Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Kultur und Gewissen Zum Vermächtnis Eduard Sprangers | APuZ 44/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 44/1963 Kultur und Gewissen Zum Vermächtnis Eduard Sprangers

Kultur und Gewissen Zum Vermächtnis Eduard Sprangers

Wilheim Roeßler

„Der Wissensbestand einer Epoche ist ein Stück sittlichen Geistes und soll zum Auibau einer Kultur dienen, in der der Mensch freier Mensch bleiben kann." (Spranger)

Als zum 27. Juni 1962 Weggefährten und Freunde aus aller Welt Eduard Spranger ihre Glückwünsche zum 80. Geburtstag aussprachen, fühlte sich der Beglückwünschte bereits an „einer Grenze", die er nunmehr überschritten hat: Eduard Spranger ist am 17. September 1963 im Alter von 81 Jahren in Tübingen gestorben Er wußte sich von dem Vertrauen und der Verehrung der „Gleichgesinnten und Fach-vertreter" getragen: „Der Drang zur Veredlung und Vertiefung des Menschen schmiedet zusammen. In der Gemeinschaft der hierfür Arbeitenden und Leidenden, Opfernden und Hoffenden fühle ich die Tage meines Alters geborgen." So lebte er in „der festen Gewißheit, daß nichts, was aus dem ernsten Willen zum Guten geboren ist, jemals ganz verloren gehen kann. In der Zeit oder jenseits der Zeit — es muß seinen Segen entfalten"

Und doch war diese Zuversicht des auf der Grenze Stehenden von einer tiefen Sorge überschattet: „Ich blicke vorwärts in die irdische Zukunft. Mit schwerer Trauer erfüllt mich das harte Los meiner Vaterstadt Berlin und des deutschen Ostens, dessen Wendung über das Schicksal der Welt entscheiden wird. Ich sorge mich darum, was den jungen Deutschen beschieden sein wird, deren Weg ich nicht weiter begleiten kann." In diesen Worten spricht sich noch einmal das Motiv aus, dem das stete, unermüdliche und ein weltweites Echo findende Bemühen seines philosophisch-wissenschaftlichen Denkens und menschlichen Handelns gegolten hat: forschend, lehrend und warnend zu seinem Teil am deutschen Schicksal mitzuwirken; den kommenden Generationen den rechten Weg in die Zukunft zu weisen und sie mit dem geistigen Rüstzeug auszustatten, die Gefahren dieses Weges zu bestehen. „In allem, was Eduard Spranger bisher in seinem reichen, weitgespannten Leben getan und geschaffen hat, ist die Kraft seiner eindrucksvollen Persönlichkeit wirksam und gegenwärtig." So beginnen die Geleitworte, mit denen Hans Wenke die Festgabe „Eduard Spranger. Bildnis eines geistigen Menschen unserer Zeit", die persönlichen Berichte der Freunde und Gefährten, einleitet. Öffentliche Ehrungen sind ihm in reichem Maße zuteil geworden. Fünf Hochschulen haben ihn zum Ehrendoktor ernannt, er wurde mit dem großen Verdienstorden der Bundesrepublik und mit der Friedensklasse des Pour le merite ausgezeichnet, zahlreiche akademische Gesellschaften und Vereinigungen haben ihn mit der Ehrenmitgliedschaft betraut. Bis in seine letzten Lebensjahre hinein blieb die Ausstrahlungskraft seiner Person ungebrochen: „Wenn man ihn sieht: weißhaarig, gestrafft und grazil.; wenn man die Stimme hört — leise, artikuliert und von melodischer Präzision; wenn er das Katheder betritt, dann scheint die Zeit stillzustehen, und hinter dem Bild dieses einzelnen Mannes erhebt sich der Riesenschatten einer Epoche. Wer spürte nicht, als er (nach langem Schweigen noch einmal öffentlich redend) die Manen der Friedrich-Wilhelm-Universität beschwor, hinter seinen Gedanken und Gesten die lebendige Sprache Fichtes und Schellings, Wilamowitz’ und Mommsens? Wen hätte diese Stunde nicht ergriffen, in der ein Berufener über den Geist eines Zeitalters sprach, den er wie kein zweiter repräsentiert: bescheiden und nobel, behutsam und gelassen — ein Vertreter des Ancien Regime, der den Modernen noch immer voraus ist?“ (Walter Jens) Schon im Vorwort der ersten Sammlung seiner Aufsätze, welcher er den Titel „Kultur und Erziehung" gegeben hat, bezeichnete er es als einen seiner „entscheidenden Gedanken", daß „der Erzieher eines starken und umfassenden Kulturbewußtseins" bedürfe. In den Abhandlungen klingt ein Thema an, das immanent das philosophische und wissenschaftliche Denken und das kulturelle und politische Handeln E. Sprangers zeitlebens bestimmt hat: das „wertprüfende Kulturgewissen".

Das Bestreben, das jeweilige politische und kulturelle Geschehen in Deutschland geistig zu durchdringen, die gewonnenen Einsichten geschichtlich einzuordnen und die erarbeiteten Erkenntnisse auf die Erziehung zu beziehen, ist für das Werk und die Person E. Sprangers bis zu seinem Tode bezeichnend geblieben. In diesem Sinne hat er die Sammlungen der nach dem zweiten Weltkrieg veröffentlichten Aufsätze „Kulturfragen der Gegenwart" und „Pädagogische Perspektiven" genannt. „Alle in ihr enthaltenen Beiträge", so heißt es im Vorwort der letztgenannten Sammlung, „zielen direkt oder indirekt auf Fragen, die im gegenwärtigen Deutschland als brennend empfunden werden. Sie sind also vom Standort der Gegenwart aus geschrieben. Der Titel . Pädagogische Perspektiven'deutet auf diese Zeit-gebundenheit hin."

„Die Einsicht, daß wir uns nicht mitten in die Ewigkeit hineinstellen können, nötigt uns dazu, daß wir uns bewußt in die Gegenwart hineinstellen und von dem Kulturbewußtsein dieser Gegenwart mit all seiner Problematik, Un-fertigkeit und Vielspältigkeit aus zu denken beginnen . . . Wir finden uns mitten im Relativen und Besonderen. Der erste Versuch, über dieses Hier und Jetzt hinauszukommen, stellt uns vor die Aufgabe einer Selbstertassung der Gegenwart in ihrer besonderen welthistorischen Lage."

In unserer Epoche ändert sich der Standort des Aussagenden ständig mit der fortschreitenden Geschichte und zwingt zu stets erneuter Selbstbesinnung und Selbstprüfung: „Kein Mensch darf sich seines ehrlichen Umlernens schämen.

Alles in der Welt hat sich verwandelt. Wir allein sollten keiner Verwandlung bedürfen?

— Stirb und Werde! Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so habe ich vieles, was meinem Herzen nahelag, in nicht leichten Selbstüberwindungen abtun müssen." E. Spranger hat seinen wissenschaftlichen Arbeiten immer selbstkritisch gegenüber gestanden und wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß der Gelehrte fähig bleiben muß, sich auch von seinen eigenen Arbeiten zu distanzieren: „Wer es gewagt hat, Bücher in die Welt zu senden, macht nach langen Jahren die Erfahrung, daß sie als Fremdlinge zu ihm zurückkehren. Auch wenn sie mit wissenschaftlicher Treue einer Sache gewidmet waren, sind sie doch zugleich Zeugnisse des eigenen Werdens und Denkmäler eine: geistigen Gestalt, in der man einmal existiert hat. Es ist nicht so, daß wir Wissenschaften von einem unverrückbar absoluten Standort treiben könnten." „Das Schicksal der Verwandlung durch die Zeit trifft im Falle meines Buches", so schreibt er 1948 im Nachwort zu seinem erfolgreichsten und immer wieder neu aufgelegten Werk „Psychologie des Jugendalters", „nicht nur den Autor, sondern ebensosehr den Gegenstand."

E. Spranger hat das Schicksal des eigenen Volkes, seines eigenen Lebens und Werkes immer „geschichtlich" verstanden und aus dieser Sicht auch zum Bildungsproblem des Volkes und des einzelnen wiederholt Stellung genommen: „Wozu wir uns bilden sollen, das können wir uns selbst nur verdeutlichen durch Reflexion über unsere geschichtliche Stellung und Aufgabe." Eine derartige Einstellung zu Leben, Denken und Wirken in der Welt bedeutet für E. Spranger jedoch alles andere als Relativismus. „Es ist, wie man richtig gesagt hat, geradezu der Sinn der geschichtlichen Betrachtung, mitten in der Zeit wenigstens ein Stück Uberzeitlichkeit zu erobern." „Relativismus, standpunktloser Historismus, Degradierung des Wissens zum Dienst für politische Zwecke sind Verirrungen der Kultur." Jede Korporation von Kultur-verantwortlichen, vor allem aber die Hoch-schule, ist berufen, „daß sie das Ererbte jederzeit vor ein ethisches Gericht stellt, nicht etwa das Gericht der zufälligen Gegenwart, sondern vor das Gericht des Gewissens, das deshalb überzeitlich ist, weil es aus Gott stammt" Wie ein solches Gewissen in einer Welt, die kulturell durch Glaubensspaltung und Vielfalt der Weltanschauungen gekennzeichnet ist und bleiben wird, auf die rechte Weise durch-gebildet werden könne und müsse —, diese Frage hat Eduard Spranger immer wieder beschäftigt. Der Kampf um Sinnverwirklichung erschien ihm als Kern des Lebens. Wer sich dem Vermächtnis des nunmehr Vollendeten nähert, hat also Leben und Werk — die, wie schon die Worte von „der nicht leichten Selbstüberwindung" zeigen, von Umwegen und Enttäuschungen nicht frei waren — zunächst unter der Sinnbestimmung zu. betrachten, welche der Verewigte selbst ihnen gegeben hat. Von den jüngsten Beurkundungen ausgehend und von hier aus rückblickend ist sein wissenschaftliches Werk so zu interpretieren, wie es von dieser Sinngebung aus gesehen werden muß. Es kann schon bei dem Umfang einer Lebensarbeit aus mehr als fünf Jahrzehnten — die Bibliographie von 1958 weist 777 Titel nach — nicht entfernt daran gedacht werden, das Werk Eduard Sprangers zu würdigen. Es soll im folgenden vielmehr nur ein Grundmotiv seines Denkens, das Verhältnis von Kultur, Erziehung und Gewissen, betrachtet werden.

Die Geisteswelt Eduard Sprangers

E. Spranger hat seine Bemühungen um die Erhellung und Deutung vor allem des deutschen Kulturgeschehens im übergreifenden Zusammenhang mit der europäisch-abendländischen Geschichte als eine „Weiterbildung der deutschen Philosophie des Geistes" aufgefaßt und durchgeführt. Er stützte sich in seinem Werk bewußt auf die Tradition der deutschen philosophischen, literarischen und pädagogischen Klassik und berief sich immer wieder, um nur einige Namen zu nennen, auf Hegel, Schleiermacher, Fichte, Schelling, auf Goethe und Schiller, auf die Gebrüder Humboldt. Die Gesamtauffassung der deutschen Klassik vom menschlichen Sein, Denken und Sichverhalten, nach der Philosophie, Wissenschaft und Handeln ein in sich geschlossenes Ganzes bilden, sich wechselseitig befruchten und ineinander übergehen, erschien ihm vorbildlich für jede differenzierte Kulturwelt. In diesem Sinne war er bis in seine letzten Lebensjahre hinein bestrebt, „das lange und an Rückfällen reiche Bemühen Wilhelm Diltheys, die Geisteswissenschaften wieder mit dem Bewußtsein ihrer Eigenart und Selbständigkeit zu erfüllen" fortzusetzen.

Wilhelm von Humboldts Ansichten von der Aufgabe der Wissenschaft haben für E. Spranger bis zu seinen letzten Veröffentlichungen als verbindlich gegolten: „Nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den Charakter um; und dem Staat ist es ebensowenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun." Wie Wilhelm von Humboldt bemühte auch er sich um eine Wissenschaft, die „empirisch genug ist, um vollkommen wahr zu sein, und philosophisch genug, um für mehr als für den jedesmaligen Augenblick zu gelten" auch Spranger bemühte sich, „jenen schwer zu entdeckenden Punkt nicht" zu verfehlen, auf welchem „Gedanke und Wirklichkeit sich begegnen und freiwillig ineinander übergehen" 19).

In diesem Sinne wollte er seine wissenschaftlichen Arbeiten und philosophischen Einsichten verstanden wissen: „Darauf lege ich Gewicht", so heißt es in der zweiten Auflage der „Lebensformen", „daß nichts in den folgenden Blättern bloß spekulativ oder bloß konstruiert ist; alles verdankt seine Einordnung der täglichen treuen Beobachtung des wirklichen Lebens, über dessen Gehalt man nicht philosophieren kann, ohne ihm in Tat und An-dacht verflochten zu sein, und dem Umgang mit der Geschichte, in der das eigene beste Leben wurzelt." 2°) 1960 hat E. Spranger sich nochmals ausdrücklich zu diesem Grundsatz bekannt: „Wenn man keinen konkreten Stoff vom wirklichen Leben her empfangen hat, kommt beim Philosophieren nichts heraus."

Aus dem Geist und dem Ethos dieser Haltung wußte er sich der deutschen Schicksalsgemeinschaft, der Universität und der Wissenschaft verpflichtet, und es erschien ihm als Hochschullehrer in seiner Rede zur feierlichen Immatrikulation 1960 wesentlich, seinen Hörern aus der Geschichte der Berliner Universität „das heute nicht Selbstverständliche einzuprägen: Die neue Universität ist aus einer Weltanschauung geboren worden: aus dem Geist und Ethos der deutschen idealistischen Philosophie: Freiheit der Nation, sittliche Freiheit der Person, Freiheit der Wissenschaft waren die Sterne, die über ihrer Geburtsstunde leuchteten" Der Vortragende ließ keinen Zweifel daran, daß diese Sterne auch heute noch über unserem Volk, unserer Staats-gemeinschaft und unserer Universität leuchten sollten. Zum vollen Verständnis dessen, was E. Spranger seinen Hörern vermitteln wollte, muß man sich verdeutlichen, daß er mit vielen Vertretern der Wissenschaft — er führt Adolf von Harnack und Troeltsch ausdrücklich an — die Meinung teilte, daß das Gestirn „Freiheit der Nation, sittliche Freiheit der Person, Freiheit der Wissenschaft" um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Glanz verlor.

Die Trübung trat ein, als sich ein „Wandel in der grundsätzlichen Wissenschaftsauffassung, oder — gleich konkret gesagt — das Eindringen des Wissenschaftspositivismus in das vom spekulativen Idealismus gebaute Haus" vollzog: „Wo das Kausalgesetz in der Wissenschaft das Monopol erhält, da . .. verschwindet auch die Neigung,, sich wissenschaftlich um die Legitimierung ethischer Normen zu bemühen. Man macht nunmehr einen scharfen Unterschied zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Letztere ist ohne eine wertende Einstellung nicht denkbar. Wenn das Prinzip der Wertfreiheit alles Erkennens so weit getrieben wird, daß auch die Reflexion über Werte, Wertungen und Wertzusammenhänge aus der wissenschaftlichen Provinz hinaus-verwiesen wird, dann kann die Universität wohl noch strenges methodisches Denken lehren, aber zu der Methode der richtigen Lebensführung kann sie als Lehranstalt keine Anweisungen mehr geben. Allenfalls vermag die hier gelehrte Wissenschaft noch die kausalnotwendigen Folgen . vorauszuberechnen', die sich ergeben, wenn man gemäß dieser oder jener weltanschaulichen Einstellung in das Spiel der Kräfte hineinhandelt. Was der jeweils maßgebende Wertstandpunkt selbst wert ist, fällt nicht mehr unter die Zuständigkeit wissenschaftlicher Erörterung."

Von diesen Voraussetzungen aus urteilt er:

„Der Satz , Die Wissenschaft um der Wissenschaft willen'ist eine Übertreibung des 19.

Jahrhunderts, das auch auf anderen Gebieten eine distanzierte Neutralität anstrebte ... Das Wissen hat wohl sein Eigengesetz. Aber wenn es Selbstzweck ist, so ist es — paradoxerweise — doch nur ein vorläufiger Endzweck.

, Die Wahrheit ist das Ganze', lautet ein berühmtes Wort von Hegel. Das eigentliche Ganze ist jedoch nicht das bloße Erkennen.

Gestaltung muß hinzukommen. Auch die Wissenschaft ist eingegliedert in die Seite des Menschenlebens, die als Kulturgestaltung bezeichnet werden darf. Hier also öffnet sich ein ethischer Totalbezug." 25) Zur Mitarbeit an diesem Bau der Kultur, „der der Verwirklichung von Werten und Geistesgütern dienen soll", bleiben alle Führenden der Nation aufgerufen. Eduard Spranger hat sich immer wieder die Frage gestellt, welche Regeln zu beachten und welche Voraussetzungen zu bedenken sind, um Äußerungen fremden Geisteslebens recht zu verstehen: „Der geisteswissenschaftliche Forscher und Denker steht an einer bestimmten Stelle der Geschichte, in einer bestimmten Nation, in einer bestimmten Sozial-schicht, und ist außerdem ein eigentümlich veranlagter Geist. Dadurch ist, ohne daß er davon zu wissen braucht, in einigem Maße der Rahmen festgelegt, innerhalb dessen er Geistiges zu sehen und zu verstehen fähig ist. Es gibt dagegen keine Hilfe als das wache Gewissen, das sich unablässig selbst prüft und über derartige Bedingtheiten unablässig Rechenschaft ablegt." Aber auch bei solch unabdingbarer Selbstprüfung können be-24 stimmte Eigenheiten der „persönlichen Gleichung" nicht ausgeschaltet werden, vor allem nicht in der eigenen Art des Vorstellens und Sprechens. Das gilt nicht nur für das Geistesleben einzelner, es gilt auch für das Geistesleben ganzer Gruppen und — im Zeitalter zweier Weltkriege — vor allem für die Generationen.

E. Spranger rechnete sich selbst zur „Vorweltkriegsgeneration" und zählte zu ihr alle, die „ihren Bildungsgang noch abschließen konnten, ehe der erste Weltkrieg Wirkungen auszuüben begann" . „Es ist kein Kleines, dem letzten Viertel des Neunzehnten Jahrhunderts — eines großen Jahrhunderts -—, noch angehört, in dieser Welt noch gelebt, diese Luft noch geatmet zu haben; es ist, so möchte man in Altershochmut sagen, ein Bildungsvorzug vor denen, die gleich in die gegenwärtige Auflösung hineingeboren sind —, ein Fond und eine Mitgift von Bildung, deren die später Angekommenen entbehren, ohne sie natürlich zu vermissen. Es mag etwa das Verhältnis sein eines Mannes, der das Ancien Regime noch erlebt hatte und einige Jahrzehnte in die nachrevolutionäre Zeit hineinlebte —, zu denen, die nach 1789 angetreten waren" (Thomas Mann).

Eduard Spranger, dessen „Vorfahren väterlicherseits Glieder einer schon im 18. Jahrhundert in Berlin verzweigten Buchbinderfamilie waren" und „nebenbei ein wenig Malerei oder Musik trieben" wuchs in der Atmosphäre einer bürgerlichen Vorkriegsfamilie auf: „Als ich im Hauptlesealter stand, nahm der Bücherschrank meines Vaters in meiner Umgebung den Rang eines geistigen Proviant-lagers ein Außer den Klassikern waren ein paar Romane und Gedichtsammlungen darin", „Werke des objektivierten Geistes ..., die schon unter dem Gesichtspunkt ihres guten Gehaltes ausgelesen waren. Zur Ausstattung eines bürgerlichen Haushaltes gehörten eben die Klassiker und anerkannten Erzähler" Die, welche in dieser Luft noch atmeten, empfingen den Geist, welchen die Gestirne der Klassik ausstrahlten, als verbindliche Tradition und blieben oft bis an ihr Lebensende in ihrer Sprach-und Vorstellungswelt von der klassischen deutschen Bildungswelt bestimmt. Wenn E. Spranger davon spricht, daß „die begeisterte Philosophie des Ergreifens der Idee", wie sie uns bei Fichte entgegentritt, in die Sprache zu übersetzen sei, „die der heutigen Geistesart gemäß ist" so gilt das, wenn man die persönliche Gleichung der nach dem ersten Weltkrieg ausgewachsenen Generationen berücksichtigt, auch für Wendungen und Bilder seiner Sprache. Spranger scheute „das Pathos nicht": „Von hohen Dingen muß man in begeisterter Sprache reden, wie besonders Fichte es immer getan hat."

Die Sprache E. Sprangers ist auf das Ganze des Kulturlebens gerichtet: „Jene angestrebte Ganzheit aber läßt sich wie alles, was Gestalt hat, nicht auf Lehrsätze bringen. Sie kann nur als Bild gezeichnet werden, und das Bild muß dann wieder in Bewegung vorgeführt werden." Nun bleiben die Ausführungen E. Sprangers weithin durch die Bild-und die zugehörige Sprachwelt der deutschen Klassiker bestimmt, welche für die in und nach den beiden Weltkriegen aufwachsenden Generationen durch den Mißbrauch, der mit ihr getrieben wurde, erheblich diskreditiert ist. Hier kann die persönliche Gleichung selbst dann oft nut mit Mühe außer Kraft gesetzt werden, wenn die Sprache der Klassik noch in ursprünglicher Reinheit und in unverfälschter Echtheit erscheint

Kultur als Geistesleben

Spranger hat immer wieder dazu aufgerufen, das rechte Verhältnis zwischen Kultur, Erziehung und Wissenschaft, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlorengegangen war, wiederherzustellen. Er suchte die Geschichte des Kulturraumes geisteswissenschaftlich zu analy-sieren, um die geschichtlich wirksamen Strukturen herauszuarbeiten. Das Kulturganze enthüllt sich bei solcher Analyse als ein spannungsreiches Miteinander und Gegeneinander der verschiedenen Mächte und Kräfte. Sie stellen sich dem Abstand nehmenden Betrachter als ein im Fließgleichgewicht stehendes Gefüge dar, in dem mannigfache und oft entgegengesetzte Normen und Normvorstellungen verwirklicht werden sollen. Das daraus resultierende Kulturgeschehen stellt die „Realität des Kulturhandelns" dar.

Unter Kultur kann demnach „ein Inbegriff von historisch gewordenen Wertgebilden teils materiellen, teils rein geistigen Charakters" verstanden werden, „die von einer jeweils lebenden Menschheitsgruppe gesellschaftlich getragen, d. h. verstanden, gewertet und ideal-mäßig weitergestaltet werden. Oder kürzer: Kultur ist ein überindividuell bedeutsamer Wert-und Sinnzusammenhang, der Wirklichkeit geworden ist und daher in einer realen Gesellschaft als motivsetzender Wirkungszusammenhang lebt" „Die Kultur ist immer ein überindividueller Sinn-und Wirkungszusammenhang, dessen einzelne Seiten jedoch in ungleichem Maße von den jeweilig lebenden und erlebenden Subjekten, die eine vielschichtige Kulturgesellschaft bilden, unabhängig sind. Ferner ergibt sich, daß das eigentliche . Leben'der Kultur, und folglich ihr Wachsen und Vergehen, nicht die abgelösten Sinngebilde als solche betrifft, sondern auf dem Verhältnis der jeweils tatsächlich lebenden Kulturträger zu jenem überindividuellen Kulturbestand und Sinngehalt beruht."

Von dem einzelnen Angehörigen der Kultur wird sie als „ein überindividueller Sinn-und Lebenszusammenhang" erfahren, „unter dessen Einfluß er täglich atmet, vielfach leidet, aber auch wächst". So wird er von der Kultur getragen, aber gleichzeitig trägt auch er die Kultur. Denn „das Paradoxe an dieser übergreifenden Macht ist doch, daß sie nicht weiter existieren konnte, wenn sie nicht immer wieder als Aufgabe und Verpflichtung in die Seelen der einzelnen hineingenommen, verstanden, ausgehalten und verantwortlich weitergebildei würde“ Sie beruht auf den Handlungen der einzelnen, welche ihrerseits wieder auf sittliche Entscheidungen zurückgehen, oder zumindest wesentlich von ihnen bestimmt werden. „Sittliche Entscheidungen aber fallen nur in der Einsamkeit der Person."

Um das eigentümliche Verhältnis von einzelnem und Kultur im deutschen Kulturraum näher zu kennzeichnen, hat Spranger zwischen der potentiellen Anlage des einzelnen zu einer nur ihn kennzeichnenden Eigenwelt und dem Kulturzusammenhang, in dem diese Anlage verwirklicht werden soll, unterschieden. In der Wirklichkeit des Kulturhandelns führt die Auseinandersetzung von Eigenwelt und Kulturwelt zu einem Ergebnis, das keine von beiden unverändert läßt. Auf diese Weise vollzieht sich „Geschichte" als das Ergebnis des Aufeinandertreffen mehrerer „Welten"; hier den nach Selbstverwirklichung strebenden Eigenwelten und der bereits in der Geschichte geformten und gewordenen übergreifenden Kulturwelt. Eigenwelt und Kulturwelt sind demnach auf unauflösbare Weise miteinander verwoben, und es kann strenggenommen die eine nicht ohne die andere gedacht werden.

Nach diesem Grundmodell lassen sich die einzelnen Vorgänge im Kulturraum verstehen, doch wird der Gesamtzusammenhang dadurch besonders schwer durchschaubar, daß sich hier viele solcher „Welten" wechselseitig überlagern oder durchdringen.

Weiterhin muß sich der einzelne zum tieferen Verständnis der Eigentümlichkeit des Kultur-geschehens verdeutlichen, daß er nicht unmittelbar auf das Kulturganze einwirkt, sondern daß er immer in mannigfachen überindividuellen Geistesgebilden, dem sogenannten „objektiven Geist", eingebunden bleibt. Dieser „überindividuelle Geist" wird im tatsächlichen Lebens-und Erlebniszusammenhang als wirksame Macht erfahren und kann doch in seiner Eigenart „inhaltlich" nicht näher definiert werden. Das Charakteristische der hier zutage tretenden Verhältnisse hat E. Spranger am Beispiel der Moral erläutert: „Eine Moral ist ein schwer greifbarer geistiger Wirkungszusammenhang, durch den eine Gruppe die Verhaltensweisen und gesinnungsmäßigen Einstellungen der Zugehörigen in einer der Gemeinschaft erwünschten Richtung normiert und reguliert. Wie bei der Sprache ist Schöpfer dieses Gebildes kein einzelner, sondern es erwächst und wächst aus unzähligen kleinen zwischenmenschlichen Wirkungen und Gegenwirkungen Sie bestehen zunächst in Forderungen an die anderen und Werturteilen über ihre konformen oder widerstrebenden Verhaltungsweisen. Als Niederschlag der Einzelregulierungen entstehen auch verfestigte Formen des Zusammenlebens, wie z. B. die Ehe oder Eigentumssicherungen. Konstruiert man sich zu diesem unübersehbaren Regulierungsgeschehen ein Subjekt, dem man entsprechende Absichten zuschreibt, so kann es sprachlich nur mit dem Wörtchen man’ bezeichnet werden."

Betrachtet man die Geschichte einer solchen überindividuellen geistigen Macht, z. B.der Moral, so ergibt sich, daß auch hier grundsätzliche Veränderungen und Wandlungen eintreten können. Sie stehen aber immer in innigem Zusammenhang mit Wandlungen in den bisherigen Kulturverhältnissen und zeigen sich so ebenfalls in das Ganze des Kulturgeschehens verwoben: das überindividuelle geistige Gebilde kann ebensowenig wie der einzelne, der durch es hindurch das Kulturganze mit trägt, aus diesem Zusammenhang losgelöst und unabhängig von ihm gedacht werden.

So befindet sich der einzelne, der in der Kultur lebt, und durch den die Kultur lebt, stets in mannigfachen Abhängigkeits-aber auch Bestimmungsverhältnissen. Für das Kultur-ganze ergeben sich besonders spannungsreiche Situationen, wenn überindividuelle Gebilde mit starker Prägungs-und Durchsetzungkraft, wie z. B. Glaubensgemeinschaften, bei verschiedener Wertstruktur im gleichen Kulturraum miteinander umgehen. In solchen Kulturen, z. B.der deutschen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, besteht dann ein grundsätzlich unaufhebbares Spannungsverhältnis, das jedoch gerade wieder die Voraussetzung dafür bildet, daß das gemeinsame Ziel, in diesem Falle die Veredelung der Gesittungsgemeinschaft, erreicht werden kann. Es zeigt sich in einem solchen spannungserfüllten Raum allerdings auch die Gefahr, daß das rechte Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Normen und Normsystemen empfindlich gestört wird.

Für den Kulturraum ergibt sich demnach ein Zusammenhang der überindividuellen und persönlichen Geisteswelten, der sich in drei „Bereiche" aufgliedern läßt. Die höchste „Zone" bildet die des objektiven Geistes. In ihr werden die entscheidenden lebensbestimmenden und gesittungsnormierenden Werte „vernommen". Es ist jedoch das Eigentümliche dieser Wertzone, daß sie sich immer nur im strengsten und verpflichtendsten Sinne dem einzelnen erschließt. Dieser, der „subjektive Geist", sucht nun das Vernommene in der Realität seines Kulturhandelns zu verwirklichen und stößt dabei auf die auf das gleiche Ziel gerichteten Betrebungen der anderen „subjektiven Geister". Es bildet sich damit im geistigen Bereich objektiver Geist, und, wenn materielle „Werte" verwirklicht werden, objektivierter Geist. In diesem nicht weiter auflösbaren Verhältnis der verschiedenen Glied-strukturen des überindividuellen kulturellen Gesamtzusammenhanges liegt beschlossen, daß die „Normen", welche in der Zone des normativen Geistes vernommen werden, niemals rein erscheinen. Fassen wir die Welt des normativen Geistes als die Welt der Wesenheit, so leuchtet nach Spranger ein, warum es nicht gelingen kann, sie „rein" darzustellen: „eben weil die . Wesenheiten'immer in psychische und historisch-tatsächliche Zusammenhänge eingelagert sind, aus denen sie nicht ganz . ablösbar'sind. Wie weit der Bedeutungswandel gehen kann, zeigt z. B. schon die Umbildung übernommener philosophischer Begriffe, die ein anderer in seinen System-und Personzusammenhang hineinstellt, ohne zu fragen, wie viel von ihrem ursprünglichen Sinn erhalten bleibt. So . eignet'sich Goethe Spinoza, Schiller Kant , an" ‘.

Aus der Sicht des kulturellen Gesamtzusammenhanges wird deutlich, warum das Kultur-leben immer zugleich auch Geistesleben bedeutet: „Geistesleben ist nicht zu definieren, sondern wird nur im Mitvollzug erfaßt. Geist ist ein bloß gedachtes, zeitloses metaphysisches Prinzip, das sich in seinen zeitlichen Auslegungen manifestiert. Deshalb sagen wir in umgekehrter Richtung von uns: wir müßten Geistiges auslegen (interpretieren). Wir kennen ausschließlich menschlichen Geist und menschliches Geistesleben, das in naturhaftes Leben eingelagert ist." Hinter diese Einsicht kann der erkennende menschliche Geist nicht zurück. Er stößt hier auf ein „Urgeheimnis", das „unausschöpfbar" bleibt, eine Zone, in der die Urphänomene Sinn, Geist, Freiheit erfahren werden.

Der subjektive Geist erlebt sich selbst als „geistiges Zentrum, das in die Gemeinschaft denkend geistiger Wesen eingeflochten, Werte schalst, Gedanken denkt, Schicksale durchmacht, sich eine Bestimmung zusprechen muß und von einem rätselhaften Gewissen beunruhigt und gelenkt wird". Erleidend, handelnd, nachdenkend, verzweifelnd, kämpfend, bemüht sich dieses geistige Zentrum um die Sinn-deutung seines Schicksals; es fragt nach den Maßstäben, in denen es Sinngehalte erlebt, nach dem Sinn dieses einen persönlichen Daseins und beginnt selbst in der komplizierten Verflechtung der Fäden geistigen Lebens einen Standort zu gewinnen.

Es sieht sich in einem historischen Prozeß eingegliedert, in dem die Gestalten sich verwandeln, die Wirkungen sich verstärken, die Forderungen verfeinern. Sinnsuchend und sinn-gebend wird es sich seiner spezifischen Eigen-welt bewußt. „Die Strahlen, die sich vom Sinnsuchen her ausbreiten“, stoßen auf eine Fülle von Wertgehalten der Kultur, die sie gleichzeitig von unten und von oben her, von der „natürlichen" und der „normativen" Sphäre her zu durchdringen suchen. Hier stoßen sie auf Sonderleistungen von eigenem Gesetz, wirtschaftliche Arbeit, wissenschaftliche Forschung, technisches Können, Kunstschaffen, Bildung und Erziehung. Alle Gebiete aber durchwaltet eine bestimmte Grundhaltung, bestimmt durch die Ideen, von denen die Kultur getragen wird, die in ihr Verwirklichung finden und an die geglaubt werden muß. Am eindeutigsten offenbart sich dieses alles Durch-wirkende. welches die überindividuelle Bindung der Kultur ermöglicht, in der Bindung an das Gemeinwesen, an die überindividuelle Willensorganisation des Staates. Hier werden Verzicht, Selbstverleugnung, Hingabe, sittliche Energie gefordert.

Es kann sich dabei ergeben, daß von der Erfahrung der eigenen Bestimmung her, die sich als ein Sollen, ein Wollen und ein Müssen manifestiert, eine Wertdivergenz zwischen der objektiven Kultur und zwischen dem eigenen Kulturwillen ergibt. Dann kommt alles darauf an, wie sich der subjektive Geist zu der Spannung verhält. Nimmt er die Divergenz als Aufforderung, die Struktur der vorgefundenen Geisteswelt zu ändern, so kommt es zu einer geistigen Revolution, leistet er Verzicht, zur Resignation. Hier entscheidet sich, ob ein positiver Fortschritt oder ein Verfall der Kultur eintritt. Auch hier erhebt sich wieder die bange Frage nach dem Sinn, ergibt sich der Kampf um die Sinndeutung, wird die Bedrängnis des Lebens in der Zeitlichkeit erfahren, in der Naturhaftiges und Normatives sich eigentümlich durchdringen.

Dabei wächst die Einsicht, daß der überzeitliche Wertgehalt selbst eine potentielle Kraft, kein starres Sein darstellt, daß hier zum steten Kampf um die entscheidende sinnstiftende rechte Bewegung des Ganzen aufgerufen ist.

So vollzieht sich Geschichte und wird Geschichte vollzogen. „So ist die Geschichte hineingelagert in die Mitte zwischen dem naturhaft biologischen Prozeß des Lebens und den ewigen Ideen. In der Berührung und Vermählung beider Sphären liegt die Bewegung der Geschichte. Ihre Produktivität aber besteht darin, daß sie immer wieder das Ewige in die Form des Lebens zu fassen strebt. Das Absolute wird nicht vor der Geschichte oder neben der Geschichte von menschlichen Gehirnen abstrakt erdacht, sondern das Bewußtsein von ihm wird im historischen Ringen der Geister reiner und reiner erobert. Wir besitzen es, wenn wir den überlegenen Geist des Vergangenen mit der sittlichen Verantwortung der zukunftsgestaltenden Tat verknüpfen, wenn wir nicht nur philosophieren, sondern uns zugleich als Lebende in das ethische Wagnis hineinbegeben. Von unserer wertsetzenden Kraft hängt unsere Zukunft ab." Der Sinn des „Ganzen" jedoch läßt sich „nicht vorausberechnen im Sinne der Spenglerschen Kultur-biologie.denn seine Entstehung ist in unser Kulturgewissen geschoben. Dieses Gewissen aber wird nur sprechen, wenn wir uns rein und stark erhalten"

Kultur und Gewissen

Das „Kulturgewissen" äußert sich in einem sicheren Gespür für das, was in der Wertwelt der je spezifischen Kultur zu billigen, was zu verwerfen ist. Es ergibt sich, daß im kulturellen Gesamtzusammenhang so etwas wie eine „ethische Norm des totalen Kulturgewissens" erahnt, aber nicht rational durchschaut wird. Damit stellt sich in unserem Kulturraum die Frage nach dem Verhältnis des Glaubensgewissens der Angehörigen der verschiedenen christlichen Konfessionen zu dem geforderten Kulturgewissen. Der hier zutage tretende Fragenkreis kennzeichnet von Beginn an die Geschichte des vom Christentum geformten abendländischen Kulturraumes Die aus dem griechischen Kulturraum nachwirkende Philosophie versteht sich als Suche einer Wahrheit, die der Prüfung durch das nur sich selbst verpflichtete, selbstbesinnliche menschliche Denken unterworfen bleibt. Sie gerät damit in Spannung zu einer christlichen Offenbarungstheologie, die für das von ihr verkündete Traditum unbedingten Wahrheitsanspruch erhebt, es aber der inhaltlichen Nachprüfung durch menschliches Wissen entzieht

Dieses immer vorhandene Spannungsfeld zwischen dem „Anspruch der Philosophie und dem Einspruch der Theologie" zeigt sich im deutschen Kulturraum besonders ausgeprägt, da die verschiedenen christlichen Konfessionen in den Fragen des Verhältnisses zwischen Theologie und Philosophie sich jeweils anders entscheiden und die theologischen Anthropologien der christlichen Konfessionen immer noch kontrovers sind. Weil aber die Anschauung vom Gewissen aufs Engste mit dem verpflichtenden Bild vom Menschen und dessen Möglichkeiten und Grenzen zusammenhängt, ist nicht auf allen Gebieten eine Übereinstimmung der Gewissenserziehung erreichbar. Unter diesen Umständen gewinnt die Durchbildung eines „Kulturgewissens“ für das Kulturleben eine besondere Bedeutung.

Als sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die Vertreter der verschiedenen Konfessionen mit dem Willen zusammenschlossen, in der Besinnung auf den allgemein christlichen Auftrag gemeinsam an der menschenwürdigeren Gestaltung der irdischen Lebenswelt zu arbeiten, schufen sie die Basis einer möglichen Verständigung. Seitdem richtet sich eine nachweisbare Gesinnungshaltung, welche Spranger Kulturgewissen genannt hat, vornehmlich auf die Erhaltung und Wahrung der menschlichen Würde und der sittlichen Freiheit, das Glaubensgewissen darüber hinaus auf die rechte Lebensführung im Sinne der Nachfolge Christi. Das Kulturgewissen bezieht sich auf den Wurzelgrund von Selbstbestimmung, Selbstentscheidung und Selbsterziehung unter der Verpflichtung, die Welt in materieller und in mitmenschlicher Beziehung immer menschenwürdig zu erhalten bzw. zu gestalten. Das Glaubensgewissen lebt darüber hinaus aus der ständigen Prüfung des eigenen Wandels unter dem Gerichte Gottes im Wissen um die eigene Sünde mit dem Bemühen um die verheißene Vergebung. Damit ist aber durch die Differenz zwischen Glaubensgewissen und Kulturgewissen in der Eigenwelt des einzelnen jene fruchtbare Spannung geschaffen, welche auch das Kulturganze trägt. Weiß sich der einzelne im Kulturgewissen einig mit allen Angehörigen des gleichen

Kulturraumes, so hat er doch dieses Gemeinsame immer wieder von der letzten Bindung, vom Glaubensgewissen her, zu überprüfen. Was sich hier beim Christen als Verhältnis von Glaubensgewissen und Kulturgewissen offenbart, das erfährt auch der Nichtchrist in dem Anruf des „Normativen", den er mit dem Anruf aus dem Kulturraum ins rechte Verhältnis zu setzen hat. Mit dieser Einsicht ist der Schritt von der ursprünglich christlich bestimmten Kulturgemeinschaft, die nach Konfessionen verschieden, aber in der kulturellen Haltung einig war, zu einer allgemein bestimmten pluralistischen Kultur getan, die im „Kulturgewissen“ den gemeinsamen Bezugspunkt besitzt.

Diesen Sachverhalt hat Wilhelm Flitner in seinem Werk „Europäische Gesittung, Ursprung und Aufbau abendländischer Lebensformen" im Sinne E. Sprangers mit den Worten gekennzeichnet: „Ich verstehe unter Pluralismus den Zustand einer Gesellschaft, in der ganz verschiedene denkende und wertende Lebens-kreise aufeinander angewiesen sind und nicht nur koexistieren, sondern sich in der Basis des Sittlichen und der Rechtsordnung integrieren müssen. Der Konsensus der Geister und Gemüter, welcher Recht und politische Ordnung schafft, geselligen Verkehr und geistige Tätigkeit ermöglichen soll, ergibt sich nicht aus einer vorgegebenen Glaubensposition, sondern aus mehreren, die untereinander gegensätzlich oder fremd sind. Dieser Zustand ist im großen gesehen neu in der Welt, und er ist die Folge der Libertäten, die in Europa erstritten worden und das Signum der Sittenwelt des Westens sind" Im deutschen Kulturraum aber ist dieser Zustand in seiner historischen Entwicklung besonders sinnfällig geworden. „Der Konsensus zwischen rechtlich und geistig mündigen Personen ist darauf angewiesen, daß die Menschen der getrennten Lager im Gespräch bleiben, einander anhören, in Gemeinschaft zu wirken lernen, auch wo sie im einzelnen verschiedener Anschauung sind. Aber klar muß dann herausgearbeitet sein, an welchen Punkten die Duldung des Verschiedenen aufhört: da, wo das Fundamentale der sittlichen Gemeinschaft berührt wird und ein Status confessionis eintritt. An diesen Stellen muß um des Konsensus willen auch der Kampf gewollt werden." Dieser „Kampf" muß im Inneren des Menschen ausgefochten werden, ehe er sich nach außen wendet.

Der Kulturauftrag der Erziehung

Im deutschen Kulturraum begegnen wir dem Wort Kultur und damit dem Sinnbereich, den es bezeichnet, erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts; zu einem Zeitpunkt, da sich im christlich bestimmten deutschen Lebens-und Geistesraum eine epochemachende Entscheidung durchsetzt. Die bis dahin einander bekämpfenden Vertreter der verschiedenen Konfessionen faßten den Entschluß, ungeachtet der konfessionellen Unterschiede, sich bei der Gestaltung des irdischen Lebensraumes zu gemeinsamen Tun zusammenzufinden.

Hatte man bis dahin das Welt-und das persönliche Geschehen vornehmlich unter dem Aspekt des Handelns Gottes mit den Menschen betrachtet, so bemühte man sich nunmehr um eine innerweltlich bestimmte und begründete Konzeption. Der Mensch, sofern er „in der Zeit ist und unter ihrem Einfluß steht", soll „die Geschäfte des Lebens und die Einrichtungen für Menschen" (Herder) in eigene Verantwortung nehmen. Gott hat dem Menschen nach dieser Ansicht nicht nur die Möglichkeit, sondern auch den verbindlichen Auftrag gegeben, die Welt immer menschenwürdiger zu gestalten, d. h. in eigener Verantwortung die materielle und mitmenschliche Lebenswelt in einem unbeendbaren Prozeß weiter zu vervollkommnen.

Die Christen wollen sich im deutschen Lebensraum in Zukunft bemühen, über die Unterschiede der Glaubensgemeinschaften hinweg den gemeinsamen durch Geschichte und Sprache bestimmten Lebens-und Erlebnis-, den Kulturraum auch als gemeinsamen Handlungsraum zu betrachten. Im Zusammenhang mit diesem Bemühen wird die Welt des konfessionsbestimmten Gottesdienstes von der des allgemeinen christlichen Weltdienstes, der Kultus von der Kultur, abgehoben und unterschieden. In Zukunft bezeichnet Kultur eine Lebens-und Erlebniswelt, in der durch gemeinsame Sprache und Geschichte geeinte, aber durch Konfession getrennte Christen im politischen, kulturellen und sozialen Raum ohne Beschwerung ihres Glaubensgewissens miteinander umgehen sollen. — Modern gesprochen handelt es sich um die Anfänge des Bestrebens, in einer wertpluralistischen, hier konfessionspluralistischen Welt mit Hilfe vernünftiger Einsicht zu einer Übereinkunft für das gemeinsame Kulturhandeln zu gelangen. Die in dem neuen Entwurf erstrebte menschenwürdigere Welt sollte zugleich eine Welt der Freiheit sein, in welcher der Freiheitsraum des einzelnen mit dem Freiheitsraum der ihn umfassenden Gruppen und zuletzt mit dem der in Einzelkulturen erscheinenden Menschheit sich zu einem gegliederten Ganzen zusammenschließt.

Bei solcher Neubestimmung des weltlichen Handlungsraums erwächst der Erziehung eine bisher unbekannte Verpflichtung. Mit dem neuen Kulturwollen ist jeder zur Freiheit, zur Durchbildung seiner Eigenwelt aufgerufen. Die Heranbildung der in die Kultur Hineinwachsenden darf nicht wie zuvor auf die Ein-und Anpassung in die überkommenden Verhältnisse zielen, sondern soll in einem gegliederten Erziehungsprozeß die Schaffung einer Eigenwelt ermöglichen. Durch die Erziehung wird die in dem Heranwachsenden angelegte mögliche Eigenwelt vom Erzieher geweckt, der Werdende bei der Durchbildung seiner Eigen-welt unterstützt, aber auch gleichzeitig fähig gemacht, sich in die gegebene Kulturwelt einzuordnen. Dazu bedarf es neben der häuslichen Erziehungswelt in dem neu strukturierten Kulturraum einer besonderen pädagogischen Institution, in welcher der Heranwachsende seine geistige und charakterliche Durchbildung erfährt. Die Schule erscheint als Brücke zum öffentlichen Raum und als Vorform des geselligen Lebens in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Sie führt den Heranwachsenden aus der Befangenheit der Eigenwelten und bildet die Jugend für eine in Gemeinschaft zu leistende Kulturaufgabe heran.

Im pädagogischen Raum bildet sich ein neues Strukturverhältnis, das „für unsere Gliederung des Geisteslebens von entscheidender Wichtigkeit" ist. Spranger sieht den sich hier vollziehenden Prozeß als außerordentlich bedeutsam an. „Auf der einen Seite enthüllt sich, daß Menschen, die als Erzieher wirken, . mehr als seelische Subjekte sind. Sie sind Träger von geistigen Gehalten, die weit über ihre raum-und zeitgebundenen Sinneserlebnisse und über ihre triebbedingten Verhaltensweisen hinaus Gebilde von eigener Gesetzlichkeit und Mächtigkeit bedeuten. Das Bild vom Atlas, der eine ganze Welt trägt, drängt sich auf. Der andere Bewußtseinsträger aber, der solche gehaltvollen Einwirkungen empfängt, ist keineswegs nur ein passives Objekt. Zunächst unterliegt er einer leiblich-seelisch-geistigen Entwicklungsgesetzlichkeit, der gemäß er Einflüsse annimmt oder abbiegt, auch auf ganz individuelle Art. Mit wachsender Bewußtheit gewinnt er die Fähigkeit zu eigener Stellungnahme. Und endlich hat er als bewußter Geistesträger auch Zugang zu Tiefen seines Inneren, in denen sich das Normative auf die ursprünglichste Art offenbart: er erwacht zum Vernehmen der Stimme des Gewissens.

Es ist die tiefe Entdeckung der abendländischen Menschheit, daß an dieser Stelle die Urverbundenheit mit dem Metaphysischen liegt: Nur in der Einsamkeit der erlebensfähigen und wertprüfenden Seele. Hier wurzelt der fundamentale Widerspruch gegen alle Despotien und totalitären Massensysteme." 44)

Ein alle verpflichtendes Erziehungsziel kann nur auf der Ebene des gemeinsamen Kultur-wollens angestrebt werden — von der Glaubensgemeinschaft her also nur auf der Ebene einer vorletzten Zielsetzung. Deswegen kommt der Erziehung in der öffentlichen Schule besondere Bedeutung zu. Der Heranwachsende ist hier derart in den geschichtlich gewordenen Kulturraum einzuführen, daß die am Bildungsgut gemachten Erfahrungen seinen Kulturhorizont ständig erweitern. Er soll mit Kenntnissen und Fertigkeiten nicht im Sinne einer Spezial-bildung vertraut gemacht, vielmehr in das notwendige Kulturwissen so eingeführt werden, daß er sich später befähigt sieht, als mündiger Staatsbürger am öffentlichen Leben teilzunehmen. Auf einem planmäßigen Erziehungswege soll der künftige Träger der Kultur in der Liebes-gemeinschaft der Familie, der Glaubensgemeinschaft der Kirche und der Erziehungsgemeinschaft der Schule zur Kulturgemeinschaft hin erzogen werden. Das geschieht u. a. durch die Vermittlung von Kulturgütern, welche normative oder normgebende Gehalte bergen. „Welche Förderung wir der Dichtung verdanken, ist schwer kontrollierbar und unaussprechbar, aber von größtem Gewicht. Noch früher müßten wir die Sprache nennen. Jeder empfängt von .seiner Sprache'innere Kultur. Sprache ist vorgeleistete Geistesarbeit. Wer sie übernimmt oder in sie hineinwächst, tritt schon damit in eine fein durchgeformte Geisteswelt ein. . . Teilhabend am . Leben'der Sprache, dehnt man sein Wissen, seine Gefühlswelt, seinen Wirkungsbereich aus. Man wird tatsächlich gebildet; aber man merkt es noch weniger als der Sextaner dessen inne wird, daß in ihm ein Bildungsprozeß vorgeht, wenn er Latein lernt."

In der Schule soll der Heranwachsende zur Lebens-und Sachbemeisterung, zum Berufs-und zum öffentlichen Leben gleichzeitig vorgebildet werden, ohne jedoch schon durch die Ernst-welt der Erwachsenen belastet zu sein. In dem Zwischenreich der schulischen Institution lebt er in einem Ubergangsraum, der ausschließlich dazu dient, ihn den rechten Weg ins Leben finden zu lassen und mit dem Rüstzeug zum Bestehen der Lebensanforderungen zu versehen. Der schulische Raum soll zwar ein Schon-raum, doch kein Entlastungsraum sein; er soll den jeweiligen Kräften des sich Bildenden angemessene Aufgaben stellen, deren Erfüllung das Ganze der vorhandenen geistigen, charakterlichen und sittlichen Kräfte fordert.

Die Abgrenzung der Machtsphären in Kultur und Erziehung

Das Schwergewicht des Lebenswerkes von Eduard Spranger liegt auf den Arbeitsgebieten der Philosophie des Geistes und der Geisteswissenschaft. Er bleibt sich jedoch der komplementären Seite ständig bewußt: „Es gehört zur deutschen Art, in der Theorie möglichst zu ignorieren, daß das Leben und Zusammenleben der Menschen überall von Machtverhältnissen durchwirkt ist, denen ebenso viele Abhängigkeitsverhältnisse entsprechen. Der Faktor Macht kann nicht eliminiert werden. Er kann allenfalls reguliert und gezähmt werden."

Angesichts der Machtverteilung in der realen Erziehungswelt kommt auch ihn die Versu44) chung an „zu behaupten: Gegenüber den fragwürdigen Einflüssen des täglichen Lebens ist die bestgemeinte Erziehung beinahe ohnmächtig." Diese Ohnmacht im Erziehungsraum wird noch durch die Rivalität zwischen Elternhaus, Schule und Kirche gefördert. Hier bedarf es einer kritischen Besinnung auf die dem Erzieher jeweils zukommende Macht und auf die rechte Verteilung der Machtverhältnisse. „Das Subjekt, von dem die Erziehung ausgeht, bedarf einer gewissen Macht; denn die Art von Einflußnahme, die wir Erziehung nennen, ist notwendig mit einer Machtausstrahlung verbunden. Das wird schon äußerlich daran erkennbar, daß auf dem pädagogischen Gebiete rechtliche Regulierungen stattfinden. Diese bedeuten Verteilung von Rechten und Pflichten, von . Ermächtigungen’ und Ausschließungen, von Zuständigkeit und Verbindlichkeiten unter den Instanzen, die sich im Wettbewerb beteiligen."

Der Fragenkreis, wie sich in der Erziehungswelt die Zuständigkeiten und Verbindlichkeiten am sinnentsprechendsten abgrenzen lassen, hat Eduard Spranger in dem ersten Jahrzehnt seiner wissenschaftlichen Laufbahn besonders beschäftigt. Schon 1914 hält er eine Vorlesung über „Den Zusammenhang von Politik und Pädagogik in der Neuzeit", für die er sich die Kenntnis der „Umrisse zu einer Geschichte der deutschen Schulgesetzgebung und Schulverfassung" erworben hat. Das Ergebnis dieser geisteswissenschaftlichen Analyse, in welcher er die gewonnenen pädagogischen Fakten in den kulturell-geschichtlichen Zusammenhang einordnete, fand ihren Niederschlag in der Akademieabhandlung: „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik." (1927)

In dieser grundsätzlichen Schrift entwickelt Spranger die Theorie von der relativen Eigengesetzlichkeit der Schule, doch bewahrt er sich auch hier den Blick für die reale Wirklichkeit: „Praktisch hängt die Gestaltung der Verhältnisse zwischen Schule und Staat von den Machtverhältnissen innerhalb der bestehenden parlamentarischen Demokratie ab. Ethisch aber hängt sie davon ab, ob der Staat in seiner Schule den Weltanschauungsrichtungen ausreichenden Spielraum läßt, oder ob er sich der überlebten rationalistischen Tradition hingibt, es könne jemals wieder zu einer Uniformität der Weltanschauungen, womöglich gar durch eine rein staatlich-weltliche Erziehung kommen. In allen anderen Beziehungen hat der Staat lernen müssen, ja selbst angeordnet, daß in der Erziehung individualisiert werden soll. So kann er die tiefgehende Individualisierung der Grundstandpunkte in dem Geistesleben, das er umschließt, nicht übersehen.“

Der Kulturbereich der Erziehung, vor allem die in der modernen Welt unaufgebbare Staats-schule, bleibt zwar immer auf das Kulturganze bezogen, aber dennoch kann auch gegenüber dem Staat die Autonomie nur eine relative sein. Der Anspruch allerdings auf die Beachtung dieser relativen Eigengesetzlichkeit ist unabdingbar. Da nach dem Verständnis unseres Kulturwollens Erziehung immer nur Selbst-erziehung sein kann, die Schule also in ihrem Eigentlichen Erziehungshilfe leistet, so kann sie nur von dieser Aufgabe her ihre Struktur gewinnen. Sie bedarf also der Freiheit, sich zu der Struktur durchzubilden, welche die produktive Fortführung des Erziehungsprozesses gestattet. Die Schule muß auf ihre Weise eine „höhere Einheit des Verschiedenen, in der sich die Mannigfaltigkeit wertbestimmender Kräfte zusammenlaßt", darstellen, „um das Leben und den sittlichen Kulturbesitz des Volkes zu sichern."

Es ist kein Zufall, daß die schleichende Krise des deutschen Erziehungswesens nachweisbar in dem Augenblick einsetzt und sich in ständigen bis heute nicht abreißenden Reformversuchen manifestiert, als die bereits erkannte Eigenart des Erziehungsraumes und des öffentlichen Schulwesens zunächst von den Vertretern anderer Kulturbereiche und später selbst von Trägern des Erziehungswesens nicht mehr erkannt und beachtet wurde.

Es ist den Sachverständigen niemals verborgen geblieben, daß dieser Traditionsverlust aufs engste mit der Tatsache zusammenhängt, daß die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen Disziplinen relativ gut durchentwickelte Erziehungswissenschaft keine Heimstätte in der Universität behalten hat.

Darunter hat nicht nur die nur in Ansätzen geleistete wissenschaftliche Durchdringung und Aufschließung des Erziehungsfeldes erheblichen Schaden gelitten, sondern es macht sich auch in der pädagogischen Vor-und Durchbildung der Lehrer das Fehlen einer durchgegliederten erziehungswissenschaftlichen Disziplin höchst nachteilig bemerkbar.

Vergleichen wir die Zustände in der theoretischen und praktischen Vorbildung der Gymnasiallehrer heute und vor einem halben Jahrhundert, so kann der Fortschritt nicht verkannt werden, doch mag jeder Sachkenner für sich entscheiden, wieweit die Verhältnisse in der pädagogischen Universitätsvorbildung der künftigen Schulmänner eine tiefgreifende Wandlung erfahren haben, wenn wir sie mit jenen Zuständen vergleichen, deren Schilderung uns E. Spranger in der Festschrift für Th. Litt wieder zugänglich gemacht hat. 1917 veranstaltete das preußische Kultusministerium eine Konferenz mit dem Thema: „Aufgaben und Methoden des pädagogischen Unterrichts auf den Universitäten". Der Hauptreferent Ernst Troeltsch hat die damalige Situation näher charakterisiert:

Innerhalb der philosophischen Fakultät hatten sich die Fachvertreter der Philosophie auf Logik, Erkenntnistheorie und Geschichte der Philosophie eingeschränkt. Eine unmittelbare Hilfe für die geistige Durchdringung des Erziehungsraumes leisteten sie nicht. Zwar wurde in den naturwissenschaftlich-mathematischen, philologischen, historischen und philosophischen Fächern das Lehrgut zusammengetragen, dessen die künftigen Lehrer an höheren Schulen bedurften, aber der Weg, diese Wissens-in Kultur-oder gar Bildungsgüter umzuwandeln, wurde ihnen nicht gezeigt. Die hie und da versuchte Einführung in das Spezifische des Erzieherberufes „schwankte zwischen halber Wissenschaft und halber Praxis" und bestand aus „einer Mischung von Unterrichtsgeschichte, Probeschule, Vorlesungen über Unterrichtstechnik und pädagogisch verwertbare Psychologie", oft noch in Verbindung mit „einer altmodisch moralisierenden und mit Hausmitteln der pädagogischen Erfahrung arbeitenden Lehrerpädagogik"

Demgegenüber entwickelte Troeltsch aus der ihm gegenwärtigen und verbindlichen Tradition des deutschen Geisteslebens, wie es sich in der Zeit der deutschen Klassik durchgebildet hatte, den Gedanken, daß die Pädagogik als ein eigenes Lehrfach innerhalb der philosophischen Fakultät neben die übrigen Disziplinen, welche das Lehrgut vermittelten, zu treten hätte: „Der Lehrstuhl müßte ein volles Ordinariat sein mit dem Rechte der Promotion und der Privatdozentur, um den neuen Nachwuchs für die neue Wissenschaft, sowie die Möglichkeit monographischer Arbeit zu sichern. . . Sie müßte eine volle, alle Kraft anspannende und selbständige Professur sein". Es handle sich „um eine selbständige und umfassende Wissenschaft vom staatlichen Schulwesen, seiner Geschichte und seinen Zielen, wobei natürlich das gesamte Schulwesen einschließlich der Volksschule zu umfassen ist. Das bedeutet eine Zusammenfassung verschiedener und weit verzweigter empirischer Kenntnisse mit einer philosophisch geklärten und begründeten Anschauung vom Wesen unseres geistigen Besitzes, soweit er von der Schule jeder Art realisiert werden kann. Das ist dann zugleich eine wissenschaftliche Unterlage für die Leh51) rerseminaie, eine Information für die Schulpolitik und eine Zusammenfassung des praktischen Zweckes der philosophischen Fakultät, an der es bisher gefehlt hat; schließlich eine Einführung der Studenten in Ideale und Ethik des Lehrerberufes.“

Die damals von Troeltsch entwickelten Forderungen stellten, da das Wissen um die Tradition verloren gegangen war, einen Neuentwurf dar, zu dessen Verwirklichung nur höchst schwache Ansätze vorhanden waren. — Selbst heute sind die unabweisbar richtigen Einsichten von Troeltsch noch nicht Gemeingut der wissenschaftlichen und staatlichen Öffentlichkeit geworden. — Troeltsch selbst schien die Neueinrichtung eines solchen Lehrstuhls sehr problematisch, teils, weil es an den erforderlichen Personen mangelte, vor allem aber, weil bis dahin nirgends „eine einheitliche Synthese der verschiedenen Bestandteile des Lehrgutes zu einer wenigstens relativ einheitlichen Kulturidee" vorhanden war, „die dann den verschiedenen Schulgattungen, in der durch ihre Sonderzwecke nuancierten Besonderungen, aber doch als wesentliche geistige Einheit zugrunde gelegt werden kann"

Eine solche Synthese aber erschien Troeltsch unbedingt notwendig, um die Verknüpfung mit einer — klassisch verstandenen — Philosophie zu wahren und andererseits die Verbindung mit den Wissenschaften aufrechtzuerhalten, welche das Lehrgut wissenschaftlich bereitstellten, das von den künftigen Erziehern in Bildungsgut umgewandelt werden sollte. Eine derartige Synthese müßte, so meinte Troeltsch, in ihrer Begriffswelt die geistigen Gehalte und den Sinn der jeweiligen Kultur enthalten und auf diese Weise gleichzeitig durch die Erziehung der künftigen Geschlechter dem Kultur-ganzen den geschulten Dienst erweisen.

Eduard Spranger hat in seiner Lebensarbeit diese Synthese weithin geleistet und der modernen Erzieherschaft den Rahmen bereitgestellt oder, um einen Ausdruck Schleiermachers anzuführen, das Fachwerk geschaffen, in das die stets neu zu gewinnenden Erfahrungen eingeordnet und zu Geschichte und Gegenwart in die rechte Beziehung gesetzt werden können. Spranger wurde sich darüber klar, daß in einem Kulturraum, in welchem verschiedene Religionen und Weltanschauungen sich in stetem Ringen befinden, immer von neuem ein Konsensus über das gemeinsame Kulturwollen gefunden werden müsse. Wie sehr Spranger sich nicht nur im Grundsätzlichen, sondern auch im einzelnen dem Erbe von Troeltsch in kulturpädagogischer Hinsicht verbunden gefühlt hat, zeigen vor allem seine „Grundlagen". Hier werden die Voraussetzungen der von Troeltsch geforderten „selbständigen und umfassenden Wissenschaft vom staatlichen Schulwesen, seiner Geschichte und seinen Zielen" entwickelt und in den Abschnitten über die „normative Fragestellung unter Berücksichtigung konkret-historischer Geisteslagen" bzw. über die „kulturtheoretische Analyse der Schulartikel der Reichsverfassung von 1919" Modelle für derartige Analysen gegeben.

In all seinen Untersuchungen stärkte sich die „Überzeugung, daß die Struktur der Gegenwart nur aus dem historischen Werdegang und seinen politischen wie pädagogischen Struktur-wandlungen ganz zu verstehen ist. Diese Geschichte erzeugt eine Schichtung. Nichts Früheres ist ganz verschwunden, sondern alles lebt irgendwie fort, ist in diesem Sinne , aufgehoben , bleibt also . Moment’ der Gegenwart und wird doch eben so notwendig von Neuem überbaut."

Die Einsichten Sprangers führen tief in den Strukturzusammenhang von Erziehungswesen, Erziehungswissenschaft und Kulturganzem. Sie öffnen den Blick für Aufgaben zukünftiger Forschung, machen deutlich, daß sich mit dem Werden eines neuen Kulturzustandes auch neue pädagogische Perspektiven ergeben und eine gewandelte kulturelle und politische Situation auch eine neue pädagogische Antwort fordert; diese Antwort bleibt der verbindlichen Überlieferung ebenso verpflichtet wie der sich abzeichnenden Zukunft verantwortlich. Solche Analysen der pädagogischen Situation im Rahmen der übergreifenden Kultur müssen von der Sachlichkeit der wissenschaftlichen Forschung und von dem Verantwortungsbewußtsein vor dem Werthorizont der Kultur getragen sein. Nur wenn Kultur und Erziehungswissenschaft von einem wachen und weitprüfenden Kulturgewissen getragen bleiben, vermögen wir dem „bleibenden Sinn-gehalt unserer Geschichte" zu entsprechen: „Die sittliche Freiheit des Menschen darf nicht untergehen. Sie soll wachsen, auch wenn die Krisen immer schwerer und die Verantwortungen immer umfassender werden."

Fussnoten

Fußnoten

  1. E. Spranger in seinem Dankschreiben an die Gratulanten zu seinem 80. Geburtstag im Sommer 1962 E. Spranger geb. 27 6. 1882 in Großlichterfelde bei Berlin, 1909 Privatdozenl an der Universität Berlin, 1911 Ruf als Professor der Philosophie und Pädagogik an die Universität Leipzig, 1920 Berufung an die Universität Berlin, 1944 Haft im Zusammenhang mit dem 20. Juli, 1945 Rektor der Universität Berlin, 1946 Ruf an die Universität Tübingen. Gestorben 17. 9. 1963 in Tübingen.

  2. ebd.

  3. Spranger, E.: Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze Leipzig 1919

  4. Spranger, E.: Kulturfragen der Gegenwart. Heidelberg 1953

  5. Spranger, E.: Pädagogische Perspektiven. Beiträge zu Erziehungsfragen der Gegenwart. 3. Ausl., Heidelberg 1955.

  6. ebd.

  7. Spranger, E.: Das deutsche Bildungsideal in der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Bedeutung. Leipzig 1929, 2. Aufi., S. 6.

  8. Festrede zur 2. Jahresfeier der deutschen Bundesrepublik (1951). In: Kulturfragen der Gegenwart, a. a. O., S. 131/132.

  9. Spranger, E.: Psychologie des Jugendalters. 19. Ausl Heidelberg 1949, S. 321.

  10. ebd S 322.

  11. Spranger, E.: Das deutsche Bildungsideal in der in der Gegenwart . . a. a O., S. 7.

  12. ebd.

  13. Spranger, E.: Gedenkrede zur 150-Jahrfeier der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Tübingen 1960, S. 22/23.

  14. ebd.

  15. Spranger, E.: Gedenkrede ... a. a. O., S. 20.

  16. Bibliographie Eduard Spranger. Bearbeitet von Theodor Neu. Tübingen 1958.

  17. Wilhelm v. Humboldt: über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: W. v. Humboldt: Schriften zur Anthropologie und Bildungslehre. Hsg. von A. Flitner. Düsseldorf -München 1956. S. 84.

  18. Brief W. v. Humbolts an Goethe im April 1798. 19) W. v. Humboldts Rede bei der Aufnahme in die Akademie. Mitgeteilt in: Harnack, A.: Geschichte der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 2. Bd. Berlin 1900. S. 342.

  19. Spranger, E.: Gedenkrede zur 150-Jahrfeier ... a. a. O., S. 15.

  20. ebd. S. 11.

  21. ebd. S. 20

  22. Spranger, Eu Der Universitätslehrer als Erzieher. Jn; Weltweite Erziehung Festgabe f. Friedrich Schneider, hsg. von W. Brezinka, Freiburg 1961, S 85 25) ebd S 90.

  23. Spranger, E.: Die Einheit der Wissenschaft, ein Problem. In: Archiv f Rechts-und Sozialphilosophie, Bd 40, 1952/53, S. 21

  24. Spranger, E.: Fünf Jugendgenerationen. 1900 bis 1945. In: Pädagogische Perspektiven, a. a. O., S. 26/27.

  25. Dankworte E. Sprangers anläßlich der Verleihung des Pestalozzi-Preises. Pressemitteilungen der 7. Didacta, Juni 1963.

  26. Spranger, E.: Das Leben bildet: In: Pädagogische Wahrheiten und Halbwahrheiten. Festgabe für Wilhelm Flitner zum 70. Geburtstag. Heidelberg 1959, S. 124.

  27. Spranger, E.: Der Universitätslehrer als Erzieher. .. a. a. O., S. 94.

  28. ebd S 85.

  29. Spranger, E.: Psychologie des Jugendalters, a a O., S. 329.

  30. Zum Generationsproblem vgl. Roeßler, W,: Jugend im Erziehungsfeld. Düsseldorf 1962, 2. Ausl., S. 105 ff.

  31. Spranger. E.: Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls In: Kulturfragen der Gegenwart Heidelberg 1953, S 32.

  32. ebd S 34

  33. Sprenger. E.: Ist der moderne Kulturprozeß noch lenkbar? In-Kulturfragen a a O., S 64

  34. Spranger, E.: Das Leben bildet. A. a. O., S. 84

  35. Spranger, E.: Die Einheit der Wissenschaften. .., a a O., S. 17, Anmerkung Vgl Wenke, H.: Die Erziehungswirklichkeit Kultur, Humanität, Erziehung Grundmotive der Gedankenwelt E Sprangers. In: Universitas. 17 Jg. 1962, S. 567 ff.

  36. Spranger, E.: Ist der moderne ..., a. a. O., S. 40.

  37. ebd. S. 41.

  38. Roeßler, W.: Erziehungswissenschaft u. Kultur. In: Bildung u. Erziehung, 15. Jg. 1962, S. 336 ff.

  39. Flitner, W.: Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländischer Lebensformen. Stuttgart 1961, S. 515.

  40. ebd. S. 518.

  41. Spranger, E.: Das Leben bildet. In: Pädagogische Wahrheiten und Halbwahrheiten, a. a. O., S. 89.

  42. ebd. S. 109.

  43. ebd. S. 109.

  44. ebd. S. 109

  45. Spranger, E.: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik, Bad Heilbrunn/Obb. 1963, S. 65.

  46. ebd. S. 66.

  47. Spranger, E.: Ernst Troeltsch über Pädagogik als Unterrichtsfach. In: Erkenntnis und Verantwortung. Festschrift für Theodor Litt. Hsg. von Josef Derbolav u. Friedhelm Nicolin. Düsseldorf 1960, S. 460.

  48. ebd. S. 461/462.

  49. ebd. S. 458.

  50. Spranger, E.: Die wissenschaftlichen Grundlagen ..., a. a. O. S. 25.

  51. Spranger, E.: Die Geburt des geschichtsphilosophischen Denkens aus Kulturkrisen. In: Schweizer Monatshefte, 34 Jg. 1954/55, S. 27.

Weitere Inhalte

Wilhelm Roeßler, Dr. phil., geb. 19. Dezember 1910. Bis 1956 im Schuldienst, seit 1957 Oberstudienrat am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn, gleichzeitig Lehrbeauftragter, seit 1962 Privatdozent an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Jugend im Erziehungsfeld. Haltung und Verhalten der deutschen Jugend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der westdeutschen Jugend der Gegenwart. Düsseldorf 1962, 2. Ausl.; Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland. Stuttgart 1961.