehen „wir modernen Menschen" „euch mittelalterlichen" gegenüber und es entsteht eine Solidarität der jeweiligen Zeitgenossen. Schließlich gehen die beiden Koordinaten mannigfaltige Verbindungen ein: „Wir modernen Katholiken" stehen ebenso „euch Nichtkatholiken" wie „euch mittelalterlichen Katholiken" gegenüber. Es ergibt sich also insgesamt ein äußerst kompliziertes System möglicher Identifizierungen und Gegenüberstellungen. Dabei kann fast jeder einzelne als Wir oder Ihr angesprochen werden, je nachdem ob die geschichtliche Frage im speziellen Falle die Identität im Wir oder Nichtidentität im Ihr fordert. Immer aber wird bei dieser Art der Betrachtung jeder Mensch als Mensch genommen und damit eine letzte alle umfassende Solidarität bewußt oder unbewußt vorausgesetzt.

Für die allgemeine anthropologische Frage scheinen die verschiedenen Wir der „partikulären" historischen Besinnung zunächst keine entscheidende Rolle zu spielen. Und doch ist es schon eine wichtige Tatsache, daß der Mensch überhaupt geschichtlich in der Form des Wir, Ihr, Sie denkt und damit zugleich eine direkte Beziehung zwischen der Vergangenheit und sich selbst schafft. Außerdem ergibt sich aus dem Gesagten, daß das Wir, wenn wir eine allgemeine historische Besinnung als „wir Menschen" versuchen, ein sehr vielschichtiges und komplexes Wir ist, das zahlreiche Ihr in sich aufgesogen hat. Und schließlich liegt die Frage nahe, ob dieses große Wir der Menschheit je realisierbar ist, wenn es im Gegensatz zu allen anderen Wir kein Gegenüber hat.

Jede Selbstbesinnung enthält ein kritisches Moment. Sie ist nicht nur ein Erinnern an das, was gewesen ist, sondern kritische Auseinandersetzung mit dem Vergangenen im Hinblick auf die Zukunft. Sie erwächst jeweils aus einer bestimmten historischen Situation und ist in diesem Sinne zeitgebunden. So ist es auch weder Willkür noch Zufall, daß in unserer Zeit der Historiker, der doch seit eh und je von Menschen berichtet, „stärker als früher hingewiesen" ist „auf die ausdrückliche Frage, was der Mensch sei" daß Historie also erst heute im vollen Sinne als Anthropologie getrieben wird. Wir sind in einer Situation, in der es nicht mehr nur um Deutschland oder um Europa geht, sondern „eine ganz andere Sorge" in die Welt gekommen ist: „die Sorge um das Menschsein selber" Das Wir der historischen Selbstbesinnung ist erstmals das zwar in sich differenzierte, aber doch auch solidarisch verbundene Wir der Menschheit schlechthin geworden. Anlaß dazu ist die ungeheure Gefährdung; Ziel ist die Bewältigung der Krise.

Allerdings ist klar, daß eine historische Besinnung — auch wenn sie zu richtigen und wichtigen Erkenntnissen führt — allein nicht zur Bewältigung der Krise genügt. Sie wird dazu um so eher beitragen, je mehr sie selbst von einem Impuls getragen ist, der den Willen zur Erkenntnis und zur Tat untrennbar vereinigt. In seiner Untersuchung „Engagierte Wissenschaft" schreibt Waldemar Besson: „Je größer unsere Sorge vor der Zukunft ist, um so fester muß die Solidarität zwischen praktischer und theoretischer Daseinsorientierung werden." Im gleichen Sinne stellt Theodor Litt fest: „Noch nie hat es eine Konstellation gegeben, durchweiche die Trennung von, Wille'und . Intellekt'so radikal ad absurdum geführt worden wäre wie durch die heutige Lage. Als ob der Versuch, dem Zeitalter . theoretisch'auf den Grund zu kommen, Erfolg haben könnte, wenn er nicht durch den Drang beschwingt würde, der Menschheit aus ihrer todverheissenden Krise herauszuhelfen! Als ob der Wille, dem Zeitalter . praktisch'zu Hilfe zu kommen, Beachtliches erwirken könnte, wenn er nicht durch eine Einsicht gesteuert würde, die ihm die Hintergründe des zu bekämpfenden Not-standes erleuchtet!" In Abkehr vom Positi-* vismus und im Bewußtsein der geschichtlichen Verantwortung des Menschen, von der sich der Wissenschaftler nicht dispensieren kann, ringen heute zahlreiche Historiker in der ganzen freien Welt um eine neue Konzeption ihrer Wissenschaft. Dabei vertreten sie zum Teil die Auffassung, daß der Historie bei der Bewältigung der Krise des Zeitalters der Wissenschaften eine besonders wichtige Rolle zukommt. So schreibt etwa Fritz-Wagner am Ende seines Kapitels über den englischen Empirismus zur allgemeinen Kennzeichnung der Zeit: „Der forschende Geist gefällt sich in einer Wertindifferenz und bedroht, da er ins Grenzenlose drängt, das Menschendasein von innen heraus, er stellt Gebrauch und Mißbrauch seiner frei doch Erkenntnisse und einsehen, daß er durch das fortwährende überschreiten von Grenzen hilflos macht und am Mißbrauch beteiligt ist." Dann fährt er fort: „Die Geschichtswissenschaft dient dazu, die fürchterliche Situation bewußt zu machen ... Sie ist zur wichtigsten aller Wissenschaften geworden kraft ihrer diagnostizierenden Möglichkeiten." Walther Hofer betont, daß „zwischen Mensch und Geschichte und zwischen Politik und Geschichte ... ein existenzieller Zusammenhang" bestehe, und schreibt: „Innige Synthese von philosophischer Besinnung, empirischer Geschichtskenntnis und politischem Verantwortungsgefühl kennzeichnet das abendländische Geschichtsdenken unserer Gegenwart. Wir befinden uns auf der letzten Stufe eines geistigen Prozesses, der eine immer stärkere Intensivierung unseres Geschichtsbewußtseins mit sich gebracht hat. Unerwartete technische Errungenschaften und Zerstörungen zwingen uns heute zu einer grundsätzlichen Neubesinnung auf den Wesensgehalt geschichtlichen Geschehens. Der denkende Mensch will nicht nur mehr wissen, wie es eigentlich gewesen, sondern was aus ihm und seiner Geschichte werden soll, wo er sich befindet im unabsehbaren Strom der Geschichte. So wird Geschichtserkenntnis in den großen geschichtsphilosophischen Konzeptionen der Gegenwart zur Existenzerhellung. Die schlechthin entscheidende, eben existenzielle Frage bedrängt uns, die Frage nach den Aussichten und Möglichkeiten eines Weiterlebens des Abenländischen Menschen und seiner Kultur."

Es ist bereits mehrfach gesagt worden, daß die Geschichtswissenschaft dabei sei, eine neue Konzeption zu gewinnen, und es wurde auch auf die Impulse hingewiesen, die den Historiker heute bedrängen. Der springende Punkt für eine Konzeption der historischen Wissenschaft lag darin, daß die Historie in ihrem eigenen Selbstverständnis ist, dabei Anthropologie zu werden. Die historische Anthropologie ist also — das muß jetzt unterstrichen werden — nicht ein Sondergebiet der Historie, sondern die Historie selbst wird in zunehmendem Maße Anthropologie, wird Selbstbesinnung des geschichtlich handelnden Menschen. Die Konsequenzen dieser neuen Konzeption sind zu einem großen Teil bereits aufweisbar und müssen kurz gekennzeichnet werden:

Vorweg sei gesagt: Die neue Position ist zwar Überwindung des Positivismus, aber die Erkenntnisse und Errungenschaften des Positivismus werden nicht ignoriert, sondern in die neue Konzeption einbezogen. Neu ist zunächst, daß der Historiker nicht mehr versucht, selbst gewissermaßen aus der Geschichte auszusteigen und dann von einem außerhalb liegenden — letztlich utopischen — Standort aus seine Wissenschaft zu betreiben, sondern daß er sich zur Realität seiner eigenen bestimmten Situation und damit zu seiner eigenen Geschichtlichkeit bekennt Er steht somit zugleich außer Gefahr, über lauter Geschichtswissenschaft seine eigene geschichtliche Auf-gäbe zu übersehen und dadurch zum Urbild einer Karikatur zu werden. Der Historiker bleibt selbst geschichtlicher Mensch.

Weiterhin ist neu die Art, wie sich der Historiker seinem Stoff zuwendet: Er begnügt sich nicht damit, den „Geschichtsprozeß" als eine Abfolge objektiver Ereignisse zu beschreiben und in einer Art historischer Kausalanalyse nach gewissen Gesetzmäßigkeiten zu suchen; vielmehr weiß er, wie Reinhard Wittram schreibt, daß er es „mit dem Menschen" zu tun hat, „zwar auch mit den Institutionen, mit Zuständen und überpersönlichen Mächten, aber auch darin immer mit dem Menschen. Das heißt aber: mit dem sittlich verantwortenden, leidenden und handelnden Menschen" Der Historiker, der darum weiß, kann das „Objekt" seiner Wissenschaft nicht wie eine Sache behandeln, deren „Daten" lediglich registriert und in irgendeiner Ordnung zusammengestellt werden. Der Forscher darf, wenn es um Menschen geht, „nicht so neutralisiert werden, daß er nur ermittelt, prüft und darstellt" sondern er muß vielmehr „zugleich den Menschen die Ehre geben"

In diesem Sinne unterstreicht Herbert Butterfield, daß nur der im Kern seines eigenen Menschseins Mitbetroffene geschichtlich gerecht zu urteilen vermag, und fordert statt einer alles objektivierenden und alle Qualitäten nivellierenden Schamlosigkeit die Haltung der Ehrfurcht auch für den Wissenschaftler. Dabei geht es nicht etwa um die Ausschaltung rationaler Analysen, sondern nur um ihre Einbeziehung in eine Atmosphäre der Menschlichkeit Die Einbeziehung sittlicher Wertungen wird zu einer legitimen Methode der Historie Nach der festen Überzeugung der Historiker der neuen Richtung wird dadurch der Blick durchaus nicht getrübt, sondern geöffnet. So erklärt Reinhard Wittram: daß der Historiker „in manchen Fällen des Gegenstandes gar nicht ansichtig" wird, „wenn er nicht in eine Wertung einzutreten bereit ist" und betont, daß es dem Historiker verwehrt sei, „das verstehende Nachgehen, das ihm aufgetragen ist, bis zur Auflösung des eigenen sittlichen Unterscheidungsvermögens zu treiben"

Der Historiker muß also auch zahlreiche für den Positivismus nicht faßbare Kategorien anwenden, wenn er „die menschliche Situation nicht von Grund auf verfehlen will" So wird in der neuen Konzeption die Hinwendung des Historikers zu seinem Stoff zu einer menschlichen Begegnung. Wir haben also in der heutigen Geschichtswissenschaft einen ähnlichen Vorgang, wie er auch bei einer Reihe moderner Philosophen zu beobachten ist: eine „bewußte Rückkehr zur vergessenen Personhaftigkeit des Seins"

Hier muß freilich zur Vermeidung von Mißverständnissen daran erinnert werden, daß in enger Verwobenheit mit der Geschichte auch die materielle und biologische Entwicklung weiterläuft und daß es auch innerhalb der Geschichte selbst unumkehrbare Abläufe gibt 53).

Auch der Historiker, der sich dem Menschen zuwendet, darf diese Prozesse nicht übersehen oder in ihrer Bedeutung unterschätzen. Denn der handelnde Mensch ist bei aller Freiheit, die ihn auszeichnet, stets an bestimmte Situationen gebunden. Die Situation engt seine Freiheit von außen wie von innen her ein: von außen dadurch, daß er nur das vollbringen kann, was im Bereich der materiellen, biologischen, technischen und organisatorischen Möglichkeiten liegt, und von innen dadurch, daß er nur das wollen kann, was in seinem Horizont als des Wollens wert sichtbar wird. Dieser Horizont aber reicht nie aus, um die gesamte Situation objektiv zu überschauen. Er ist vielmehr beschränkt, und zwar auch in einer Weise beschränkt, für die der jeweilige Mensch nicht schuldhaft verantwortlich ist.

Der Historiker darf also eine menschliche Handlung nicht nur nach ihrer objektiven Wirkung allein beurteilen und danach fragen, ob sie unter absoluten Gesichtspunkten oder den Gesichtspunkten der Nachwelt „richtig" war, sondern er muß sich auch bemühen, sie unter den Bedingungen, insbesondere dem Horizont, der damaligen Situation zu sehen. Wie Erich Rothacker feststellt, kann man „konkrete Handlungen schlechterdings nicht anders verstehen, aber auch nicht würdigen" 54). Eine solche humane Historie läßt sich freilich weder im „großen Überblick" noch im „Grundriß der Geschichte" gewinnen; vielmehr kommen wir „anders als mit der ruhigen Anschauung des Details... an die vergangene Wirklichkeit, d. h. an den Menschen und seine Welt überhaupt nicht heran“ 55).

Im neuen Selbstverständnis der Historie bekommt auch das Problem des historischen Relativismus ein Eine solche humane Historie läßt sich freilich weder im „großen Überblick" noch im „Grundriß der Geschichte" gewinnen; vielmehr kommen wir „anders als mit der ruhigen Anschauung des Details... an die vergangene Wirklichkeit, d. h. an den Menschen und seine Welt überhaupt nicht heran“

Im neuen Selbstverständnis der Historie bekommt auch das Problem des historischen Relativismus ein neues Gesicht. Der „klassische" Relativismus setzte voraus, daß der Historiker sich auch „zu den Göttern und Institutionen der eigenen Gesellschaft" objektiv verhält, sie in die „Vorstellung“ nimmt und damit „verfremdet", so daß er „sie schon als Vergangenes" sieht Das ist nur möglich, wenn der Historiker — und das war tatsächlich lange sein Bestreben — selbst aus der Geschichte hinausspringt und gewissermaßen „von oben herab" das vielfältige Leben der Geschichte • besieht. Mit dem Entweichen des Historikers in den ungeschichtlichen Raum fehlt der Geschichte dann das sie verbindende und ihre Einheit garantierende Subjekt historischer Besinnung. Was zeitbestimmtes Nacheinander war, bleibt unverbunden stehen und kommt nur als zufälliges Nebeneinander in den Blick. Bezeichnenderweise entstammt aus diesem Denken die Redewendung vom „Museum der Geschichte", ein Bild, in dem die Zeit, die eigentliche Kategorie der Geschichte, völlig fehlt.

Eine vergleichbare Haltung kann auch der Historiker gewinnen, wenn er als „wir" Selbstbesinnung hält. Dabei setzt er freilich voraus, daß das Wir der Menschheit nicht Fiktion, sondern Realität ist; eine Voraussetzung, die, jedoch wie die weiteren Überlegungen zeigen werden 53), als gegeben angesehen werden kann.

Nimmt man Geschichte als anthropologische Selbstbesinnung ernst, so zeigt sich mit einem Schlag die ganze Fragwürdigkeit der Position des „klassischen" Historismus: Wenn ein einzelner Mensch sein bisheriges Leben zurückblickend überschaut, so wird er sich in der Regel eingestehen müssen, manche Seitensprünge getan, manche Fehlurteile gefällt und vieles in sich Widersprüchliche geäußert und getan zu haben. Er wird vielleicht außerdem auch noch bekennen müssen, im Laufe der Jahre weder sittlich vollkommener noch weiser geworden zu sein, und er wird vielleicht auch immer noch keine Klarheit haben, was er letztlich soll und will. Trotz allem aber wird er sein Leben als einen einzigen unwiederholbaren Weg betrachten und bekennen, daß er wenigstens an Erfahrungen — vielleicht auch bitteren — reicher geworden ist, daß er diese oder jene Illusion aufgegeben habe und daß er, wenn er es noch einmal zu tun hätte bzw. noch jünger wäre, doch dies und jenes anders machen würde. Dabei wird auch zumindest die Frage auftauchen, ob sein Leben nicht eine — vielleicht inzwischen schon verspielte — Chance für ihn gewesen sei. Auch eine solche Haltung kann sehr skeptisch sein, kann resignieren, aber: mit dem klassischen historischen Relativismus vergleichbar ist das nicht. Denn dieser Mensch ist, selbst wenn er verzweifelt, realistischer, weil er nicht in einen Standort der Ungeschichtlichkeit hinüber-springt. Die einzelnen Ereignisse werden nicht einem willkürlichen Nebeneinander preisgegeben, sondern behalten kraft der Einheit der sich erinnernden Person je ihren bestimmten Ort. Es steht freilich außer Frage, daß auch diese Haltung nicht jenseits jeder Relativierung liegt.

Ebenso wie die Erkenntnisse des Positivismus in die neue Konzeption der Historie eingegangen sind, ist auch „die Wahrheit des Relativismus" hinübergenommen. Denn wie bereits gesagt, transzendiert auch der in der Geschichte Stehende zugleich die Zeit. Das heißt konkret:

Auch wer Historie als Selbstbesinnung treibt und dabei fest in seiner Zeit steht, lebt nicht nur im Augenblick, sondern weiß um seine die damit eigene Geschichtlichkeit und verbundene Situationsbedingtheit und Vorläufigkeit seiner Aussagen und seines gesamten Denkens und Handelns. Er weiß aber zugleich, daß er — wie jeder Mensch — an einem ganz bestimmten Punkte eines einzigen, unwiederholbaren großen Weges, des Weges der Menschheitsgeschichte, steht und daß diese Menschheit im Laufe ihrer Geschichte vielleicht zwar weder besser noch weiser, aber sicher „älter" und an Erfahrungen reicher geworden ist, daß sie manche Illusionen aufgegeben hat und anderes mehr. Darum wird er zugestehen, daß Collingwood das Charakteristische des geschichtlichen Wechsels grundsätzlich richtig trifft, wenn er formuliert: „Da die historische Vergangenheit im Gegensatz zum Naturgeschehen lebendig ist — vom Akt des historischen Denkens selbst erhalten —, so bedeutet die geschichtliche Wandlung von einer Entwicklungsstufe des Denkens zu einer anderen nicht den Tod der ersten, sondern ihr Weiterleben in einem neuen gedanklichen Zusammenhang, in dem ihre Ideen weiterentwickelt und kritisch gewertet werden." Und jeder, der heute sagt, daß der Menschheit „eine Rückkehr zu den Zeiten vor der Historisierung des Lebens ... nicht möglich" sei bestätigt damit nur die eben gekennzeichnete Struktur. Wenn aber Geschichte so betrachtet werden kann oder muß, so taucht auch hier die Frage auf, ob sie nicht vielleicht eine Chance enthält, die jeweils in der Gegenwart genutzt oder verspielt werden kann. — Das alles mag wenig sein, wenig vor allem im Vergleich zu den großen Geschichtsphilosophien der Vergangenheit, die so vieles — etwa daß die Menschheit im Fortschritt zum Besseren begriffen sei — zu wissen glaubten. Aber trotz allem ist die neue Haltung in sich selbst eine Chance, eine Position, von der aus es sich weiterdenken und weiterleben läßt.

Wenn der Historiker sich heute berechtigt, ja gedrängt fühlt, seine eigene Zeit als einen Augenblick der Menschheitsgeschichte und die Menschheit geschichtlich als eine Einheit zu betrachten, so stützt er sich dabei auf eine Reihe von Erkenntnissen und Erfahrungen. Vor allem ist es die Erfahrung, daß die Menschheit tatsächlich in zunehmendem Maße im empirisch-geschichtlichen Sinne zu einer Einheit wird, und die Erkenntnis, daß die gesamte Weltgeschichte „ein nicht umkehrbarer Prozeß ist" und daß irgendwann „das Ende der Geschichte der Menschheit" kommt, „wie einst ihr Anfang war"

Angesichts dieser Tatsachen drängt es den modernen Historiker und darüber hinaus den modernen Menschen überhaupt, den Sinn des eigenen Daseins im Horizont der Weltgeschichte zu suchen. „Wir wollen die Geschichte als ein Ganzes verstehen, um uns selbst zu verstehen." 62) „Nur die gesamte Menschheitsgeschichte vermag die Maßstäbe für den Sinn des gegenwärtigen Geschehens zu geben." 63) Lösungsformeln früherer Zeiten wie „homines mortales, res publica aeterna" versagen schon angesichts der heute ins volle Bewußtsein getretenen Erfahrungstatsache, daß ständig auch Staaten untergehen. Aber auch die heldische Konzeption des Lebens im Sinne des „Ewig währt der Toten Tatenruhm" entbehrt angesichts des sicheren Endes der Geschichte für jeden realistisch Urteilenden aller Kraft. Es bedrängt den denkenden Menschen stärker als je die Frage, ob es in dieser so beschaffenen geschichtlichen Welt ein sinnvolles Leben überhaupt geben kann. Denn wir alle „wollen sinnvoll leben", weil letztlich weder die Stillung von Bedürfnissen noch die Bedürfnislosigkeit, sondern nur „sinnvoll leben... für uns identisch" ist „mit Glücklichsein" und weil kein Mensch in seinem Willen so frei ist, daß er im Ernste darauf verzichten könnte, glücklich sein zu wollen. So ist die Frage nach der Weltgeschichte für viele heute geradezu die existenzielle Frage geworden.

Aber auch bei der Erforschung der Vergangenheit kommt der heutige Historiker ohne den weltgeschichtlichen Horizont nicht aus: letztlich ist er der einzige Horizont, in dem die historische Differenz zwischen dem Forscher und der jeweils betrachteten Vergangenheit aufgehoben ist Der gleiche Reinhard Wittram, der — wie vorhin erwähnt wurde — die unbedingte Notwendigkeit der Detailforschung betont, erklärt im unmittelbaren Anschluß daran: „Freilich — die Detailforschung ist kurzsichtig und schwachsichtig, wenn sie nicht im universellen Horizont geschieht"

Den gleichen Gedanken führt Theodor Litt noch weiter: „Jedes historische Erkennen, auch das durch die Abgrenzung seines Gegenstandes sich scheinbar aufs Äußerste spezialisierende, ist implicite dem Universum der Geschichte zugewandt. Dieses Universum hat nicht als geschlossenes Ganzes seinen Bestand, sondern ist in einem unaufhörlichen Fortgang begriffen, durch den es sich in Richtung auf die Zukunft vorwärtsschiebt." Gegenüber dem Einwand, daß ja nur die Vergangenheit das Gebiet des Historikers sei, bemerkt Litt vorsorglich: „Das geschichtliche Denken macht sich nicht einer Kompetenzüberschreitung schuldig, wenn es seinen Blick auch über die Zukunft hingehen läßt; es erfüllt mit dieser Wendung nur eine Forderung, die aus seinem ureigensten Anliegen hervorgeht." Allerdings sprengen solche Fragestellungen die alten Grenzen der historischen Disziplin. Aber 64 der heutige Historiker läßt sich dadurch nicht beirren, da er weiß, daß die Grenzen der Disziplinen und Fakultäten künstliche Grenzen sind, die das lebendige Denken nicht kennt Und eine „denkende Verarbeitung des geschichtlichen Rohstoffes ist", wie Walther Hofer schreibt, „nicht möglich ohne das, was wir eine Geschichtskonzeption nennen. Im Begriff der Geschichtskonzeption wiederum liegt es beschlossen, daß sie auf philosophischen (oder religiösen) Fundamenten ruht und auch politische und ethische Zielsetzungen hat"

Hat aber der Historiker, der Logik seines eigenen Denkens folgend, die Frage nach der Weltgeschichte, ihrem Sinn und ihrer Zukunft gestellt, so wird er jäh zurückgeworfen; er muß erkennen, daß diese Frage „eine sehr ungeduldige und maßlose Frage" ist, ja daß die Frage nach der Zukunft das Vergangene, den „eigentlichen" Stoff seiner Wissenschaft, entwertet, so daß es „seine Substanzialität und seinen Eigenwert verliert" Ist denn — so fragt er sich — tatsächlich der Sinn der Vergangenheit gerettet, wenn er sie „als die Pappelallee zu begreifen" sucht die auf eine vorentworfene Zukunft hinläuft? Dazu kommt das weitere Dilemma, daß der Historiker die Frage nach der Zukunft zwar stellen kann und vielleicht stellen muß, daß er sie jedoch nicht zu beantworten vermag. Wie könnte er es dann unternehmen, von dieser Zukunft her die Vergangenheit und seine eigene Zeit zu begreifen und zu werten? — So hat die Frage nach der Weltgeschichte und ihrer Zukunft zunächst in eine Sackgasse geführt. Es muß ein neuer Ansatzpunkt gesucht werden.

Am Anfang der Überlegungen hatte die These gestanden, daß Mensch und Geschichte, Menschlichkeit und Geschichtlichkeit zusammengehören. Außerdem war davon gesprochen worden, daß heute der Mensch in Ge69) fahr sei, das typisch Menschliche zu verlieren. Wenn beides stimmt, dann müßte logischer-weise mit dem typisch Menschlichen auch das typisch Geschichtliche verlorengehen und eine Zukunft denkbar sein — vielleicht sogar drohend bevorstehen —, die weder das typisch Menschliche noch das typisch Geschichtliche kennt. Es müßte also — so phantastisch das zunächst klingen mag — zumindest in diesem Sinne eine Art von „Ende der Geschichte" möglich, ja sogar ganz real vorstellbar sein. Es ist im Rahmen des letzten Teils dieser knappen Untersuchung nicht möglich auch nur annährend vollständig alles typisch Menschliche zu nennen, um festzustellen, wieweit es verlorengehen könnte und was dieser Verlust für die Geschichte und ihr Ende bedeuten würde. Statt dessen sei nur ein Erscheinungskomplex herausgegriffen, der für den geschichtlichen Menschen ganz besonders kennzeichnend ist oder zumindest in der historisch erforschbaren Vergangenheit besonders kennzeichnend war: Freiheit — Gerechtigkeit — Macht und Herrschaft — Verantwortung — Religion.

Zunächst ist wichtig zu sehen, daß es sich tatsächlich um einen Erscheinungskomplex handelt: Die im Gegensatz zur Umweltgebundenheit des Tieres stehende menschliche Freiheit ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit wie für Macht. Der Mensch „kann sich von seinem eigenen Standpunkt lösen . . . Das wird am deutlichsten beim Streit. Nur der Mensch kann einen Streit auch vom Standpunkt des Gegners betrachten. Nur er kann sich schließlich von allen parteilichen Standpunkten zu distanzieren suchen und um eine objektive Beurteilung ringen, wobei er auch über sich selbst ein Urteil fällt . . . Die Möglichkeit, sich vom eigenen Standort zu lösen, befähigt den Menschen zugleich, alle ihn umgebende Dinge um ihrer selbst willen zu betrachten und nach ihrem Sinn in der Gesamtordnung zu fragen . . . Tiefere sachliche Kenntnis bedeutet für den Menschen auch Steigerung seiner Macht. Auch Macht ist ein typisches menschliches Merkmal, da sie auf Einsicht in die Wirklichkeit und nicht auf bloßer Kraft beruht" Aber auch Freiheit, Verantwortung und Religion hängen un-74) mittelbar miteinander zusammen. Es ist kein Zufall, daß in der Antike der Sklave, der wegen seiner Unfreiheit nicht als Person, sondern als Sache betrachtet wurde, für das, was er tat, nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Verantwortung setzt Freiheit voraus. Das bedeutet auch umgekehrt, daß jeder, der sein Handeln selbst verantwortet, damit zugleich Freiheit gewinnt. Dieser Zusammenhang ist oft übersehen worden: Man hat zwar darauf hingewiesen, daß — abgesehen von Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur — der christliche Gedanke der Gotteskindschaft und Nächstenliebe zum Verschwinden der Sklaverei beigetragen habe. Aber mindestens ebenso entscheidend ist, daß das Christentum jedem Menschen, auch dem Sklaven, vor Augen hielt, daß er persönlich vor Gott für sein Tun verantwortlich sei und daß ihm diese Verantwortung von keinem abgenommen werden könne. Mit der Ausbreitung dieser Überzeugung wurde die Sklaverei gewissermaßen von innen her letztlich unmöglich: ein Mensch, der für sich selbst in Anspruch nimmt, zu entscheiden, welche Befehle er ausführt und welche nicht, ist frei. So wie die Religion in Verbindung mit der Verantwortung die Freiheit garantiert, so trug sie auch wesentlich dazu bei, daß Macht über Menschen nicht zu willkürlicher Verfügungsgewalt, sondern zur Herrschaft wurde. Der Herrscher hat eine vorgegebene, gottgewollte Ordnung zu repräsentieren und ist dafür der Gottheit verantwortlich. In dieser Hinsicht gibt es eine Solidarität zwischen ihm und den Beherrschten Eine Gerechtigkeit, die auch der Herrscher zu achten hat, wird möglich. Wie Christopher Dawson durch umfassende Untersuchungen erhärtet, bringt somit der Glaube „ein Element geistiger Freiheit in das Leben des Menschen, ein Element, das einen schöpferischen und verwandelnden Einfluß auf die Kultur der Gemeinschaft wie aut die innere persönliche Erfahrung des Menschen haben kann" ’ So gilt — ohne Rücksicht auf die Frage, wie sich der moderne Mensch entscheiden mag — für die Vergangenheit eindeutig die Feststellung Alfred Patzelts, daß das Religiöse nicht „nach Belieben zum . Leben'addiert oder von ihm subtrahiert werden kann."

Es wäre die Aufgabe einer umfassenden historischen Anthropologie diese Zusammenhänge an Hand des reichen historischen Materials in allen Epochen der Geschichte sichtbar zu machen. Für die heutigen Überlegungen können diese skizzenhaften und unvollständigen Hinweise genügen. Denn schon sie reichen aus, um die Frage zu stellen, ob sich an diesem für den geschichtlichen Menschen bisher typischen Komplex von Erscheinungen heute entscheidende Veränderungen zeigen. Dabei gehen die Überlegungen von den Erfahrungen aus, die man in totalitären Regimen gemacht hat, da in diesen — wie eingangs angedeutet wurde — eine Krise besonders deutlich sichtbar geworden ist, in der wir heute alle und überall leben „Das Wesentliche totalitärer Regime liegt", wie Hannah Arendt schreibt, „darin, daß sie Menschen . . . mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, daß der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet." Der Mensch wird dazu gebracht, in der Art des Tieres in der jeweiligen Situation nach einem allgemeinen Schema zu reagieren. Dabei gibt es in weiten Bereichen bestimmte auslösende Signale, durch welche die Reaktion „Beifall", „Pfuiruf" usw. in Tätigkeit gesetzt wird. Dem Menschen wird so „die Möglichkeit einer freien und selbstverantwortlichen Lebensführung vom System abgenommen" Mit der Freiheit und Verantwortlichkeit wird auch die Religion verbannt, da ihre Freiheit-schaffende Kraft verhaßt ist. An die Stelle der Gerechtigkeit tritt die „Linientreue". An Stelle von Herrschaft gibt es nur noch Macht, die durch Terror das System abgekommen." Mit der Freiheit und verständlich mit vollem Recht sagen, daß diese Kennzeichnung schrecklich vereinfache, daß z. B. die Erfolge der östlichen Naturwissenschaften als „Reaktionen auf bestimmte Signale" undenkbar wären, daß es immer noch eine gewisse private Sphäre gibt u. vieles ä.

Trotz dieser in sich gewichtigen Einwände gibt es jedoch einen triftigen Grund für die Annahme, daß das obige Schema grundsätzlich das Richtige trifft: die totalitären Systeme werden nicht zufällig von Ideologien getragen. Aber „nicht alle geistigen Mächte, die in der Geschichte mitwirken, sind Ideologien" Bereits bei der Tagung über „Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften" wurde dargelegt, daß es wesentlich zur Ideologie gehört, wissenschaftliche Weltanschauung zu sein. Wie Theodor Litt betont, unterliegt es keinem Zweifel, „daß die Denker, denen der Kommunismus seine theoretische Begründung zu verdanken hat, von der Überzeugung durchdrungen waren, im Namen echter Wissenschaft zu sprechen" Und es ist ebenso sicher, daß wenigstens die Mehrzahl der führenden Kommunisten bis auf den heutigen Tag glaubt, „daß der Triumph ihrer Sache auf der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit der ihr den Weg weisenden Heilslehre beruhe" Der Nationalsozialismus hat keine Führungselite gleicher Qualität aufzuweisen. Aber es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß auch hier ein Teil der führenden Männer von der wissenschaftlichen Richtigkeit ihrer Ideologie überzeugt war. Sonst wären zahlreiche Dokumente, darunter auch Hitlers letzte Willensäußerungen, völlig unverständlich.

Beiden Ideologien ist gemeinsam, daß sie in Anknüpfung an die Wissenschaft und unter Assistenz zahlreicher Fachwissenschaftler wirkliche oder vermeintliche Gesetze der materiellen bzw. biologischen Entwicklung auf die Geschichte übertragen. Dabei macht der Nationalsozialismus den darwinistischen Kampf ums Dasein zum Prinzip der Weltgeschichte, und für den Osten ist der historische Materialismus die Anwendung des — für die außermenschliche Entwicklung maßgeblichen — dialektischen Materialismus auf die Geschichte. Damit hört die Geschichte auf, ein Raum freien menschlichen Handelns und Verantwortens zu sein. Sie wird ein durch bestimmte Gesetze vorbestimmter Prozeß. Sinnvoll — und damit glücklich — leben kann nur, wer sich ganz in diesen Prozeß stellt. In diesem Sinne hat Hannah Arendt in ihrer umfassenden Untersuchung über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" zusammenfassend festgestellt: „Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror, der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers eines einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit Gesetzen vollzogen wird ... Die Prozesse von Natur oder Geschichte äußern sich politisch als Zwang und können nur durch Zwingen realisiert werden. Auf diesem Zwang beruht, diesen Zwang realisiert der totalitäre Terror, nicht indem er gerechte oder ungerechte positive Gesetze erläßt und anwendet, sondern indem er den Bewegungsprozeß dieser Kräfte vollstreckt im Sinne der Exekution. Der Terror ist nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher Prozesse.“ „Praktisch heißt dies, daß Terror die Todesurteile, welche die Natur angeblich über . minderwertige Rassen'und . lebensunfähige Individuen'oder die Geschichte über absterbende Klassen'und .dekadente Völker'gesprochen hat, auf der Stelle vollstreckt, ohne den langsamen und unsicheren Vernichtungsprozeß von Natur oder Geschichte selbst abzuwarten." Von einem ganz anderen Ansatzpunkt her — ihm geht es primär um die Denkstruktur der östlichen Ideologie — kommt Joseph Meurers zu dem gleichen Ergebnis: „Nicht die Diktatur, nicht die Primitivität, sondern das Verfallen an den reinen Prozeß ist jene Geschichtsmäßigkeit, durch die das östliche Kollektiv die ganze Welt in Atem hält und halten wird."

Wenn mit dieser Kennzeichnung das Wesen totalitärer Regime richtig beschrieben ist, dann ist damit nicht nur klar, daß die oben nur so grob und schematisch gegebene Skizze von der Auflösung des alten Erscheinungskomplexes Freiheit-Gerechtigkeit-Macht und Herrschaft-Verantwortung-Religion in totalitären Systemen das im Rahmen des Themas Wesentliche trifft, sondern es ist zugleich offenkundig, wie eng tatsächlich Geschichtlichkeit und Menschlichkeit zusammengehören: Wo die Geschichte zum Entwicklungsprozeß wird, wird der Mensch notwendigerweise seiner menschlichen Züge entkleidet.

Es ist freilich jetzt noch die Frage offen, ob das, was in den totalitären Systemen so sicht -bar zutage tritt, tatsächlich Ausdruck einer Krise der gesamten Menschheit ist, wie vorhin behauptet wurde. In diesem Zusammenhang müßte zunächst über die Funktionalisierung unseres gesamten gesellschaftlichen Lebens gesprochen und besonders die Gefahr gekennzeichnet werden, die darin liegt, daß der Mensch weithin nicht mehr die Welt sich anpaßt, sondern sich der Welt anpaßt. Hierüber hat jedoch Hans Freyer in seiner „Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" so überzeugendes gesagt, daß nur darauf hingewiesen zu werden braucht. Es kann nach allem kein Zweifel bestehen, daß unsere Gesellschaftsstruktur, die Freyer als sekundäres System kennzeichnet, eine gewisse Affinität zu Strukturen totalitärer Systeme hat. Andererseits weiß aber gerade der Historiker, daß totalitäre Herrschaften bisher nicht etwa vornehmlich in solchen Staaten errichtet wurden, die im Sinne des sekundären Systems besonders fortgeschritten waren Außerdem muß er die Feststellung Freyers bestätigen, „daß durch Wandlungen der Menschlichkeit auch weit fortgeschrittene Entfremdungen bewältigt worden sind, daß dergleichen also möglich ist."

Die Gefahr liegt also nicht in unserer Wirtschafts-und Gesellschaftsstruktur als solcher, sondern einzig darin, daß wir unserer Welt vorerst menschlich zu wenig gewachsen sind. Dabei ist es m. E. zuviel verlangt, wenn Helmut Schelsky fordert, daß dem technischen Fortschritt „ein gleicher moralischer folgt" Es geht vielmehr darum, daß wir nicht vor Entwicklungen und Prozessen kapitulieren, sondern Subjekte der Geschichte bleiben Das bedeutet, daß wir uns die letzte Freiheit des Handelns bewahren, daß wir also selbst entscheiden, wo wir uns in unserem Handeln „anpassen", weil dort Anpassung angebracht und verantwortbar ist, und wo wir in aller Entschlossenheit darangehen, die Situation durch änderndes Handeln aktiv zu meistern, weil die bestehende oder uns angebotene nicht verantwortet werden kann. Diese Freiheit aber, das zentrale Kennzeichen des geschichtlichen Menschen, hat — das geht aus den bisherigen Überlegungen klar hervor — keinen festen Bestand, wenn sie sich nicht gebunden weiß in einer Religion. Mit Nachdruck betont Karl Jaspers: „Es ist unmöglich, daß den Menschen die Transzendenz verlorengeht, ohne daß er aufhört, Mensch zu sein."

An dieser Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß eine rein weltimmanente Humanität nicht ausreicht, den Menschen zu retten. „Das Humanum wird nur dann tragfähig sein, wenn es zugleich auch von Gott her beansprucht wird." „Die ganze Geschichte der Kultur zeigt, daß der Mensch eine natürliche Anlage hat, für seine soziale Lebensform eine religiöse Begründung zu suchen, und daß die Kultur zu wanken beginnt, wenn sie ihre geistige Grundlage verliert . . . Sogar Denker, die ihren religiösen Glauben verloren haben, wie Comte und Renan und Matthew Arnold, blieben dabei, die soziologische Notwendigkeit dieser Bezeichnung zu bejahen."

Zweifelsohne befindet sich der Mensch heute im Verhältnis zur Transzendenz in einer gewissen Krise Zugleich neigt er dazu, alles Heil von der Wissenschaft zu erwarten. Hierin liegt die entscheidende Parallele zu totalitären Systemen: Es könnte geschehen, daß der Mensch des „Westens" die Religion, die im totalitären System mit Gewalt ausgeschaltet wird, freiwillig aufgibt und einer „Wissenschaftsgläubigkeit" anheimfällt, die einer ideologischen Weltanschauung verwandt ist. Damit würde er — vielleicht ohne es selbst zu wissen — Freiheit und geschichtliche Verantwortung so weit entleeren, daß der Zusammenbruch abgesehen werden kann, über die Notwendigkeit einer neuen Konzeption der Wissenschaften ist bereits in anderem Zusammenhang ausführlich gesprochen worden So soll heute nur noch einiges zur Religion gesagt werden: Ihre Krise ist schwer auszuloten. Denn Religion „ist keine Kraft, die mit den Methoden der Statistik leicht ge-messen werden kann" Im übrigen weiß der Historiker, daß es religiöse Erneuerungen auch nach Höhepunkten skeptischer Aufklärung in der Geschichte wiederholt gegeben hat. Für die Gegenwart läßt sich schon jetzt erkennen, daß es offenbar schwieriger ist, als allgemein angenommen wurde, „konsequent als Atheist zu leben und zu denken" Alfred Weber hofft, daß es dem modernen Menschen gelingt, zu einem Daseinsverständnis zu gelangen, „das ihm aus eigener transzendenter Grunderfahrung ein leidenschaftliches Wollen um Freiheit und Menschlichkeit unantastbar gruppierter Integrität zurückgibt"

Für uns Europäer ist Religion geradezu identisch mit Christentum, und es ist kaum anzunehmen, daß sich daran etwas ändern wird So muß man nach allen bisherigen Überlegungen mit Karl Jaspers feststellen, daß „im Bezug unseres Glaubens auf die biblische Religion zuletzt die Entscheidung über die Zukunft unseres abendländischenMenschseins liegt." Aber es geht ja nicht nur um Europa, sondern um den Menschen auf der ganzen Erde. Daher ist nach Auffassung Walther Hofers „das Christentum als Basis in der Tat zu schmal"

Tatsächlich ist heute die Pluralität der Religionen, die dank der umfassenden Informationsmöglichkeit ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen ist, eines der wichtigsten Argumente gegen die Wahrheit jeglicher Religion Trotzdem wird jeder überzeugte Gläubige Kompromißformeln ablehnen und mit Kant der Auffassung sein, daß „im Grunde eines jeden Synkretismus der Mangel an Aufrichtigkeit" 106) steht. Und doch wäre es vom Christentum aus möglich, das Destruktive in der Pluralität der Religionen zu überwinden. Denn es leben ja, wie Emil Brunner es formuliert, alle Menschen, „ob sie es wollen oder nicht, in den Schöpfungsordnungen Gottes und haben darum, ob sie Christen sind oder nicht, eine gewisse Erkenntnis von ihnen." Daher kommt es, daß „die Elemente der religiösen Wahrheit dem ganzen menschlichen Geschlechte gemeinsam angehören"

Durch ein solches Denken würde durchaus nichts relativiert und der absolute Wahrheitsanspruch der Offenbarung nicht aufgeben und doch die Gemeinsamkeit aller Religionen aktualisiert. Dabei müßte sich der Christ stärker als heute dessen bewußt sein, daß er zwar die Wesensfülle der Wahrheit kennt, daß er jedoch trotzdem durch den Nichtchristen ständig bereichert werden kann. Es ist ja kein Zufall, daß sich das Christentum von seinen Anfängen an gerade durch die geistige Begegnung mit der nichtchristlichen Welt entfaltet hat. Und andererseits ist die ganze Welt in einen Sog geraten, der von christlich geprägten Ländern ausging: „Es gibt, jedenfalls bisher, keine Weltgeschichte außer der Weltgeschichte Europas; erst von jetzt an und in Zukunft wird es eine Weltgeschichte der ganzen Erde geben." Inzwischen aber ist das Christentum mit seiner selbst in der äußersten Säkularisation noch unverkennbaren Zügen bereits in das Denken der gesamten Welt eingedrungen. Dabei kann unerörtert bleiben, wieweit es der Welt „rein Christliches" vermittelte und wieweit es „nur" allgemein Menschliches aktualisierte und erhellte. Jedenfalls sind alle weltumfassenden Übereinkünfte und Deklarationen, wie die Charta der Vereinten Nationen oder die Genfer Konvention und das Rote Kreuz, unverkennbar direkt oder indirekt aus christlichen Quellen gespeist. Die Welt leidet jedoch darunter, daß es sich dabei — weil die nur aus dem Glauben fließende Fülle und Ein-106) deutigkeit fehlt — vielfach um wirkungslose Deklamationen handelt. Es kann in einer solchen Lage dem geschichtlich verantwortlich Handelnden nicht darum gehen, diesen Bau zum Einsturz zu bringen, um triumphierend seine Hohlheit zu „entlarven", sondern es gilt zumindest für die Brüder dessen, der das geknickte Rohr nicht brechen wollte, das Schwache zu stützen, auszubauen und zu festigen. Hier liegt eine weltgeschichtliche Chance des Christentums und diese Chance ist zugleich die Chance des Menschen.

Die Chance liegt darin, daß der Mensch unserer Tage an die Stelle des lähmenden welt-immanenten Sicherheitsbedürfnisses wieder das Wagnis eines freien Lebens setzt daß er sich nicht dem Prozeß anheimgibt, sondern sich handelnd als Subjekt in die Geschichte stellt. Die Rückgewinnung einer solchen Haltung ist sicher nicht nur dem Christen möglich, aber ohne einen starken christlichen Impuls kaum denkbar. Wenn schon für die Christen diesseitige Sicherheit der höchste Wert geworden ist, dann ist wahrscheinlich die Zukunft der Freiheit besiegelt. Denn das Christentum gewährt an sich eine unvergleichlich kraftvolle Freiheit, die sich z. B. in den Martyrerakten dokumentiert. Diese Freiheit aber — und damit rundet sich das Thema — hängt eng zusammen mit der einmaligen christlichen Konzeption der Weltgeschichte.

Für den Christen sind die drei großen Ereignisse — Schöpfung, Erlösung und Parusie — geschichtliche und transzendente Ereignisse zugleich. Sie stehen an bestimmten Punkten der Weltgeschichte; und trotzdem hat jeder einzelne Mensch zu ihnen einen unmittelbaren realen Bezug. Der Sinn der Geschichte liegt nicht in einem Ziel, „das. . . vielleicht erst nach Äonen zur Verwirklichung reif sein wird, sondern sich an jedem Punkte des geschichtlichen Universums als die Erfüllung hervorbringt" „Der kommende Christus ist der gegenwärtige Christus. Die Vorstellung ist in unser Zeitschema überhaupt nicht einzuordnen." 112) Und „da die Eschatologie, christlich verstanden, mit unseren Zeitbegriffen nicht gedacht werden kann, bleibt alle weltgeschichtliche Komposition unvollendet, offen..." Der Christ kennt somit zwar den transzendenten Sinn der Geschichte und seines eigenen geschichtlichen Daseins; er hat aber nicht die Verheißung irgendeines fixierten geschichtlichen Endzustandes, auf den er hinarbeiten müßte. Er hat immer nur für „das tägliche Brot", „für eine absehbare Zukunft zu sorgen."

Erst von diesem Wissen um den traszendenten Sinn und dem Nichtwissen um einen immanenten Endzustand wird auch verständlich, warum im ersten Teil dieser Untersuchung die Frage nach dem „Sinn und Ende" der Geschichte nicht gelöst werden konnte Jede Fixierung eines bestimmten geschichtlichen Endzustandes — auch wenn er noch so ideal und gut gedacht ist — nimmt dem handelnden Menschen seine Freiheit und Verantwortung und damit seine eigentliche Geschichtlichkeit.

Es kann jetzt scheinen, als könne die Geschichtswissenschaft zwar allerhand zur Erhellung der gegenwärtigen Situation beitragen, als müsse jedoch die eigentliche Aufgabe der Zeit — die Rückgewinnung eines Bezuges zur Transzendenz — von der Religion und der Philosophie gelöst werden. Doch eine solche Vorstellung wäre ein Rückfall in die Schubkastenkonzeption der Wissenschaften. Wenn die Geschichte sich als Anthropologie versteht und die historische Selbstbesinnung des modernen Menschen vollzieht, dann kann sie zumindest überzeugend nachweisen, daß es in der Geschichte zwar durchaus auch Prozeßhaltes gibt, daß es aber stets der Mensch gewesen ist, der in freier Verantwortung Geschichte gemacht hat und daß er keinen Grund hat, seinen Platz zu räumen, ja daß er eine „natürliche Souveränität besitzt die letztlich unveräußerlich ist und selbst im Würge-griff totalitärer Systeme immer wieder aktualisiert werden kann Außerdem kann sie in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sichtbar machen, welche Grundüberzeugungen gepflegt und welche Werte anerkannt werden müssen, wenn unser Leben menschenwürdig sein soll. Dabei weiß der Historiker vielleicht noch klarer als der Theologe und der Philosoph, daß die Grundüberzeugungen und Werte nicht einfach tradiert werden können, sondern daß sie inmitten der geschichtlichen Veränderungen immer neu gewonnen werden müssen

Eine Historie, die sich in der gekennzeichneten Weise als Anthropologie versteht und um die Gefährdung und um die Chancen des Menschen weiß, muß ihrem eigenen Wesen nach zugleich „engagierte Pädagogik sein" Daher wird sich auch die Historie nie damit begnügen, sich an die Fachwelt zu wenden, sondern „die Erzeugung allgemeinverständlicher Bücher" ist für sie, wie Huizinga unterstreicht, „ein wesentlicher Teil ihrer Tätigkeit!" Indem sie jeden anzusprechen sucht und zu kritischer historischer Selbstbesinnung führt, gibt sie insbesondere auch dem jungen Menschen.der als handelndes Subjekt in die Welt eintreten soll, „die geschichtiche Tiefe und rettet so seine Menschlichkeit" In diesem Sinne ist Historie auf die Zukunft gerichtet, allerdings nicht auf eine utopisch vorentworfene Endzeit, sondern auf die absehbare Zukunft des Morgen, die es durch unser Handeln in Freiheit und Verantwortung zu gestalten güt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 725.

  2. Dieses bekannte Wort Diltheys verliert nicht dadurch an Bedeutung, daß der Weg, den Dilthey einschlägt, um Geschichte zu verstehen, m. E. ein Irrweg ist. Denn Diltheys Methode ist trotz allem letztlich geschichtsfremd. Um „den Menschen, wie er ist, zu verstehen, reicht keine geschichtsfremde Methode auch nur im entferntesten aus“ (Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S 140).

  3. Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart Göttingen 1954, S. 194.

  4. Vgl. R. C. Collingwood: Philosophie der Geschichte Stuttgart 1955, S 223

  5. R C Collingwood: Philosophie der Geschichte Stuttgart 1955, S 224

  6. R C. Collingwood: Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1955, S. 225.

  7. R. C. Collingwood: Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1955, S. 226.

  8. Erich Rothackei: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S. 9.

  9. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultuf. Bonn 1956, S. 24.

  10. ebenda.

  11. Emerich Coreth: Grundfragen des menschlichen Daseins. Innsbruck 1956, S. 85.

  12. Emerich Coreth: Grundfragen des menschlichen Daseins. Innsbruck 1956, S. 87.

  13. Vgl. dazu Hermann Heimpel: Uber Geschichte und Geschichtswissenschaft in unserer Zeit. Göttingen 1959, S 13; J. M. Hollenbach: Der Mensch der Zukunft. Frankfurt 1959, S. 201 u. a.

  14. All history is history of thought, vgl. R C. Collingwood: Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1955, bes S 315 ff; dazu Fritz Wagner: Moderne Geschichtsschreibung. Berlin 1960, bes. S. 47 f.

  15. Vgl. dazu auch meine Untersuchung: Anthropologie und Soziologie aus der Sicht der Geschichte. VSchr. f. wiss. Päd. 1957, S. 204.

  16. Arnold Gehlen: Der Mensch. Bonn 1955, S. 39.

  17. Arnold Gehlen: Der Mensch. Bonn 1955, S. 40.

  18. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 144.

  19. zu der dabei wirksamen wenigstens relativen Kontinuität vgl. auch Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 160.

  20. So fiagt z. B Otto Weber: „Gibt es, von blassen Allgemeinheiten abgesehen, wirklich etwas vorfindlich Gemeinsames zwischen dem Neandertaler und Goethe?“ vgl. dazu Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 70.

  21. M. E. zeigt ein Vergleich der Veröffentlichungen, die sich mit dem „Urmenschen" beschäftigen, daß die spärlichen Funde mehrere Interpretationen zulassen. Nur durch Hinzunahme der Ergebnisse der vergleichenden Völkerkunde kann man zu Ergebnissen kommen, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich haben. Aber auch hier ist größte Zurückhaltung geboten. Der erste Anfang bleibt zumindest vorerst im Dunkeln.

  22. Wer diesen dritten Punkt ausschaltet, kommt sofort wieder zu einer recht fragwürdigen Abstraktion. Vgl. dazu auch Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S 139.

  23. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956, S. 9.

  24. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956, S. 394.

  25. Wolfhart Pannenberg: Was ist der Mensch? Göttingen 1962, S. 97.

  26. Alfred Weber: Das Tragische und die Geschichte. München 1959, S 17.

  27. Theodor Litt: Freiheit und Lebensordnung. Heidelberg 1962, S. 30.

  28. ebenda.

  29. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 17.

  30. Felix Messerschmid in GWU 1955, S. 474.

  31. Fritz Kern: Historia Mundi I. München 1952, S. 11.

  32. Vgl. auch meine Untersuchung: Die existenzielle Frage als Prinzip des Geschichtsunterrichts. GWU 1959, S. 592 ff (=VSchr. f. wiss. Päd. 1959, S. 262 ff).

  33. Vgl. auch Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 64 f.

  34. Vgl. auch Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 109.

  35. Hermann Heimpel: Uber Geschichte und Geschichtswissenschaft in unserer Zeit. Göttingen 1959, S. 19.

  36. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 143.

  37. Waldemar Besson: Engagierte Wissenschaft. In: Offene Welt Nr. 75. März 1962, S. 39.

  38. Theodor Litt: Freiheit und Lebensordnung. Heidelberg 1962, S. 12; in diesem Zusammenhang sei auch an das Goethewort erinnert: „Wenn um die Geschichte zu tun ist, der muß Partei zu nehmen wissen, sonst verdient er nirgends zu wirken". Nichts zeigt die Fehlentwicklung, die die Wissenschaft vielerorts genommen hat, deutlicher als der Trugschluß, daß sich Sachlichkeit und Engagement ausschlössen!

  39. Vgl. zu dieser Frage insgesamt: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften. Frankfurt 1963.

  40. Fritz Wagner: Moderne Geschichtsschreibung. Berlin 1960, S. 64.

  41. ebenda.

  42. Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 147; vgl. auch Gutachten des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs-und Bildungswesen zur politischen Bildung und Erziehung. Stuttgart 1958, S. 37.

  43. Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 9 f.

  44. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei eigens darauf hingewiesen, daß der Historiker selbstverständlich versuchen muß, sich in andere Zeiten zu versetzen. Aber das ist kein Hinausspringen aus der Geschichte, weil sich der Historiker ja dabei nur gewissermaßen in die Rolle eines anderen ebenfalls geschichtlichen Menschen versetzt. Der Kurzschluß beginnt erst, wenn der Historiker einen absoluten, d. h. nichtmenschlichen Standpunkt einzunehmen versucht. Denn dieser Versuch übersteigt schlechthin seine Möglichkeiten.

  45. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 25.

  46. ebenda.

  47. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte Göttingen 1963, S. 26.

  48. Vgl. Fritz Wagner: Moderne Geschichtsschreibung Berlin 1960, S 55; vgl. auch Huizinga: Im Bann der Geschichte Zürich 1942, S 68: „Ein historisches Erkennen, das seinen Resonanzboden und Maßstab nicht in einem persönlichen Geistes-und Seelenleben findet, ist tot und wertlos".

  49. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 26.

  50. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 78.

  51. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 25.

  52. J. M. Hollenbach: Der Mensch der Zukunft. Frankfurt 1959, S. 112.

  53. Erich Rothacker: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S. 84.

  54. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 157.

  55. Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur Bonn 1956, S. 290.

  56. R. C Collingwood: Philosophie der Geschichte. Stuttgart 1955, S. 237

  57. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 60.

  58. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 88.

  59. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 235.

  60. J. M. Hollenbach: Der Mensch der Zukunft. Frankfurt 1959, S. 150.

  61. Vgl. auch Wolfhart Pannenberg: Die Fragwürdigkeit der klassischen Universalwissenschaften (Evangelische Theologie). In: Deutsches Institut für Krise des Zeitalters Bildung und Wissen: Die der Wissenschaften. Frankfurt 1963, S. 184 ff.

  62. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Göttingen 1963, S. 157.

  63. Theodor Litt: Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins. Heidelberg 1956, S. 58.

  64. ebenda.

  65. Vgl. Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften. Frankfurt 1963, S. 128 f bes. Anm. 25.

  66. Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 9.

  67. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 207.

  68. ebenda.

  69. Kurt von Raumer: Ewiger Friede. Freiburg/München 1953, S. 72.

  70. Hugo Staudinger-Geschichte, Weltanschauung, Politik. Päd. Prov. 1960, S. 515

  71. Vgl. auch meine Untersuchung: Die existenzielle Fraae als Prinzip des Geschichtsunterrichts. GWU 1959, S. 598 f.

  72. Christopher Dawson: Die Religion im Aufbau der abendländischen Kultur. Düsseldorf 1953, S. 12 f.

  73. Alfred Petzelt: Kindheit, Jugend, Reifezeit. Freiburg 1958, S. 216.

  74. Vgl. S. 21.

  75. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt 1955, S. 736.

  76. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 109 f.

  77. Vgl. ergänzend auch Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 103 f.

  78. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 117.

  79. Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften. Frankfurt 1963, S. 14 f.

  80. Theodor Litt: Freiheit und Lebensordnung. Heidelberg 1962, S. 79.

  81. ebenda.

  82. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt 1955, S. 733.

  83. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt 1955, S. 736. Wenn Arendt S. 743 f schreibt, daß die Originalität der totalitären Herrscher darin bestehe, ideologische Aussagen ernst zu nehmen und die praktischen Konsequenzen daraus zu ziehen, so wird daraus zu wenig deutlich, daß sich dieses Verhalten einfach daraus ergibt, daß Ideologien wissenschaftliche Weltanschauungen sind. Es entspricht der Struktur der Wissenschaften, ohne menschliche Hemmungen ihrer eigenen Logik zu folgen.

  84. Joseph Meurers: Wissenschaft im Kollektiv.

  85. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961. Allerdings möchte ich einschränkend bemerken, daß ich Freyers Grundbegriff „sekundäres System" für unglücklich halte. Denn der Mensch lebt immer und überall in einer Kultur-welt, die er selbst geschaffen hat. Das gilt auch für den Bauern, der mit „künstlich“ gezüchteten Tieren von „künstlich" gezüchteten Pflanzen in einer „künstlich" veränderten „Natur" lebt. Ein primäres System Freyers ist, um es überspitzt zu formulieren, letztlich nur die Umwelt des Tieres. Die Welt des Menschen ist immer mehr oder weniger sekundär. Auch die sogenannten „gewachsenen“ Ordnungen Freyers sind vom Menschen geschaffen. Trotz dieser Einschränkungen behält aber Freyer darin recht, daß unsere Welt in einer anderen Weise eine gemachte Welt ist als die früherer Jahrhunderte. Seine Thesen bleiben trotz der m. E. etwas unglücklichen Terminologie sachlich im wesentlichen richtig.

  86. In ähnlicher Weise hat sich ja auch die Voraussage von Marx, daß die hochindustrialisierten Staaten als erste kommunistisch würden, nicht bewahrheitet.

  87. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 245.

  88. Helmut Schelsky: Zukunftsaspekte der industriellen Gesellschaft. In; Offene Welt Nr. 38. Juli—August 1955, S. 52 — Bekanntlich hat schon Ranke zu Maximilian von Bayern gesagt, daß sich ein Fortschritt im Moralischen in der Geschichte nicht feststellen lasse. Wenn jetzt ein dem technischen Fortschritt vergleichbarer moralischer die einzige Hoffnung wäre, so müßte der Realist resignieren.

  89. Hier sei auch an das bekannte Wort von Denis de Rougemont erinnert: Die Dekadenz fängt an, wenn der Mensch nicht mehr fragt: „was werde ich tun?" sondern: „was wird passieren?“

  90. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 212.

  91. Richard Schwarz: Wissenschaft und Bildung.

  92. Christopher Dawson: Religion und Kultur. Düsseldorf 1951, S. 290.

  93. Vgl. z. B. auch Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 170.

  94. Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften. Frankfurt 1963, S. 4 ff.

  95. Christopher Dawson: Religion und Kultur. Düsseldorf 1951, S. 288. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang, daß heute in den Vereinigten Staaten 11 °/o der Bevölkerung mehr einer Kirche angehören als vor 10 Jahren.

  96. Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 171. Diese Feststellung wiegt um so schwerer, da Hofer dem Christentum keine große Chance gibt.

  97. Alfred Weber: Kulturgeschichte als Kultur-soziologie. München 1951, S. 489.

  98. Vgl. dazu auch T. S. Eliot: Beiträge zum Begriff der Kultur. Berlin/Frankfurt 1949.

  99. Kar] Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 218.

  100. Walther Hofer: Geschichte zwischen Philosophie und Politik. Stuttgart 1956, S. 172.

  101. Typisch für eine solche Argumentation z. B. Bertrand Russel: Dennoch siegt die Vernunft. Bonn 1956, S. 129.

  102. Emil Brunner: Zeitliche Ordnung und Ewigkeitshoffnung. Stuttgart 1948, S. 19 f.

  103. Christopher Dawson: Religion und Kultur. Düsseldorf 1951, S. 282.

  104. Hans Freyer: Weltgeschichte Europas. Stuttgart 1954, S. 8.

  105. Vgl. dazu auch Hans Eduard Hengstenberg: Von der göttlichen Vorsehung. Münster 1947, bes. S. 28 f.

  106. Theodor Litt: Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins. Heidelberg 1956, S. 90. 112) Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte, Fischer-Bücher N. 91, S. 93.

  107. Reinhard Wittram: Das Interesse an der Geschichte. Fischer-Bücher Nr. 91, S. 135 f. Vgl. dazu Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 216 f.

  108. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1961, S. 219.

  109. Vgl. S. 21 f.

  110. Daher müssen nicht nur gegen so gut gemeinte populärwissenschaftliche Bücher wie etwa I. G.de Beus: „Die Zukunft des Abendlandes“ (Frankfurt 1956) Bedenken angemeldet werden, sondern das grundsätzliche Unbehagen richtet sich auch gegen Formulierungen Teilhard de Chardins u. a. Autoren, deren geistige Tiefe außer jeder Frage steht. Die Ablehnung einer Fixierung der Zukunft bedeutet dagegen nicht die Ablehnung jedweden Planens und Vorentwerfens. Aber im Gegensatz zum Bauplan eines Hauses, der das Haus endgültig festlegt, muß ein geschichtlicher Vorentwurf immer den Charakter des Vorläufigen haben. Denn hier geht es letzlich stets um den Menschen, der allenfalls mit Gewalt in starre Pläne eingefügt werden kann. Wer die Zukunft fixiert, muß den kommenden Menschen die Freiheit nehmen! Dieser Zusammenhang ist unlösbar!

  111. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters Stuttgart 1961, S. 133. Vgl. auch J. P Steffes: Christliche Existenz inmitten der Welt. Düsseldorf 1947, S. 256.

  112. Vgl. dazu auch meine Untersuchung: Die existenzielle Frage des Prinzips des Geschichtsunterrichts GWU 1959, S. 599 f.

  113. Vgl auch Karl Jaspers: Von der Wahrheit. München 1947, S. 2. Der eigentliche Mensch erfährt als ihm wesensfremd das gedankenlose Sein und Tun und Fühlen. Denn er hat seine Gewißheit und sein Selbstbewußtsein nie ohne Denken. Aber als ebenso wesensfremd erfährt er das zeitlose und wirklichkeitsferne Denken. Denn sein Denken ist ihm nur wahr dadurch, daß es in die Zeit tritt,

  114. Waldemar Besson: Engagierte Wissenschaft. In; Offene Welt, Nr. 75, März 1962, S. 36.

  115. J Huizinga: Im Bann der Geschichte. Zürich 1942, S 73 In Erfüllung dieser Forderung erschien im Bayerischen Schulbucbverlag das dreibändige Werk „Unsere Geschichte — unsere Welt", das dem heutigen Menschen bei einer geschichtlichen Besinnung helfen soll.

  116. Hermann Heimpel: Der Mensch in seiner Gegenwart. Göttingen 1954, S. 194.

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