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Politische Bildung in einem pluralistischen Staat | APuZ 47/1963 | bpb.de

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APuZ 47/1963 Politische Bildung in einem pluralistischen Staat Geschichte als Wissenschaft vom Menschen

Politische Bildung in einem pluralistischen Staat

Hugo Staudinger

Bei dem ersten Beitrag dieser Ausgabe handelt es sich um das Grundsatzreferat der diesjährigen Hochschulwoche in Bad Meinberg, die von der Staatsbürgerlichen Bildungsstelle des Landes Nordrhein-Westfalen zusammen mit dem Kultusministerium und dem Deutschen Institut für Bildung und Wissen veranstaltet wurde. Dieses Referat wird in einem größeren Rahmen zusammen mit einem im Auftrag der Staatbürgerlichen Bildungsstelle erstellten Gutachten über gemeinsame GrundÜberzeugungen der Bürger der Bundesrepublik innerhalb der Veröffentlichungen des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen im Hirschgraben-Verlag, Frankfurt/Main, erscheinen.

Der Autor legt hier seine persönliche Meinung dar, die sicherlich nicht in allen Punkten auf allgemeine Zustimmung wird rechnen dürfen. Die Redaktion der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" ist daran interessiert, gerade zu diesem Thema verschiedene Standpunkte zu Wort kommen zu lassen.

Der zweite Aufsatz über „Geschichte als Wissenschaft vom Menschen" gibt ebenfalls die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Er stellt die Niederschrift eines Vortrages dar, der auf einer Arbeitstagung des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen in Weingarten gehalten worden ist. Alle Vorträge dieser Tagung werden Anfang des kommenden Jahres ebenfalls vom Hirschgraben-Verlag veröffentlicht.

Was ist politische Bildung?

Obgleich es in der Bundesrepublik schon jahrelang eine öffentliche Diskussion über das Thema „Politische Bildung" gibt, ist noch keine Einigung darüber erreicht, was unter politischer Bildung zu verstehen sei und wie sie durchgeführt werden soll. Die Diskussion, die vor einigen Jahren recht lebhaft war, beginnt abzuklingen Die einen resignieren, die anderen gehen ohne gegenseitiges Einvernehmen jeder mehr oder weniger ihren eigenen Weg. Auch die offiziellen Stellen bilden darin keine Ausnahme. Das zeigt sich unter anderem in den verschiedenen Lehraufträgen, die man den Dozenten Pädagogischer und anderer Hochschulen gibt. Es gibt Lehrstühle für politische Wissenschaften, für politische Bildung, für Politologie, für politische Erziehung usw. Ähnlich verworren ist die Lage in der Oberstufe der Höheren Schule. Hier hat das Saarbrücker Abkommen zwar eine formale Einigung gebracht, indem es in allen Bundesländern „Gemeinschaftskunde" vorschrieb; aber es ist schon aus den Anordnungen der Ministerien — von der Praxis an den einzelnen Schulen ganz zu schweigen — klar erkennbar, daß unter diesem Etikett sehr Verschiedenes eingeführt wird. In der Volks-und Berufsschule schließlich hängt es nahezu allein vom Lehrer ab, ob und wie er politische Bildung erreichen will.

Aber nicht nur der Begriff „Politische Bildung" taucht heute in einer Vielzahl von Varianten auf. Ähnlich geht es mit den Begriffen „Pluralistische Gesellschaft" und „Pluralistischer Staat". In der Diskussion um die Kulturpolitik werden zuweilen völlig gegensätzliche Forderungen mit dem gleichen Hinweis auf den Pluralismus der Gesellschaft oder des Staates begründet. Das Bedenkliche liegt vor allem darin, daß man offenbar weithin gar nicht mehr gewillt ist, sich der mühevollen Arbeit einer Begriffserklärung zu unterziehen; man hofft vielmehr die eigenen Auffassungen allein dadurch durchzusetzen, daß man sie ständig wiederholt: die Propaganda tritt an die Stelle der Argumentation.

Angesichts dieser Lage ist es angebracht, bei dem Thema „Politische Bildung in einem Pluralistischen Staat" nicht blindlings medias in res zu gehen. Zuvor müssen die Begriffe, soweit es möglich ist, geklärt werden. Dabei wird sich auch zeigen, daß eine solche Begriffserklärung in vieler Hinsicht bereits Sachklärung ist.

Eine Klärung des Begriffs „Politische Bildung“ setzt die Eindeutigkeit des Bildungsbegriffs voraus. Auch diese Voraussetzung ist jedoch nicht gegeben. Trotz der geradezu beängstigenden Fülle pädagogischer Literatur ist es den Erziehungswissenschaften noch nicht gelungen, zu einem allgemein anerkannten Begriffsapparat zu kommen. Es gibt nicht nur eine, sondern mehrere pädagogische Sprachen. Das Deutsche Institut für Bildung und Wissen hat kürzlich zur allgemeinen Verständigung folgende Festlegung der Begriffe vorgeschlagen, die auch in dieser Untersuchung angewandt wird: Ziel der Bildung ist der Mensch, der sich in seinem Verhältnis zu Gott, zu den anderen Menschen und zur Welt richtig erkennt, aus dieser Erkenntnis heraus im Leben und Handeln der Wirklichkeit gerecht wird und so zur Verwirklichung seiner selbst kommt. Dieses Ziel ist niemals endgültig erreicht und gesichert; Bildung ist daher eine permanente Aufgabe, die nur von ihrem Ziel her definierbar ist. Die planvolle Hilfe, die dem Menschen in Verfolgung dieses Zieles von anderen Menschen zuteil wird, heißt Erziehung. 2. Ziel der Ausbildung ist der Mensch, der sich bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, die es ihm ermöglichen, entsprechende Aufgaben in der Arbeitswelt zu übernehmen und sich so eine Existenz innerhalb der Gesellschaft zu schaffen. So wird auch die Ausbildung jeweils von ihrem Ziel her definiert. Aber im Gegensatz zur Bildung erreicht die jeweilige Ausbildung einen bestimmten nachweisbaren Abschluß. Die planvolle Hilfe, die dem einzelnen bei seiner Ausbildung von anderen zuteil wird, heißt vornehmlich Unterricht.

Gerade wenn man die Begriffe zunächst einmal in dieser Härte schroff gegenüberstellt, wird klar, wie unlösbar sie im tatsächlichen Leben zusammengehören: Da jeder Mensch von Natur aus im Gesamtzusammenhang der Welt steht, zu der auch die Arbeitswelt gehört, verrät er sein eigenes Wesen, wenn er glaubt, der Bildung oder der Ausbildung nicht zu bedürfen. Wer nicht erkennt, daß ihm als Glied der menschlichen Gesellschaft die Aufgabe gestellt ist, den Erfordernissen der Arbeitswelt durch eine gute Ausbildung gerecht zu werden, kann nicht als Gebildeter bezeichnet werden. Und wer meint, er bedürfe zum „praktischen Leben" der Bildung nicht, kann letztlich seine Aufgaben in der Arbeitswelt nicht angemessen erfüllen. Denn es genügt nicht, Kenntnisse und Fähigkeiten anzuwenden; sie müssen aus jener Einsicht bestätigt werden, die nur der Gebildete besitzt. Der bloße Funktionär ist nicht nur persönlich eine verkümmerte menschliche Erscheinung, sondern auch eine Gefahr für die Gesellschaft. Er ist ein bloßes Werkzeug dessen, der ihn in seine Dienste nimmt. Ob seine Fähigkeiten sinnvoll gebraucht oder willkürlich mißbraucht werden, kann er selbst letztlich nicht beurteilen. Die Bedrohung durch diesen „unmenschlichen Menschen" haben wir alle zur Genüge erfahren 1).

Wie Bildung und Ausbildung, so müssen auch Erziehung und Unterricht zusammengesehen werden, wenn man nicht schwere Gefahren für die Gesamtentwicklung des Menschen heraufbeschwören will. Jeder verantwortungsvolle Erzieher wird es als seine Pflicht betrachten, dafür zu sorgen, daß die ihm Anvertrauten — durch ihn selbst oder andere — auch eine gute Ausbildung bzw. einen guten Unterricht erhalten. Jeder verantwortungsbewußte Unterrichtende wird in seinem Tun zugleich zum Erzieher werden, dem die Bildung seines Schülers eine ernste Sorge ist. Das gilt selbst für Unterrichtskurse, von deren möglichen Bildungswert im allgemeinen kaum gesprochen wird. So wird z, B. ein verantwortungsbewußter Fahrlehrer seinen Schülern nicht nur die Technik des Autofahrens beibringen, sondern sie zugleich zur Rücksichtnahme im Verkehr, zur Hilfsbereitschaft usw. zu erziehen suchen.

Was bedeutet all das für die Klärung dessen, was politische Bildung ist? Zunächst liegt auf der Hand, daß auch hier Bildung und Ausbildung, Erziehung und Unterricht zusammengehören, daß das eine jedoch nicht mit dem anderen identisch ist. Zur Verdeutlichung sei an eine geschichtliche Tatsache erinnert: Es hat in der Zeit des Dritten Reiches Menschen gegeben, die die Verfassung der Weimarer Republik und die staatstheoretischen Grundlagen der Demokratie gut kannten und die sich trotzdem der Regierung Hitler „loyal" zur Verfügung stellten. Diese Menschen haben staatsbürgerlichen Unterricht genossen und eine politische Ausbildung erhalten, politisch gebildet aber waren sie trotzdem nicht. Vielmehr fehlten ihnen die entscheidenen Kennzeichen des Gebildeten: Sie haben sich in ihrem Verhältnis zu Gott, zu den anderen Menschen und zur Welt nicht richtig erkannt und sind im Leben und Handeln der Wirklichkeit nicht gerecht geworden. Sie huldigten vielmehr der falschen und verhängnisvollen Auffassung, daß sie sich über von Gott vorgegebene und in den Ordnungen der Wirklichkeit verankerte Tatsachen wie Menschenwürde, Freiheit und Gewissen hinwegsetzen könnten, wenn sie dabei nur durch staatliche Anordnungen gedeckt würden und im Einklang mit „Führerbefehlen" oder positiven Gesetzen handelten. Wie wenig sie dabei zur Verwirklichung ihrer selbst gekommen sind, zeigt sich bis in unsere Tage bei entsprechenden Prozessen. Männer, die sich einst als hervorragende Vertreter einer heldischen Generation fühlten, beteuern jetzt in einer für freie Menschen unwürdigen Sklaven-ethik, daß sie ja nur Werkzeuge gewesen seien und Befehle ausgeführt hätten.

Dieses Beispiel zeigt außerdem deutlich, daß politische Bildung nicht isoliert betrieben werden kann, sondern in der Mitte der Bildung selbst verankert sein muß. Dieser Zusammenhang wurde in der Zeit des Dritten Reiches auch von der anderen — der positiven — Seite her deutlich: Zahlreiche Menschen, die zunächst gar nicht primär politisch engagiert, aber im oben angegebenen Sinne gebildet waren, haben sich in kritischen Lagen auch politisch erstaunlich gut bewährt, haben unmenschlichen Anordnungen passiven, zuweilen sogar aktiven Widerstand entgegengesetzt und haben aus ihren eigenen Lebenserfahrungen schließlich auch die Wichtigkeit und Notwendigkeit politischen Handelns erkannt.

Angesichts dieser inneren Zusammenhänge kann man mit Recht behaupten, daß der hier gekennzeichnete Bildungsbegriff politische Bildung notwendigerweise einschließe. Trotzdem empfiehlt es sich in unserer konkreten Situation, den besonderen Begriff politische Bildung nicht aufzugeben. Denn es wird dadurch ein besonderer Aspekt der Bildung unterstrichen, der von manchem sonst allzu leicht übersehen werden könnte, da trotz allem das traditionelle unpolitische Bildungsideal des Neuhumanismus auch heute noch in Deutschland in verhängnisvoller Weise fortwirkt. Im Sinne eines besonderen Aspekts der Bildung soll darum folgende Begriffserklärung verstanden werden: 1. Ziel der politischen Bildung ist der Staatsbürger, der sich selbst in seiner Bezogenheit auf politische Gemeinschaften und diese politischen Gemeinschaften in ihrer Stellung im Ganzen der Wirklichkeit richtig erkennt, aus dieser Erkenntnis heraus bewußt am politischen Leben teilnimmt und so auch seiner persönlichen geschichtlichen Verantwortung für die Allgemeinheit gerecht wird. Ziel der politischen Ausbildung ist der Staatsbürger, der sich genügend politisches Allgemein-und Fachwissen — insbesondere geschichtliche und soziologische Kenntnisse — sowie organisatorische und rednerische Fähigkeiten erworben hat, um bestimmte Aufgaben im politischen Raume übernehmen zu können.

Definition des pluralistischen Staates

Nachdem so zunächst der Begriff „Politische Bildung" untersucht worden ist, gilt es den zweiten für das Thema grundlegenden Begriff zu klären, den des pluralistischen Staates. 2) Dabei empfiehlt es sich, von der vielberufenen pluralistischen Gesellschaft auszugehen. Dieser Begriff ist weithin zum Schlagwort geworden. Er wird in der heutigen Diskussion vor allem in Hinblick auf einen Pluralismus von Interessengruppen und im Hinblick auf einen religiös-weltanschaulichen Pluralismus gebraucht. Man sollte sich jedoch darüber im klaren sein, daß sich allein durch das Vorhandensein einer Pluralität von Interessengruppen und von religiös-weltanschaulichen Zusammenschlüssen unsere Gesellschaft nicht grundlegend von früheren unterscheidet. Entscheidend ist also die Frage: „Wodurch unterscheidet sich der heutige Pluralismus der Interessengruppen und Religionen von dem früherer Gesellschaften?" Eine Antwort ergibt sich durch folgende Überlegungen: 1. Im Bereich der Hochkulturen ist jede Gesellschaft strukturiert. Sie besteht aus einer Vielzahl von Individuen und Gruppen, die sich in ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion voneinander unterscheiden. Dadurch ist, wenn man den Begriff Interessengruppen weit faßt, zumindest im Ansatz eine Pluralität von Interessengruppen in jeder Gesellschaft vorhanden. Trotzdem gibt es besondere Kennzeichen der Interessengruppen unserer Zeit: a) Die Interessengruppen früherer Zeiten hatten eine feste Vorstellung vom Ganzen und haben — zumindest in der Regel — auch das Wohl des Ganzen um des Ganzen willen bejaht. Viele unserer heutigen Interessengruppen neigen dazu, das Wohl des Ganzen allenfalls nur noch deshalb und insoweit zu bejahen, wie es eine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß die Interessen der eigenen Gruppe maximal gesichert werden. Zuweilen glaubt man sogar, daß das Ganze überhaupt nur noch auf Grund eines labilen Gleichgewichtes der Interessengruppen bestehen könne. Bezeichnenderweise gibt es Interessengruppen, die sich selbst von vornherein als Gegengewichte gegen andere Gruppen verstehen, wobei sie zuweilen betonen, daß dieses Gegengewicht um des Ganzen willen nötig sei.

b) Ebenso wichtig ist das zweite Kennzeichen: Die Interessengruppen früherer Zeiten waren überwiegend personell geprägt. Der Mensch als Person gehörte zu einer Gilde, Zunft oder Bruderschaft. Diese Gemeinschaft war prinzipiell für alle seine Nöte und Sorgen mit zuständig. Die Interessengruppen der Gegenwart sind überwiegend real orientiert: die Berufsverbände, Fachschaften, Verbraucherverbände, Einkaufsgenossenschaften, Bausparkassen usw. sind jeweils nur für ganz bestimmte Sachinteressen zuständig. Es ist daher nichts Ungewöhnliches, daß eine Person mehreren Interessengruppen zugleich angehört. Aus diesen beiden Punkten ergibt sich, daß die für unsere Zeit charakteristischen Interessengruppen nur Interessengruppen sind, während die entsprechenden Gruppen früherer Zeiten auch Interessengruppen waren, sich jedoch nicht mit der bloßen Vertretung von Interessen zufrieden gaben.

2. Auch bei der Frage nach dem religiös-weltanschaulichen Pluralismus muß zunächst festgestellt werden, daß er nicht nur in unserer Gesellschaft besteht. Allerdings ist er im Gegensatz zum Interessengruppen-Pluralismus nicht das Allgemeine. In den ältesten Gesellschaften ist vielmehr — soweit sich feststellen und erschließen läßt — die politische Gemeinschaft jeweils zugleich Kultgemeinschaft. Die religiös-weltanschauliche Konformität der Gesellschaft wurde jedoch mancherorts schon in sehr frühen Zeiten gelockert und schließlich aufgelöst. In Grenzgebieten und überall, wo sich Völker friedlich oder kriegerisch überlagerten und zusammenschlossen, tauchte dieses Problem auf. Nur selten setzte sich in der geistigen Auseinandersetzung eine religiös-weltanschauliche Auffassung allein durch.

Meist kam es zu einer Verschmelzung oder auch zu einem Nebeneinander mehrerer Anschauungen. Das Alexanderreich, das römische Kaiserreich oder auch das Preußische Königreich sind besonders eindrucksvolle Beispiele eines solchen religiös-weltanschaulichen Pluralismus. Trotzdem besteht jedoch ein sehr wichtiger Unterschied zwischen dem weltanschaulichen Pluralismus früherer Zeiten und dem der Gegenwart: In den antiken Reichen gab es trotz allem auch einen amtlichen Staatskult, an dem sich die Vertreter der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen beteiligten, ja beteiligen mußten, wenn sie nicht wie die Christen im römischen Kaiserreich als destruktive Elemente gebrandmarkt und behandelt werden wollten. Und in Preußen und anderen vergleichbaren Staaten gab es trotz allem weltanschaulichen und religiösen Pluralismus, doch eine Art von „amtlicher" Religion. Die anderen Religionen wurden „toleriert". Das bedeutete trotz aller Weite und Großzügigkeit, die zuweilen herrschte, sie wurden nur toleriert. Bei uns dagegen gibt es einen Pluralismus von in jeder Hinsicht gleich . anerkannten und gleichberechtigten Religionen und Weltanschauungen. Diese Gleichberechtigung ist in der Verfassung ausdrücklich garantiert. Sie erfolgt also entscheidend durch den Staat, und sie gilt in voller Strenge auch nur für den Staat. Damit ergibt sich ein erster Hinweis darauf, daß das für unsere heutige Situation Typische gar nicht der Pluralismus der Gesellschaft, sondern der Pluralismus des Staates ist. Der nicht-pluralistische Staat wird jeweils von bestimmten geschlossenen Gruppen mit einheitlichen religiös-weltanschaulichen Grundüberzeugungen getragen: so etwa der lakedämonische Staat von den Spartiaten, den einzig vollberechtigten Bürgern, der preußische Staat vom Adel, der zugleich das Offizier-korps und die hohe Beamtenschaft stellte, der russische Sowjet-Staat von einer ideologisch geschulten Parteielite usw. Dabei ist die Geschlossenheit der staatstragenden Gruppen nicht überall gleich groß. Aber selbst in einem Gebilde wie dem römischen Kaiserreich war sie eindeutig vorhanden: es gab eine Offiziers-und Beamtenaristokratie mit gemeinsamem Kult, mit Staatspriesterschaften und offiziellen Göttern. Die gemeinsamen Grundüberzeugungen der staatstragenden Gruppen sind jeweils identisch mit den religiös-weltanschaulichen Grundlagen der Verfassung des betreffenden Staates. Die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsordnung ist damit zugleich auch eine religiös-sittliche Pflicht jedes einzelnen Angehörigen der staatstragenden Gruppen. Der Dienst am Staate ist für ihn zugleich sinn-vollste Gestaltung des persönlichen Lebens. Hier liegt die tiefste Wurzel für ein den Staat bejahenden Standesethos.

Dazu kommt jedoch ein Weiteres: Die staats-tragenden Gruppen der nicht-pluralistischen Staaten sind als privilegierte Gruppen jeweils mit besonderen gesellschaftlichen und materiellen Vergünstigungen ausgestattet. Sie bilden damit zugleich Interessengruppen besonderer Art, deren Ansehen und Besitz eng an den Bestand des Staates gebunden sind. Ihre Eigeninteressen gehen daher mit denen des Staates weithin konform, und sie dienen im allgemeinen auch ihrem Gruppeninteresse dann am besten, wenn sie sich voll und ganz für das Wohl des Staates einsetzen. Es kann bei ihnen also niemals das Gefühl aufkommen, daß ihr Standesethos für „fremde" Interessen eingesetzt wird. Seine Reinheit und Stabilität ankert gerade darin, daß einerseits die jeweilige Jugend ohne materielle Lockungen zu einem selbstlosen Einsatz und zu höchster Opferbereitschaft erzogen wird, daß jedoch andererseits die gesamte Gesellschaftsstruktur dafür bürgt, daß Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft niemals nur ausgenutzt werden, sondern daß die Früchte dieser Tugenden vornehmlich wieder denen selbst zufallen, von denen sie geübt werden. Innerhalb einer solchen Ordnung braucht die egozentrische Frage „Was habe ich davon?“ überhaupt nicht gestellt zu werden. Es wäre jedoch eine romantisch-idealistische Verkennung gesellschaftlicher Gegebenheiten, wenn man übersähe, daß ein solches Standesethos nicht gegen die Gruppeninteressen, sondern stets nur im Einklang mit den Gruppeninteressen entwickelt werden kann.

Berücksichtigt man diese Tatsache, so ergibt sich als ein Kennzeichen eines nicht-pluralistischen Staates, daß er staatstragende Gruppen hat, die durch bestimmte Gruppeninteressen untereinander und mit dem Staate verbunden sind. Der moderne pluralistische Staat kennt solche besonderen staatstragenden Gruppen nicht. Hierin liegt eine seiner Schwächen, aber — wie sich im Folgenden zeigen wird — auch eine Chancel

In jedem Staate — sei er pluralistisch oder nicht — sind die Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen durch Gewohnheit oder Verfassung und Gesetz rechtlich gesichert. Alle Individuen und Gruppen sind bestimmten rechtlich faßbaren Normen unterworfen, die sie in ihren Beziehungen zueinander achten müssen. Das bedeutet: jeder Staat hat eine geschriebene oder ungeschriebene Verfassungs-und Rechtsordnung, deren Einhaltung er notfalls erzwingt. Dieser Verfassungs-und Rechtsordnung liegen bestimmte, religiöse oder weltanschaulich fundierte anthropologische Vorstellungen zugrunde, die im Folgenden als „Grundüberzeugungen" bezeichnet werden. So setzt, um nur drei historische Beispiele zu nennen, die Struktur des Pharaonen-reiches in Ägypten eine religiöse, die Verfassung des revolutionären Frankreich eine philosophisch-aufgeklärte, die Gesetzgebung des Dritten Reiches dagegen eine biologistisch-ideologische Vorstellung vom Menschen voraus. Es ist weder ein Staat ohne bestimmte Verfassungs-und Rechtsordnung, noch eine Verfassungs-und Rechtsordnung ohne Grundüberzeugungen denkbar.

Wie bereits festgestellt wurde, sind in nicht-pluralistischen Staaten die Grundüberzeugungen der Verfassungs-und Rechtsordnung identisch mit den Grundüberzeugungen der staats-tragenden Gruppen. Im Gegensatz dazu hat der pluralistische Staat keine Gruppen, die für alle Grundüberzeugungen der verfassungsmäßigen Rechtsordnung voll eintreten. Statt dessen gibt es eine Pluralität von Gruppen, die in ihrer Gesamtheit die Funktion einer staatstragenden Gruppe erfüllen. Jede von ihnen ist repräsentativer Träger bestimmter, von Gruppe zu Gruppe wechselnder Grundüberzeugungen, wobei es zahlreiche Variationen und Überschneidungen gibt. So sind, um das nächstliegende Beispiel zu nennen, bei uns in der Bundesrepublik bestimmte Formulierungen des Grundgesetzes nur mit Rücksicht auf die Gewerkschaften, andere nur mit Rücksicht auf die Kirchen und wieder andere nur mit Rücksicht auf liberale Gruppen überhaupt in die Verfassung ausgenommen worden. Dabei handelt es sich nicht nur um „Kompromisse", die durch gegenseitiges Aushandeln zustande gekommen wären, sondern die Väter der Verfassung waren über die Parteigrenzen hinweg grundsätzlich darauf bedacht, die wichtigsten Forderungen aller für den Staat gewichtigen Gruppen — soweit sie sich nicht gegenseitig ausschlossen — zu erfüllen. Da unser Staat somit keine besondere staats-tragende Gruppe kennt, gibt es im Gegensatz zu nicht-pluralistischen Staaten bei uns auch keine Gruppe, die von Staats wegen mit besonderen Vorrechten und Vorteilen ausgestattet ist. Es gibt keine privilegierte Gruppe, deren Gruppeninteressen in der Weise mit dem Staatsinteresse konform geht, wie das bei staatstragenden Gruppen nicht-pluralistischer Staaten der Fall ist. Die Schwäche des pluralistischen Staates, von der bereits gesprochen wurde, hat also, wie sich nunmehr zeigt, zwei Komponenten:

1. Es gibt keine Gruppe, deren Grundüberzeugungen mit den religiös-weltanschaulichen Grundlagen der Verfassungs-und Rechtsordnung identisch sind. Es gibt demzufolge auch niemanden, für den die Aufrechterhaltung der bestehenden Staatsordnung fraglos und selbstverständlich eine persönliche religiös-sittliche Pflicht ist.

2. Es gibt keine Gruppe, deren Ansehen und Besitz durch Previlegien besonders an den Bestand des Staates gebunden sind. Es hat daher niemand das selbstverständliche Bewußtsein, daß er auch dem eigenen Gruppeninteresse dann am besten dient, wenn er sich voll und ganz für das Wohl des Staates einsetzt. Es fehlen also die beiden Voraussetzungen, die in nicht-pluralistischen Staaten die Ausprägung eines staatsbejahenden Standesethos begünstigen. Es gibt niemanden, für den die Sache des Staates fraglos und selbstverständlich seine eigene Sache ist.

Die Entfremdung aller vom Staat wird außerdem erheblich gefördert durch die Institutionalisierung des gesamten öffentlichen Lebens, die sich ihrerseits eng mit einem weiteren, bisher noch nicht genannten Pluralismus unseres Staates verbindet: dem Pluralismus der Träger staatlicher Hoheit. Das Ideal der Gewaltenteilung, das im 18. Jahrhundert um der Freiheit und der Rechtssicherheit des einzelnen willen proklamiert worden war, hat zusammen mit der ständigen Ausweitung der Aufgaben des Staates — man denke allein an den sozialen oder kulturellen Bereich — zu einer immer größeren Dezentralisierung der Staatshoheit geführt. Besondere Gerichtsbarkeiten für Spezialbereiche wurden geschaffen. Bei der Legislative traten Ausschüsse und auch Fachgutachtergremien neben das Parlament. Besonders aber wurden in der Exekutive für fast jeden Sachbereich andere zuständige Stellen geschaffen. So gibt es etwa in einem Gebäudekomplex, an dessen Eingang ein Schild „Der Regierungspräsident" steht, hunderte von Diensträumen, in denen je ganz bestimmte Fragen bearbeitet werden. Da die Sachbearbeiter allein mit der jeweiligen Materie und den entsprechenden Gesetzen voll vertraut sind, müssen auch die übergeordneten Leiter großer Behörden Ratsuchende zwangsläufig an die Fachleute verweisen. Der Staat begegnet also dem Bürger nicht mehr in bestimmten konkreten Menschen, sondern in Behörden.

Diese arbeiten notwendigerweise schematisch. Sie bearbeiten „Fälle". In dieser Ordnung ist kein Platz für einen König, der den Reuigen, der sich vor ihm zu Boden geworfen hat, verzeihend aufheben und wieder in seine Ämter einsetzen kann. In ihr gibt es keinen Bevollmächtigten, der einer in Not geratenen Familie auch dann großmütig helfen könnte, wenn deren Fall „leider nicht unter die Bestimmungen fällt". Niemand kann dort sofort tatkräftig eingreifen, wo sofortiges Eingreifen nötig wäre, sondern es müssen zuvor die zuständigen Instanzen eingeschaltet und die vorgeschriebenen Formalitäten erledigt sein. Daher ist es in einer solchen Ordnung nicht möglich, ein „persönliches Verhältnis" zum Staat zu finden. Denn man kann zwar einen I König oder Grafen verehren und auch lieben; man kann aber eine Behörde, auch wenn sie gut arbeitet, weder lieben noch verehren!

Wenn man all das bedenkt, so kann man die Skepsis zahlreicher Menschen gegenüber unserem Pluralismus verstehen. Unsere Gesellschaft ist zerspalten in Interessengruppen und in eine Mehrzahl von Religionen und Weltanschauungen, unser Staat wird durch eine Pluralität staatstragender Gruppen und durch eine institutionalisierte „Zersplitterung" der Staatshoheit gekennzeichnet. Wie soll und kann man in einem solchen Staate politische Bildung fordern und insbesondere erwarten, daß der einzelne „bewußt am politischen Leben teilnimmt" und die bestehende Ordnung stützt? Widerspricht nicht die pluralistische Struktur einer tiefen untergründigen Sehnsucht des Menschen nach Einheit, nach einer Einheit, die die ganze Person mit einschließt und aufnimmt? Müßte das Ziel einer unvoreingenommenen politischen Bildung also nicht gerade darin bestehen, eine völlig neue, bessere Ordnung von Staat und Gesellschaft herbeizuführen? Müßte nicht der Egoismus der Interessengruppen durch die Idee des Gemeinwohls, der Streit der Weltanschauungen durch die Anerkennung gemeinsamer Wahrheiten, die Pluralität slaatstragender Gruppen durch einen starken gemeinsamen politischen Willen aller bewußt Deutschen und Europäer, die Zersplitterung der Staatshoheit durch eine großzügige Zusammenfassung überwunden werden?

Solche Fragen tauchen gewiß nicht überall in dieser Ballung auf. Aber sie stehen doch — ausgesprochen oder unausgesprochen — einer politischen Bildungsarbeit vielfach hemmend im Wege. Das Bonmot, daß die Demokratie eben die schlechteste Staatsform sei mit Ausnahme der übrigen, wirkt gegenüber so tief-greifendenskeptischen Fragen, die ja nicht nur unsere Staatsform, sondern unsere gesamte gesellschaftliche und politische Ordnung in Zweifel ziehen, mehr als ein Zeichen geistvoller Verlegenheit denn als eine Antwort. Eine zufriedenstellende Antwort aber ist die Voraussetzung jeder politischen Erziehung. Wenn der Erzieher hierin selbst nicht klar sieht, so kann er der politischen Bildung nicht dienen.

Will man zu einer richtigen Einschätzung der Lage kommen, so ist nichts nötiger als eine allseitige Nüchternheit. Es genügt nicht, die Struktur der bestehenden Ordnung mit ihren Möglichkeiten und Mängeln nüchtern zu sehen, sondern es gilt ebenso nüchtern zu fragen, welche Verbesserungsmöglichkeiten und Alternativen dazu bestehen. Dabei muß man vor allem einen Fehler vermeiden, dem Gesellschaftstheoretiker und Politiker immer wieder zum Opfer fallen: sie vergleichen die Realität der Gegenwart mit einem Idealbild der Zukunft oder der vermeintlichen Vergangenheit, wobei sie voraussetzen, daß die Menschen ihrer Idealwelt mit weniger Fehlern und Schwächen behaftet seien als die der Gegenwart. So stellten zahlreiche Denker des 18. Jahrhunderts der heruntergekommenen Monarchie ihrer Zeit eine ideale Demokratie gegenüber, und viele Deutsche der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verglichen die Realität der Weimarer Republik mit einer romantisch verklärten Monarchie. Bei einem solchen Vorgehen wird übersehen, daß zwar die jeweilige Realität an ihrem eigenen Ideal gemessen werden muß, daß man jedoch bei einem Vergleich verschiedener Systeme nur die eine Realität der anderen Realität und das eine Ideal dem anderen Ideal gegenüberstellen darf. Wenn man dagegen das Ideal einer Monarchie mit der Realität einer Demokratie vergleicht oder umgekehrt, so ist das entweder Folge einer methodischen Ahnungslosigkeit oder aber ein Kunstgriff demagogischer Propaganda. — Fragt man nach diesen Vor-Uberlegungen, welche Gefahren und Chancen in unserer Staats-und Gesellschaftsordnung liegen und welche Alternativen für uns bestehen, so kommt man zu folgenden Überlegungen:

Zum Pluralismus der Interessengruppen

Der „hemmungslose Egoismus" und der „Totalitätsanspruch" der Interessengruppen ist heute Zielpunkt von oft harter Kritik. Tatsächlich läßt sich feststellen, daß manche Interessenverbände nur an sich zu denken scheinen und anderen erst dann etwas zugestehen, wenn sie dazu gezwungen werden. So haben z. B. die Arbeitgeberverbände — auch in der Glanzzeit des Wirtschaftswunders — niemals von sich aus Tarife erhöht, sondern stets die Kündigung der Tarifverträge und die Streikdrohungen der Arbeitnehmer abgewartet.

Auch die erheblich über den Tarifen liegenden Effektivlöhne waren im allgemeinen nicht Folge sozialer Überlegungen, sondern sie wurden durch den Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte erzwungen. Ebenso bedenklich ist es, daß verschiedene Interessenverbände offensichtlich danach streben, unter demagogischem Mißbrauch des Gedankens der Solidarität alle Infragekommenden durch Diffamierungen und Drohungen zum Anschluß an ihre Organisation zu drängen und Menschen gegen ihren Willen zur Befolgung bestimmter Parolen zu zwingen. Hier kann man etwa an den massiven Druck denken, der kürzlich bei einem Streik von Arbeitnehmerverbänden gegen Arbeitswillige ausgeübt wurde. Schließlich muß testgestellt werden, daß durch die „erfolgreiche" Interessenvertretung der mächtigen Verbände immer wieder bestimmte andere Gruppen — man denke etwa an Kinderreiche und Rentner — bei der Verteilung des Sozial-produkts benachteiligt worden sind, weil sie nicht in der Lage waren, ihre Forderungen mit dem gleichen Nachdruck anzumelden.

Besonders stark ist der Druck der Interessenverbände auf das Parlament. Eine große Zahl von Verbandsfunktionären ist in die Volksvertretung gelangt. Die sogenannten Lobbyisten entfalten eine rege Tätigkeit, um Stimmen für ihre Auffassungen zu sichern. Geldzuwendungen an die Parteien, Drohungen, bei der nächsten Wahl an diese oder jene Abstimmung zu denken, Resolutionen und Demonstrationen finden ihre Antworten in „Wahlgeschenken''der Regierungs-und in Wahlversprechungen der Oppositionsparteien.

Es bedarf kaum eines Hinweises, daß das einzige Radikalheilmittel gegen solche Unzulänglichkeiten, eine dirigistische Gesamtplanung des wirtschaftlichen und sozialen Sektors durch eine übergeordnete Zentralstelle, noch schlimmer wäre als das Übel. Hierin liegt schon deshalb keine Lösung, weil die Interessengegensätze ja tatsächlich gar nicht aufgehoben, sondern nur unterdrückt werden.

Wie das Beispiel des Ostens zeigt, würde eine dirigistische Wirtschafts-und Sozialplanung nicht nur neue, ihre eigenen wirtschaftlichen und sozialen Schattenseiten mit sich bringen, sondern vor allem die persönliche Freiheit des einzelnen gefährden, weil jeder einzelne direkt oder indirekt in eine materielle Abhängigkeit von der Zentralinstanz geriete. Es gäbe niemanden, der die Interessen der einzelnen gegen die Zentrale erfolgreich vertreten könnte. Ja, da es weder eine freie Wirtschaft, noch selbständige Sozialeinrichtungen, noch eine freie Wohlfahrtspflege gäbe, könnte sich der einzelne bei einem Konflikt nicht einmal durch Ausweichen in einen von der Zentrale nicht beherrschten Raum retten.

Daß eine Unterdrückung der Interessenverbände nur einem System des Terrors gelingt, ist kein Zufall Denn, wie bereits angedeutet wurde, jeder Mensch hat von Natur aus Interessen, und es gehört zu den Rechten des mündigen Menschen, daß er seine Interessen entweder selbst vertritt oder, wo das in einer komplizierten Großgesellschaft nicht möglich ist, zumindest selbst bestimmt, wer sie für ihn vertreten soll Jede Ausschaltung der Interessenverbände durch den Staat, aber auch jeder Anspruch einzelner Verbände, der alleinige Anwalt für bestimmte Gruppen zu sein, ist daher mit den Prinzipien einer Gesellschaft freier und mündiger Menschen unvereinbar.

Tatsächlich lehnen bei uns nur wenige Menschen eine freie Interessenvertretung grundsätzlich ab. Viele fürchten nur, daß das Geltendmachen der Gruppeninteressen dem All-gemeinwohl Abbruch tue. Sie mahnen, das Gemeinwohl über alle Sonderinteressen zu stellen und erinnern zuweilen an die alte einprägsame Formel „Gemeinnutz geht vor Eigennutz". Solche Mahnungen sind sicher wertvoll, wenn sie als allgemeine Forderungen an jeden einzelnen und alle Gruppen gerichtet sind. Denn es sollten sich alle daran gewöhnen, ihre Interessen stets im Rahmen des Ganzen zu sehen. Die gleichen Parolen werden jedoch sehr fragwürdig, wenn sie polemisch anderen vor Augen gestellt werden; denn dann sind sie in hohem Maße geeignet, die eigenen Absichten demagogisch zu tarnen und haben historisch schon einmal eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Dabei handelt es sich — darum verdient dieser Punkt besondere Aufmerksamkeit — nicht um einen Mißbrauch der Art, wie er mit jedem an sich guten Leitmotiv getrieben werden kann. Die Problematik solcher Parolen liegt tiefer.

Alle Konzeptionen, die vom Gemeinwohl ausgehen, leiden darunter, daß das Gemeinwohl in der konkreten Situation fast nie eindeutig erkennbar und bestimmbar ist. Diese Undefinierbarkeit beruht einerseits darauf, daß die Auffassungen von dem, was „Wohl" ist, auseinandergehen — in nichtpluralistischen Staaten sorgt die staatstragende Gruppe jeweils für Eindeutigkeit — andererseits ist sie dadurch gegeben, daß das Gemeinwohl stets einen Zukunftsaspekt einschließt. Der Begriff des Gemeinwohls enthält also über alle anderen Schwierigkeiten hinaus eine Komponente unaufhebbarer Unbestimmtheit, die sich aus der Unbestimmbarkeit der Zukunft ergibt. Solange man jedoch nicht sagen kann, was das Gemeinwohl hier und jetzt jeweils bedeutet und fordert, ist es zur Lösung praktischer Probleme nicht verwendbar. Das zeigt sich heute bei zahlreichen Fragen, bei denen sich die Verfechter gegensätzlicher Auffassungen in gleicher Weise auf das Gemeinwohl berufen, ohne daß man den Gesprächspartnern die persönliche Redlichkeit bestreiten könnte. So erklärten kürzlich Vertreter des Bergbaus, daß es im Interesse des Gemeinwohls sei, die Energie-versorgung möglichst unabhängig von in Krisenzeiten unsicheren Einfuhren zu halten, während die Ölkonzerne versicherten, daß es im Interesse des Gemeinwohls läge, allen Verbrauchern den besten und rentabelsten Energieträger ungehindert zur Verfügung zu stellen. Ähnliche Differenzen gibt es bei wichtigen Fragen der Agrarpolitik und zahlreichen anderen Problemen. Die Fälle, in denen sich mit vollem Recht und aller Eindeutigkeit sagen läßt, daß ein Eigeninteresse auf Kosten des Gemeinwohls betrieben wird, stehen meist an der Schwelle des strafrechtlich Verfolgbaren; man denke an Preisabsprachen, Manipulationen zur Marktbeherrschung u. a. Hier greifen notfalls die Gerichte ein. Wer aber soll in den übrigen Fällen entscheiden, was tatsächlich dem Gemeinwohl dient? Die dafür zuständige Instanz ist fraglos die wichtigste Stelle im ganzen Staat. Es ist daher ein Kennzeichen totalitärer Machthaber, diese Befugnis für sich allein in Anspruch zu nehmen und ihre Widersacher zugleich als Feinde des Gemeinwohls zu brandmarken. In einem pluralistischen Staat hingegen ist für diese Entscheidung letztlich das Parlament zuständig als die Instanz, in der die Allgemeinheit, um deren Wohl es ja geht, am repräsentativsten vertreten ist. Dabei wird in einer intakten Demokratie von der jeweiligen Parlamentsmehrheit auch der Opposition die Redlichkeit des Wollens grundsätzlich zugestanden. Im Gegensatz zu totalitären Systemen wird also die Opposition nicht zum Feind der Allgemeinheit gestempelt. Vor wichtigen Entscheidungen hören sich die Parlamentarier in der Regel die Auffassungen aller Interessenten an. So haben die ins Parlament gewählten Verbandsfunktionäre und die Lobbyisten auch eine positive Funktion: Als Sachverständige sorgen sie dafür, daß das Parlament die ihnen wichtig erscheinenden Gesichtspunkte sieht. Da auch die „Gegenseite" zu Wort kommt, ist die Gefahr einer einseitigen Beeinflussung im allgemeinen nicht so groß, wie es hin und wieder dargestellt wird.

So haben letztlich auch die oft mit Argwohn betrachteten Interessenverbände ihren Platz und ihre Bedeutung in einer freiheitlichen Gesamtordnung. Schließlich können doch auch die, die heute über die Gefährdung des Gemeinwohls durch den Interessenpluralismus eindrucksvoll klagen, die geschichtliche Tatsache nicht leugnen, daß gerade die erfolgreiche Tätigkeit der Interessenverbände wesentlich dazu beigetragen hat, daß wir heute einen wirtschaftlichen Wohlstand und eine soziale Sicherheit auf breitester Basis haben, wie es sie früher nie gegeben hat. Es sind auch weitgehend die Verbände, welche die in unserem Staate bestehende allgemeine Rechtssicherheit zu einer persönlichen Rechtssicher-heit für den einzelnen machen, indem sie Der Grundsatz, daß die verbessernden Maßnahmen leisten, Musterprozesse durchführen unserem System angemessen sein usw. müssen, ließe sich auch auf anderen Gebieten berücksichtigen. Es würde den Rahmen des Aus all diesen Überlegungen ergibt sich, daß Themas sprengen, auf wirtschaftliche Fragen eine grundsätzliche Polemik gegen die Interessenverbände einzelnen einzugehen. Die letzten Jahre und ihren Pluralismus unangebracht jedenfalls klar gezeigt, daß durch wirtschaftskonforme ist, daß es also bei Verbesserungen Maßnahmen eine gewisse nur um Verbesserungen innerhalb des bestehenden Beeinflussung der Entwicklung Systems gehen kann. Eine genaue möglich ist, ohne die Freiheit der Wirtschaft, Untersuchung zeigt sogar, daß viele der heute das freie Unternehmertum, das freie Koalitionsrecht Unzulänglichkeiten gerade durch der Arbeitnehmer oder das Streikrecht in der Anwendung unseres aufzuheben. Auf diesem Wege läßt sich eigenen Strukturprinzips hervorgerufen sind. sicher in Zukunft noch mehr erreichen. Daher ist eine der wichtigsten Aufgaben die Daneben sind auch strukturkonforme politische Weiterentwicklung der eigenen Maßnahmen zugunsten sozial benachteiligter Dafür ein besonders wichtiges Gruppen denk-und durchführbar: So Beispiel: Durch die Verfassungs-und Rechtsordnung z. B. eine Änderung des Wahlrechts, die ist Vorsorge dafür getroffen, daß den Eltern das Recht zugestünde, stellvertretend staatlichen Instanzen einer ständigen für ihre noch nicht wahlberechtigten demokratischen Kontrolle unterliegen. Bei den Kinder die Stimmen abzugeben, die Stellung Interessengruppen fehlt jedoch in vielen Fällen kinderreichen Familie wirksam verbessern eine wirkungsvolle Kontrolle der Vorstände zugleich das politische Verantwortungsbewußtsein und Funktionäre durch die Mitglieder. weiter Kreise der Bevölkerung Bereits die Wahlen erfolgen zum Teil in Formen, stärken. Die durch das Fehlen des die demokratischen und rechtlichen Prinzipien öfter zutage getretene Schwäche nicht voll entsprechen. Dadurch wird es der Beamtenschaft ließe sich durch eine feste einzelnen Personen und kleinen Cliquen möglich, der Abgeordnetendiäten an die Beamtenbesoldung beheben. Solche und ähnliche sich praktisch unkontrollierte Machtpositionen Maßnahmen können gewiß nicht mit zu schaffen und die Verbände — ohne einem Schlage alle augenblicklichen Mängel beseitigen. und Willen der meisten Mitglieder — Aber eine planvolle Arbeit dieser Art für mehr oder weniger persönliche Ambitionen kann eines nach dem anderen verbessern. einzuspannen. Hier könnte ohne Zweifei eine Im übrigen wäre es wünschenswert, daß bestimmte Eindeutigkeit der rechtlichen Rahmen-bestimmungen gesellschaftlich starke Gruppen eine und ein entschiedeneres Auftreten von Ehrenpatenschaft für ihnen nahe-stehende einzelner Verbandsmitglieder Abhilfe schwache übernehmen, wie das z. T. schäften. schon versucht worden ist.

Zum Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen

Während die Pluralität der Interessengruppen Pluralismus anderer Art als heute trotz allem von den meisten als der Pluralismus der Interessengruppen. Wie etwas Selbstverständliches betrachtet wird sich zeigte, gibt es den Interessenpluralismus und kaum jemand an eine Überwindung dieser zwangsläufig in jeder differenzierten Gesellschaft, durch ein allumfassendes totales da die verschiedenen gesellschaftlichen System denkt, empfinden manche die Pluralität wirtschaftlichen Gruppen naturgemäß der Religionen und Weltanschauungen als ein verhängnisvolles Unglück. S rufen Eigeninteressen haben. Selbst in totalitären nach kulturpolitischen Maßnahmen gegen Konfessionalisierung werden diese Sonderinteressen und weltanschauliche Zersplitterung. nicht beseitigt, sondern nur unter die Ohne Zweifel ist der religiös-Oberflächeabgedrängt. Der religiös-weltanschauliche Pluralismus hingegen ist nicht in gleicher Weise notwendig. Es gab in der Vergangenheit und es gibt in der Gegenwart auch Staaten von einer recht großen religiös-weltanschaulichen Geschlossenheit. Hierbei kann man etwa an Ägypten oder auch an Spanien denken. Gerade diese Beispiele zeigen jedoch, daß sich eine religiös-weltanschauliche Geschlossenheit zumindest in unserer gegenwärtigen Welt nur durch mehr oder weniger offenen Zwang sichern läßt. Durch die Fülle der Kommunikationsmöglichkeiten mit der gesamten Welt werden heutzutage jedem einzelnen Menschen eine Vielzahl von Religionen und Weltanschauungen bekannt, die sich ihm als eigene Möglichkeiten anbieten. In einer solchen offenen Welt erfolgt zwar nicht mit absoluter Notwendigkeit, aber doch mit geschichtlicher Wahrscheinlichkeit eine Auflockerung der religiös-weltanschaulichen Geschlossenheit. Denn bei einem lebendigen Ringen mündiger Menschen um Wahrheit — darum geht es ja letztlich bei religiös-weltanschaulichen Fragen — kann es kaum ausbleiben, daß nicht nur der eine dies, der andere jenes stärker betont, sondern daß auch Teilwahrheiten verabsolviert werden und Irrtümer ihre Verfechter finden.

Bei diesem geistigen Ringen sind widersprechende Überzeugungen schwerer auszugleichen als Gegensätze im Kampf der Interessengruppen. Denn Fragen, bei denen es um Wahrheit und nach Überzeugung vieler sogar um ewiges Heil geht, können ihrem Wesen nach nicht durch Kompromisse entschieden werden. Der Kompromiß, der bei Interessengegensätzen eine angemessene Lösung sein kann und in sehr vielen Fällen tatsächlich die beste Lösung ist, läßt bei religiös-weltanschaulichen Fragen stets auf Unaufrichtigkeit und Verschwommenheit schließen. Eine echte Übereinkunft kann nur die Folge von Einsicht und Bekehrung sein. Sofern Toleranz nicht entartet, ist sie also letztlich nichts anderes als Achtung vor der redlichen Gewissensentscheidung des anderen, gepaart mit dem Willen, im Gespräch alle Argumente abzuwägen, und der Bereitschaft, die eigene Meinung stets zu korrigieren, wenn Wahrheit und Redlichkeit es fordern.

Wenn es aber bei religiösen und weltanschaulichen Fragen um Wahrheit oder Heil geht, dann steht jeder staatliche Zwang auf diesem Gebiet im Widerspruch zur Würde des Menschen und zu einer freien Gesellschaft. Dabei ist es ganz gleich, ob der Druck zugunsten einer profilierten Religion oder Weltanschauung oder ob er zugunsten einer unprofilierten Einheitsanschauung ausgeübt wird. Es ist kein Zufall, daß die Religions-und Gewissensfreiheit in unserem Grundgesetz ohne jede Einschränkung garantiert ist.

In der Praxis gibt es allerdings auf diesem Gebiet noch unübersehbare Unzulänglichkeiten. Denn unser Staat hat noch nicht in allen Bereichen die ihm gemäßen Konsequenzen aus seiner eigenen pluralistischen Struktur gezogen. So gibt es auch heute noch Bundesländer, die alle Kinder in eine vom Staat einheitlich bestimmte Schulart schicken, wobei in einem Land für alle die Bekenntnisschule, in anderen Ländern für alle eine Einheitsschule vorgesehen ist. In solchen Regelungen zeigt sich ein veraltetes obrigkeits-staatliches Denken.

Es muß jedoch hier unterstrichen werden, daß auch bei einer Reihe anderer Fragen der Pluralismus noch nicht positiv in unsere Gesamtordnung einbezogen ist. Als Beispiel sei auf die Ehegesetzgebung hingewiesen: Bei den jüngsten Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Eherechts zeigten sich deutlich zwei Tendenzen: überzeugte Christen suchten zu erreichen, daß die staatliche Ehe-gesetzgebung sich möglichst der christlichen Auffassung von der Unauflöslichkeit der Ehe nähere. Liberale Gruppen traten für die Möglichkeit der Ehescheidung ein. Sie warfen den Christen vor, daß sie durch die staatliche Gesetzgebung auch die Nichtchristen zwingen wollten, nach christlichen Grundsätzen zu leben. Da keiner Seite die innere Redlichkeit bestritten werden kann, muß jede einheitliche gesetzliche Relegung den bleibenden überzeugten Widerspruch zahlreicher Bürger finden. Daher liegt eine pluralistische Lösung nahe.

Das bedeutet praktisch: Die staatliche Gesetzgebung einer pluralistischen Gesellschaft kann durchaus die Möglichkeiten geben, zivil geschlossene Ehen unter bestimmten Umständen zu scheiden. Der Staat sollte aber zugleich die kirchliche Eheschließung als einen unantastbaren rechtsgültigen Vertrag anerkennen und als solchen respektieren. Bei einer solchen pluralistischen Lösung würde nicht nur die Stellungnahme des Staates zugunsten oder ungunsten einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung vermieden, sondern es würde auch jeder einzelne, der eine Ehe schließt, in eine seiner Mündigkeit und Würde entsprechende freie Entscheidung gestellt. Und schließlich würde eine solche Lösung auch zu einer größeren Redlichkeit führen: Wer sich dann bei der Eheschließung feierlich zur Unauflöslichkeit dieser Gemeinschaft bekennt, muß auch die Konsequenzen auf sich nehmen. Es wäre nicht mehr möglich, den Partner durch feierliche und doch rechtliche unverbindliche Versprechungen zu täuschen.

Der mögliche Einwand, daß eine solche pluralistische Lösung die Dinge für den Staat unzumutbar kompliziere, schlägt nicht durch: Wenn der Staat mit Rücksicht auf die unterschiedlichen materiellen Interessen seiner Bürger eine pluralistische Lösung im ehelichen Güterrecht geschaffen hat, so ist es keine un-billige Zumutung, von ihm zu erwarten, daß er auch die unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen durch eine entsprechende pluralistische Lösung respektiert. Ähnliche Lösungen sollten auf anderen Gebieten gesucht werden. Die augenblicklich für jeden Arzt bestehende Forderung, das Leben einer Mutter, vor oder bei der Geburt, wenn nötig durch den gewaltsam herbeigeführten Tod des Kindes zu retten, bringt zahlreiche Ärzte in Gewissensnot. Der Staat setzt sich hier — entgegen dem Geist des Grundgesetzes — in einer reinen Sachlogik über das Gewissen des Arztes hinweg. Ebensowenig fragt er nach dem Willen der betreffenden Eltern. Auch hier ist an Stelle eines einheitlichen Reglements eine pluralistische Lösung angemessen. Sie wäre zwar für die Beteiligten durchaus nicht das Bequemste; aber die Gewissensfreiheit und die Mündigkeit des Menschen würden dabei respektiert.

Zum Pluralismus der staatstragenden Gruppen

Wenn die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen wie auch die Pluralität der Interessengruppen in der aufgewiesenen Weise bejaht werden, so entsteht folgerichtig aus der pluralistischen Gesellschaft der pluralistische Staat: jener Staat, in dem es keine besondere privilegierte staatstragende Gruppe gibt, deren Grundüberzeugungen mit denen der staatlichen Rechts-und Verfassungsordnung voll identisch sind. Es wurde bereits aufgewiesen, daß ein solcher pluralistischer Staat eine ihm eigene Schwäche hat: es gibt keine Gruppe, die fraglos und selbstverständlich für ihn eintritt. Es wurde jedoch auch bereits angedeutet, daß dieser Staat auch eine ihm eigene Chance besitzt. Diese Chance liegt letztlich einfach darin, daß er von der großen Mehrheit seiner Bürger als das begriffen wird, was er tatsächlich ist: als die einzig mögliche politische Lebensordnung freier und mündiger Menschen in unserer moderen geschichtlichen Welt.

Die Richtigkeit dieser Feststellung geht aus den bisherigen Überlegungen klar hervor und bedarf keiner nochmaligen Begründung. Leider muß jedoch festgestellt werden, daß vorerst zu wenige diese Realität klar genug erkannt haben. Es gibt immer noch sehr viele Menschen, die sich über diese Fragen keinerlei Gedanken machen und außerdem bestimmte Gruppen, die in geschichtlicher Unkenntnis einer vermeintlich heilen Welt der Vergangenheit nachträumen oder ein utopisches Zukunftssystem herbeisehnen, das eine ihnen ideal erscheinende Ordnung mit mehr oder weniger dirigistischem Einsatz staatlicher Zwangsmittel herbeiführen soll. Diese politische Romantik und Utopie — man denke einerseits an Krolls Manifest der abendländischen Aktion und andererseits etwa an Ernst Bloch und seine Freunde — kann zu einer Gefahr werden, wenn sie weite Kreise der Bevölkerung ergreift. Denn diese Romantik und Utopie absorbiert politische Kräfte, die für die Gestaltung der realen Welt und die Nützung der tatsächlichen Möglichkeiten, bitter nötig sind. Sie trübt durch Illusionen den Blick für die Wirklichkeit und bereitet in manchen Aus-Prägungen den Boden für totalitäre Ideologien vor.

Allen diesen politischen Romantikern und Utopisten ist gemeinsam, daß sie die Struktur und den Wert unserer pluralistischen Ordnung nicht erkannt haben. Es ist ein durchaus hoffnungsvolles Zeichen, daß diese Kreise auf die heutige Jugend bedeutend weniger Einfluß gewinnen, als das in den Jahren der Weimarer Republik der Fall gewesen ist. Die nüchterne und gegenüber allem vorschnellen Idealismus skeptische Einstellung der mittleren und jüngeren Generation ist heute — entgegen manchen Unkenrufen — vielleicht das wertvollste politische Kapital, das wir besitzen. Der pluralistische Staat der Gegenwart bedarf des berauschenden und blinden Beifalls nicht. Er verträgt es, daß man sich in kritischer Nüchternheit mit ihm beschäftigt. Denn im Gegensatz zu monolithischen ideologischen Systemen vermag er allseitigen kritischen Blicken standzuhalten. Je sachlicher und klarer möglichst viele Menschen und Gruppen die Struktur unserer Ordnung begreifen und je tiefer sie damit zugleich auch den realen Wert dieser Ordnung erfassen, desto sicherer wird sich eine Entwicklung vollziehen, die den pluralistischen Staat jedem anderen dauerhaft überlegen macht: Immer mehr Gruppen werden erkennen, daß dieser Staat, obschon er nicht in allem ihren Vorstellungen entspricht und obschon er sie nicht privilegiert, daß dieser Staat trotz allem verdient, daß er erhalten, ausgebaut und geschützt wird, weil er allein in unserer modernen Welt allen Bürgern ein menschenwürdiges Leben sichert. Mit anderen Worten: je mehr Menschen und Gruppen unseren Staat in seiner Struktur begreifen und in seinem Wert erkennen, desto-mehr wird es dahin kommen, daß nahezu alle Gruppen staatstragende Gruppen werden. Im Gegensatz zu den staatstragenden Gruppen nichtpluralistischer Staaten werden sie sich freilich nicht fraglos und selbstverständlich mit dem Staat identifizieren, sondern sie werden ihren Staat aus einer gewonnenen Einsicht heraus bewußt bejahen und erst durch Reflexion eine Haltung gewinnen, die auf die Dauer vielleicht zu einer neuen Art der „Liebe zum Staat* werden kann. Es wird das sicher keine blinde Liebe sein, sondern eine Liebe mündiger und reifer Menschen, die es nicht nötig haben, sich über die Unzulänglichkeiten des Objektes ihrer Liebe hinwegzutäuschen.

Einschränkend muß freilich bemerkt werden, daß die Bejahung und positive Einbeziehung des Pluralismus in unsere politische Ordnung bestimmte Grenzen hat und daß es einzelne Gruppen gibt, die infolge ihrer Zielsetzung grundsätzlich nie zu staatstragenden Gruppen unseres pluralistischen Staates werden können. Wie bereits bemerkt wurde, beruht auch unsere Rechts-und Verfassungsordnung auf bestimmten Grundüberzeugungen. Und wenn vorhin unterstrichen wurde, daß es bei uns keine staatstragende Gruppe gibt, die alle Grundüberzeugungen unserer Verfassungs-und Rechtsordnung voll bejaht, so muß jetzt betont werden, daß es einen bestimmten innersten Kern von Grundüberzeugungen gibt, der zumindest von all denen anerkannt werden muß, die das politische Leben aktiv mitgestalten wollen. Einige andeutende Hinweise müssen genügen: Der Artikel 1 des Grundgesetzes, der Menschenwürde und Menschenrechte sichert, kann laut Verfassung auch mit qualifizierter Mehrheit nicht geändert werden. Es gibt also bestimmte Vorgegebenheiten, die unter allen Umständen und von jedem — auch von der Mehrheit! — respektiert werden müssen. Und wer nicht gewillt ist, diese Grundsätze zu achten, untergräbt eindeutig das Fundament unserer gesamten politischen Ordnung. Parteien, deren Zielsetzung in diese Richtung weist, sind daher verfassungswidrig und können verboten werden.

Gegenüber der Überzeugung des einzelnen zeigt unser Staat jedoch, selbst wenn es um den Kern der Grundüberzeugungen geht, eine bemerkenswerte Toleranz. Wegen rein persönlicher Auffassung wird selbst bei diesen grundlegenden Fragen niemand verfolgt und benachteiligt. Der Staat nimmt es lieber in Kauf, daß die Freiheit in einzelnen Fällen mißbraucht wird, als daß er um möglichen Mißbrauchs willen, selbst die Freiheit allzu sehr beschränkt. Ohne Zweifel trägt die Institutionalisierung des gesamten öffentlichen Lebens mit ihrer unübersehbaren Fülle von Zuständigkeiten und Sonderregelungen entscheidend dazu bei, daß der Bürger den Staat als etwas Fremdes empfindet. Aber eine Rückkehr zur alten, einfachen personalen Ordnung ist schlechterdings unmöglich. Denn unser modernes Leben ist eben komplizierter geworden. Die Aufgaben des Staates — besonders im sozialen und kulturellen Bereich — sind gewachsen. Niemand kann ernstlich wünschen, daß sich der Staat wieder auf die Aufgaben zurückzieht, die er unter König Chlodwig oder unter Kaiser Friedrich Barbarossa gehabt hat. Man kann die Augen z. B. nicht davor verschließen, daß wir heute eine soziale Sicherheit haben, wie sie in früheren Zeiten undenkbar gewesen ist. Außerdem sollte sich auch niemand darüber täuschen, daß die heutige Rechtssicherheit im Sinne der Nachprüfbarkeit der Entscheidungen und der gleichen Behandlung gleicher Fälle bedeutend größer ist als je zuvor. Die komplizierte Apparatur von Behörden und Instanzen dient letztlich dieser rechtlichen und sozialen Sicherheit. Wenn nicht an Hand ausgefüllter Formulare nachgewiesen werden müßte, nach welchen Grundsätzen jeder einzelne Fall zu behandeln ist, so würde die Bahn nicht nur für großzügige unbürokratische Lösungen frei, sondern ebenso für persönliche Willkür, für Schikanen und Protektion. Es kann also auch hierin niemand ernstlich an radikale Wendungen denken, die das Bestehende völlig umstürzen.

Trotz allem bedarf der gegenwärtige Zustand der Verbesserung. Denn der institutionalisierte Staatsapparat kann seinem Wesen nach stets nur so arbeiten, daß er die einzelnen Fälle in ein bestimmtes, durch Gesetze und Verordnungen festgelegtes Schema einordnet und entsprechend schematisch behandelt. Wenn Fälle auftauchen, die in das bisherige Schema nicht passen, so müssen zunächst die Schemata geändert werden. Dafür bedarf es neuer Gesetze und Verordnungen. Da jedoch letztlich kein Schema so vollkommen sein kann, daß es alle Fälle zufriedenstellend erfaßt, und da außerdem durch die ständigen Veränderungen der Verhältnisse immer wieder neue unvorhergesehene Fälle auftauchen, hinkt die Korrektur der Schemata notwendigerweise immer erheblich hinter den Bedürfnissen der Betroffenen hinterher, so daß z. B. oft erst die inzwischen wohlhabenden Kinder Entschädigungen erhalten, die die vor Jahren arm verstorbenen Eltern bitter nötig gehabt hätten. Außerdem macht es die Fülle der ständig neuen Ergänzungs-Ausnahmebestimmungen dem einzelnen fast unmöglich, die für seinen Fall wichtigen Gesetze und Verordnungen klar zu überschauen.

Es stellt sich also die Frage, wie bei einer grundsätzlichen Beibehaltung der augenblicklichen Konzeption ein korrektives, personales Gegengewicht gegen den Schematismus der Institutionen geschaffen werden kann. Es könnte z. B. vom Gesetzgeber ein größerer Ermessensspielraum für den einzelnen Beamten gelassen werden; ein Spielraum, der dann freilich nicht von der Ministerialbürokratie und den Gerichten durch Anordnungen und Grundsatzentscheidungen wieder eingeschränkt werden dürfte. Außerdem wäre zu erwägen, ob man bestimmte Beamte mit der Aufgabe betrauen sollte, mit einer gewissen persönlichen Entscheidungsfreiheit Fälle zu bearbeiten, für die eine gesetzliche Regelung noch fehlt.

Solche Versuche wären sicher nicht ohne Risiko. Es würde wahrscheinlich manche Fehlentscheidung geben. Aber wir stehen nur vor der Wahl, ob wir die Unzulänglichkeiten des Schematismus oder die Unzulänglichkeiten persönlicher Ermessensfreiheit in Kauf nehmen wollen. Eine ideale Lösung gibt es nicht. Die bisherige Geschichte hat gezeigt, daß Lösungen, die allein auf Ermessensfreiheit aufbauen, höchst gefährlich sind. Unsere eigenen Erfahrungen lehren uns jedoch andererseits, daß rein schematische Lösungen offensichtlich in vielen Fällen sehr hart sind. Daher liegt es nahe, eine gewisse Kombination zu versuchen. Sollte eine solche Kombination nicht möglich sein, so ist es sicher bei Abwägung aller Vor-und Nachteile immer noch besser, die Härten schematischer Regelungen zu ertragen, als ein System zu schaffen, in dem die Versuchung zu persönlicher Willkür so groß ist, daß die Rechtssicherheit in Gefahr gerät. In diesem Sinne muß auch der institutionelle Pluralismus unserer Staatshoheit trotz all seiner Schattenseiten als eine Regelung betrachtet werden, die im Interesse der Rechtssicherheit und der sozialen Sicherheit notwendig ist. Auch hier kann es nur um Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems gehen.

Bei all diesen Überlegungen über die pluralistische Gesellschaft und den pluralistischen Staat ist das Stichwort „politische Bildung" nicht direkt gefallen. Trotzdem liegt auf der Hand, daß die Frage nach der politischen Bildung nur auf Grund einer Analyse unserer politischen Ordnung gestellt werden kann. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß eine Analyse der politischen Ordnung bereits von sich aus wichtige Fragen der politischen Bildung beantwortet. Man wird geradezu behaupten dürfen, daß sich fast alles Wesentliche, was jetzt noch zum Gesamtthema zu sagen ist, aus dem bereits Erörterten zwingend ergibt. Trotzdem sollen in einem letzten Teil der Gesamtuntersuchungen die Konsequenzen für die politische Bildung ausdrücklich gezogen werden:

1. Da es in einem pluralistischen Staat keine Gruppe gibt, deren Grundüberzeugungen und Gruppeninteressen sich voll mit denen des Staates decken, kann nicht erwartet werden, daß sich einzelne Menschen und Gruppen fraglos mit dem Staat identifizieren und sich mit einer entsprechenden Selbstverständlichkeit am politischen Leben beteiligen. Voraussetzung für ein politisches Engagement ist vielmehr die bewußte Erkenntnis, daß unser pluralistischer Staat die einzige Form politischer Ordnung ist, die einer Gesellschaft freier mündiger und Menschen gerecht wird und daß diese politische Ordnung nur dann dauerhaft erhalten werden kann, wenn sie von einem Großteil der Bürger aktiv mitgetragen wird. Kenntnis der Struktur unserer Gesellschaft und unseres Staates ist also die wichtigste Voraussetzung politischer Bildung. Dabei verbieten Redlichkeit und Klugheit in gleicher Weise jede Glorifizierung unserer Ordnung. Je nüchterner die Erkenntnis gewonnen wird, was unsere politische Ordnung trotz all ihrer Schwächen für jeden von uns bedeutet, desto krisenfester wird die auf dieser Erkenntnis basierende politische Bildung sein.

2. Wie sich aus der Strukturanalyse ergibt, kann auch ein pluralistischer Staat nicht ohne ein Minimum von Grundüberzeugungen auskommen, die allen staatstragenden Gruppen gemeinsam sind. Diese Überzeugungen müssen von allen öffentlichen und mit öffentlichen Mitteln unterstützten Bildungsinstitutionen vertreten und gepflegt werden.

Unser Staat kann es sich wohl leisten, dem einzelnen gegenüber auch dann tolerant zu sein, wenn er diese Grundüberzeugungen nicht teilt; er muß jedoch bestrebt sein, möglichst viele Bürger von der Richtigkeit der unabdingbaren Grundlagen unserer Verfassungsund Rechtsordnung zu überzeugen, und er muß im Interesse der Erhaltung einer menschenwürdigen Ordnung dann einschreiten, wenn einzelne Gruppen planmäßig Auffassungen propagieren, die zu diesen Grundlagen in einem unaufhebbaren Widerspruch stehen.

Auch in einem pluralistischen Staat hat die Toleranz Grenzen. Wo z. B. die Achtung vor den Grundrechten des Menschen durch Wort und Tat untergraben wird, hört um des Menschen und seiner Würde willen die Toleranz auf.

3. Wie die Strukturanalyse unserer Verfassungs-und Rechtsordnung weiter zeigt, genügt das gemeinsame Minimum jedoch nicht, um darauf eine Staatsordnung aufzubauen. Auch die nicht zum innersten Kern gehörenden Grundüberzeugungen unserer Verfassungsund Rechtsordnung bedürfen der ständigen Pflege durch die entsprechenden für sie repräsentativen staatstragenden Gruppen. Es ist daher im Interesse der Gesamtordnung notwendig, daß Kirchen, Gewerkschaften, liberale Gruppen u. a. je die Grundüberzeugungen pflegen, für die sie repräsentativ sind.

Nicht zuletzt haben die Erfahrungen unter totalitärer Herrschaft gezeigt, daß unprofilierte Gruppen und Personen fast ausnahmslos zum Mitläufertum neigten, während der passive und aktive Widerstand gegen Unrecht und Gewalt von geistig klar geprägten Persönlichkeiten und Gruppen ausging.

Ein religiös-weltanschaulicher Minimalismus ist also politisch höchst gefährlich, und es liegt im Interesse unseres Staates, alle klar geprägten staatstragenden Gruppen an der Bil-dungsarbeit zu beteiligen. Ohne diese Beteiligung bleibt politische Erziehung in einem pluralistischen Staat ein Torso. Daher ist z. B. die hin und wieder geforderte weltanschauliche Einheitsschule mittlerer Tiefe vom Standpunkt der politischen Bildung her schlechthin nicht zu verantworten. Es ist freilich dringend zu wünschen, daß sich nicht nur die Kirchen und wenige kleinere Gruppen, wie die Anthroposophen, sondern alle Weltanschauungsgruppen durch Errichtung entsprechender profilierter Bildungsinstitutionen je in ihrer Weise an der Lösung der Bildungsaufgabe beteiligen. 4. In einem pluralistischen Staat gehört es jedoch nicht nur zur politischen Bildung, die allgemeinen und die durch die eigene Gruppe repräsentierten Grundüberzeugungen aktiv zu vertreten, sondern es ist außerdem nötig, auch die wichtigsten von den anderen Gruppen repräsentierten Überzeugungen zu kennen. Die Erfüllung dieser Forderung ist besonders schwierig, weil dabei zwei entgegengesetzte Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen: a) Die Überzeugungen der anderen Gruppen sollen durchaus kritisch betrachtet werden. Die Information über andere Gruppen kann zwar in besonderen Fällen zum Übertritt in eine andere Gruppe führen; es darf jedoch auf keinen Fall zu einer allgemeinen relativistischen Entwurzelung oder zu einer negativen Nivellierung kommen, b) Die Überzeugungen der anderen Gruppen sollen unverzerrt zur Darstellung kommen. Ihre positive Bedeutung im Ganzen der Gesellschaft ist zu würdigen. Es gilt, zur Achtung vor den Vertretern der anderen staatstragenden Gruppen zu erziehen. Zumindest sollte allen anderen die Redlichkeit des Wollens zugestanden werden, es sei denn, daß in besonderen Fällen eine Unredlichkeit eindeutig nachgewiesen werden kann. Es ist höchst erfreulich, daß in den letzten Jahren gerade auf diesem Gebiet Fortschritte gemacht worden sind.

5. Es gehört zum Wesen profilierter religiös-weltanschaulicher Gemeinschaften, daß sie von der Richtigkeit ihrer Auffassungen überzeugt sind und danach streben, auch andere davon zu überzeugen. Dieses Ringen um Wahrheit dient dem geistigen Fortschritt und liegt daher im Interesse der Gesamtheit. Allerdings geht es dabei in einem pluralistischen Rechtsstaat stets um Einsicht und Bekehrung, jedoch nicht um Majorisierung oder gar offene Unterdrückung der anderen. Jede einzelne religiös-weltanschauliche Gemeinschaft muß deshalb darauf verzichten, ihre Auffassungen mit Hilfe von Terror oder Majorisierung auch den übrigen aufzudrängen. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben politischer Erziehung, in allen Staatsbürgern den Willen zu wecken, ihre speziellen religiös-weltanschaulichen Auffassungen den anderen auch dann nicht aufzuzwingen, wenn sie die Mehrheit und damit die gesetzgeberische Möglichkeit haben. Das Bestreben, durch großzügige pluralistische Lösungen auch den Minderheiten gerecht zu werden, muß ein besonderes Kennzeichen aller Träger unseres pluralistischen Rechtsstaates werden.

6. Es muß jedem klar werden, daß in unserem Staat eine angemessene Vertretung der eigenen Interessen nicht nur das Recht, sondern die Pflicht des einzelnen ist. Zumindest hat niemand Grund, sich über Zurücksetzung zu beklagen, der seine Interessen weder persönlich noch durch Mitarbeit in den entsprechenden Verbänden angemessen vertritt. Aber es genügt nicht, die eigene Sache aktiv zu vertreten, sondern es muß jeder auch die wichtigsten Interessen der anderen Gruppen kennen. Je mehr Menschen wissen, daß die Gesamtordnung ohne die positive Mitwirkung auch der anderen Gruppen nicht bestehen kann und daß auch diese anderen Gruppen berechtigte Interessen haben, desto eher wird es dahin kommen, daß jeder bestrebt ist, auch die anderen Interessengruppen so zu behandeln, daß sie dem Ganzen nicht entfremdet werden. So wird das Gemeinwohl tatsächlich mitberücksichtigt, obgleich es aus den bereits angegebenen Gründen keine allgemeinen festen Vorstellungen vom Gemeinwohl gibt. Die politische Erziehung muß also das Ziel haben, jeden dahin zu bringen, daß er bei Interessenkonflikten auch die Argumentation der anderen anhört, bereit ist, auch ihre Interessen zu achten, und Lösungen sucht, die — soweit möglich — allen gerecht werden.

Dabei gilt es, die positive Bedeutung zu erkennen, die beim Ausgleich von Interessen-gegensätzen der Kompromiß hat. Bei allen muß der Wille lebendig sein, dem anderen wenigstens so weit entgegenzukommen, daß er nicht durch einseitige Benachteiligung der Gesamtheit entfremdet wird. 7. Besonders wichtig ist es, allen die Bedeutung der Parteien klarzumachen. Es sollte jeder Bürger erkennen, daß unser Staat ohne Parteien nicht bestehen kann und daß daher grundsätzliche Parteienfeindschaft mit einer Absage an unseren Staat gleichzusetzen ist. Selbstverständlich dürfen die Parteien ebensowenig wie der Staat glorifiziert werden. Aber ebenso wie die Mängel im Staat den einzelnen anspornen sollen, selbst aktiv zu werden, so sollten auch die Unzulänglichkeiten der Parteien ein Ansporn sein, sich selbst einzuschalten. Es sollte jedem klar sein, wie nötig es ist, daß in den Parteien überwiegend Menschen tätig sind, die von echten politischen Impulsen geleitet werden. Wenn eine genügend große Zahl solcher Menschen in den Parteien aktiv mitarbeitet, so wird dadurch der Gefahr einer einseitigen Herrschaft der Interessenverbände wirksam begegnet. 8. Es muß Ziel der politischen Erziehung sein, daß sich jeder irgendwo aktiv am öffentlichen Leben beteiligt. Wenngleich es richtig ist, daß es besonders wichtige und weniger wichtige Aufgaben gibt, so muß doch dem einzelnen überlassen bleiben, den Ort seiner Aktivität selbst zu wählen. Er muß jedoch in den Stand gesetzt werden, die Wahl richtig zu treffen. Das heißt vor allem: er muß lernen, seine eigenen Fähigkeiten richtig einzuschätzen. Dann wird sich auch niemand zu Aktionen hinreißen lassen, deren Sinn und Ziel er nicht durchschaut. Die Harmlosigkeit, mit der immer wieder wohlmeinende Bundesbürger — vom Lehrling bis zum Universitätsprofessor! — Friedensresolutionen, Abrüstungsappelle und andere Propagandaaktionen östlich gesteuerter Organisationen unterstützen, zeigt, was hier an politischer Erziehung noch zu leisten ist. 9. Aus der Freiheit, die jeder einzelne in einem pluralistischen Staat hat, erwächst eine persönliche Verantwortung für alles Tun. Wie aus der Präambel des Grundgesetzes hervorgeht, muß diese Verantwortung letztlich als eine Verantwortung vor Gott verstanden werden. Es ist eine Kernfrage politischer Bildung, das Gefühl für diese Verantwortung zu wecken und zu schärfen. Denn der Bürger, in dem dieses Verantwortungsgefühl lebendig ist, steht außer Gefahr, seine Mündigkeit preiszugeben, sich blindlings fremden Anordnungen zu unterwerfen und damit zu einem Mitläufer und Förderer totalitärer Systeme zu werden. 10. Wenn politische Erziehung in der vorgeschlagenen Weise geschieht, so wird es auch gelingen, allmählich ein Gefühl der Solidarität zwischen allen staatstragenden Gruppen zu schaffen. Diese Solidarität bedeutet nicht Uniformierung oder Nivellierung, sondern sie ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit von Menschen, die sich gegenseitig als frei und mündig respektieren und die entschlossen sind, für die Staatsordnung, die ihnen ihre Freiheit und Mündigkeit garantiert, gemeinsam — notfalls auch unter Opfern — einzutreten.

Wenn es gelingt, diese zehn Punkte einigermaßen zu realisieren, dann kommen wir sicher dem Ziel politischer Bildung, wie es im Anfang der Untersuchung definiert wurde, ein ganzes Stück näher. Vielleicht ist aufgefallen, daß im Gegensatz zu manchen anderen Darlegungen vom Dritten Reich und vom Kommunismus immer nur am Rande die Rede war. Es scheint mir jedoch gerade das wichtig zu sein, daß wir unsere politische Bildung nicht aus einem irgendwie gearteten Antikomplex heraus betreiben. Unser pluralistischer Staat, um den es geht, ist ein positiver Wert: er ist die in unserer Zeit einzige politische Ordnung für freie und mündige Menschen. Er verdient, daß wir nicht nur aus Furcht vor anderen Systemen, sondern vor allem um seiner selbst willen für ihn einstehen.

Freilich muß nochmals daran erinnert werden, daß politische Bildung nur dann realisiert werden kann, wenn sie in einer Gesamtbildung wurzelt. Denn politische Bildung tritt nicht zur unpolitischen noch hinzu, sondern sie ist ein notwendiger Aspekt jedweder Bildung überhaupt. Und so fundamentale Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit, innere Sauberkeit und Liebe oder auch Sachlichkeit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Selbstdisziplin sind persönliche und politische Tugenden zugleich. Die innere Einheit von Bildung und politische Bildung aber gründet letztlich in der für unsere freie Welt fundamentalen Überzeugung, daß es auch in der Politik immer um den Menschen geht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl dazu: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Stellungnahme und Gegenvorschlag zum Rahmenplan. Düsseldorf 196012. S. 12 f

  2. Vgl. zur Begriffserklärung auch: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Schule und pluralistische Gesellschaft. Frankfurt 1961. S. 88 ff

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Hugo Staudinger, Dr. phil., Professor an der Pädagogischen Hochschule Paderborn, Direktor des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen, Frankfurt, geb. 5. Juli 1921 in Dresden.