Einleitung
Im vergangenen Jahr erschien in Moskau die Schrift eines bisher fast unbekannten sowjetischen Autors namens Sitnikov, in der die Arbeiten der Marxismuskommission der Evangelischen Studiengemeinschaft und insbesondere meine Beiträge zu den „Marxismusstudien"
Dies die Denkfigur „Entfremdung". Marx war nun weiter davon überzeugt, daß die Entfremdung unter der Herrschaft des Kapitalismus ein nie gekanntes Ausmaß erreichen und schließlich für die proletarischen Massen so unerträglich werden würde, daß diese dagegen rebellieren und in einer „menschlichen Emanzipation" sich und alle anderen Glieder der Gesellschaft von diesem Makel freimachen würden.
In meinen Arbeiten habe ich diesen Marxschen Erwartungen gegenüber immer wieder darauf hingewiesen, daß in der sowjetischen Gesellschaft zumindest ähnliche Entfremdungsphänomene wie in der von Marx beschriebenen früh-kapitalistischen auftreten und daß offenbar die sowjetische Form des Sozialismus keine Garantie für die Überwindung der Entfremdung darstellt. Gegen diese Anwendung der Entfremdungskategorie auf die Sowjetgesellschaft wenden sich Sitnikov und andere sowjetische Autoren. Im Zusammenhang dieser Auseinandersetzung ist es natürlich nicht unwichtig, nachzuweisen, daß es sich hier noch um die gleichen Phänomene handelt, die Marx als „Entfremdung" (Verdinglichung und Fetischismus sind verwandte Begriffe) bezeichnet hat. Für den deutschen Leser schienen mir die folgenden Ausführungen Sitnikovs als Beispiel einer dogmatischen Apologetik nicht uninteressant zu sein, überzeugen werden sie vermutlich kaum, obgleich sie keineswegs einseitig ausgewählt wurden.
Erstaunlich ist im übrigen die Tatsache, daß die Denkfiguren des frühen Marx erst so spät in das Blickfeld des Sowjetmarxismus eingetreten sind. In der westlichen Marxismusdiskussion steht seit Anfang der dreißiger Jahre — als das Fragment „Nationalökonomie und Philosophie" von Marx erstmals ediert wurde — die Entfremdung im Mittelpunkt der Diskussion. Der Grund für diese erhebliche Verzögerung dürfte einmal im Stalinismus und seiner dogmatischen Fixierung des Marxismus-Leninismus auf einen von Stalin in Katechismusform gebrachten „dialektischen Materialismus" und andererseits in der außerordentlich kritischen Ambivalenz der Kategorie der Entfremdung zu suchen sein. In den Frühschriften von Marx steht die Befreiung des Menschen von jeder Form der Ausbeutung, der Herrschaft und der Entfremdung so sehr im Mittelpunkt, daß ein sowjetischer Leser zur Zeit der Stalinschen Herrschaft diese Ausführungen geradezu als eine Kritik seiner Situation begreifen mußte. Aus diesem Grunde sind denn auch die Frühschriften nie in großen und billigen Auflagen in russischer Sprache veröffentlicht worden. Sie galten als relativ unbedeutende Arbeiten des noch nicht zum Marxismus gelangten Junghegelianers Marx. Neuere Arbeiten haben aber inzwischen überzeugend nachgewiesen, daß zwischen den Frühschriften mit ihrer humanistischen Orientierung und den späteren Hauptwerken von Marx ein enger innerer Zusammenhang besteht, und ganz sicher tut man Marx Unrecht, wenn man seine ökonomische Theorie lediglich als eine Modellkonstruktion der „reinen" kapitalistischen Marktwirtschaft auffaßt.
Erst nach der offenen Abkehr von Stalin im Frühjahr 1956 wurde in der Sowjetunion die bis dahin zurückgehaltene Beschäftigung mit dem frühen Marx „freigegeben", und seither sind eine Anzahl Arbeiten erschienen, in denen der „Humanismus des jungen Marx" in günstigerem Lichte erscheint. Ja, vielfach wird sogar der Versuch gemacht, die gegenwärtige und vor allem die künftige Sowjetgesellschaft als die Realisation der Marxschen Ideale hinzustellen. Wie sehr inzwischen die Entfremdungskategorie (deren Verwendung zeitweilig beinahe „strafbar" gewesen zu sein scheint) an Boden gewonnen hat, zeigten die vier Referate, die von sowjetischen Delegierten im September dieses Jahres auf dem XIII. Internationalen Philosophiekongreß in Mexiko zum ersten Hauptthema des Kongresses, „das Problem des Menschen", verlesen wurden
Die meisten zeitgenössischen „bourgeoisen“ Philosophen abstrahierten — meint Oiserman — von der konkreten historischen Bedingtheit der Entfremdung und sprächen von „entfremdeter Arbeit" unter beliebigen Verhältnissen. Aus dieser Abstraktion folge dann notwendig eine pessimistische Ansicht in bezug auf die Möglichkeit der Überwindung von Entfremdung. Der Tod werde als die einzige Erlösung von einem notwendigerweise entfremdeten Leben angesehen. Diesen z. T. als „Anthropo-
logisierungen Hegels" gekennzeichneten Auffassungen
Die Kritik am sowjetischen Gebrauch der Entfremdungskategorie muß aber noch weitergehen. Wenn man nämlich die Richtigkeit der Marxschen These unterstellt, daß alle politische, ideologische und soziale Entfremdung aus „entfremdeter Arbeit" hervorgeht und gleichzeitig hört, daß es in der Sowjetunion keine entfremdete Arbeit mehr gibt, wird man entweder die Marxsche Prämisse aufgeben müssen oder die zweite Behauptung in Frage zu ziehen haben. Ich würde für diese zweite Alternative optieren. Ganz ohne Zweifel gibt es in der sowjetischen Gesellschaft unserer Tage — trotz eines gar nicht unerheblichen Wohlstandes wenigstens der städtischen Bevölkerung — noch immer das Phänomen der Entfremdung. Es zeigt sich sogar in einer Reihe von Fällen, die wir ähnlich auch in westlichen Gesellschaften treffen, wo sie von Marxisten häufig kritisch aufgewiesen werden: die Arbeit wird noch immer vorwiegend nicht als eine freie Entfaltung individueller Potenzen, sondern als ein hartes „Muß" aufgefaßt, der Konsum steht immer ausschließlicher im Mittelpunkt des Interessens, ja, die „persönliche materielle Interessiertheit" wird sogar als ein wichtiger Faktor bei allen Berechnungen des Wirtschaftsplans einkalkuliert. Mangelnde Spontaneität und Aktivität wird von sowjetischen Autoren kaum weniger beklagt wie von westlichen. Der materielle Fortschritt, die bessere Versorgung der Bevölkerung mit Kino, Fernsehen, Bibliotheken usw. bildet — wie sich längst erwiesen hat — keineswegs eine Garantie für kulturelle Entfaltung. Die von Akademik Fedoseev betonte Überlegenheit der sowjetischen Buchproduktion über die der USA (viermal so viel!)
Die Art und Weise, wie die KPdSU mit den angedeuteten Phänomenen fertig zu werden versucht, stellt aber eine neue und nicht minder bedenkliche Form der „Entfremdung" dar. Das neue Parteiprogramm und die meisten seither erschienenen Arbeiten zu dieser Frage betonen nämlich immer wieder die Notwendigkeit der Erziehung zur kommunistischen Einstellung zur Arbeit. Die Angehörigen der bereits jetzt „vorbildlich kommunistisch arbeitenden" Brigaden der kommunistischen Arbeit sollen nicht mehr von ihrer „persönlichen materiellen Interessiertheit", sondern von dem Gedanken an das Wohl der Gemeinschaft motiviert werden. Daneben soll ein gewisses Ausmaß an Konsumaskese treten, d. h. die Reduzierung der Ansprüche auf ein „vernünftiges Maß". Damit weicht die Sowjetführung genau in der Richtung dem Entfremdungsproblem aus, die Marx am schärfsten kritisiert haben würde. Hier soll die spontan entstandene Entfremdung durch intensivierte Erziehung akzeptabel gemacht und nicht durch verbesserte Umstände an ihrer Wurzel beseitigt werden. Die „Befreiung" von ihrer einschränkenden Realität erfolgt — wie bei den konservativen Hegelianern — durch Anpassung des Bewußtseins an den als akzeptierbar hingestellten Zustand. Marxistisch wäre es, wenn sich die Parteiführung fragen wollte, wie es denn kommt, daß trotz Veränderung der Eigentumsordnung so wenig an dem alltäglichen Selbstverständnis der Arbeitenden sich geändert hat. Ob denn mit der in der Sowjetunion praktizierten Form der Vergesellschaftung der Produktionsmittel (oder gar mit der Vergesellschaftung überhaupt) jener von Marx in Aussicht gestellte Effekt einer (zumindest partiellen) Aufhebung der Entfremdung überhaupt verbunden sein könnte. Man kann das Problem der Entfremdung aber auch noch auf eine etwas einfachere und für Sowjetmarxisten weit beunruhigendere Weise stellen. Wenn man nämlich davon ausgeht, daß vor allem die politische Entfremdung in der sozialistischen Gesellschaft zumindest geringer sein sollte als noch in der demokratischsten „kapitalistischen", kommt man zu folgendem Dilemma: zweifellos war die Sowjetunion seit 1936 ein „sozialistisches Land", und doch hat noch nach dieser Zeit jahrelang Stalin eine Politik der Terrorisierung der Bevölkerung durchführen können, von der er zwar selbst annahm, daß sie dem vernünftigen Wollen der werktätigen Bevölkerung und der „Avantgarde der Werktätigen" (der KPdSU) entsprach, die aber — wie Chruschtschow 1956 selbst betonte — objektiv den Interessen und dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung widersprach. Mit anderen Worten: wie konnte ein so manifestes Phänomen politischer Entfremdung als „überbau über einer sozialistischen Gesellschaft" jahrelang unkorrigiert fortbestehen? Oder: wie sind ähnliche Phänomene im zeitgenössischen Albanien und Rot-China möglich? Wobei jeder Chruschtschow-Anhänger zugeben wird, daß zumindest die Außenpolitik dieser Länder im Gegensatz zum (wahren, vernünftigen) Willen der betroffenen Bevölkerungen steht, also einen Fall extremer politischer Entfremdung darstellt. Ein jugoslawischer Theoretiker, der im Juni dieses Jahres seinen sowjetischen Kollegen mit dieser Frage beunruhigte, erhielt ebensowenig eine Antwort wie ich. Wenn aber die sozialistische Revolution noch nicht einmal so handfeste Entfremdungserscheinungen aufheben kann, wie die genannten, dann muß entweder die gesamte Marxsche Entfremdungstheorie aufgegeben werden — zumindest in ihrem positiven Teil, oder aber — und diesen Weg beschreiten die Jugoslawen — es muß gezeigt werden, daß die sowjetische Form der Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktionsmitteln unzulänglich ist, weil sie die monopolistische Verfügungsmacht von Bürokraten etabliert, die sich faktisch wenig von der Macht einer kleinen, unkontrollierbaren Eigentümerschicht unterscheidet, auch wenn diese Verfügungsmacht nicht vererbt werden kann.
Wie man sieht, führt die Diskussion des Problems der Entfremdung bis hinein in die entscheidenden politischen Fragen über die Gestalt der „sozialistischen Gesellschaft" und ihren demokratischen Inhalt.
Wie ich in meiner Antwort an Sitnikov betone, geht es mir in meinen kritischen Arbeiten keineswegs um eine Diffamierung der Sowjet-gesellschaft und der Sowjetideologie, ich kritisiere beide, weil ich überzeugt bin, daß sie eine unzulängliche Sozialordnung und ein falsches Bewußtsein dieser Sozialordnung darstellen. Die Automatik der ökonomischen und technischen Entwicklung der Sowjetgesellschaft reicht nicht aus, um jene Transformation zustande zu bringen, von der im Westen so viel gesprochen wird, vielmehr muß eine vorherige Korrektur der die Realität dieser Gesellschaft verschleiernden Ideologie erst den Blick dafür freimachen, was an ihr der Veränderung bedarf. Ebensowenig bedeutet der Ausweis der Mängel der Sowjetwelt eine Apologetik für die Mängel in der unseren. Wir sind uns — so hoffe ich — dieser Mängel wohl bewußt und verfügen über Freiheit unter anderem auch dazu, diese Mängel, so gut es geht, zu korrigieren.
Eine sowjetische Kritik „westlicher” Marxinterpretationen
Auszüge aus E. M. Sitnikov, Problema „otudenija" v burzuaznoj filosofil i fal’sifikatory marksizma (Das Problem der Entfremdung in der bürgerlichen Philosophie und die Fälscher des Marxismus), Moskau 1962, 115 S.
Auf „Beweise" für die Abkehr des reifen Marxismus vom Humanismus des jungen Marx spezialisieren sich neben anderen besonders Erich Thier, Iring Fetscher und Heinz-Dietrich Wendland.
Warum betrachten sie die „Manuskripte von 1844" und andere Arbeiten dieser Jahre als Gipfelpunkt von Marx'Schaffen und den Marx dieser Jahre als Humanisten? Das sei auf die Verwendung des Begriffs „Entfremdung" zurückzuführen, sagen die „Kritiker" des Marxismus. Dadurch, daß Marx und Engels in ihren reifen Jahren den Begriff „Entfremdung" kaum noch gebraucht hätten, sei die wahre Basis des Geschichtsbegriffs und der Humanismus verlorengegangen.
Die evangelischen Philosophen Thier, Metzke und Wendland behaupten: „An Stelle der für die Frühschriften so eindrucksvollen Besorgtheit um den Menschen scheint nunmehr (beim späten Marx — E. S.) eine rein ökonomische Sachproblematik getreten zu sein"
Ihr Kollege Iring Fetscher sagt in seiner Schrift „Von Marx zur Sowjetideologie": „Während der junge Marx an den Menschen dachte, war der reife Politökonom Marx genötigt, an die nüchterne Sachlichkeit und an die Forderungen der Praxis zu denken"; „Was als eine humanistische Forderung (, der totale, allseitige Mensch") begonnen hatte, erweist sich nun als ein technisches Postulat, dem die dem Untergang geweihte kapitalistische Gesellschaft nicht nachkommen, das allein der Sozialismus erfüllen kann"
Diese Behauptungen entsprechen der Wirklichkeit in keiner Weise. Wer auch nur etwas mit den Schriften des Marxismus vertraut ist, der weiß, daß der Marxismus im Verlauf seines Reifens nicht im geringsten an Humanismus verloren hat. Während der marxistische Humanismus einen immer konkreteren politischen und wirtschaftlichen Inhalt erlangte, ist er im Gegenteil noch wirksamer, noch fruchtbarer geworden. Der bürgerliche Humanismus dagegen blieb selbst in seiner besten Zeit, und zwar als das Bürgertum noch fortschrittlich war, letzten Endes ein Wunschtraum, eine schöne Phrase, wenn es sich um die Millionen-massen der Werktätigen handelte.
Eine subtilere und „philosophischere“ Verfälschung des Marxismus finden wir in den Arbeiten der evangelischen Philosophen, wenn es ihnen nicht darauf ankommt, dem späten Marx den Humanismus direkt abzusprechen. Der Herausgeber der ersten Folge der „Marxismusstudien", Erwin Metzke, erklärte mit Aplomb: Was als Widerlegung des Marxismus angeboten werde, sei oft bestenfalls die unterste Stufe ideologischer Schulung und daher unzureichend. Ein anderer evangelischer Philosoph, Iring Fetscher, schreibt, eine Absage an den Marxismus, die allein aus einem Vergleich der reifen Werke des Marxismus mit den Jugend-konzeptionen Marx" hergeleitet werde, sei nicht stichhaltig und nutzlos.
Man hat sich, wie wir sehen, viel vorgenommen: eine so tiefgründige philosophische Kritik des Marxismus zu liefern, wie sie noch keiner der Gegner des Marxismus geliefert hat. Die Meise drohte, das Meer anzuzünden, sagt man. Die Motive dieser schamlosen Selbst-anpreisung sind völlig klar. In der Welt der kapitalistischen Konkurrenz preist jeder seine Ware an, um sie möglichst günstig abzusetzen. Die Ware der Protestanten und der französischen katholischen Philosophen hat natürlich auch einen kleinen Stich. Immerhin muß man zugeben, daß sie diesen Stich in philosophischer Hinsicht geschickter kaschieren als viele ihrer bürgerlichen Konkurrenten.
Worauf laufen die „subtil-philosophischen" Gedankengänge eines Metzke, Thier, Fetscher hinaus?
Erstens wird der junge Marx als Idealist und, wenn auch nicht als hundertprozentiger Hegelianer, so doch jedenfalls als Denker Hegelscher Prägung dargestellt. Marx, sagen sie, setzt die Philosophie Hegels in veränderter Gestalt fort. Ihr Hauptprinzip — die Überzeugung von der „umwälzenden Funktion des Bewußtseins"
Da haben wir die Hegelianisierung Marx'. Fetschei spricht im weiteren geradezu von der Hegel-Marxschen Konzeption der Totalität, das heißt von ihrer übereinstimmenden Auffassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sich selbst von Stufe zu Stufe erhebt, bis sie schließlich zu sich selbst kommt.
Fetscher, Metzke und Bigo
Schon Anfang der zwanziger Jahre erschienen zwei Schriften, in denen der Marxismus in dieser Weise verfälscht wurde — „Geschichte und Klassenbewußtsein" von Georg Lukäcs (1923) und „Marxismus und Philosophie" von Karl Korsch (insRussische übersetzt 1924
Was bedeutet eine solche Revision, klassenpolitisch gesehen? Leugnung der Notwendigkeit der proletarischen kommunistischen Partei, der Führung des Kampfes der Arbeiterklasse durch die eine Partei. Wenn das Selbstbewußtsein des Proletariats vergottet wird, wie Hegel das Selbstbewußtsein der Menschen überhaupt vergottete, indem er es sich in der Gestalt des absoluten Weltgeistes vorstellte, dann wird der gesamte historische Prozeß mit dem vergotteten Selbstbewußtsein des Proletariats identifiziert und verläuft spontan. Eine Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse, eine Organisation der Arbeiter ist überflüssig. Das sozialistische Bewußtsein des Proletariats wird als spontane Erscheinung innerhalb der Arbeiterklasse dargestellt. Dann ist es auch nicht mehr notwendig, die sozialistische Ideologie in die Arbeiterbewegung hineinzutragen — was ja gerade das Anliegen der marxistischen Partei ist. Die Negierung der Partei ist der Grund, weshalb die evangelischen Philosophen den philosophischen Revisionismus eines Lukäcs, Korsch und anderer aufgegriffen haben, weshalb sie mit ihrem Lob für Lukäcs und dessen Kollegen so verschwenderisch umgehen.
Das in derartigen abstrakt: philosophischen Gedankengängen verborgene politische Gift wird dadurch noch gefährlicher, daß man diese Anschauungen Marx zuzuschreiben versucht. Den Namen des großen Marx zu benutzen, um den Werktätigen Gedanken einzugeben, die von Marxismus weit entfernt sind — das ist das eigentliche Ziel der Fälscher des Marxismus. Es liegt auf der gleichen Ebene, wenn die weitere Entwicklung des Marxismus als Abkehr von den Anschauungen des jungen Marx dargestellt wird. Fetscher bezeichnet es direkt als sein Ziel, nachzuweisen, wie sich dar Marxismus im Verlauf seiner Entwicklung aus der Theorie von der „selbstbewußten Aktion des Proletariats zu einer diesem Proletariat verdinglicht gegenüberstehenden Weltanschauung" verwandelte. „Die Durchdringung von Bewußtsein und Tat (des Proletariats) wurde gelöst, und das organisierte Proletariat trat auf die eine — seine . wissenschaftliche Weltanschauung'ihm gegenüber auf die andere Seite." „An die Stelle der kollektiven und selbstbewußten proletarischen Aktion trat vorerst die Organisation des Proletariats innerhalb der bestehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung." Es sei zur „Elimination der umwälzenden Funktion des Bewußtseins"
Der frühe Marx erscheint in der Darstellung Fetschers und anderer als ein Fatalist, für den die Notwendigkeit einer Partei, die die Arbeiterklasse zu aktivem Handeln organisiert, nicht besteht. Nach Metzke leugnet Marx überhaupt die Notwendigkeit, daß Menschen sich aktiv betätigen. Allerdings gibt Metzke zu, daß Marx'Konzeption im Verlauf der kritischen Überwindung Hegels ein Moment (!) revolutionärer Dynamik erlangt. Stammlers Vorwurf, daß keine Partei zur Verwirklichung der Mondfinsternis gegründet werde, beziehe sich daher nur auf die vulgärmaterialistische Deutung des Marxismus, sagt Metzke, nicht aber auf die Marxsche Konzeption der historischen Notwendigkeit, die dank der menschlichen Tätigkeit verwirklicht werde und die gerade zur bewußten Aktivität verpflichte. Theoretisch wird also die Haltlosigkeit dieses Arguments und folglich zugleich auch der Behauptung Sartres eingestanden, daß die revolutionäre Sache zum Paradox werde, wenn der Determinismus total ist. Es wird eingestanden, daß dies nur eine mechanische Auffassung des Determinismus ist, die mit der dialektischen Auffassung nichts gemein hat.
Doch während sich die evangelischen und katholischen Philosophen theoretisch von den allzu einfältigen und naiven Argumenten Stammlers distanzieren, weichen sie in Wirklichkeit nicht von den Positionen des Fatalismus ab, den sie dem jungen Marx gern zuschreiben möchten.
Dank ihrem Klassenbewußtsein erkennen die Ideologen der Bourgeoisie, daß die Partei der Kommunisten für sie die Gefahr Nummer eins ist, weil sie wissen, daß das Proletariat ohne marxistische Partei nicht in der Lage ist, das kapitalistische Joch abzuwerfen. Deshalb erkennen die Feinde der Arbeiter das eine odei andere im Marxismus wohl an —, wenn nur im Marxismus kein Raum mehr bleibt für die führende Tätigkeit der Partei, für die Notwendigkeit einer kommunistischen Partei. Denn in Wirklichkeit sind sie sich sehr wohl darüber klar, daß das Proletariat ohne marxistisch-leninistische Partei niemals „selbstbewußt", niemals fähig wird zur „umwälzenden Praxis", daß die Funken, die einzelne wohlwollende, humane Intelligenzler in die Arbeitermassen werfen, wirkungslos verlöschen müssen.
Wie auch einige andere Fälscher des Marxismus greift Fetscher aus Marx’ Schrift „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung"
Was sagt Marx an der betreffenden Stelle? Als er das Problem der radikalen Revolution (das heißt nicht nur der politischen, sondern auch der sozialen, die die gesellschaftlichen Beziehungen radikal umgestaltet) behandelt, weist er darauf hin, daß die Revolution einer materiellen Basis bedürfe. Die Theorie, sagt Marx, wird in jedem Volk so weit verwirklicht, wie ihre Verwirklichung den Bedürfnissen des Volkes entspricht. Aber, fragt er weiter, werden die theoretischen Bedürfnisse unmittelbar zu praktischen Bedürfnissen der deutschen Wirklichkeit? „Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen."
Marx beantwortet seine Frage selbst — für die Realisierung der theoretischen revolutionären Losung in Deutschland ist eine reale Möglichkeit vorhanden. Sie besteht in der Bildung einer besonderen Klasse, des Proletariats. Doch die Existenz des Proletariats allein reicht noch nicht aus, damit sich die Revolution vollziehen, kann. Das Proletariat muß erst noch eine Kraft werden, die zum revolutionären Umsturz subjektiv fähig ist. Dazu ist die Verbindung der Philosophie mit dem Proletariat nötig, dazu ist es nötig, daß der „Blitz des Gedankens" in diesen „Volksboden" einschlägt. Diese Marx-sehe These enthält im Grunde die Forderung, die Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus (die damals noch im Werden begriffen war) mit der proletarischen Bewegung zu verbinden
In den Schriften von Marx und Engels aus der Werdezeit des Marxismus werden wir eine ausgearbeitete Lehre von der kommunistischen Partei, wie wir sie im „Manifest der Kommunistischen Partei" und anderen Werken finden, natürlich noch vergeblich suchen. Aber wenn in den Frühschriften von Marx und Engels eine ausgearbeitete Lehre von der Partei fehlt, bedeutet das noch nicht, daß sie auf die „Selbstbewegung der historischen Wirklichkeit" vertrauten, auf das „Selbstbewußtsein des Proletariats", das angeblich ohne Partei entstehen kann. Der ganze Geist der Frühschriften der Begründer des Marxismus, ihre praktische Tätigkeit waren die Vorbedingung für die Ausarbeitung der Lehre von der Partei und von der Bildung der Partei. Fetschers Aussage, daß bei dem jungen Marx die Theorie unmittelbar in die Praxis umschlage, scheint harmlos zu klingen. Doch hat sie eben den Inhalt, gegen den Marx und Engels ihre Kritik richten, wenn sie gegen die Junghegelianer zu Felde ziehen. Nach Fetscher soll Marx der Ansicht gewesen sein, in der Aktion des Proletariats fielen Theorie und Praxis so zusammen, daß es nicht mehr notwendig sei, für die Verwandlung der Theorie in Praxis zu kämpfen. Auf die Hegeischen Ursprünge der Philosophie eines Bruno Bauer und anderer verweisend, schrieben Marx und Engels:
„Die spekulative mystische Identität von Sein und Denken wiederholt sich daher in der Kritik als die gleiche mystische Identität von Praxis und Theorie. Daher ihr Ärger gegen die Praxis, die noch etwas anderes als Theorie, gegen die Theorie, die noch etwas anderes als die Auflösung einer bestimmten Kategorie in die . schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins'sein will" (Die HL Familie, Marx-Engels, Werke Bd. II., S. 204)
Nur die eigene Unverschämtheit erlaubt es den philosophischen Manipulatoren der Bourgeoisie, Marx und Engels trotz ihrer unmißverständlichen Äußerungen gerade den Sinn zu unterstellen, gegen den die Begründer des Marxismus die Waffe ihrer Kritik richteten.
Marx sagt, daß das Proletariat in Aufständen, wie es der schlesische Aufstand von 1844 war, beginne, sich seines Wesens als der Klasse der Lohnarbeiter bewußt zu werden. Dessenungeachtet verlangen Marx und Engels, daß die Praxis des Kampfes des Proletariats studiert wird
Marx, Engels und Lenin waren überzeugt, daß die unmittelbare Praxis des Kampfes der Arbeiter entweder ein trade-unionistisches Bewußtsein oder politische Anschauungen anarchistischer Richtung erzeugen kann und wirklich erzeugt. Die Feinde des Proletariats mit ihrem sophistischen Gerede vom „Selbst-be wußtsein" des Proletariats verstehen hierunter gerade das Bewußtsein, das den Ideen des wissenschaftlichen Kommunismus entgegengesetzt ist. Sie möchten, daß das Proletariat auf der Stufe eines „Selbstbewußtseins" stehenbleibt, das die Aufrechterhaltung des Kapitalismus garantiert; sie möchten, daß die proletarische Bewegung sich niemals mit der Wissenschaft vom Kommunismus verbindet. Diese Wissenschaft wird ebenfalls durch die gesellschaftliche Praxis hervprgebracht. Doch ist dies nicht die begrenzte Praxis eines einzelnen Arbeiters, einer Fabrik oder eines Landes. Dies ist die Praxis des Kampfes der Arbeiterklasse, die gesamte Praxis der historischen Entwicklung der Menschheit. Und um diesen Kampf theoretisch verallgemeinern zu können, muß man über umfangreiche wissenschaftliche Kenntnisse verfügen, muß man sich speziell mit der Theorie befassen. Der Arbeiter aber, der ja Arbeiter bleibt, hat nicht die Möglichkeit (wenn man von einzelnen Begabten wie Weitling oder Dietzgen absieht), sich mit der Wissenschaft zu beschäftigen. Erst wenn sich das Proletariat die von den genialen Wissenschaftlern Marx und Engels erarbeitete Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus zu eigen gemacht hat, wird es wahrhaft selbstbewußt sein, sein wahres Wesen und die Ziele und Methoden seines Kampfes begreifen. Ohne revolutionäre Theorie, sagte Lenin, kann es auch keine revolutionäre Bewegung des Proletariats geben.
Entgegen den sophistischen Behauptungen Fetschers, Metzkes und ihresgleichen spricht Marx in der zitierten „Einführung" klar von den zwei Seiten der gesellschaftlichen Bewegung: von dem Proletariat als der materiellen Kratt und von der Philosophie als der geistigen Waffe. Der Kopf der Emanzipation des Menschen, sagt er, ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Ganz eindeutig meint Marx hier, wenn er von der Philosophie spricht, die Erarbeitung einer wissenschaftlichen revolutionären Theorie durch Denker, die auf den Positionen des Proletariats stehen. Natürlich gab es für einen so großen Realisten, wie Marx es war, keinen Zweifel daran, daß eine Organisation geschaffen werden mußte, um die proletarische Philosophie mit der proletarischen Bewegung zu verbinden.
Doch es geht nicht allein um die richtige oder falsche Interpretation der Marxschen Früh-schriften. Wir wissen, daß sich Marx und Engels in ihrem Wirken von Anfang an fest an die Arbeiterbewegung gebunden haben, daß sie mitwirkten in den damaligen noch unreifen Arbeiterorganisationen, die die Keimzellen der proletarischen Parteien darstellten. Ohne Berücksichtigung ihrer Verbindung mit den Arbeiterorganisationen, deren Tätigkeit sie einen wissenschaftlich fundierten und revolutionären Charakter verleihen wollten, versteht man auch nichts von ihren theoretischen Aussagen. Lenin hat später Marx nicht „verraten", wie die Feinde des Marxismus nachzuweisen versuchen, sondern er hat seine Ansichten über die Rolle der Partei in der Arbeiterbewegung weiterentwickelt.
Im Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XXII. Parteitag sagte Chruschtschow: „Die Kraft unserer Partei besteht darin, daß sie es verstanden hat, in ihrer revolutionären, umgestaltenden Tätigkeit Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus miteinander zu verschmelzen"
In dieser Verschmelzung von Theorie und Praxis dank der Tätigkeit der Kommunistischen Partei wurzelt der Erfolg, den die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für die Errichtung der Diktatur des Proletariats und den Aufbau des Kommunismus zu verzeichnen hat. In der sozialistischen Gesellschaft wird die Einheit von Theorie und Praxis um so leichter Wirklichkeit, als die materiellen, praktischen Hebel sich in den Händen der ganzen Gesellschaft befinden, als eine neue theoretische Schlußfolgerung sofort für Millionen zur praktischen Losung in ihrer Tätigkeit wird.
Die Feinde des Kommunismus wollen davon überzeugen, daß der Mensch in der sozialistischen Gesellschaft in ein „bloßes Instrument der Gesellschaft, der Partei" verwandelt wird, in ein Mittel zum Zweck, und daß nur im Kapitalismus, besonders im heutigen, echt zwischenmenschliche Beziehungen möglich sind. Sie handeln hier nach dem Prinzip „Haltet den Dieb!" Das, dessen sie den Sozialismus anklagen möchten, ist gerade in jeder Ausbeutergesellschaft der Fall. Im Kapitalismus zwingt die wirtschaftliche Notwendigkeit den Unternehmer, die Produktion zu rationalisieren, zu erweitern, rentabel zu gestalten usw. Hierbei verfolgt der Kapitalist den eigennützigen Zweck, Gewinn zu erzielen. Um sein Ziel zu erreichen, benutzt der Kapitalist die Menschen als bloße Instrumente, als bloßes Mittel: hat der Kapitalist erst einmal soviel wie möglich aus ihnen herausgepreßt, interessiert er sich nicht weiter für ihr Schicksal.
Unter den Bedingungen des Kapitalismus ist der Mensch Objekt fremder Ziele, empfindet er sich als Instrument in den Händen einer fremden Kraft. In der Religion erfährt dieses Faktum eine falsche Widerspiegelung: Der Mensch betrachtet sich als Werkzeug in den Händen des himmlischen Schöpfers. Diese den Menschen entwürdigende Einstellung zu sich selbst wird von den bürgerlichen Theologen als Heil, ja als rettendes Prinzip hingestellt. Die Bourgeoisie betrachtet praktisch den werktätigen Menschen als ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele. Bochenski, Thier, Fetscher, Wendland und andere gelehrte Pfaffen kleiden diese reale Tatsache in eine theologische Form. Hinter Gott wird die grausame kapitalistische Wirklichkeit verborgen.
In der Ausbeutergesellschaft können die Ziele der Menschen nicht einheitlich sein, weil die Gesellschaft in Unterdrücker und Unterdrückte gespalten ist. Die Ziele der Sklavenhalter, der Feudalherren, der Kapitalisten sind immer auf Kosten der Werktätigen verwirklicht worden, die bloßes Mittel waren. Diese Tatsache zeigte sich in der Sklavenhaltergesellschaft offen, ohne Beschönigungen; in der kapitalistischen Gesellschaft dagegen wird sie von der formalen Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz verdeckt. Anders kann es nicht sein, solange eine Handvoll Sklavenhalter, Adlige, Kapitalisten auf Kosten der Arbeit des größten Teils der Bevölkerung leben. Die Interessen der Werktätigen sind den Interessen der Ausbeuter diametral entgegengesetzt. Da sie im Besitz der Produktionsmittel sind, setzen sich die Ausbeuter über die Ziele der Volksmassen hinweg und sanktionieren ihre eigenen. Die ihrer legitimen persönlichen Ziele beraubten Besitzlosen hören auf, Subjekte zu sein, verwandeln sich in ein Mittel zur Erreichung der allein anerkannten Ziele — der privaten Ziele der Besitzenden.
Am Wesen der Sache ändert es nichts, daß der Arbeiter im Kapitalismus theoretisch, de jure, von der persönlichen Abhängigkeit befreit ist, daß seine Bestrebungen anerkannt werden. Praktisch ist der Arbeiter, da er zugleich mit der Befreiung von der persönlichen Abhängigkeit auch die Freiheit vom Eigentum an den Produktionsmitteln erhielt, im Kapitalismus ein Lohnarbeiter, das heißt, ein Mittel in den Händen derer, die das Eigentum an den Produktionsmitteln haben.
In letzter Zeit machen die Ideologen des Kapitalismus in verstärktem Maße Reklame für das System der sogenannten „menschlichen Beziehungen" in den kapitalistischen Betrieben. Die Philosophen der Bourgeoisie versuchen, dieses System als die Verwirklichung der „Humanisierung der Arbeit", als Aufhebung der „Entfremdung der Arbeit" hinzustellen. Verweisen wir nur auf eins der jüngsten Beispiele, auf die Broschüre „Von Marx zur Sowjetideologie" des evangelischen Philosophen Iring Fetscher, die 1961 in der Bundesrepublik Deutschland erschien.
Wie es sich für einen bürgerlichen Philosophen geziemt, bemüht sich Fetscher, Zweifel an der Wahrheit der Marxschen These zu säen, daß das Privateigentum die ökonomische Basis der „Entfremdung des Menschen" darstellt.
Der Abschaffung des Privateigentums — sie „ändert am Wesen der entfremdeten Arbeit nicht eben viel" — stellt dieser Verfechter des kapitalistischen Privateigentums verschiedenartige Versuche gegenüber, die in der kapitalistischen Welt unternommen wurden, „um die Arbeiter zu einer inneren Befriedigung an ihrer Arbeit kommen zu lassen". Diese Versuche bestehen, wie Fetscher erläutert, in folgendem: „Man erklärte ihnen ausführlich den gesamten Produktionsprozeß, wechselte sie regelmäßig zwischen den verschiedenen Abteilungen und Arbeitsfunktionen aus, gab ihnen Einblick in den Geschäftsgang, ließ sie an der Leitung des Betriebes teilnehmen (Mitbestimmung) usw."
Da die bürgerlichen Ideologen diesem Problem gewichtige Bedeutung beimessen und für die erwähnten Maßnahmen allerlei Reklame machen, muß man hierauf noch näher eingehen. Bekanntlich entsteht unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus und besonders im Stadium des Imperialismus eine Oberschicht der Arbeiterklasse, die soge-nannte „Arbeiteraristokratie", die von den Kapitalisten mit Hilfe von kolonialen Plünderungen und Monopolprofiten ernährt wird. Diese Schicht besteht aus qualifizierten Arbeitern. In letzter Zeit haben sich aber infolge der Automatisierung derartige Veränderungen vollzogen, daß der Anteil der qualifizierten Arbeiter älterer Berufe sowie deren soziale Bedeutung zu schwinden begannen. Jetzt kommt es den Kapitalisten darauf an, in den breiteren Schichten der in den Prozeß der automatisierten Produktion eingeschalteten Arbeiterklasse Rückhalt zu finden. Die Methode des Antreibersystems, wie sie im Taylorismus entwickelt wurde, erwies sich als veraltet. Sie besteht darin, daß sie dem Arbeiter allzu eindeutig die Funktion eines willenlosen, passiven Automaten zuwies. Die Unmenschlichkeit und Gefühllosigkeit der Arbeit traten in dieser Methode offen zutage. Das System, das die Kapitalisten auf die Arbeiter an-wandten, bestand damals darin, mit Hilfe der Methoden des Taylorismus aus dem Arbeiter als einem bloßen Mechanismus alle Möglichkeiten herauszuholen; um ihn aber andererseits zu „beruhigen" und an der Kandare zu halten, praktizierte man den sogenannten Paternalismus (die „väterliche" Bevormundung).
Das neue System der „menschlichen Beziehungen", das jetzt angewendet werden soll, enthält verschiedene Maßnahmen. Einige davon resultieren aus den Erfordernissen der automatisierten Produktion selbst, andere dagegen aus Zugeständnissen, die durch den Kampf der Arbeiterklasse erzwungen wurden. Zur ersten Kategorie zählt bekanntlich die Einführung des Arbeiters in den Produktionsprozeß, die dadurch notwendig wurde, daß man Arbeiter braucht, die die Arbeitsgänge in der automatisierten Produktion auszuführen vermögen. Der moderne Arbeiter soll das Wesen der organisch miteinander verbundenen Glieder der gesamten Taktstraße wenigstens in großen Zügen begreifen. Bekanntlich haben schon Marx und Engels diese objektive Notwendigkeit erkannt. Zur zweiten Kategorie gehört beispielsweise die Erhöhung der „sozialen Aufwendungen" für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse (Wohnungsbau, Kindergärten, Sporthallen, Unterhaltungsstätten usw.). Die Kapitalisten versuchen, dies alles als freiwillige Maßnahmen der Unternehmer, die sich „geistig gewandelt" haben, darzustellen, obwohl der Grund natürlich im Klassenkampf der Arbeiter zu suchen ist.
Es besteht kein Zweifel, daß das System der sogenannten „menschlichen Beziehungen" ein ganz und gar taktischer Schleichweg ist, den sich die Bourgeoisie und ihre für das Arbeiter-problem zuständigen Ratgeber ausgedacht haben, um ihre Schlüsselpositionen nicht zu verlieren. Die „menschlichen Beziehungen" oder der Neopaternalismus (im Vergleich zum früheren Paternalismus) sind darauf ausgerichtet, die ökonomische Verknechtung der Arbeiter in den kapitalistischen Betrieben zu „versüßen". Natürlich haben wir es hier mit gewissen Veränderungen zu tun, die sich bisweilen sogar zugunsten des Arbeiters vollziehen. Es handelt sich aber letzten Endes nur um Veränderungen der Formen und Methoden der kapitalistischen Ausbeutung, und die Ausbeutung selbst bleibt unverändert bestehen. Die neuen Methoden sind darauf berechnet, bei den Arbeitern die Illusion zu wecken, als lösten sie selbst die Probleme der Produktion und besäßen Gleichberechtigung.
Dies ist der ökonomische Hintergrund der „menschlichen Berziehungen“. Man will aus dem Arbeiter als einem Objekt der kapitalistischen Ausbeutung eine zusätzliche Steigerung der Arbeitsproduktivität von dreißig oder mehr Prozent herausschlagen. Was der Taylorismus nicht zuwege bringen kann, soll die Methode der „menschlichen Beziehungen" erreichen. Das psychologische und politische Moment sind nicht minder wichtig. Der Generalsekretär des „Zentrums für menschliche Beziehungen" (Italien), Moro-Visconti, behauptet, daß „es ohne Bedeutung ist, wessen Eigentum ein Betrieb ist", wenn sich die menschlichen Beziehungen erst eingebürgert haben. Dies heißt, daß der Betrieb in Wirklichkeit Eigentum der Kapitalisten bleibt, daß dieses Problem aber in den Augen des Arbeiters seine Bedeutung verliert. Wir können hier wieder an die Worte Fetschers erinnern, wonach die Abschaffung des Privateigentums nicht eben viel am Wesen der entfremdeten Arbeit ändert. Diese Äußerung spiegelt den in Kreisen kapitalistischer Ideologen landläufigen und mit einem politischen Stachel versehenen Gedanken wider: das kapitalistische Privateigentum von Schuld freizusprechen. Folglich stellt sich die Frage nur so: Ist es möglich, mit Hilfe von Maßnahmen im Rahmen des Systems der „menschlichen Beziehungen" und unter Beibehaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln eine „Humanisierung der Arbeit" zu erzielen und folglich die „entfremdete Arbeit" zu beseitigen? Die Marxisten gelangen bei der Analyse der Fakten zu dem unwiderlegbaren Schluß, daß ein solches System die „Entfremdung des Menschen" in einer kapitalistischen Fabrik nur tarnt, aber keineswegs ihre wirkliche Beseitigung herbeiführt.
Wir haben gesehen, daß das System der „menschlichen Beziehungen" auf die weitere Intensivierung der Arbeit abzielt und daß der Arbeiter nach wie vor ein Mittel in den Händen der Kapitalisten ist; diese Situation wird lediglich mit verfeinerten Methoden vertuscht: man zielt darauf ab, daß der Arbeiter glaubt, er sei den Zielen der kapitalistischen Produktion und den Ergebnissen seiner Arbeit gar nicht „entfremdet" (es ist zu bemerken, daß es den Kapitalisten bisweilen gelingt, diese Illusion im Bewußtsein der Arbeiter hervor-zurufen). Der Arbeiter produziert den Kapitalisten nach wie vor riesige Gewinne, ihm selbst aber verbleibt nur ein nichtiger Teil des von ihm zu erarbeitenden gesellschaftlichen Reichtums. Diese grundlegende Tatsache können weder irgendwelche Winkelzüge noch psychologischen „Bearbeitungen" oder irgendwelche „Almosen" der Kapitalisten wegwischen. Das Anwachsen des Streikkampfes der Arbeiter der kapitalistischen Betriebe liefert hierfür den Beweis.
Fetscher und andere suchen die „Humanisierung der Arbeit" mit dem Hinweis zu beweisen, daß man den Arbeiter über den Charakter der gesamten Produktion, die kommerzielle Situation der Firma usw. informiert. Wie aber bereits erwähnt, ist der Kapitalist infolge der Gesetze der modernen Produktion immer mehr auf Arbeiter mit einem weiteren technologischen Gesichtskreis angewiesen. Beseitigt dies nun die Entfremdung des Arbeiters von der Produktion und den ausbeuterischen Charakter der Arbeit in der kapitalistischen Fabrik? Nicht im geringsten. Für wen der Werktätige arbeitet — das ist das Kardinal-problem, das nicht zugunsten des Werktätigen gelöst werden kann, wenn das Privateigentum an den Produktionsmitteln erhalten bleibt. Der Arbeiter müht sich für den Kapitalisten ab, aber das Produkt der Arbeit gehört nicht ihm. Diese Tatsache ist nicht verschwunden und kann auch nicht durch die Anwendung des Systems der „menschlichen Beziehungen" weggewischt werden. Deshalb kann der Arbeiter unter den Bedingungen des Kapitalismus auch keine allseitige Entwicklung erfahren. Ungeachtet der „Gespräche" und der „Einführung" in den Produktionsprozeß bleibt der Arbeiter im Kapitalismus immer auf die physische Arbeit beschränkt. Die Arbeit ist bei allen von den Kapitalisten angewandten Systemen ein bloßes Mittel zum Erhalt des Lohnes, nicht aber der Ausdruck des ganzen Reichtums der menschlichen Natur und folglich auch nicht die erste Lebensnotwendigkeit. Die Arbeit für andere, die erzwungene Arbeit, kann keine Tätigkeit sein, die dem Menschen Freude bereitet Wie sehr auch die Ideologen des Kapitalismus die Begriffe „Arbeit", „Freude" und „Interesse" miteinander in Einklang bringen wollen, der Charakter der vom Arbeiter geleisteten Lohnarbeit, der Arbeit für den Kapitalisten, ändert sich dadurch nicht.
Eine echte Persönlichkeit wird der Arbeiter dann, wenn er aufgehört hat, Proletarier zu sein, d. h., wenn er nicht mehr des Eigentums an den Produktionsmitteln beraubt ist. Im Sozialismus werden die Interessen der Gesell-schall zu den Interessen der Arbeiterklasse und aller Werktätigen. Die Mitglieder der Gesellschaft hören auf, Instrument und Mittel zur Erreichung eines Zieles zu sein. Sie stellen sich nun selbst historische Ziele und verwirklichen sie kraft ihrer Tätigkeit.
Selbstverständlich sind die Ziele der Einzel-menschen von den Zielen der gesamten Gesellschaft verschieden. Das Individuum verfolgt seine persönlichen Interessen, die das Leben anderer Menschen nicht zu berühren brauchen. Indessen „ist das Individuum ein gesellschaftliches Wesen" (K. Marx). Die Formulierung und Begründung der gesellschaftlichen Ziele ist eine Angelegenheit der Wissenschaft, mit der man sich besonders befassen muß.
Unter den Bedingungen des Sozialismus werden die gesellschaftlichen Ziele von den gesellschaftlichen Organisationen und vor allem von der kommunistischen Partei formuliert.
Aber auch im vollendeten Kommunismus erfolgt die Ausarbeitung der allgemeinen Ziele nicht irgendwie automatisch. Dieser Vorgang erfordert auch dann Fachkräfte und Autoritäten (Hervorhebung von I. F.).
Wenn ein bürgerlicher Denker es als schrecklich bezeichnet, wenn Menschen über Menschen entscheiden, dann stellt er sich dies nur so vor, daß die einen die Entscheidungen treffen, die anderen aber stets bloße Vollzieher dieser Entscheidungen bleiben. Von welcher Verknechtung kann aber die Rede sein, wenn die Menschen über sich selbst und ihre eigenen Interessen entscheiden, sei auch die Formulierung ihrer Entscheidungen Aufgabe von Spezialisten, Autoritäten und der Partei. Dies ist nur in einer echten Kollektivität, nicht aber jenen Surrogaten von Kollektivismus möglich, die in der antagonistischen Gesellschaft bestanden und noch bestehen.
Im Sozialismus ist die „eigentliche", gesellschaftliche und kollektive Kraft nicht von den Menschen entfremdet, die die Gesellschaft und das Kollektiv bilden. Deshalb kann sie auch nicht von einer Gruppe oder Institution annektiert und verkörpert werden.
Hegel, der junge Marx und die Sowjetphilosophie Antwort an E. M. Sitnikov
Die von Marx entwickelte Methode der Ableitung weltanschaulicher Positionen aus sozialen Verhältnissen ist bei seinen sowjetischen Erben ein bequemes Mittel der ungeprüften Verurteilung kritischer Argumente geworden. So verfährt denn auch Sitnikov wiederholt, indem er westlichen Philosophen eine Gebundenheit an die „Interessen des Privatkapitalismus''unterstellt und damit ihre Aussagen widerlegt zu haben glaubt. Freilich hat Marx selbst im Kapital dieses Verfahren ausdrücklich als unkritisch und allzu bequem abgelehnt, als er schrieb: „Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode" (Marx-Engels, Werke Bd. 23. S. 393). Sitnikov hätte also von einer konkreten und differenzierten Analyse der Sozialverhältnisse in den westlichen Staaten ausgehend die spezifischen Einseitigkeiten, Verzeichnungen usw.der kritisierten Philosophen von ihrem Ursprung her als notwendig aufzeigen zu müssen. Stattdessen begnügt er sich damit, von der Existenz kritischer Argumente gegen den Sowjetmarxismus und der Tatsache des Wohnens in einem „kapitalistischen Lande“ ohne weitere Zwischenglieder sofort auf prokapitalistisch-apologetische Motive zu schließen. Die lapidaren Klassifizierungen, die sich bei Sitnikov — wie bei den meisten anderen sowjetischen Autoren — finden, können daher auch kaum zum Gegenstand antikritischer Erörterungen gemacht werden. Ich will mich einleitend damit begnügen, die Motive zu kennzeichnen, die die Marxismuskommission der evangelischen Studiengemeinschaft tatsächlich zur Beschäftigung mit dem jungen Marx veranlaßt hat.
Es waren, wenn ich recht sehe, vornehmlich zwei: einmal das Bedürfnis die philosophische Beschäftigung mit dem Marxismus dort zu beginnen, wo dessen eigentliche Tiefe und sein schwierigster Zentralgedanke sichtbar wird. Die Beschäftigung allein mit der späten Gestalt, die Engels, Lenin, Stalin dem „Marxismus" gegeben haben, wäre uns als eine allzu-billige polemische Methode erschienen. Das zweite Motiv für das gründliche Studium der Marxschen Frühschriften aber war ein Erschrecken darüber, daß aus so deutlich humanistischen Intentionen — namentlich in der Stalinära — so offenbar unmenschliche Phänomene gefolgt waren wie die Massenverfolgung von führenden Kommunisten, die Deportation ganzer Volksstämme und die Unterdrückung der „sozialistischen Gesetzlichkeit". Das Problem, das uns immer wieder beunruhigte, lautete, ist diese Entwicklung notwendig gewesen, lagen ihre Wurzeln etwa schon bei Marx, oder ist erst im Verlauf etwas „schief gegangen", hat etwa der Ausbruch und Sieg der Revolution in einem rückständigen Agrarstaat mit daran Schuld, daß der aufgebaute Sozialismus so ganz anders aussah, als sich Marx und die Marxisten des 19. Jahrhunderts ihn vorstellten? Die verschiedenen Mitarbeiter der Marxismusstudien und andere von" Sitnikov genannte Autoren haben keineswegs die gleiche Antwort auf diese Frage gegeben. Ich persönlich neige dazu, das Verhängnis vor allem in dem Stalinschen Versuch des „Aufbaus des Sozialismus in einem (obendrein rückständigen Agrar-) Lande" zu erblicken, der dazu geführt hat, etwas „Sozialismus" zu nennen, das für die Arbeiter der entwickelten Industriestaaten des Westens die Revolution eher in Mißkredit bringen mußte und der die sowjetische Führung zur Lösung einer Aufgabe zwang, die Marx niemals hatte vorsehen können: die Einholung der entwickelten „kapitalistischen" Staaten. In diesem Konkurrenzkampf zwischen „kapitalistischen" und „sozialistischen" Staaten um die Produktions-und Produktivitätssteigerung mußten beinahe notwendigerweise bei einem rückständigen Lande die humanistischen Ziele zurücktreten gegenüber dem zum Fetisch gemachten technischen Progreß, während gleichzeitig der Bevölkerung durch die offizielle Propaganda (die in immer krasseren Widerspruch zur Wirklichkeit trat) die Erreichung sozialistischer Etappenziele suggeriert wurde. Ich lehne es daher auch ab, Marx und Engels pauschal die „Schuld" für eine Entwicklung zu geben, die — und das habe ich gerade von Marx gelernt — durch soziale und politische Faktoren und nicht in letzter Instanz durch ideologische bestimmt wird. Aber damit bin ich schon bei der Sachdiskussion. Lassen Sie mich jetzt Punkt für Punkt der Argumentation Sitnikovs in den vorstehenden Auszügen aus seinem Buch „Das Problem der Entfremdung in der bürgerlichen Philosophie und die Fälscher des Marxismus" folgen.
1. Der Marxsche Humanismus
Sitnikov meint, Metzke, Thier und ich leugneten den Humanismus des späteren Marx, weil der Begriff der Entfremdung im Kapital kaum noch eine Rolle spiele. Ich würde das anders formulieren. Gewiß bleibt die humanistische Intention auch beim Marx des Kapital erhalten — und die Analyse des Fetischcharakters der Ware liegt auch methodologisch auf der gleichen Linie wie der Entfremdungsbegriff — aber, in dem Bedürfnis, der Revolutionshoffnung eine sichere „wissenschaftliche Grundlage" zu geben, wird der Akzent von dieser Intention und dem Ziel (der Aufhebung der entfremdeten Arbeit) weg-verlegt und allein (oder fast ausschließlich) die „naturgesetzliche Entwicklungstendenz" der kapitalistischen Gesellschaft untersucht.
Diese Akzentverlagerung, so schlossen wir (und die Lektüre der Schriften der meisten Marxisten bestätigte uns das), hat zu einer Verkürzung der Philosophie des Marxismus geführt. Bedeutende Autoren wie Rudolf Hilferding betrachteten die Marxsche Lehre als eine bloße Theorie der ökonomischen Entwicklung, und selbst Kautsky empfand das Bedürfnis, Marx durch eine eigne (naturalistische)
Ethik zu ergänzen, auch wenn er die neukantianischen Ergänzer ablehnte. Aber nicht nur diese Kombinationen der auf eine dem Darwinismus ähnliche Entwicklungstheorie der Gesellschaft reduzierten Marxschen Lehre mit ethischen Doktrinen, sondern auch die Reduzierung des Marxismus auf die bloße Frage des ökonomisch-technischen Entwicklungstempos schien uns eine mögliche Folge dieser Akzentverlagerung zu sein. Wenn man hinzunimmt, daß die Frühschriften zwar zum Teil greifbar waren (die Pariser Manuskripte allerdings erst 1932!), aber in der Propagierung des Marxismus überhaupt keine Rolle spielten, während Kautskys , Karl Marx's ökonomische Lehren'in aller Welt verbreitet und gelesen wurden (letzte russische Übersetzung 1956, letzte ukrainische 1957!),'wird vollends verständlich, daß die für Marx (und in gewissem Umfang auch für Engels) selbstverständliche humanistische Intention teils unter den Tisch fallen, teils zur Phrase verkümmern konnte. Für die Reduzierung des Marxismus auf eine Lehre von den Entwicklungsbedingungen der technischen Produktion ist Stalins Formel „von den Bedürfnissen der Entwicklung der Produktivkräfte" kennzeichnend 1). Für Marx jedenfalls war das absolute Bonum nicht die Maximalproduktion (auch wenn ihm für eine allseitige Bedürfnisbefriedigung eine erhebliche Steigerung der Produktion not-wendig erschien), sondern die Überwindung der Entfremdung, die allseitige Entfaltung der menschlichen Anlagen in allen Individuen.
2. Die „Hegelianisierung" von Marx
Der Vorwurf einer „Hegelianisierung von Marx", der mir und natürlich auch Georg Lukcs‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein" gegenüber erhoben wird, ist nicht eigentlich ein Einwand. Sitnikovs ganze „Widerlegung" besteht darin, daß er eine Marxsche Kritik an Bruno Bauer zitiert, die angeblich auch mich als idealistischen Linkshegelianer treffen soll.
Die Hegelianisierung von Marx kann aber dann nicht als Einwand akzeptiert werden, wenn sich nachweisen läßt, daß sie Marx gerecht wird, daß sein Zentralgedanke selbst dialektisch-hegelisch war. Ich will versuchen, das in wenigen Sätzen wenigstens anzudeuten
Während 1789 die französischen Bourgeois ehrlich glaubten, für „liberte, galit, fraternite“ aller zu kämpfen, wußten sie nicht, daß der objektive Sinn dieser Revolution nur in der Durchsetzung neuer „kapitalistischer Produktionsverhältnisse" und eines ihnen entsprechenden politischen Überbaus lag. Sie waren gleichsam blinde Werkzeuge eines hinter ihrem Rücken wirkenden historischen Gesetzes. Nicht so — nach der Lehre von Marx — das revolutionäre Proletariat. Dieses wird in und durch seine Revolution sich selbst und damit zugleich die kapitalistische Gesellschaft (die letzte Klassengesellschaft überhaupt) aufheben und damit wenigstens die Voraussetzung für das Absterben des Staates und das Ende der erlittenen Geschichte schaffen. Während hinter der revolutionären Bourgeoisie ein „gedachtes" eigentliches Subjekt der Historie nur konstruiert werden könnte, da sie „nur zum Schein" ihre bewußten Pläne realisierte, wird das Proletariat in die Lage kommen, tatsächlich zu verwirklichen, was es anstrebt. Die „Wirklichkeit", nämlich die Gesellschaft, drängt sich in diesem einzigartigen historischen Augenblick so sehr zum Gedanken, daß zugleich der zur Wirklichkeit hin-drängende revolutionäre Gedanke im Proletariat einen idealen („fruchtbaren Volksboden") findet. Das Proletariat kann wohl zu Recht als „Subjekt-Objekt" der Geschichte bezeichnet werden, weil es zugleich Substrat des Aufhebungsvorgangs seiner als abhängiger Klasse und Subjekt der Aufhebung selbst ist, weil es die Gesellschaft bildet (jedenfalls seine überwältigende Mehrheit, wie Marx voraussetzte), die revolutiniert wird und das kollektive Subjekt, das die Revolution durchführt.
3. Lukäcs, Lenin und die Rolle der Partei
Georg Lukäcs hat als erster 1923 diese, auf den frühen Marx zurückgreifende, Interpretation des historischen Materialismus wieder entwickelt. Er ist damals sehr bald von orthodoxen Marxisten beider Lager (von Kautsky wie von Leninisten, Lenin selbst hat sein Buch nicht mehr lesen können, aber gegen eine ältere politische Stellungnahme von Lukäcs scharf protestiert) heftig attackiert worden. Dabei kann man durchaus Lukäcs" Position mit der Leninschen Parteitheorie verbinden, wenigstens ist das die Auffassung eines so gründlichen Kenners wie Morris Watnick
Die praktische Substitution der Partei für die Klasse ist aber auch theoretisch verhängnisvoll gewesen. Sie mußte notwendig den radikalen Unterschied zwischen allen früheren Revolutionen und der proletarischen Revolution verwischen. Lenin konnte unbekümmert von dem „mit der proletarischen Bewegung verbundenen Jacobiner" sprechen, als ob nicht ein Abgrund (nach Marx) die proletarische von der bürgerlichen Revolution trennen sollte. Und während für Marx noch das höchst ernsthafte Problem bestand, wie aus der alten, alle in ihr lebenden Menschen befleckenden Gesellschaft die neue hervorgehen sollte, waren die bolschewistischen Revolutionäre Lenins ungebrochen in ihrer Überzeugung, die berufenen Führer und Erzieher der Massen zu sein. In diesem Zusammenhang möchte ich an die dritte Feuerbachthese erinnern:
„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile — von denen der eine über ihr erhaben ist — sondieren (Marx-Engels, Werke Bd. III, S.
Dieser Einwand trifft aber genau die Leninsche Elitepartei, die als unfehlbar unterstellt wird (selbst nach den Verfehlungen Stalins sollen ja die ZK-Beschlüsse aus seiner Zeit ihren Unfehlbarkeitscharakter nicht verloren haben). Hier und in der deutschen Ideologie sah Marx nur eine einzige Lösung aus dem folgenden Dilemma: die schlechten Verhältnisse haben schlechte Menschen zur Folge, um bessere Verhältnisse zu schaffen, bedarf es erst einmal besserer Menschen. Wo also ansetzen? Diese Lösung führt uns wieder auf die von Sitnikov als „hegelianisch" diffamierten Gedanken zurück. Marx fährt nämlich an der bezeichneten Stelle fort:
„Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden" (a. a. O.) 5).
Und in der Deutschen Ideologie heißt es ganz im gleichen Sinne:
„ ... daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden" (a. a. O., S. 70).
Das bedeutet aber doch wohl nichts anderes, als daß das Proletariat zugleich sich selbst und die Umstände verändernd als „SubjektObjekt" den Bannkreis der bisherigen Gesellschaft und der von ihr geprägten Menschen sprengt, um sich nur so für die Neubegründung der sozialistischen und kommunistischen Ordnung zu befähigen.
Es kann keine Rede davon sein, ich oder andere Autoren der Marxismuskommission hätten diesen revolutionären Prozeß als spontan unterstellt. Marx verlangt gewiß die höchste Anstrengung des Bewußtseins, die eine Voraussetzung des Umschlags in Aktion bildet (die andere liegt in den objektiven sozialökonomischen Gegebenheiten). Was uns allerdings nicht mehr mit Marx begründbar scheint, ist der Ersatz dieser kollektiven Aktion der in der Revolution sich zugleich von der Vergangenheit freimachenden Klasse (die noch dazu eine Mehrheit der Gesellschaft bilden sollte) durch die Tat der Parteielite, welche sich auf das Proletariat und vor allem auch auf die bäuerlichen Massen als Mittel für die Erreichung der Macht stützt. Durch diese Substitution verwandelt sich die von Marx konzipierte proletarische Revolution in eine modifizierte Neuauflage der bürgerlichen. Das scheint mir aber auch deshalb kein Zufall zu sein, weil in der Tat Rußland 1917 erst noch eine erhebliche Strecke des Weges der kapitalistisch-industriellen Entwicklung nachzuholen hatte. Der von Lenin gelegentlich gebrauchte Terminus „Staatskapitalismus" mag zwar logisch wenig haltbar sein, trifft aber doch gut den historischen Funktionssinn des von ihm aufgebauten Staatswesens. Man könnte auch von einem „Ersatzkapitalismus" sprechen.
Ich glaube nicht, daß die von Sitnikov kritisierten Autoren die Rolle der politischen Parteien leugnen wollten, aber sie dürften es samt und sonders ablehnen, daß eine Partei zum einzig legitimierten Subjekt der Geschichte gemacht wird. Lenins Partei nimmt für sich das Monopol zumindest auf Repräsentation des Willens der werktätigen Bevölkerung in Anspruch und unterstellt jeder um diese Wähler konkurrierenden Partei bösen Willen oder heillose Unwissenheit. Sie versucht diese Bevölkerung nicht nur durch „wissenschaftliche Aufklärung", sondern durchaus auch durch Agitation, die Phantasie und Gefühl anspricht und sich psychologischer Erkenntnisse bedient, zu gewinnen. Das tun demokratische Parteien selbstverständlich ebenso, aber ihre Tätigkeit findet doch im allgemeinen ihre Grenze an der konkurrierenden Bemühung anderer Parteien, die damit eine gewisse Kontrollfunktion ausüben. Wo diese Konkurrenz fehlt und ihre Notwendigkeit aus ideologischen Gründen (die nicht notwendig aus der Marxschen Lehre abgeleitet werden müssen) geleugnet wird, können zumindest gefährliche Folgen entstehen, die ja in der Stalinära deutlich genug zutage getreten sind.
Dieser Herausbildung einer die „werktätigen Massen" bevormundenden Partei entsprach nun ganz offensichtlich die Ausbildung des Marxismus zu einer umfangreichen, immer weiter sich differenzierenden Weltanschauungslehre. Was Sitnikov seinen sowjetischen Lesern unterschlägt, ist der Teil meines Essays, in dem ich deutlich mache, wie das Ausbleiben der Revolution und das Erstarken einer zur Untätigkeit verurteilten radikalen marxistischen Arbeiterbewegung in Deutschland (namentlich unterm Sozialistengesetz) zur Entstehung dieser Weltanschauungslehre beitrug und wie die noch größere Einschränkung der politischen Handlungsfreiheit der Sozialisten im alten Rußland zu einer noch stärkeren Betonung der allgemeinen Weltanschauungsfragen führte, bis schließlich die auf die Praxis bezogene Theorie durch eine dem Proletariat „verpaßte" Weltanschauungslehre ersetzt wurde. Eine Weltanschauung, von der ich behaupte, daß sie dem Proletariat (und den sowjetischen Werktätigen) genau so „entfremdet" gegenübersteht wie nach Marx die Religion. Wie der von Marx als Ideologie entlarvte Aspekt der Religion hat diese Weltanschauung u. a. die Funktion, den Sowjetmenschen mit der unbefriedigenden sozialen und kulturellen Alltagsrealität zu versöhnen und kritische Impulse zu ersticken.
Ein schweizerischer Marxist hat vor einigen Jahren dem verblüfften sowjetischen Philosophen Kedrov, der ein Referat über die „Hierarchie der Wissenschaften" gehalten hatte, erklärt, Thema und Fragestellung seines Vortrags spiegele (marxistisch interpretiert) deutlich die hierarchische Ordnung der Sowjetgesellschaft wider und erinnere fatal an Auguste Comtes Wissenschaftshierarchie, der ja auch in dessen sozialer Konzeption die Herrschaft der Ingenieure, Bankiers und Soziologen der Comte-Schule entsprochen habe. Auch diese Beobachtung stimmt mit meiner These überein, daß sich die revolutionäre Theorie in eine verdinglichte Weltanschauung verwandelt hat, die als ideologisches Komplement einer hierarchischen Gesellschaft neuen Typs fungiert.
Während sich die spätere Entwicklung des Marxismus demjenigen, der sein Studium mit den Frühschriften von Marx beginnt, außerordentlich problematisch ausnimmt, führt umgekehrt das Ausgehen von der späten verfestigten Form des dialektischen Materialismus zu einer Verkennung des Sinns der Marxschen Thesen. Ich möchte das an einem besonders augenfälligen Beispiel illustrieren. In Marxens Artikel „Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung", der 1844 in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschien, heißt es bekanntlich: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie". (Marx-Engels, Werke Bd. I. S. 391.)
Bei sowjetischen oder sowjetmarxistischen Autoren passiert es nun immer wieder, daß sie das Wort „Philosophie" in diesem Satz als ein Synonym für historischen Materialismus oder Theorie von den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft mißverstehen. Das geschieht nicht nur bei Sitnikov, sondern auch bei seinen deutschen Kollegen Bergner und Jahn, die in ihrer Schrift „Der Kreuzzug der evangelischen Akademien gegen den Marxismus" 1960 erklärten: „Wie die Philosophie im einzelnen aussieht, die sich im revolutionären Handeln des Proletariats verwirklichen soll, welche Bereiche sie umfaßt, wie ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften usw. ist, bleibt Gegenstand künftiger Untersuchungen" (S. 103), das habe Marx damals noch nicht gewußt. Wenn man die Schriften des jungen Marx besser kennt und die gleichzeitigen Arbeiten anderer Autoren mitberücksichtigt, dann ist jedoch der Sinn des zitierten Satzes ganz deutlich. Die Philosophie, von der hier eine Verwirklichung erwartet wird, ist nicht die Theorie über den Weg, der zur Verwirklichung führt, oder über die Mittel, die dabei angewandt werden sollen, sondern es ist die Konzeption freier, un-entfremdeter Menschen, die sich zu einer menschlichen Gesellschaft zusammengeschlossen haben. Es ist mit anderen Worten der philosophische Humanismus, dessen Verwirklichung (im konkreten Sinne) von Marx erwartet und erhofft wird, nicht der Ausbau einer umfangreichen Weltanschauungslehre, die als Dach alle Einzelwissenschaften und ihre methodologischen Grundlagen überwölbt.
Auch hier ist wieder ganz deutlich, wie die verdinglichte Weltanschauungslehre die revolutionäre Theorie abgelöst hat, wie der inhaltlich bestimmte Begriff der humanistischen Philosophie durch die sicher wichtige, aber doch in ihrer Bedeutung niedriger anzusetzende Entwicklungstheorie der Gesellschaft verdrängt wird, deren Sinn doch nur in der Erfüllung jenes Zieles gefunden werden kann. Wissenssoziologisch könnte man diese Blindheit für den Sinn der vom jungen Marx verwendeten Begriffe darauf zurückführen, daß die genannten Autoren in Gesellschaften leben, die die bloße Steigerung der Produktion aus einem wichtigen Mittel zum Selbstzweck gemacht und den unendlichen Progreß (die Hegeische schlechte Unendlichkeit) an die Stelle des konkreten Zieles gesetzt haben
4. Entfremdung in West und Ost
Auch in dem letzten Teil der von uns abgedruckten Ausschnitte aus dem Buch Sitnikovs gelingt es ihm nicht, die Argumente der von ihm kritisierten Autoren differenziert und richtig wiederzugeben. So behauptet er z. B., von uns würde „hinter Gott die grausame kapitalistische Wirklichkeit verborgen" (S. 20). Nun weiß ich zumindest von einigen Theologen unseres Arbeitskreises, daß sie mit Karl Barth die Marxsche Ideologiekritik gerade als ein Mittel bejahen, mit dessen Hilfe christlicher Glaube von sozialem Mißbrauch der Religion zur Verteidigung überkommener politischer oder sozialer Verhältnisse unterschieden werden kann. Alles was von der Marxschen Kritik getroffen wird, und nach ihrer Auffassung ist das nicht wenig am traditionellen Kirchen-christentum, soll nach ihrem Willen durch das Scheidewasser unerbittlicher Ideologiekritik weggespült werden, um den Kern eigentlichen Glaubens um so reiner hervortreten zu lassen. Wo immer — mit anderen Worten — das Christentum bewußt oder unbewußt zur Verschleierung unmenschlicher Verhältnisse mißbraucht wird, da sind die genannten Theologen bereit, gemeinsam mit Marx zu protestieren. Freilich nicht, um die Religion mit jener Verhüllungsideologie zu identifizieren und zu verdammen, sondern um sie von der Verquickung mit ihr zu befreien.
Darüber hinaus hat die Marxismuskommission sich lange Zeit mit dem Problem beschäftigt, ob, abgesehen von individueller Schuld und Sünde, auch so etwas wie „strukturelle", in bestimmten Sozialordnungen (aber auch politischen Herrschaftssystemen) immanente, „Schuld" und „Sünde" angenommen werden kann. Eine ganze Anzahl von Mitgliedern unserer Kommission hat das bejaht. Allerdings waren sie skeptisch in bezug auf die Möglichkeit der restlosen Eliminierung derartiger „struktureller" Übel, und das Beispiel der Sowjetgesellschaft schien ihrer Skepsis durchaus Recht zu geben. Gerade durch die Schulung in Marxschen Denkkategorien war es ihnen nämlich unmöglich, die heute übliche Erklärung für die Entstellungen der Demokratie und „Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit" in der Zeit des „Stalinschen Persönlichkeitskultes" als bloße Produkte der individuellen Eigenarten Stalins zu akzeptieren. In jeder Gesellschaft gibt es massenhaft Individuen von der charakterlichen Eigenart Stalins, aber nur in bestimmt konstruierten Gesellschaften können sie sich jahrzehntelang an der Spitze halten. Es scheint uns daher weniger erstaunlich, und auch weniger kritikbedürftig, daß Stalin — gegen den Rat Lenins — an die Spitze der Partei gestellt wurde, als daß er sich dort so lange halten konnte und imstande war, alle aktuellen und potentiellen Gegner und Konkurrenten aus dem Wege zu räumen. Unter den kommunistischen Theoretikern hat offenbar allein Palmiro Togliatti dieses Problem gesehen, aber als er einmal auf es aufmerksam machen wollte, wurde er sofort zum Schweigen verurteilt
Da in der Sowjetunion das Privateigentum an den Produktionsmitteln (mit wenigen Ausnahmen) aufgehoben ist, scheint der erste und wesentliche Schritt zur Überwindung der Entfremdung getan zu sein. Tatsächlich aber hat sich am realen (sozialpsychologisch verifizierbaren) Verhältnis des Arbeiters zu seinem Betrieb und seiner Tätigkeit — nach allem, was wir hören — nur wenig geändert. Er empfindet seine Arbeitstätigkeit noch immer als „Mittel" und den Geldlohn als den eigentlichen Zweck. Das „Prinzip der persönlichen materiellen Interessiertheit“ wird ja nicht zufällig in der Sowjetunion noch immer als „progressiv" empfohlen, obgleich es sich wenig von dem des Akkord-und Leistungslohns unterscheidet, der seit jeher in der kapitalistischen Industriegesellschaft dominiert. Tito und andere „Revisionisten" haben deshalb versucht, durch eine direktere Beteiligung der Arbeiter an der Leitung ihrer Betriebe, die Tatsache des „Kollektivbesitzes" zu einer erlebbaren Realität für die Arbeiter zu machen. Ob seine Versuche in Jugoslawien praktikabel und erfolgreich waren, will ich hier gar nicht diskutieren. Die Erkenntnis, daß die formelle (juristische) Übernahme des Eigentums an den industriellen Produktionsmitteln durch den Staat für den Arbeiter keine Aufhebung der entfremdeten Beziehung zur Arbeit bringt, scheint mir jedenfalls zutreffend zu sein. Wenn das neue Eigentumsverhältnis für die Industriearbeiter etwas bedeuten würde, hätten sie ja wohl auch nicht in so großer Zahl die „DDR" verlassen, um in (zumeist) privatkapitalistischen Betrieben der Bundesrepublik für höhere Reallöhne arbeiten zu können. Zu der Nichtaufhebung der Entfremdung im Arbeitsprozeß kommt aber in der Sowjetunion und den übrigen „sozialistischen" Staaten die Entfremdung gegenüber dem bürokratischen Staat und der Parteiführung hinzu. Die ständig wiederholten Aufforderungen zu „vermehrter Heranziehung der Bevölkerung" zu Leitungsaufgaben machen deutlich, daß entgegen ausdrücklichen Erklärungen die Führung selbst die Verhältnisse nicht anders sieht. Die Sprache verrät gerade, was sie verbergen soll. Wenn die Bevölkerung „herangezogen werden soll", dann ist sie (noch?) nicht die demokratische Herrin, dann befindet sie sich (wenigstens einstweilen) in der Hand von erzieherisch tätigen Vormündern, die „heranziehen". Von Vor-mündern, die zwar immer wieder behaupten, ihr Wille stimme mit dem der Zöglinge überein, sei nur der rationale Ausdruck dessen, was die Zöglinge wenigstens dann wollen würden, wenn sie ihrer Aufgabe voll bewußt wären, die aber dennoch deutlich und auch institutionell von der Bevölkerung getrennt sind und ihr , gegenüberstehen'. Die demokratische Metaphysik, die schon Marx an Hegel kritisierte, vermag über die politische Entfremdung so wenig hinwegzutäuschen wie die juristische Fiktion des „Volkseigentums", der in der Realität die Verfügung der Bürokratie über die Produktionsmittel entspricht. Endlich aber scheint mir auch (wie bereits oben gezeigt) das Verhältnis der werktätigen Massen zur „marxistischleninistischen Weltanschauung" das zu einer entfremdeten Ideologie zu sein. Es handelt sich dabei um Lehren, die von Spezialisten entwickelt und dem Bewußtsein mühevoll von außen eingeprägt werden müssen, nicht um Einsichten, die dem Erkenntnisbedürfnis und Erkenntniswillen der Massen entgegenkommen, weil sie ihnen das Geheimnis ihres eigenen Daseins aufhellen. Mir scheint, eine Ursache für die verbreitete Furcht vor dem „Revisionismus" ist, daß dieser jenem Erkenntnisbedürfnis der . Bevölkerung (einschließlich zahlreicher Parteimitglieder und Führer) mehr entgegenkommt, als eine Ideologie, die sich — nach dem Eingeständnis der sowjetischen Politiker selbst — besonders in der Stalin-zeit immer weiter von der Realität entfernt hat.
Sitnikov macht es sich insofern etwas zu leicht, wenn er an einigen Stellen seiner Kritik nicht von der heutigen Sowjetunion, sondern von den Zukunftsvorstellungen des neuen Parteiprogramms spricht und diese der Wirklichkeit der westlichen Industriegesellschaften entgegenhält. Ich will gern glauben, daß dabei (in mancher Hinsicht wenigstens) die kommunistische Welt besser abschneidet. Vernünf-tigerweise aber kann man nicht die Realität der einen Seite mit den Plänen der anderen, sondern nur mit der Realität der anderen Seite vergleichen. Nun behaupte ich keineswegs, in der westlichen Welt sei die Entfremdung überwunden, aber mir schien doch, daß man hier vielfach das Problem ernster nimmt als im Ostblock, wo man das Universalmittel zur Heilung aller sozialen Leiden schon gefunden zu haben glaubt.
Die von mir angeführten Beispiele, die sich übrigens kaum auf die Bewegung der „human relations", sondern auf viel konkretere und praktischere Fälle stützen, sollten nur zeigen, wie vielfältig derartige tastende Versuche sind
Endlich aber wurde in westlichen Gesellschaften auch dort, wo ganze Industriezweige (wie in England) verstaatlicht wurden, das Streikrecht der Arbeiter nicht aufgehoben, weil die sozialdemokratischen Regierungen erkannt hatten, daß ein gewisses Ausmaß von Interessenunterschieden, ja Gegensätzen auch dort bestehen bleibt, wo nicht mehr Eigentümer und Arbeitnehmer, sondern von der Gesellschaft beauftragte Verwalter der Betriebe und Arbeiter sich gegenüberstehen. Auch hier hat sich die demokratische Metaphysik als irreal herausgestellt.
Die Frage der Interpretation der Struktur-und Bewegungsgesetze der marktwirtschaftlich organisierten entwickelten Industriegesellschaften kann hier nur gestreift werden. Aus den Andeutungen Sitnikovs wird deutlich, daß er wie die meisten anderen sowjetischen Gelehrten mit Hilfe historisch veralteter Kategorien (Monopolkapitalismus, Staatsmonopolkapitalismus usw.) Gebilde vergeblich zu begreifen sucht, die längst in vielfacher Hinsicht sich verändert haben. Auch hier würde ich nicht behaupten, daß diese Gesellschaften in ihrer heutigen Gestalt (und gar überall) „ideal" wären, aber mir scheint doch, daß sie Entwicklungen zulassen, die immer weiter von der alten „kapitalistischen Klassengesellschaft" hin-wegführen. Daß Automatisierung und Atom-kraftin diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, gibt ja selbst Sitnikov zu. Ich würde sogar anerkennen, daß die Existenz eines „sozialistischen Weltlagers" als Konkurrenten die sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Anstrengungen der westlichen Industriestaaten beflügelt. Arbeitslosigkeit z. B. wird heute kaum noch irgendwo als ein unvermeidlicher Schönheitsfehler liberaler Wirtschaftsordnungen hingenommen, sondern als eine Aufgabe für energische staatliche Gegenmaßnahmen angesehen. Wo immer politische Freiheit herrscht und mehrere Parteien sich periodisch um die Gunst der Wähler mühen, sind diese einfach gezwungen, in weitem Umfang die Wünsche der Wähler (und das heißt immer auch der „werktätigen Mehrheit" der Wähler) zu berücksichtigen. Das führt sicher nicht zum Sozialismus wie ihn Marx konzipierte, aber es verhindert jedenfalls die Konservierung des alten „Kapitalismus". Weder in Ost noch in West ist die Entfremdung der Menschen überwunden. Aber diese Erkenntnis bedeutet nicht — wie Sitnikov andeutet — eine Aufforderung zur Resignation. Die Hindernisse, die ihr im Wege stehen, sind im Westen vor allem die einseitige Ausrichtung der Menschen auf den Wunsch nach Konsumsteigerung (der übrigens offenbar auch der Sowjetführung zunehmend mehr Sorge bereitet). Eine Haltung, die zu wachsender Passivität und trotz Güter-fülle zu ständiger Unbefriedigtheit führt.
Volkshochschulen, die zu künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit und Freude an solchem Tun anleiten, haben (namentlich in Skandinavien) Wege zur Abhilfe gezeigt. In der Sowjetunion aber scheint mir das größte Hindernis in der Herrschaftsstruktur und der Ideologie zu bestehen, die den Werktätigen einredet, durch Staatseigentum und die Möglichkeit ihrer Identifikation mit dem „schöpferischen Gesamtkollektiv" sei bereits die Entfremdung überwunden. Eine These, an der man mit denselben Argumenten Kritik üben kann, die Marx gegen die Behauptung der „Demokraten" ins Feld führte, für die sich die Staatsbürger dadurch „befreien", daß sie sich mit dem Staat und seinen Gesetzen und Anordnungen identifizieren. In beiden Fällen werden Freiheit und Überwindung von Entfremdung nur dadurch real, daß nicht mehr eine zwangsweise oktroyierte Ideologie die freie und rationale Entscheidung der Individuen im vorhinein festlegt, sondern die Individuen wirklich frei aus eigner Rationalität sich entscheiden können. Ein Stück dieser Freiheitshoffnung ist immer noch in den Zukunftsvisionen von der vollendeten kommunistischen Gesellschaft enthalten. Wenn aber Sitnikov erklärt, auch dann werde noch „die Formulierung und Begründung der gesellschaftlichen Ziele eine Angelegenheit der Wissenschaft sein, mit der man sich besonders befassen muß" (S. 29), dann wird auch diese Perspektive verdüstert. Gerade die Ziele nämlich sollten doch im vollendeten Kommunismus wenigstens von den gesellschaftlichen Menschen einer menschlichen Gesellschaft selbst gesetzt werden können, ohne daß es einer herausgehobenen bürokratischen Führung bedürfte (die sich bei Sitnikov verschämt hinter dem „man" verbirgt). Lediglich für die Realisierung dieser Ziele wären dann ökonomische und technische Spezialisten erforderlich, deren Entscheidungen auf Grund ihres offenbaren Sachverstandes mühelos akzeptiert werden und keine Zwangsregeln erforderlich machen würden. Das Sitnikov von Fachleuten spricht, die die „gesellschaftlichen Ziele" formulieren und begründen, ist aber kaum ein Zufall. Er blickt nämlich offenbar (um mit Marx zu reden) nicht über den Horizont der zeitgenössischen Sowjetgesellschaft hinaus, und in dieser werden ja in der Tat die Ziele durch eine kleine Elite von Partei-und Staatsführern gesetzt.
So könnte man sich z. B.fragen, ob denn das anspruchsvolle Weltraumfahrt-Programm zum heutigen Zeitpunkt wirklich von der Mehrheit der Sowjetbevölkerung gewünscht, als eigene Zielsetzung empfunden wird, oder ob nicht bei rationaler (nicht nationalistisch irrationaler)
Erwägung die Steigerung des Wohnungsbaus und der Konsumgütererzeugung vorgezogen werden würde. Für die politischen Führer der Sowjetunion dagegen bedeuten die Erfolge der Raumfahrt zweifellos einen höchst erwünschten Prestigegewinn auf internationaler Ebene (von der militärischen Bedeutung will ich hier einmal ganz absehen).
Damit soll übrigens nicht geleugnet werden, daß es auch in westlichen Staaten ähnliche Gruppen und ähnliche Motive sind, die zur Forcierung des Raumfahrtprogramms führen, nur daß z. B. die Vereinigten Staaten sich solche Anstrengungen sehr vier besser leisten können. Immerhin gibt es aber dort auch kritische wissenschaftliche Stimmen, die diese Ausgaben als geradezu unsittliche Verschwendung verurteilen, während ähnliche Äußerungen aus der sowjetischen Welt nicht bekanntgeworden sind.
Immer wieder mußte ich im Laufe meiner Antikritik die Verhältnisse in Ost und West gegenüberstellen. Das ist ein Verfahren, das ich an sich nur wenig schätze, aber Sitnikov hat es angewandt, und ich mußte ihm auf dieses Gebiet folgen. Ein kaum erwartetes aber doch denkbares Resultat meiner Erwiderung wäre aber eine Verbesserung des Verständnisses unserer kritischen Motive gegenüber dem Sowjetmarxismus und eine Korrektur jener globalen und undifferenzierten Darstellung, von der auch Sitnikovs Arbeit ein Beispiel ist. Wenn Kritik mehr sein soll und will als wechselseitige Beschimpfung, dann müßte selbst zwischen so unterschiedlichen Positionen zumindest ein klärendes Gespräch möglich sein. Ich bin gespannt auf Sitnikovs Antwort!