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Technologische Wissenschaften und Ideologie in der Sowjetunion | APuZ 43/1963 | bpb.de

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APuZ 43/1963 Technologische Wissenschaften und Ideologie in der Sowjetunion Artikel 1

Technologische Wissenschaften und Ideologie in der Sowjetunion

Stalins Tod löst Druck von unten aus Die Grundstruktur des leninistischen Systems der Regierung und Kontrolle blieb während der ersten sieben Jahre nach Stalins Tod unverändert. Sie war noch in dem Sinne die einer totalen Diktatur, daß alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens grundsätzlich unter der diktatorischen Kontrolle der Kommunistischen Partei standen. Die Partei war noch unfehlbar dem Prinzip nach, und ihre Macht war „in keiner Weise begrenzt". Die einzige Neuerung, die Stalin eingeführt hatte, nämlich das Recht des Diktators, Mitglieder der Führungsgruppe hinzurichten, war aufgegeben worden. Insofern konnte die nachstalinsche Führerschaft mit Recht behaupten, daß sie das System Lenins wiederhergestellt habe. Andererseits veränderten sich in den ersten Jahren nach dem Tode Stalins aber auch die dominanten Einstellungen des Regimes. Die marxistisch-leninistische Theorie und die kommunistische Praxis waren zu allen Zeiten eine Mischung widersprüchlicher Haltungen und emotionaler Neigungen. Der Eifer wilden Klassenkampfes, bis zum globalen Sieg des Kommunismus unvermeidlich, ist verbunden mit Intoleranz, mit weißglühendem Haß gegen innere und äußere Feinde und mit der Billigung sehr harter und sogar grausamer despotischer Methoden. Auf dieser Seite des kommunistischen Komplexes ist in dem großen Kampf, der für den Frieden, den Wohlstand und das Glück kommender Generationen geführt wird, alles erlaubt. Im Interesse der Zukunft der Menschheit sind diese grimmigen Utopisten vollkommen gefühllos gegenüber dem Elend gegenwärtiger Generationen, einschließlich des Sowjetvolkes. Auf diesem Gipfel der dogmatischen Strenge herrschte allein die Leidenschaft der Politstrategie und ihrer Weigerung, eine objektive Wirklichkeit, die unabhängig von Revolution und Klassenkampf ist, anzuerkennen. Bürgerliche „Objektivisten" und „Sachgläubige" wurden verdammt und verfolgt. Die „bürgerliche Wissenschaft und Technologie" ausländischer Klassen-feinde wurde mit Mißtrauen betrachtet und verspottet.

Die andere Seite des kommunistischen Komplexes ist durch utopistisch-optimistisches, durch humanitäres Weltverbesserungsstreben charakterisiert. Der dogmatischen Strenge steht praktische Anpassungsfähigkeit gegenüber, der Leidenschaft für Strategie die Lust an taktischen Manövern. Auf diesem Gipfel des Gesamtkomplexes mahnt der Massenmörder Stalin, daß „nichts höheren Wert hat als das menschliche Wesen". Daher müssen die Techniker der menschlichen Gesellschaft auch tolerant zu sein verstehen, wenn dies günstige Ergebnisse verspricht.

Stalins Tod und das Vorgehen gegen die Sicherheitspolizei sowie gegen den bürokratischen Despotismus insgesamt hatten zur natürlichen Folge, daß die mehr positiven, toleranten, praktischen Aspekte des kommunistischen geistigen und gefühlsmäßigen Klimas das Übergewicht erhielten. Der Druck von unten und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik trugen dazu bei.

Jetzt, da die totale Unterwerfung unter den bürokratischen Despotismus nicht mehr unter Todesdrohung erzwungen wurde, entwickelte sich der Druck von unten in voller Breite. Der politisch engagierten Sowjetbevölkerung war in der Stalin-Ära politische Schlauheit beigebracht worden. Während der ersten fünf Jahre nach Stalins Tod entwickelte jede Schicht der Sowjetgesellschaft die Kunst, sich bis zur äußerst möglichen Grenze dem Despotismus im allgemeinen und dem ihnen unmittelbar gegenüberstehenden Despoten, Direktor oder Parteiboß im besonderen, zu widersetzen.

Diese Kunst der „latenten Zivilcourage" bestand darin, sich bis zur äußersten Grenze der Gefahr, zum Schweigen gebracht, entlassen, als Antimarxist verrufen zu werden, vorzuwagen.

Wo diese Kunst mit Verstand angewandt wurde, erzielte sie auch Ergebnisse. Den Schriftstellern kann nicht vorgeworfen werden, daß sie zu oft diese Grenze überschritten, worauf sie dann durch „Frostperioden" bestraft wurden, denn sie waren die Mundstücke der allgemeinen Stimmung. Es blieb ihnen gar nichts übrig, als zu übertreiben. Aber in der Industrie, der Wirtschaft und vor allen Din-gen in Wissenschaft und Technik war es viel einfacher, sich der Zivilcourage zu verschreiben.

Naturwissenschaftler fordern Freiheit des Experiments In Wissenschaft und Technik begann nun die Grenze, an der man mit dem Zorn der Partei zusammenzustoßen fürchten mußte, zurückzuweichen. In allen Zweigen der Wissenschaft und Technik übten die Menschen einen stummen Druck aus, und die Funktionäre bemerkten oft nicht einmal, daß die Grenze des Unzulässigen wieder um einen Schritt oder zwei zurückgedrängt worden war.

In Genetik und theoretischer Physik, Anthropologie und Chemie beanspruchten die Wissenschaftler überall das Recht zu irren, das Recht auf das Experiment in allen Richtungen. Sie waren klug genug zu erklären, daß, wenn eine bestimmte Art wissenschaftlicher Forschung dem Marxismus zu widersprechen schien, es doch nicht nötig sei, sie zu verbieten. Wenn diese verdächtige Methode zu Resultaten führen sollte, so würde dies nur zeigen, daß die marxistischen Thesen in diesem besonderen Fall falsch ausgelegt worden seien. Sollte aber die Methode versagen, so werde der ursprüngliche Standpunkt als berechtigt erwiesen sein. Sie zitierten die jüngsten Beispiele mit den „Varitrons" und den Fehlern Marrs in der Sprachwissenschaft, um alle, die es anging, daran zu erinnern, daß selbst einige gute Kommunisten und auch die wissenschaftlichen Berater der Partei gelegentlich Irrtümern verfallen können. Sie konnten sich auf Stalins Autorität berufen, was in jenen frühen Tagen noch eine bedeutsame Sache war, wenn sie die Funktionäre warnten, nicht etwa ähnliche Irrtümer zu riskieren. Das unmittelbare Ergebnis war, daß auf vielen Gebieten gewisse suspekte Grundsätze Und Theorien in der sowjetischen wissenschaftlichen Forschung angewandt werden konnten, ohne daß man sich um ihre „irrtümlichen philosophischen Implikationen" kümmerte. Zum Beispiel war in dieses Zeit Heisenbergs Indeterminanzprinzip noch verböten, aber es konnte in der Praxis angewandt werden. Die gleiche Situation bestand im Hinblick auf Einstein und die Relativitätstheorie, aut die symbolische Logik, die Quantenmechanik, Kybernetik und viele andere Theorien und ganze Wissenschaftszweige, die verboten waren. Diese latente Zivilcourage wurde stark gefördert durch den Sturz von Lyssenko, der seit 1948 der Diktator der Agrarwissenschaft gewesen war. Im Frühjahr 1954 tadelten die Prawda und Chruschtschow selbst Lyssenko als einen akademischen Intriganten. Das theoretische Parteiorgan „Kommunist" (früher „Bolschewik") attackierte Lyssenko als einen „Monopolisten der Wissenschaft" und verlangte, daß seine Theorien einem freien Meinungsaustausch unterworfen werden sollten.

Alsbald war Lyssenko zum Sündenbock der sowjetischen Mißernten geworden. Die Genetik, wie sie überall in der Welt praktiziert wurde, und die Mendelsche Vererbungstheorie wurden jetzt in der Sowjetunion und ihren europäischen Satelliten wieder zugelassen. Das war eine weitere Wunde, die dem Grundsatz der Unfehlbarkeit der Partei geschlagen wurde, zumindest auf dem Gebiet der Wissenschaft.

Sowjetführung lockert die Zügel Der „freie Meinungsaustausch über wissenschaftliche Fragen" war etwas gänzlich Neues in der Parteipraxis. Es stellte sich heraus, daß er nicht unterschiedslos anwendbar war, ohne vorherige Erlaubnis oder mindestens eine zustimmende Geste des Hauptquartiers der Partei. Doch die Stimmung im Kreml war offensichtlich in einer Wandlung begriffen. Im Sommer 1954 schrieb einer der bedeutendsten russischen Wissenschaftler, Akademiemitglied Soboljew, in einem Artikel in der Prawda: „Es ist nicht wichtig, daß wir feststellen, was den festgelegten Dogmen entspricht oder widerspricht, sondern wir müssen die Ideen und Theorien in der Praxis prüfen und mutig eine Theorie entwickeln, die auf wissenschaftlichen Ableitungen und auf den Errungenschaften der Praxis beruht." Sowohl die allgemeine wie die Fachpresse der Sowjetunion vermittelten 1954 und Anfang 1955 den Eindruck, daß ein Tauziehen zwischen den Dogmatikern und Antidogmatikern in der Wissenschaft stattfand. Wir wissen heute, daß die Kremlführer, was die Naturwissenschaften betraf, an der Seite der Antidogmatiker standen. Der Kreml verlangte Ergebnisse. Und das Lager dei Antidogmatiker lieferte Ergebnisse. Obwohl 1953 und 1954 die Logistik und die Kybernetik noch geächtet waren, leisteten die Kybernetiker mit ihren riesigen Elektronen-hirnen und Logik-Maschinen in enormem Umfang Berechnungen und Forschungsarbeit, die für die Entwicklung von Atom-und Wasserstoffbomben und für die Arbeit an den interkontinentalen Raketen notwendig waren. Manche westliche Beobachter wollten damals den sowjetischen Behauptungen über die Ergebnisse der russischen Elektronentechnik, über die großzügige Anwendung von Transistoren anstelle von Vakuumröhren und über die neuen, schnell arbeitenden Elektronenhirne in Sowjetrußland nicht glauben. Die Ereignisse der folgenden Jahre zeigten aber, daß diese Behauptungen durchaus keine Übertreibungen waren. Aber die Kremlführer waren sich dieser großen Errungenschaften bewußt und waren entschlossen, diese lebenswichtigen Zweige von Wissenschaft und Technik gegen dogmatische Wissenschaftsfunktionäre zu schützen. Intensive Arbeit an der Weltraumtechnologie war jetzt kein Geheimnis mehr. Im April 1955 verkündete die Sowjetregierung ihren Entschluß, künstliche Satelliten aufsteigen zu lassen.

Die hervorragenden Fachleute in diesen Wissenschaltszweigen, die an der neuen Entwicklung beteiligt waren, verlangten nun noch mehr Experimentierfreiheit, dazu umfassendere finanzielle und sonstige Hilfsmittel. Gewisse „kleine praktische Schritte", die ihnen bei ihrer Arbeit helfen konnten, fanden nun nicht einmal mehr bei den Dogmatisten Widerspruch. Ein solcher Schritt war zum Beispiel die Forderung der Sowjetforscher, die Informationen über die wissenschaftlichen Arbeiten des Auslandes in größerem Umfang und schneller zu bekommen. Im Zentralinstitut für wissenschaftliche und technische Grundlagenforschung arbeiteten zahlreiche Wissenschaftler mit Tausenden von Spezialübersetzern und Partei-zensoren gemeinsam an der Übersetzung, Zusammenfassung, Überprüfung und „Auswertung" der täglichen Lawine wissenschaftlicher Publikationen aus aller Welt.

Die Sowjetwissenschaftler begannen eine Reorganisation dieser Informationszentrale zu fordern. Ihr erstes Verlangen war, daß alle diejenigen Wissenschaftler, die fremde Sprachen verstehen (was bei den meisten der Fall ist), die Originalveröffentlichungen oder deren Fotokopien erhalten sollten. Sie forderten weiter, daß die Kategorie der Personen, die zum Empfang von Informationen über die Fortschritte der ausländischen Wissenschaft berechtigt waren, erheblich erweitert werde. Die Kremlführer erhielten vertrauliche Berichte über eine enorme Verschwendung finanzieller und sonstiger Mittel und von Forschungsarbeiten, die einfach darauf beruhte, daß irgendein Wissenschaftler nicht wußte, daß ein besonderes Problem, dem er sich widmete, im Ausland bereits erfolgreich gelöst war.

Die Parteiführung beauftragte nun die Akademie, allen diesen Forderungen Rechnung zu tragen. Also schrieb die Prawda, daß die wissenschaftlichen und technologischen Auszüge, die das Journal des Zentralinstitutes veröffentlichte, so lebensfremd seien, als sollten sie eher als historische Dokumentation denn als praktische Hilfsmittel dienen. Einige Forschungsinstitute hatten viel Zeit und Mittel für Forschungen und für die Entwicklung von Maschinen aufgewandt, deren Einzelheiten bereits in der ausländischen Presse beschrieben waren und die dort schon längst im Gebrauch standen Derselbe Artikel sprach aus, daß manche Bürokraten, indem sie die ausländischen Methoden der Forschung verspotten, in Wirklichkeit den sozialistischen Aufbau sabotieren. Aber Hauptgrund für die ungenügende Einführung neuer Technologie in die nationale Wirtschaft sind ... „Prahlerei und Selbstgefälligkeit vieler führender Parteifunktionäre"

Hand in Hand mit dem Kampf gegen die veraltete Ausrüstung der Industrie gingen Angriffe gegen veraltete Verhaltensweisen. Dabei wurde jetzt insbesondere die Gewohnheit aufs Korn genommen, die Errungenschaften des Westens einfach zu ignorieren.

Das Informationsinstitut der Akademie war eher in einer solchen Weise zu modernisieren, daß es die Forschung zu unterstützen vermochte.

Rehabilitierung verbotener wissenschaftlicher Disziplinen

Diese kleine praktische Hilfe, die der sowjetischen Forschung gegeben wurde, hatte verständlicherweise sehr bedeutende Konsequenzen. Viele Tausende von Wissenschaftlern und Absolventen der Hochschulen erhielten zum ersten Mal in ihrem Leben Zugang zu ausländischen wissenschaftlichen Publikationen. Die entstellenden Berichte über die „bürgerliche Wissenschaft" waren widerlegt. Die führenden Wissenschaftler indessen waren selbst durch diese kleinen Zugeständnisse noch nicht befriedigt. Sie setzten sich jetzt für eine allgemeine Aufhebung des amtlichen Banns ein, der über solche verbotenen Disziplinen wie Logistik, Quantenmechanik, Relativitätstheorie, mathematische Statistik und Pedologie verhängt worden war. Ihre Bemühungen waren nun erfolgreich. Seit 1955 erlebte man bald in jedem Monat die Rehabilitierung einiger Wissenschaftssparten.

Die erste spektakuläre Rehabilitierung war die von Albert Einstein, einem der obersten Teufel der sowjetischen wissenschaftlichen Dämonologie. In ihrer Ausgabe vom 20. April 1955 rehabilitierte die „Prawda" Einstein aus Anlaß seines Todes. Ein Nachruf, der von einer Gruppe prominenter Gelehrter unterzeichnet war, anerkannte Einsteins gewaltige Erkenntnisse Jahrzehntelang war seine Relativitätstheorie als ein „Hinterhaus" der zeitgenössischen Physik bezeichnet und Einstein als ein idealistischer Schwätzer beschimpft worden. In seiner auf den Tod Einsteins folgenden Ausgabe verkündete der „Kommunist", daß die Sowjetwissenschaft alles, was an den Errungenschaften der kapitalistischen Wissenschaft wertvoll ist, nicht abgelehnt, sondern kritisch assimiliert habe. Die Zeitschrift verurteilte im Namen der Partei das Vorurteil „einiger sowjetischer Wissenschaftler", die der Meinung seien, die kapitalistische Wissenschaft sei unfähig, etwas Wertvolles hervorzubringen. Sowjetische theoretische Zeitschriften zeigten an, welch großen Schock diese Rehabilitierung und diese neue Parteilinie bedeuteten. Viele Wissenschaftsfunktionäre waren nun gezwungen, Selbstkritik zu üben Ganz selbstverständlich wurde dadurch ihre Befugnis geschmälert, sich weiterhin für die Herrschaft der marxistischen Ideologie in der Forschung einzusetzen. Andere dogmatische Wissenschaftsfunktionäre, deren besonderes Arbeitsgebiet noch nicht einer neuen Beurteilung unterworfen worden war, suchten sich verzweifelt zu verschanzen und Rückzugsgefechte vorzubereiten Eiligst machten sie weitere antimarxistische Abweichungen in der Arbeit ihrer Gegner sichtbar. Das Tauziehen ging weiter Aber die Mehrheit der Sowjetwissenschaftler machte bedeutende Fortschritte an der breiten Front ihrer mehr oder weniger geschickten Manöver mit ihrer latenden Zivilcourage.

Dies war die Periode des literarischen „Tauwetters" und der Entspannung in den Angelegenheiten der Außenpolitik. Am 15. Mai 1955 wurde der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet, obwohl die Sowjets jahrelang darauf bestanden hatten, der österreichische Vertrag müsse zugleich mit einem deutschen Friedensvertrag abgeschlossen werden. Zwei Monate später fuhren Chruschtschow und Bulganin nach Genf zur Gipfelkonferenz. Das war die Zeit des „Geistes von Genf".

Die Nummer des „Kommunist" vom 8. Oktober 1955 unterstrich in einer Kritik der Irrtümer Molotows „den theoretischen Bankrott und die politische Schädlichkeit der Bemühungen, in die gegenwärtige Periode Formeln und Definitionen zu übernehmen, die einem längst vergangenen Stadium angehören". Die Grundlage war gelegt für den Prozeß der Historisierung, also für die Praxis, gewisse marxistisch-leninistische Lehren als anwendbar nur auf vergangene Situationen, für die Gegenwart aber als nicht mehr gültig zu erklären.

Widerstände gegen die kybernetische „Pseudowissenschaft"

Dogmatische Parteifunktionäre und sogar nicht allzu dogmatische Theoretiker des Marxismus-Leninismus taten indessen, was sie konnten, um die volle Rehabilitierung der Kybernetik zu verhindern. Sie konnten sich nicht der Verwendung elektronischer Rechenmaschinen und anderer Elektronenhirne widersetzen, aber sie kämpften verzweifelt gegen die Popularisierung und Verallgemeinerung solcher kybernetischen Grundprinzipien, wie es die außerordentliche Wichtigkeit der Rückmeldung (feedback, Rückkopplung), der Hin-und Rückinformation und der Eigenkontrolle durch die Resultate der eingeleiteten Aktionen ist. Sie stellten völlig richtig fest, daß die gesamte kybernetische Methodik im direkten Gegensatz zu Theorie und Praxis unbegrenzter Diktatur steht, somit zu dem gegenwärtigen Prinzip und zur Methode der Parteikontrolle und außerdem zu vielen Lehren des dialektischen Materialismus. Im Jahre 1953, unmittelbar nach Stalins Tod, war dies die Parteilinie: „Die Kybernetik ist eine der Pseudowissenschaften, die der zeitgenössische Imperialismus hervorgebracht hat und die dazu bestimmt ist, noch früher unter-zugehen als der Imperialismus selbst."

Die Pseudowissenschaft der kybernetischen Technik die Idee von „leitenden und kontrollierenden Maschinen", wurde lächerlich gemacht und als Symptom des sterbenden Kapitalismus attackiert. Das Elektronenhirn wurde mit dem Frankenstein-Ungeheuer verglichen. Sowjetische Mathematiker, die nicht heftig genug in ihrem Tadel der „Theorie der Spiele" und des automatischen Fabrikdirektors* und anderer „bürgerlicher Phantastereien“ auftraten, wurden hart zurechtgewiesen. Einer der intellektuellen Vorkämpfer der Partei, Akademiemitglied E. A. Arab-Ogly, erklärte: „Wenn Ashby oder Latil behaupten, daß die mythische . Regierungsmaschine'imstande sein werde, alle sozialen Probleme des gegenwärtigen Kapitalismus zu lösen, so machen sie sich einer elementaren Gedankenverwirrung schuldig. Ein solcher Gedanke ist nichts als die Illusion eines Pharisäers, der die naive Meinung hat, daß Krisen, Arbeitslosigkeit, hohe Preise und Steuern ... aus der Unfähigkeit von Regierungen oder der Korruption von Beamten hervorgehen."

Mehr noch als ein Jahr nach Stalins Tod, nämlich 1954, denunzierten amtliche Publikationen wie das Filosoficeskij Slovar (Philosophisches Wörterbuch) den antimarxistischen und rückschrittlichen Charakter der Kybernetik. Sie war immer noch eine schädliche und reichlich lächerliche Pseudowissenschaft. Dies war die Periode des heftigen Kampfes zwischen Chruschtschow und Malenkow, zwischen den „Verbokraten" und den „Technokraten" in der Parteiführung, die mit Malenkows Niederlage endete.

Viele Mitglieder des zweitausend Mann starken Generalstabs der Partei waren durch Stalins Dressur „Apparatschik-Experten" geworden. Malenkow, Bulganin, Perwuchin, Saburow und viele andere Führer waren ausgebildete Ingenieure. Einige andere hatten Diplome der Nationalökonomie oder der Naturwissenschaften erworben. Viele Parteimanager waren von dem Expertentum während der Jahrzehnte angesteckt worden, in denen sie irgendeinen Sektor der Wirtschaft oder Industrie managten. Ihnen standen die „Verbokraten" gegenüber, geführt von Chruschtschow, deren Haupttätigkeiten die Agitation und Befehlsgebung waren.

Chruschtschow verstand sich stets gut auf Verbokratie. Im September 1934, als die Moskauer Untergrundbahn gebaut wurde, brach ein gefährliches Feuer in dem Abschnitt zwischen dem Swerdlow-und dem Dserschinskij-Platz aus. Chruschtschow, als zuständiger Parteisekretär, raste zum Schauplatz und hielt eine begeisternde Rede, in der er nach Freiwilligen rief. Den fünfzehn Freiwilligen, die sich meldeten, hielt er dann noch eine zweite Rede, die mit folgenden Worten schloß: „Dieses Feuer ist unser Feind. Und ihr wißt, Leute, was ihr mit einem Feind zu tun habt. Ihr packt ihn an der Kehle und drückt ihn zu Tode!" Ein Technokrat würde es vorgezogen haben, konkrete technische Anweisungen zu geben, wie das Feuer zu löschen sei. Chruschtschow stellte Malenkow schließlich im Sommer 1957 endgültig kalt Bis zu diesem Zeitpunkt stand er der Kybernetik ziemlich feindlich gegenüber. Sie roch zu sehr nach dem Stil der Technokraten von der Art Malenkows, überdies hatte er sich nicht nur mit dieser „Rechtsopposition", sondern auch mit den „Linksdogmatikern" auseinanderzusetzen, die von Molotow und Kaganowitsch geführt waren. Diese mißbilligten seine Flexibilität beim Verzicht auf die marxistischleninistischen Lehren, seine Bemühungen, Tito zu rehabilitieren und verschiedene ähnliche Maßnahmen. Wozu brauchte man aber die Kybernetik zu rehabilitieren, wenn die Computer und Elektronenhirne ohnehin exzellente Resultate lieferten? Die „Philosophie der Kybernetik“ — bei den Marxisten hat jede Disziplin, jeder Wissenschaftszweig eine „Philosophie" — bleibt gefährlich für die Herrschaft der Partei.

Die Kybernetik beginnt sich durchzusetzen

So wogte der Streit für und gegen die Anerkennung dieses neuen Wissensgebietes hin und her. Die kybernetische Partei hatte viele mächtige Mitglieder. Während der Stalinschen Jahrzehnte und nach seinem Tod waren Pawlows Entdeckungen, seine Arbeiten über die bedingten Reflexe als die glänzendsten Ergebnisse der sowjetischen Wissenschaft angesehen worden. Die ganze sowjetische Medizin galt als „Pawlowsche Medizin", die Physiologie als „Pawlowsche Physiologie" Nun standen aber viele Gedanken, Theorien und Methoden der Pawlowschen Schule keineswegs im Gegensatz zu denen der Meß-und Regel-technik und Kybernetik. Akademiemitglied P. K. Anochin, der berühmte Schüler Pawlows, war der führende Physiologe der Sowjetunion. Und er stand mit ganzem Herzen auf der Seite der Anhänger der Kybernetik.

Das Jahr 1956 fing für die Kybernetiker gut an. Im Januar erhielten die „grundsätzlichen Gegner" der Kybernetik ihren ersten schweren Schlag. Die Sowjetregierung verkündete die Errichtung eines Ministeriums für die Automation. Aus der Ankündigung und aus den Mitteilungen über die grundsätzliche Organisation dieses Ministeriums ging klar hervor, daß die Sowjetregierung die Anwendung dieser Bezeichnung, wie sie in der westlichen Wissenschaft üblich ist, billigte. Automation schloß ein, nein, betonte vielmehr auch die Automation der obersten Kontrolle durch vollen Gebrauch logischer Leitungs-und Kontrollmaschinen. Im nächsten Monat fand der berühmte XX.

Kommunistische Parteitag statt, auf dem Chruschtschow in einer Geheimsitzung sein erstaunlich heftiges Anti-Stalin-Traktat vorlegte. Der gewaltige Schock darüber, daß Stalin als ein Massenmörder und als ein Pfuscher enthüllt wurde, der verfehlte pseudomarxistische Theorien durchgesetzt hatte, lenkte die Aufmerksamkeit der Welt von der anschließend öffentlich verkündeten Direktive des XX. Parteitags ab: Die Automation von Maschinen und Produktionsarbeiten muß ausgedehnt werden auf die Automation der Fabrikabteilungen und der technologischen Prozesse und auf die Konstruktion vollautomatischer Anlagen.

Anstatt noch früher unterzugehen als der Imperialismus selbst, schien die Kybernetik nun eine bedeutende Rolle beim Einholen der kapitalistischen Welt spielen zu sollen. Während er die schlimmsten Aspekte der terroristischen Diktatur als „Personenkult" bezeichnete, kündigte Chruschtschow in seinem bedeutsamen Bericht an den XX. Parteitag die Notwendigkeit einer allgemeinen Neubewertung des Marxismus-Leninismus an: „In diesem Zusammenhang werden wir genötigt sein, unsere Anstrengungen zu verstärken, um vom marxistisch-leninistischen Standpunkt aus die weit verbreiteten fehlerhaften Gesichtspunkte zu überprüfen und zu korrigieren, die mit dem Personenkult in den Sphären der Geschichte, der Philosophie, der Nationalökonomie und anderer Wissenschaften, in der Literatur und in den schönen Künsten verknüpft sind. Besonders notwendig ist es, daß wir in der nächsten Zukunft ein seriöses Lehrbuch der Geschichte unserer Partei zusammenstellen, das mit wissenschaftlicher, marxistischer Objektivität redigiert ist.. Chruschtschow, Mikojan und viele andere Parteiführer erklärten auf diesem Parteitag, daß das berühmte Lehrbuch des Kommunismus, Stalins „Kurze Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion", voll von Lügen, Entstellungen und theoretischen Irrtümern sei und daher aus dem Verkehr gezogen werden müsse. Diese stalinistische Bibel der Partei-erziehung war in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt worden. Sie war überall auf der Welt der Katechismus der Kommunisten. Ihre Zusammenfassung des historischen und dialektischen Materialismus mußte von allen Parteimitgliedern studiert werden. Der neue Beschluß bedeutete, daß ihre allgemeinen wissenschaftlichen Lehren kritisch überprüft werden sollten.

Internationale Anerkennung der Sowjetwissenschaft

Das antidogmatische Lager wurde durch diese Entwicklung enorm gestärkt. Die meisten Wissenschaftsfunktionäre der Partei zitterten vor Angst, als stalinistische Kleinkalibertyrannen enthüllt zu werden. Gleichzeitig war das Prestige der Wissenschaft und ihrer Vertreter in schnellem Wachstum begriffen. 1956 wurde zum erstenmal der Nobelpreis einem sowjetischen Wissenschaftler zuerkannt, und zwar dem Akademiemitglied N. N. Semjonow für seine Arbeit über die Chemie der Kettenreaktion. Diejenigen im Westen, die die Sowjetwissenschaft verspotteten, erfuhren zu ihrer Überraschung, daß die Forschungen, für die Professor Semjonow den Preis erhielt, in den beiden Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt worden waren. In Moskau wurde dies als die internationale Anerkennung der sowjetischen Wissenschaft betrachtet. Es gab ganze Scharen anderer sowjetischer Wissenschaftler von ebenso großem internationalem Ruf wie Pjotr Kapitza, Igor Kurschatow, Lew Landau, Jakow Frenkel, Igor Tamm, P. K. Anochin und viele andere. Sie und ihre Kollegen leiteten wissenschaftliche Untersuchungen, die für die Sowjetunion von vitaler Notwendigkeit waren, wenn diese nicht in dem großen wissenschaftlichen, militärischen und industriellen Wettstreit mit den Vereinigten Staaten ins Hintertreffen kommen wollte. Außer H-Bomben, interkontinentalen Raketen und Weltraumsatelliten errichteten die sowjetischen Wissenschaftler eine riesenhafte Atomenergieproduktion. Um die Starkstrom-Kernforschung zu unterstützen, baute die UdSSR den größten „Atomzertrümmerer" der Welt. Dieses neue Zyklotron diente ausschließlich der Forschung. Die Zahl der elektronischen Schnellrechner wuchs ebenfalls. Diese und die logischen Maschinen bewährten sich in ihrer erfolgreichen Arbeit bei der Konstruktion der A-und H-Bomben und der Langstreckenraketen Das Ministerium für Automation forderte die Vervollkommnung von zentralen Leitungs-und Kontrollautomaten. Doch viele führende Parteifunktionäre und Mitglieder desMarx-EngelsLenin-Instituts widersetzten sich noch immer der Rehabilitierung dieser Maschinen. Auch auf anderen Gebieten machte die Lockerung der politischen Überwachung der Wissenschaft und die Beseitigung verschiedener marxistischer Lehren, die der Forschung im Wege standen, zu langsame Fortschritte.

Revolte in der Akademie der Wissenschaften

Der Herbst 1956 brachte für die Offensive der Antidogmatiker keine besonders gute Zeit. Die Posener Revolte, die unblutige polnische und blutige ungarische Revolution stärkten das dogmatische Lager, dessen Anhänger ständig vor zu weit gehenden Erleichterungen gewarnt hatten. Doch bald nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution eröffneten die sowjetischen Mathematiker und Physiker ihrerseits eine Revolte gegen die politische Überwachung der Wissenschaft. Igor E. Tamm, einer der führenden Kernphysiker — er erhielt den Nobelpreis im Jahre 1958 —, attakkierte die Parteikontrolle auf einer öffentlichen Sitzung der Mathematisch-Physikalischen Fakultät der Akademie der Wissenschaften. Professor Tamm wandte sich gegen die rein zeremoniellen Funktionen der Hauptversammlungen dieser Akademie. Nach den Akademie-satzungen sollte über die Leitung der wissenschaftlichen Arbeit durch Mehrheitsbeschluß der Hauptversammlung entschieden werden. In Wirklichkeit war in der vergangenen und auch in der gegenwärtigen Praxis, wie Professor Tamm teststellte, der Mitgliedschaft der Akademie niemals eine Möglichkeit gewährt worden, den Jahresbericht des Sekretariats der Akademie zu diskutieren und zu kritisieren. Stets wurde einstimmig abgestimmt. Eine höhere Autorität entschied, wer die führenden Positionen der Akademie einzunehmen und worin ihre Arbeit in der folgenden Zeit zu bestehen hatte. Tamm forderte, daß von nun an alle Mitglieder der Akademie die Möglichkeit erhalten sollten, ihre Rechte auf der jährlichen Hauptversammlung wirklich auszuüben. Vielen westlichen Beobachtern wird es nicht unmittelbar verständlich sein, weshalb diese Rede als ein so außerordentlich mutiger revolutionärer Schritt aufgefaßt wurde. Sie war aber in Wirklichkeit ein Angriff auf den Kern des sowjetischen Wahlsystems und auf das Prinzip der Leitung aller Vorgänge durch die Partei. Im Sowjetsystem haben die „Wähler" die Möglichkeit, einen einzigen Kandidaten und ein einziges Programm zu „wählen". Nach den Parteistatuten und den Statuten aller anderen Organisationen, Körperschaften und Institutionen können Kandidaten gegen die Mißbilligung der nächsthöheren Parteiautorität nicht gewählt werden, überdies werden in der Praxis schon die Kandidaten durch eine höhere Parteibehörde ausgesucht. Im Falle der Akademie werden der Präsident, der Sekretär und alle anderen Beamten vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei ausgesucht und gebilligt. Professor Tamm verlangte somit mindestens für die sowjetischen Akademiemitglieder das Recht auf eine freie demokratische Stimme und freie demokratische Mehrheitsbeschlüsse über die zukünftige wissenschaftliche Akademiearbeit und damit praktisch über die gesamte wissenschaftliche Planung im ganzen Lande.

Es war im Winter 1956, unmittelbar nach der ungarischen Revolution, die unter anderem gerade für dieses demokratische Recht ausgefochten wurde. Alle Fakultäten der Akademie traten damals zusammen, um die Zeremonie der einstimmigen Wahl des Kandidaten der Partei, Professor Nesmejanow, zum Präsidenten der Akademie abzuwickeln. Alle anderen Fakultäten wählten ihn pflichtgemäß mit Einstimmigkeit, ohne ernstliche Diskussion. Professor Igor E. Tamm betonte, er habe nichts gegen Professor Nesmejanow persönlich. Aber er schlug vor, daß die Fakultät für Mathematik und Physik eine Resolution annehmen solle, durch die die Wahl des neuen Präsidenten auf den Februar 1957 vertagt werde, -dann sollte Nesmejanow, ehe er als Kandidat für die Wiederwahl auftrat, einen detaillierten Bericht über die Pläne für die Zukunft vorlegen. Dieser sollte dann diskutiert und angenommen, geändert oder abgelehnt werden, und zwar durch Mehrheitsbeschluß. Der Antrag Tamms wurde daraufhin von der Majorität der Mathematiker und Physiker der sowjetischen Akademie der Wissenschaften angenommen. Das Ergebnis war, daß Nesmejanow zwar als Präsident wiedergewählt wurde, jedoch nicht einstimmig, und daß die Versammlung den neuen Präsidenten beauftragte, der nächsten Hauptversammlung Pläne für die zukünftige Arbeit vorzulegen, die gemäß den Forderungen der Fakultät für Mathematik und Physik gebilligt werden sollten

Ein ähnlicher Versuch, wäre er in einer anderen öffentlichen Organisation, Vereinigung oder Institution unternommen worden, würde schnell und brutal von der Partei unterdrückt worden sein. Während jener Wochen und Monate war die sowjetische Presse voll von Enthüllungen der „konterrevolutionären" Forderungen der Ungarn nach freien Wahlen und demokratischen Methoden westlicher Art. Aber der Kreml konnte nichts, ja gar nichts gegen die Mathematiker und Physiker unternehmen, weil sie dringende Projekte leiteten und bearbeiteten, die für das Wachstum der sowjetischen Militär-und Wirtschaftsmacht entscheidend waren.

Die „Sibirische Gelehrtenstadt"

In wissenschaftlichen und führenden Partei-kreisen wußte man genau, daß nicht nur hervorragende Physiker und Mathematiker wie Tamm und Kapitza, sondern auch Akademiker anderer Zweige die volle Rehabilitierung der Kybernetik verlangten. Beamte des Ministeriums für die Automation, Planungsfachleute, Regeltechnik-Ingenieure, Elektronenspezialisten und andere warnten überdies den Kreml, die geplante Automationskampagne werde zu nichts führen, wenn nicht intensive Arbeit auf allen Gebieten der theoretischen und praktischen Kybernetik geleistet würde. So wurde die bürgerliche Pseudowissenschaft denn mit viel Mißvergnügen teilweise rehabilitiert. Der Prozeß begann mit einem Artikel derselben Voprosy filosofii, die jahrelang dieses bedeutungslose Abfallprodukt des „verrotteten", ja, „sterbenden Kapitalismus" lächerlich gemacht hatte. Dieses Organ der kommunistischen Philosophie diskutierte jetzt die Kybernetik als eine neue Wissenschaft, von der mit kritischem Verstand viel übernommen werden könne, und fuhr dann fort: „Jedes funktionelle System, sei es mechanischer oder organischer Art, das geschaffen oder entwickelt ist zu dem Zweck, nützliche Ergebnisse hervorzubringen, hat unvermeidlich einen zyklischen Charakter und kann nicht bestehen, wenn es nicht Rücksignale erhält, die das Maß des Nutzens betreffen, den seine Wirkungsweise hervor-bring "

Die Sowjetlegierung gab am 18. Mai 1957 die Gründung einer Gelehrtenstadt in Nowosibirsk und eines sibirischen Departements der Akademie der Wissenschaften der gesamten Union bekannt Die Aufgabe der neuen Universität war es, „wissenschaftliche Kader heranzubilden: und zwar Mathematiker, Maschinen-ingenieure, Physiker, Wirtschaftswissenschaftler und andere Spezialisten mit der Fähigkeit, die Errungenschaften von Wissenschaft und Technologie in den Produktionsprozessen einzuführen". Die vierzehn Forschungsinstitute der „Sibirischen Gelehrtenstadt" schließen ein:

1. „Das mathematische Institut mit einer Fakultät für Kybernetik; es hat die Aufgabe, neue logische Maschinen zu schaffen, die in der Lage sind, die verschiedensten Probleme vieler Wissensgebiete zu lösen." Sein Rechenzentrum begann seine Arbeit mit vier elektronischen Schnellrechnern, „die den Instituten und der Industrie zu dienen haben". (Direktor: Akademiemitglied S. L. Soboljew, ein Spezialist in der Theorie der Gleichungen.) 2. „Das Institut der Automationswissenschaft, dessen Hauptaufgabe die Automatisierung der Produktionsvorgänge ist." (Direktor: Mitglied der Ukrainischen Akademie K. B. Karandejew.) 3. „Das Institut für Wirtschaft und Organisation der Industrieproduktion; es hat die Leitung, Planung und Analyse der interproduktiven Reserven, die Wirtschaft und Organisation der Arbeitskräfte, die Statistik und Buchführung zu untersuchen." Die Zahl der zur Verfügung stehenden Elektronenrechner ist nicht bekannt (Direktor: Prof. G. A. Prudensky.)

Erster Frost löst Tauwetter in der Literatur ab

Das alles bedeutete indessen noch keinen vollen Sieg der Kybernetik. Parteipublikationen, hauptsächlich theoretische Zeitschriften, führten noch in verschiedenen Universitäten mancherlei Angriffe gegen sie, die Parteikontrollstellen verboten die Verbreitung der „allgemeinen kybernetischen Theorie". Der Kampf für die volle Rehabilitierung dieser neuen Wissenschaft war in den Vorstellungen der Parteifunktionäre mit der Revolte der Mathematiker und Physiker gegen das Prinzip und die Praxis der Parteikontrolle verknüpft. Und die Partei-führerschaft war nicht geneigt, derlei Dinge auch auf anderen Gebieten zuzulassen.

In der Literatur setzte der erste nachstalinsche Frost ein Am 19. Mai 1957 lud Chruschtschow Schriftsteller und Komponisten zu einem Be-such in sein Haus bei Moskau ein. Er bestätigte die Forderung nach voller Unterwerfung unter die Leitung der Partei. Dann ging er dazu über, „gewisse Tauwetter-Schreiber, deren Irrtümer die Partei nicht länger dulden werde", zu attackieren. Sein Ausbruch war so brutal, daß eines der Opfer, nämlich die Dichterin Margerita Aliger, einen länger anhaltenden hysterischen Anfall erlitt und dadurch eine Szene verursachte. Etwas später vollzog sie ihre Selbstkritik und versprach, dessen eingedenk zu sein, daß „jede Arbeit eines sowjetischen Schriftstellers eine politische Arbeit ist, die nur ehrenhaft ausgeführt werden kann durch unerschütterliche Treue zur Parteilinie und Gehorsam gegenüber der Parteidisziplin". Schriftsteller, Intellektuelle und Studenten wurden in dieser Periode von der Prawda wiederholt daran erinnert, daß „die kommunistische Partei der einzige Herr des Denkens war, ist und sein wird ..., der einzige Führer und Organisator des Volkes in seinem Kampfe für den Kommunismus".

Die Gewalt des „Frostes", den der Kreml eingeleitet hatte, zeigte sich am besten in Kotschetows Anti-Tauwetter-Roman „Die Brüder Jerschow", erschienen im Sommer 1958. Der Roman beschäftigt sich mit der nachstalinschen Zeit. Kotschetows Parteiheld attackiert die erste Amnestie nach Stalins Tod und sagt, daß 1953 „viele Verbrecher und verkommene Elemente" ihre Freiheit wiedererhielten. Sogar die sowjetische Jugend sei von diesen verkommenen Elementen und von der allgemeinen Tauwetteratmosphäre angesteckt worden. Jemand fragt in dem Roman, wieso junge Studenten verkommen sein könnten. Es folgt die Anwort: „Bei schlechtem Wetter setzt die Fäulnis ein, im Regen und Schlamm. Kurz gesagt: während des Tauwetters." Die widerspenstigen Intellektuellen, die nonkonformistischen Wissenschaftler, die pessimistischen Schriftsteller vergiften die Atmosphäre. „Was veranlaßt diese widerwärtigen Insekten, aus ihren Höhlen zu kriechen ...? Das Tauwetter." Chruschtschows Zentralkomitee gab seine Zustimmung zu Kotschetow und seinen Ideen kund, indem es ihn mit dem Leninorden auszeichnete und ihn zum Chefredakteur der bedeutenden literarischen Monatsschrift „Oktober" machte.

Auf dem III. Allsowjetischen Kongreß der Schriftsteller im Mai 1958 machte der Kreml dann klar, daß die Leitung der Literatur und jedes anderen Lebensgebiets bei der Partei bleiben müsse. Wer immer gegen den Willen der Partei handele, sei ein Feind. Die Nutzanwendung wurde im Falle des Dichters Boris Pasternak gezogen, dessen Roman „Dr. Schiwago" im Ausland erschien und mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Die Verfolgung, der sich Pasternak daraufhin ausgesetzt sah, wurde zur Menschenjagd. Als dies zu einem großen internationalen Skandal führte, wurde es für jedermann offenbar, daß Chruschtschow und seine Kollegen bereit sind, ein gutes Stück schwerer öffentlicher Angriffe zu riskieren, wenn es darum geht, Ungehorsam gegenüber der Parteileitung auf diesem Gebiet zu bestrafen.

Kurz vor seinem Tod schrieb Pasternak ein Gedicht, das mit folgenden Zeilen begann:

„Ich bin verloren wie das Tier hinter Gittern.

Irgendwo sind Menschen, Freiheit, Licht.

In meinem Rücken grollt der Lärm der Verfolger, und nirgends ist ein Weg zur Rettung."

Es gab noch viele andere Beweise dafür, daß Chruschtschow und seine führenden Mitarbeiter zurückglitten in die strengdogmatischen und intolerant-despotischen Extreme des Doppelgesichts des Kommunismus. Die Machtmaschine wurde von ihnen angewiesen, die Zügel anzuziehen. Das konnte auf vielen Gebieten von der Literatur bis zur Landwirtschaft, von der Justiz bis zur Überwachung der Universitätsstudenten getan werden. Aber in manchen Zweigen der Wissenschaft, der Industrie und der Wirtschaft, in den Planungsbüros und wirtschaftlichen Forschungsinstituten konnten die Zügel nicht angezogen werden ohne ernstliche Gefährdung des wirtschaftlichen Fortschritts und der militärischen Macht des Staates.

In Wirklichkeit waren die Voraussetzungen da für den Versuch der Kybernetik, die Herrschaft anzutreten.

Naturwissenschaftler gegen Philosophen

Die „Philosophen" im sowjetischen Sprachgebrauch sind die offiziellen Theoretiker des Marxismus-Leninismus. Sie sind die ideologischen Wachhunde und Vollstreckungsbeamten des Kreml. Wer die „Philosophen" angreift, greift in Wirklichkeit die obersten Partei-und Staatsführer an.

1958 erhielten diese Philosophen den Auftrag, die Parteikontrolle aller intellektuellen Tätigkeiten zu festigen und zu verengen. Die Parole war immer noch, daß die kommunistische Partei und der Marxismus-Leninismus die einzigen Herren des Denkens seien. Chruschtschow erklärte dem Sowjetvolk, daß in ihrem revolutionären Geist und in ihrem Gehorsam zur Partei alle guten Kommunisten Stalinisten seien. In dieser Situation geschah es, daß sich die Revolte der Mathematiker und Physiker des Jahres 1956 auf einer viel breiteren Basis wiederholte. Die wissenschaftliche Elite Rußlands ging an der ganzen Front zum Angriff gegen die „Philosophen" über. Chruschtschow und sein Präsidium wurden von führenden Wissenschaftlern überzeugt, daß nach der Rehabilitierung so vieler Wissenschaftszweige und so vieler Theorien die Notwendigkeit bestehe, auch die Beziehungen zwischen Marxismus und Naturwissenschaften auf einer Konferenz zu klären.

Die Allsowjetische Konferenz über philosophische Probleme der Naturwissenschaften fand im Oktober 1958 statt. Außer Scharen führender Wissenschaftler nahmen die meisten hervorragenden Theoretiker des Marxismus-Leninismus, die Professoren der Philosophie und die für die Ideologie zuständigen Parteifunktionäre an den Diskussionen teil Die Konferenz war der Schauplatz von Angriffen auf die Dogmatiker an allen Fronten, das heißt in allen Disziplinen der Naturwissenschaften. Schlag auf Schlag zeigten Männer mit großem Namen in der Sowjetwissenschaft, daß die Marxisten wissenschaftliche Laien seien, die überholte und wissenschaftlich unhaltbare Auffassungen vertraten Die „Philosophen" mußten auf vielen Gebieten den Rückzug antreten. Die heftigsten Schläge aber wurden im Namen von Einsteins Relativitätstheorie und im Namen der Kybernetik geführt Sogar der Vorsitzende des Organisationskomitees der Konferenz, Professor P Fedosejew, beteiligte sich an dieser Offensive. Er griff die Philosophen an „die immer noch die Entwicklung der Kybernetik verhindern wollen und sie als Pseudowissenschaf’ verdammen" Prof P K. Anochin, der berühmte Pawlow-Schüler und führende sowjetische Physiologe, ging noch erheblich weiter Er forderte eindringlich den „triumphalen Marsch über Kontinente und durch Akademien" den die Kybernetik angetreten habe, zu sichern und erklärte, das System der „Rückinformation" sei die Vorbedingung allen Fort-lebens „Jeder Organismus hat ein Organ, mag es auch nur rudimentär sein, um Informationen zu erhalten, welche die Ergebnisse seiner Aktionen betreffen Diese Organe oder Hilfsmittel stellen die wichtigsten Voraussetzungen der Lebensfähigkeit dar "

Damals, im Oktober 1958, entstand eine Situation, in der führende Astronomen, Physiologen, Elektroingenieure, Biologen, Mathematiker und Physiker nicht nur die marxistischen Philosophen attackierten, sondern sie sogar aufforderten, sofort mit ihren Versuchen aufzuhören, den triumphalen Marsch der Kybernetik aufzuhalten

Anerkennung der Kybernetik im offiziellen kommunistischen Lehrbuch

Es scheint, daß das Parteipräsidium einige Zeit nach dieser Konferenz im Oktober 1958 einen internen Beschluß faßte, der Automation und der Kybernetik Immunität gegen die Einmischung dogmatischer Funktionäre zu verleihen. Tatsächlich wurden beide alsbald Bestandteile des neuen kommunistischen Programms. Der Triumph der Kybernetik zeigte sich zuers’ in folgender neuen amtlichen Definition: „Kybernetik ist die Wissenschaft der Kommunikation, Leitung und Kontrolle in Maschinen und lebenden Organismen. Nicht außer Betracht gelassen werden Fälle, in denen die erwähnten Funktionen von Gruppen menschlicher Wesen oder von menschlichen Wesen mit Hilfe von Maschinen ausgeführt werden."

Seit 1956 war der Weltkommunismus ohne offiziellen Katechismus, weil nach dem XX Parteitag, der in dieses Jahr fiel, Stalins berühmter „Kurzer Lehrgang" zurückgezogen wurde Das neue offizielle Lehrbuch des Kommunismus erschien 1959 unter dem Titel „Die Grundlagen des Marxismus-Leninismus" Dieses Lehrbuch mit seinen fast 900 Seiten diente dem Zweck „die Grundlagen des Marxismus-Leninismus als eine einzige und integrale Wissenschaft" darzulegen

Seit 1959 werden die Kommunisten in Rußland und seit 1960/61 überall in der Welt — das Lehrbuch war in 17 Sprachen erschienen — belehrt, daß die Zeit, die Marx vorausgesagt hat. also die Periode, in der die Wissenschaft zu einer direkten Produktionskraft wird, herannaht . „Die Geschichte der Wissenschaft vermittelt viele Fälle der Entdeckung einer neuen Erscheinung oder eines neuen Naturgesetzes, was zu Änderungen von höchster Wichtigkeit in den praktischen Tätigkeiten führt" (S 803).

Das Lehrbuch läßt keinen Zweifel mehr an der praktischen Bedeutung der Automation: „In ihrer technischen Politik befolgen die sozialistischen Länder jetzt mit Festigkeit die Absicht, die Automation in den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft in großem Umfang einzuführen. Es genügt zu erwähnen, daß etwa 1 300 automatische Produktionsanlagen allein in der sowjetischen Maschinenindustrie in den nächsten sieben Jahren in den Dienst gestellt werden. Vorkehrungen wurden getroffen für die Automatisierung der wichtigsten Produktionsprozesse in den Schlüsselindustrien, besonders auf dem Gebiet der Nichteisenmetalle, der chemischen, der Ol-, Nahrungsmittel-, Verbrauchsgüter- und der Papierindustrie" (S. 797). Alle Wissenschaften werden von der Kybernetik profitieren: „Die Entwicklung und weitere Verbesserung der Elektronenrechner eröffnen die größten Möglichkeiten für den weiteren Fortschritt von Wissenschaft und Technologie . .. Komplizierte logische Prozesse ... können mit Hilfe der Rechenmaschinen ausgeführt werden Dies erweitert in großem Stil die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung selbst und erleichtert die Arbeit der Wissenschaft" (S 804) Dogmatiker und solche, die die Erkenntnisse der ausländischen Wissenschaft verhöhnen, werden gewarnt: „Bei der Verbesserung der Produktion bedienen sich die sozialistischen Länder nicht nur der Ergebnisse ihrer eigenen Wissenschaft, sondern sie ziehen in Erwägung und wenden auch an die Erfahrungen und die Erfolge der Welt-Wissenschaft und -Technologie. Die kommunistische Partei führte einen harten Kampf gegen Selbstgefälligkeit und Selbsttäuschung, die sich unter einigen Wirtschaftsmanagern und Spezialisten unter dem Eindruck der Siege entwickeln konnten, die die sozialistische Wirtschaft und Wissenschaft erreicht haben Wissenschaft und Technologie treten niemals auf der Stelle, und wer in der Bewunderung heutiger Errungenschaften auf seinen Lorbeeren ausruhen will, riskiert, sich unter den Zauderern wiederzufinden" (S 805).

Das Frankenstein-Monster des „sterbenden Kapitalismus", der Steuerungsautomat, wurde innerhalb von fünf Jahren zur einzigen Voraussetzung der kommunistischen Technologie!

Der „Kommunist" berichtete über den Gebrauch „kybernetischer Maschinen" in der Arbeit der zentralen staatlichen Planungskommission Eine Durchsicht sowjetischer wissenschaftlicher Publikationen läßt ebenfalls den Zeitpunkt erkennen, in dem der Kybernetik von den Kreml-Führern ein allgemeines „grünes Licht” gegeben wurde. Fast alle Werke Norbert Wieners, des „Vaters der Kybernetik", sind in russischer Sprache veröffentlicht worden, einschließlich seiner Autobiographie „Ich bin Mathematiker", die voll von „bürgerlichen Abweichungen" ist. Künftige „wissenschaftliche Kader“ können ebenso in russischer Sprache das Werk „Logiksymbole und denkende Maschinen" von Edmund Berkeley lesen, dazu eine ganze Anzahl ähnlicher Werke, deren wissenschaftlicher Inhalt höchst zuverlässig im Gegensatz zum Geist des Marxismus-Leninismus steht.

Nach alldem war es nicht überraschend, daß das Akademiemitglied A. I. Berg die folgende unheimliche Ankündigung im „Kommunist", dieser zentralen theoretischen Zeitschrift der Partei, machte: „Im Unterschied zu den kapitalistischen Ländern, wo verschiedene Firmen, jede für sich selbst, separate automatische Kontrollsysteme errichten, ist es unter dem Sozialismus absolut möglich, ein einziges komplexes automatisiertes Kontrollsystem der Nationalwirtschaft des Landes zu organisieren.

Offenkundig wird der Effekt einer solchen Automation weitaus größer sein als der der Automation der Kontrolle individueller Unternehmungen." 14)

Auseinandersetzung mit den „Dogmatikern"

Die Dogmatiker — richtiger „Stalinisten" — mit ideologischer Unterstützung Mao Tsetungs und seiner Gefolgsleute, denunzierten die neuen Entwicklungen als weitere Anzeichen von Chruschtschows „Revisionismus, seiner antirevolutionären Verwässerung", ja sogar des „Verrats am marxistischen Glauben".

Indem sie das taten, veranlaßten sie vermutlich Chruschtschow, sein Vorurteil für die Kybernetik noch stärker werden zu lassen, als es ursprünglich war. In dieser Situation waren die „Progressisten" imstande, ihn noch leichter zu beeindrucken.

Die sowjetische Presse, die illustrierten Blätter, utopisch-technische Unterhaltungsromane, ja selbst literarische Zeitschriften wurden zu Propagandisten der Kybernetik. Im Sommer 1960 veröffentlichte die „Literaturnaja gaseta"

in Fortsetzungen eine Diskussion unter dem Haupttitel „Kybernetik und Menschheit". Darin setzten sich Wissenschaftler der Sowjetunion und der Satellitenländer mit der überwältigenden Wichtigkeit und allgemeinen Bedeutung der Kybernetik auseinander. Die Veröffentlichung ließ keinen Zweifel, daß die Anwendung dieser neuen Wissenschaft als eine der wichtigsten Entwicklungen im Dasein der ganzen Menschheit anzusehen sei.

Der Akademieprofessor A. N. Kolmogorow, der auch den ausführlichen Essay über Kybernetik in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie verfaßt hatte, vertrat den Standpunkt, daß die Kybernetik eine universelle Über-wissenschaft werden könne. Die Probleme der Naturwissenschaften, der Psychologie, der Soziologie und der politischen Ökonomie würden mit kybernetischen Methoden analysiert werden können. Akademiemitglied E. Kolman, Direktor des Philosophischen Instituts der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, befürwortete ein klügeres Eingehen auf das Problem: „Wenn Akademiemitglied Kolmogorow feststellt, daß wir mit den Methoden der Kybernetik das Leben in seiner Gesamtheit einschließlich der menschlichen Erkenntnis in ihrem Gesamtzusammenhang analysieren können', so können wir nur zustimmen. Und wir können ohne irgendein Zögern hinzufügen: Kybernetische Methoden können und sollten für die Analyse sozialer Phänomene benutzt werden. Diese Erklärung richtet sich in erster Linie gegen konservative Biologen, Psychologen, Arzte (und Nationalökonomen), denn diese fürchten die Kybernetik wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb begrüßen wir die Erklärungen des Akademiemitglieds Kolmogorow. Doch wir müssen entschieden gegen die Behauptung protestieren, daß kybernetische Methoden die der Biologie, Psychologie und Nationalökonomie ersetzen können."

Der Professor Kolman hielt daran fest, daß in bestimmten Wissenschaftszweigen von der Kybernetik nur Hilfsmethoden geboten werden können. Er kritisierte Kolmogorow nur deshalb, weil dessen extreme Gesichtspunkte den Widerstand der Rückschrittlichen und der Dogmatisten stärken konnten, die „die Anwendungssphäre der Kybernetik gern auf das Studium automatischer Maschinen beschränken möchten".

Sowjetische Leser erfuhren aus der Diskussion in der „Literaturnaja gaseta", daß man „heute schwerlich Narren finden würde, die die Kybernetik als . durchgängige Mystifizierung'ansehen. Aber die Kybernetik hat noch Feinde (in der kommunistischen Welt). Diese haben nur ihre Taktik geändert. Sie leisten den Errungenschaften der Kybernetik Lippendienste ..., behaupten aber, daß sie für das Studium lebender Organismen und der menschlichen Gesellschaft unbrauchbar sei".

Diese „Rückschrittlichen" wurden von einer ganzen Schar von Akademikern und hervorragenden Wissenschaftlern getadelt. Das Ergebnis der Auseinandersetzung schließlich war, „daß die Kybernetik nach allen Richtungen hin entwickelt und allgemein eingeführt werden" müsse. Alle Vorurteile seien zu beseitigen, die dem im Wege stehen. Die Methoden der Kybernetik könnten nur so dem Menschen bei der Erhöhung seiner logischen und methodologischen Kultur beistehen.

„Es ist überaus wichtig, daß der Einführung der Kybernetik in die kommunistische Gesellschaft keine Hindernisse in den Weg gelegt werden."

Kybernetik wird popularisiert

Diese Auseinandersetzung war Gegenstand von Berichten und Erörterungen in der ganzen sowjetischen Presse, angefangen von den Provinzzeitungen bis zu den Fachblättern. In den Jahren 1959 bis 1962 widmete die Sowjet-und die Satellitenpresse der Kybernetik Tausende von Artikeln, Symposien, Rundgesprächen. Die „Komsomolskaja Prawda", das Organ der kommunistischen Jugend, die „Technika molodezi" („Technik für die Jugend") und andere Kinder-und Jugendpublikationen in der ganzen westkommunistischen Welt popularisierten die Kybernetik als die erregende Wissenschaft der Zukunft.

Die Sonntagsbeilage der „Iswestija" veröffentlichte in einer Serie von Interviews die Thesen des Akademiemitglieds Petrow über die zukünftige Rolle der Kybernetik in Literatur und Kunst. Der Professor Petrow verlangte für sie eine solche Vorrangstellung auf diesen Gebieten, daß sich der Philologe Byalik veranlaßt sah, heftig gegen das Eindringen von Wissenschaftlern und Technikern in „Gebiete, von denen sie nichts verstehen", zu protestieren. Daraufhin folgte eine allgemeine Aussprache über die Anwendbarkeit der Kybernetik auf Literatur und Kunst in den literarischen und Kunstzeitschriften von Moskau, Warschau, Prag und Budapest. In der „Nova Kultura", Warschau, setzte sich Marian Mazur für die Anwendung der Kategorien der kybernetischen Meldungstheorie auf die Kunst ein und erörterte auf einer allgemein philosophischen Ebene die Grenzen und Möglichkeiten „schöpferischer Maschinen" in Literatur, Musik und schönen Künsten.

Ästheten, Literatur-und Kunsthistoriker sowie reine Historiker wurden aufgefordert, ihre Angelegenheiten im Geiste des „höheren Niveaus unserer mathematischen und methodologischen Kultur" zu ordnen. Kybernetik sollte auch Hilfe bei den Forschungen solcher Disziplinen wie „mathematische Linguistik", „Psychologie des schöpferischen Vorgangs", „Wissenschaft der Literatur" und „Wissenschaft der Kunst" leisten. In diesem Zeitpunkt war die Bedeutung der Kybernetik für die Forschung in so verschiedenartigen Bereichen wie Biologie, Physiologie, Neurologie, Anthropologie, Soziologie, Statistik und Nationalökonomie allgemein anerkannt. In der Sowjetunion, und in wachsendem Maße auch in den Satellitenländern, werden Studenten der Mathematik über Elektronenrechner und Kybernetik unterrichtet.

Die neue Wissenschaft wurde durch Presse, Radio und Fernsehen, durch Reden Chruschtschows und seiner Kollegen aus dem Kreml in einem solchen Ausmaß popularisiert, daß es Ende 1962 überaus schwierig gewesen wäre, in der westkommunistischen Welt jemand zu finden, der mehr als acht Jahre alt war und nicht gehört hätte, daß Kybernetik die Wissenschaft der Zukunft sei. Für die neue Situation war es charakteristisch, daß die „Iswestija", die Tageszeitung der Sowjetregierung, in ihrer Ausgabe vom 4. September 1961 einen Artikel des Professors Blochintsew, Direktor des sowjetischen kernphysikalischen Instituts von Dubna, veröffentlichte, in dem „die absolute Vorherrschaft einer einzigen Theorie" verdammt wurde. Sein Artikel mit dem Titel „Suchen, Argumentieren und Wagen“ vermied jede Bezugnahme auf den Marxismus-Leninismus oder den dialektischen Materialismus und stellte fest, daß die „Partei schöpferische Diskussionen unterstützen wird, welche die Entwicklung der Wissenschaft fördern, und daß gegensätzliche Auffassungen in Vergangenheit und Zukunft ein Existenzrecht genießen".

Das neue Parteiprogramm bestätigt Triumph der Kybernetik

Mit der Annahme eines Programms der vollen Automation auf allen wichtigen Sektoren der Wirtschaft und der Verwaltung der Sowjets und ihrer Satelliten wurde die Kybernetik offiziell die erste Wissenschaft der westkommunistischen Welt. Die beiden bedeutendsten ideologischen Sprecher der sowjetischen kommunistischen Partei, Suslow und Iljitschow, erklärten in den Jahren 1960 und 1961 wiederholt, daß „die Anwendung der Kybernetik sowohl bei der Erfassung der Massen wie beim Betrieb der Maschinen im Einklang mit dem Marxismus-Leninismus steht"

Dem restlichen Widerstand der „Philosophen" begegnete man in einem Seminar „über die philosophischen Fragen der Kybernetik", das die sowjetische Akademie der Wissenschaften veranstaltete Das Seminar umfaßte die Beziehung der Kybernetik zu allen wichtigen Zweigen der Wissenschaft und Technologie. Diesmal mußte auch Lenin in die Kontroverse hineingezogen werden. Lenins 1921 geschriebener offener Brief „über die Bedeutung des militanten Materialismus", in dem eine systematische Revision einer Anzahl von Grundsätzen und Axiomen des marxistischen philosophischen Materialismus gefordert wird, wurde wiederholt zitiert.

Der offizielle Triumph der Kybernetik wurde im Oktober 1961 auf dem XXII. sowjetischen Parteitag bestätigt, der das große neue kommunistische Parteiprogramm annahm. Das erste Programm, das 1903 angenommen worden war, entwarf den Kampf für die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Als die Partei 1919 das von Lenin formulierte zweite Programm annahm, proklamierte sie die Aufgabe, die sozialistische Gesellschaft zu errichten. Der XXII. Parteitag stimmte dem dritten Programm der kommunistischen Weltbewegung zu, die erste kommunistische Gesellschaft in der Geschichte der Menschheit zu begründen. Das Programm, das dem Kongreß von Chruschtschow vorgelegt und in mehr als fünfzig Sprachen veröffentlicht wurde, widmet ausgedehnte Passagen in verschiedenen Kapiteln der Bedeutung, der Zukunft und den vielfältigen Konsequenzen von Kybernetik und Automation. Das Programm erklärt kategorisch: „Kybernetik, Elektronenrechner und Kontrollsysteme müssen in weitem Abstand in der Industrie, in der Forschung, in der Planung, im Rechnungswesen, in der Statistik und im Management zur Geltung kommen."

Im Anschluß daran stehen folgende Erklärungen: „Die größtmögliche Beschleunigung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts ist eine Hauptaufgabe der Nation, die tägliche Anstrengung erfordert, um Zeitersparnis bei der Konstruktion neuer Maschinen und ihrer Einführung in die Industrie zu erreichen ... Die Partei wird alle Anstrengungen machen, die Rolle der Wissenschaft beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zu stärken; sie wird die Forschung unterstützen, die der Entdeckung neuer Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte dient, und ebenso die rapide und extensive Anwendung der jüngsten wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, ferner einen entscheidenden Fortschritt der experimentellen Arbeit, einschließlich der Forschung, die direkt in den Unternehmungen ausgeführt wird, und schließlich die wirksame Organisation des wissenschaftlichen und technischen Informationswesens und des ganzen Systems des Studiums und der Verbreitung fortschrittlicher sowjetischer und ausländischer Methoden. Die Wissenschaft selbst wird in vollem Umfang eine Produktiv-kraft werden."

Funktionäre für die neue „Überwissenschaft"

Sowjetische Publizisten sprechen von einer „Revolution der Wissenschaft" anstatt von der „zweiten industriellen Revolution". Für den sowjetischen Gebrauch ist ihr Terminus der präzisere Es ist in der Tat eine Revolution der Wissenschaft gegen die Ideologie, der wissenschaftlichen Haltung gegen die Haltung der kommunistischen Agitatoren. Westliche Wissenschaftler, die die Vorgänge in der Sowjetunion beobachten, bemerken nicht immer die historischen und psychologischen Beweggründe hinter dem gegenwärtigen sowjetischen Entzücken und dem Herausstreichen der Kybernetik, die eines der dynamischsten Mittel (und Vorwände) für die Beseitigung des dogmatischen Druckes wurde, der auf dem Sowjetleben lag. Diese Gründe haben ihren Ursprung in der kommunistischen Vergangenheit. Das kommunistische geistige Klima erfüllte durch die Jahrzehnte das Sowjetvolk mit der Sehnsucht, in einer berechenbaren und begreifbaren Welt zu leben. Die Welt zu verändern, eine Zukunft nach dem Plan zu erbauen, war undenkbar ohne eine Überwissenschaft, die einen Schlüssel zu all den Problemen der Gegenwart und der Vergangenheit lieferte. Jahrzehntelang war eine solche Überwissen-schäft, ein solcher Universalschlüssel der Marxismus-Leninismus, der vereinfachte Katechismus des dialektischen und historischen Materialismus. Diese Überwissenschaft erwies sich jedoch in den Händen Stalins und seiner terrorisierten Funktionäre nicht als eine Hilfe für den Fortschritt, sondern als ein Hindernis für die Entwicklung auf vielen Gebieten der Wissenschaft, der Technologie und der Wirtschaft des Landes.

Im Zeitalter der Automation und der Elektronik waren nicht nur „modernistische" (antistalinistische) Intellektuelle und Wissenschaftler, sondern auch verschiedene für die Produktion verantwortliche Gruppen von Partei-und Regierungsfunktionären glücklich, eine neue und ideologiefreie „Überwissenschaft" zu finden, die dazu beiträgt, die Gegenwart und Zukunft verständlich und berechenbar zu machen. Wenn sie in westlichen Fachzeitschriften von der Anwendung der Kybernetik, von neuen Methoden der Datenverarbeitung, von Maschinen lasen, die wissenschaftliche Probleme lösen und sogar Voraussagungen machen können, wurden sie enthusiastisch. Wenn große amerikanische und europäische Erwerbs-unternehmungen riesige Geldsummen auf diese neuen Entwicklungen verwandten, so mußten sie sie zweifellos für nutzbringend und vielversprechend halten. Für die modernen Sowjetfunktionäre, die sich über den verkrüppelnden Effekt des Dogmas aufregten, war es gar zu schön, zu erfahren, daß es „der Hauptzweck" der Kybernetik ist, den Ablauf einer wirksamen Aktion zu erfassen und zu sichern. Sowjetfunktionäre waren hingerichtet, eingesperrt oder später einfach abgesetzt worden, weil sie keine wirksame Aktion sichern und ihre Produktionspläne nicht erfüllen konnten.

Das war der Grund, weshalb die Fürsprecher der freien wissenschaftlichen Forschung immer mehr Unterstützung von einer Menschengruppe erhielten, von der dies zuletzt zu vermuten gewesen wäre: von den kommunistischen Partei-und Regierungsfunktionären. Diese neue Wissenschaft verschaffte außerdem den Administratoren, den Leitern der Sowjet-gesellschaft den Zugang zu wirksamen Methoden. Die Sowjetfunktionäre waren jahrzehntelang durch die Tatsache gelähmt gewesen, daß die oberste Führung ihre Informationen über die Realitäten einer gegebenen Situation nicht zur Kenntnis nahm. Wenn eine Entscheidung des Kremls zu ihnen hinuntergesandt wurde, so konnten sie nicht zurückberichten, daß es kei-neswegs ratsam und oder sogar unmöglich sei, diese Entscheidung auch in der Praxis zu verwirklichen. Jetzt waren alle diese Funktionäre äußerst erfreut über das wachsende Ansehen einer Wissenschaft, der zufolge man sich beim Regieren „durch konstante Rückinformation über die Wirkung der eigenen Aktion leiten lassen muß". Es läßt sich gewiß sagen, daß die Kybernetik, wenn sie auch nicht triumphal über die Kontinente zog, dies jedenfalls auf dem Boden der sowjetischen Theorie und Praxis tat.

Wirksame Waffe im Kampf gegen Dogmen

Viele westliche Wissenschaftler waren erheitert, wenn sie in ihren Fachblättern von dem Eifer ihrer russischen Kollegen lasen, der Kybernetik den Rang einer allgemeinen Über-Wissenschaft zu geben; allenfalls waren sie auch verärgert oder erstaunt, je nach ihrem Temperament. Sie sahen wissenschaftlichen Provinzialismus und Naivität in der Feststellung, daß „die Kybernetik die Anwendung statistischer, mathematischer und logischer Methoden auf alle Tätigkeiten der Menschheit ist". Sie sahen primitive pseudowissenschaftliche Besessenheit in dem Versuch, dem positiven und negativen feedback nunmehr eine universell philosophische, moralische Bedeutsamkeit zu verleihen. Britische Fachleute der Meß-und Regeltechnik und der Kontrolltheorie, denen schon selbst die Bezeichnung „Kybernetik" auf die Nerven geht, ärgerten sich über die erhöhte Wichtigkeit, die der Kybernetik von den sowjetischen und den Wissenschaftlern der Satellitenstaaten beigelegt wurde.

Aber ist es möglich, daß die großen russischen Psychologen, Mathematiker und andere nichts als Steckenpferdreiter und wissenschaftliche Flachköpfe sind? Mitnichten. Ihr Verhalten beruhte nicht auf wissenschaftlichem Provinzialismus, sondern auf politischer Schlauheit. Da die Stalinjahrzehnte sie alle zu politisch vollauf bewußten und „engagierten" Individuen gemacht hatten, erkannten sie in der Kybernetik eine vom Himmel geschickte Möglichkeit, ein gewisses Maß von wissenschaftlicher Freiheit zurückzugewinnen. Chruschtschows Kampagne für Leistungsfähigkeit und Vollautomation gewährte dieser neuen Wissenschaft Schutz, und so beeilten sie sich, sie als Lanzenspitze in ihrer Offensive gegen das Dogma und die Parteikontrolle der wissenschaftlichen Forschung zu verwenden.

Dies darf indessen nicht als eine Art Verschwörung der russischen Wisserschaftier angesehen werden. Wenn wir die Zeitpunkte der verschiedenen Publikationen in manchen Wissenschaftszweigen zur Kenntnis nehmen und vergleichen, so können wir feststellen, daß die russischen Forscher nahezu instinktiv auf die Chance reagiert haben, die ihnen durch die Rehabilitierung der Kybernetik geboten wurde. Das sowjet-kommunistische geistige Klima war für diese Rehabilitierung günstig und machte aus der Kybernetik eine bemerkenswert wirksame Waffe im Kampf gegen die Dogmen.

In einem Land, in dem schnelle Industrialisierung jahrzehntelang die erste Absicht und Aufgabe des Staates war, blieb der Maschinenbau bei weitem der angesehenste Beruf. Darüber hinaus spielte der Elektromaschinenbau noch eine besondere Rolle, seit Lenin den berühmten GOELRO-Plan von 1919 zum zweiten Programm der kommunistischen Partei bestimmte. Er sagte, daß „Kommunismus Sowjet-macht plus Elektrifizierung des ganzen Landes ist". Bei dem Versuch, die Kreml-Führer zu bewegen, die Kybernetik zuerst zu rehabilitieren und ihr dann den ersten Rang anzuerkennen, erwiesen sich die Ursprünge dieser werdenden Wissenschaft als eine große Hilfe. Es konnte mit einer gewissen Berechtigung behauptet werden, daß eine ihrer Wurzeln in der praktischen Erfahrung der modernen elektronischen Lehre und elektronischen Technik lag, obwohl sie ebenso im „praktischen Studium" der Gehirnfunktionen und der Funktionen automatisierter Fabriken wurzelt. Sie ist entschieden eine „materialistische Wissenschaft", überdies eine Wissenschaft, die nicht „getrennt von der Produktion" ist. Im Gegenteil, sie beschäftigt sich mit der Organisation wirksamen Handelns.

Unter den Wissenschaften in Rußland hatte die Mathematik immer großes Ansehen genossen, und dies verstärkte sich während der Sowjet-periode. Die Kybernetik wurde den KremlFührern als die modernste und wirksamste Anwendung mathematischer Methoden zur Lösung „zeitgenössischer Produktionsaufgaben" präsentiert. Das waren einige der Faktoren, die es erleichterten, die Kybernetik den Sowjetführern als eine neue Superwissenschaft vorzuführen. Es entstand eine Situation, in der die Herren des Kremls erheblich von wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen beeinflußt (wenn auch noch nicht regiert) wurden.

„Historisierung“ marxistisch-leninistischer Thesen

Sowohl die russischen Führer wie das russische Volk unternahmen einen weiteren großen Schritt zur Normalisierung, als sie schließlich dank den historischen Errungenschaften ihrer Sputniks, Luniks, ihrer Gagarins und Titows ihren Minderwertigkeitskomplex abzulegen begannen. Jahrhundertelang hatte das russische Volk das Gefühl gehabt, „rückständig" zu sein, nicht in der zeitgenössischen Umwelt zu leben und nicht als ein wirklich großes Volk anerkannt zu werden. Während die Gärung der Normalisierung weiterging, ließen sich die Russen in den Jahren 1956 bis 1962 gleichzeitig von dem Gedanken entzükken, das Zentrum der Beachtung und Bewunderung der ganzen Welt geworden zu sein, weil sie große wissenschaftliche und technologische Siege für die Menschheit erkämpft hatten.

Das Verschwinden des Minderwertigkeitskomplexes und die Anerkennung der Sowjetunion als eine der beiden Supermächte der Welt ermöglichten es Chruschtschow und seinen Leuten, viel kühner als bisher eine große Zahl von Lehrsätzen des Marxismus-Leninismus unter den Tisch zu fegen (zu „historisieren"). Hier sollen nur ein paar wichtige und symptomatische Historisierungen marxistischleninistischer Grundsätze und Axiome erwähnt werden. Der XX., XXL und XXII. Parteitag erlebten die Beseitigung der Leninthese von der Unvermeidlichkeit des Krieges, der These von Marx, wonach der Staat während der ganzen Übergangsperiode zum Kommunismus eine Diktatur des Proletariats sein müsse (die UdSSR ist jetzt ein „Staat des ganzen Volkes"), der These von der „absoluten Verelendung der Arbeiter unter dem Kapitalismus" und so weiter.

Einige der Historisierungen standen in direktem Zusammenhang mit der kybernetischen Reformation. Die Ekonomitscheskaja gaseta des Zentralkomitees kündigte 1962 die Historisierung des Grundprinzips der Errichtung des Sozialismus-Kommunismus an: des ewigen und universellen Vorrangs der Schwerindustrie. Stalin hatte Tausende von Funktionären umgebracht, weil sie angeblich dieses Prinzip verraten hatten Chruschtschow selbst hatte Malenkows angebliche Mißachtung dieses Vorrangs als Vorwand benutzt, seinen Erzfeind auszuschließen. Aber 1962 wurde von der Ekonomitscheskaja gaseta dargelegt — und später wiederholt —, daß sich die Industrie nicht genügend entwickeln könne, wenn nicht auch die Entwicklung der Technologie viel schneller vor sich gehe. Dies aber sei nur möglich, wenn sich die Wissenschaft noch schneller entwickele. Das bedeutet demnach den Vorrang der Wissenschaft. Der Beschleunigung der Entwicklung der Wissenschaft muß die erste Priorität eingeräumt werden.

Das Ziel ist nicht Liberalisierung, sondern Leistungssteigerung

Es muß hier wiederum darauf hingewiesen werden, daß es im höchsten Grade irreführend wäre, diese Entwicklungen als Anzeichen einer „Liberalisierung" zu interpretieren. Chruschtschow, seine Mitarbeiter und die ganze Managerklasse der Sowjetunion gelangten zu diesen Entscheidungen nicht auf Grund von politischen oder ideologisch-theoretischen Diskussionen oder Überlegungen. Sondern diese und andere grundlegende Lehrsätze sind von der Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beseitigt worden. Diese Entwicklung ist die Ursache des Faktums, daß die Wissenschaft jetzt die erste Rolle übernommen hat.

In dieser Periode wurde die Zeitspanne, die zwischen einer wissenschaftlichen Entdeckung und ihrer praktischen Anwendung in der Industrie vergeht, erheblich verkürzt. Früher (man könnte fast sagen, bis zum Zweiten Weltkrieg) vergingen eine oder zwei ganze Generationen, bevor eine wissenschaftliche Entdeckung in großem Umfang ausgenutzt wurde.

Während des Krieges, als die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie in einer Reihe dringlichster Programme eine Frage von Leben und Tod war, wurde die erwähnte Zeitspanne in verschiedenen Industiezweigen, sowohl im Westen wie in Sowjetrußland, vermindert. Mit dem Heraufziehen der zweiten industriellen Revolution, im Glanz der schnellen Elektronenrechner, der Transistoren, der Automation, der ferngelenkten Raketen und der Kernreaktoren, wurde die Führungsrolle des Wissenschaftlers über den Ingenieur eine praktische Notwendigkeit. Der Professor Dennis Gabor drückte es folgendermaßen aus: „Die neue Art der Entwicklung droht den Ingenieur auszuschalten, wie er seit mehr als hundert Jahren existierte: nämlich den Menschen, der die angewandte Wissenschaft zu erlernen pflegte, die als reine Wissenschaft schon eine Generation alt war oder noch mehr, und der sein Wissen während der nächsten Generation anwandte, wobei er seine praktische Erfahrung erweiterte, nicht aber seine Grundausrüstung. Heute werden die neuen Erfindungen, jedenfalls in den fortschrittlichsten Industrien wie in der Elektronenindustrie, selten von Ingenieuren gemacht, sondern viel öfters von Physikern, die sie häufig bis in das Stadium der Massenfabrikation entwickeln."

Das bewußte Ziel der Kreml-Führer ist nicht politische Liberalisierung oder „theoretische Erneuerung", sondern einfach nur Leistungsstärke. Indem sie sich die veränderte Situation klar machen und gewaltige Mittel für die wissenschaftliche Erforschung zur Verfügung stellen, sind sie sicherlich moderner als manche westliche Regierung.

Die Schwerindustrie war — nach kommunistischer Theorie und Praxis — Vorbedingung echter Unabhängigkeit und echter Macht. Im Herbst 1962 erklärte Chruschtschow wiederholt, daß es einmal eine Zeit gegeben habe, in der man die Macht des Staates an der Menge von Stahl maß, die er zu produzieren vermochte. Dieses Kriterium, betonte er nun, gelte nicht länger, und er bedauerte die übertriebene Bedeutung, die der Metallrate, dieser Scheuklappe von manchen Leuten, noch immer beigemessen werde.

„Information in beiden Richtungen" schafft neues Klima

Der Vorrang der Wissenschaft vor der Wirtschaft machte eine Anzahl vordem undenkbarer und höchst frevlerischer Experimente möglich.

„Planovoe chozjajstvo" berichtete zum Beispiel, daß mit Hilfe von Elektronenrechnern Experimente mit Systemen der Preisbeziehungen nach drei Theorien unternommen worden sind: nach der marxistischen Werttheorie, nach Marxens Produktionskostenpreis-Konzept und nach der Durchschnittswerttheorie. Das Ergebnis des Experiments: keine dieser drei Theorien ermöglichte es, angemessene Informationen für die Planung zu gewinnen

Das Geographische Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften führte eine lang-dauernde Attacke gegen die klassische marxistische Werttheorie, derzufolge die Kosten eines Gegenstandes einzig und allein durch den Arbeitsaufwand der Produktion bestimmt werden, ohne Rücksicht auf den Wert von Land, Kapital, Rohstoffen und anderen verwendeten Hilfsmitteln. Die „Literaturnaja gaseta" veröffentlichte einen Artikel des Chefingenieurs eines sibirischen Wasserkraftobjektes, der erklärte, daß die Berechnungen, die über die Wirtschaftlichkeit des Projekts entschieden, auf der Annahme aufgebaut waren, daß der Urwald und die Naturschätze des Gebiets, das überflutet werden sollte, wertlos seien. Der Ingenieur legte dar, daß das ganze Agrarund Rohstoffpotential des Gebietes verloren gehen würde. Dies sei ein Fehler, weil „die Wissenschaft kein neues Land entdecken kann". Der Artikel macht klar, daß Marxens Werttheorie zu einer Verschwendung nationaler Hilfsquellen führt

Dies ist gleichzeitig eine gute Illustration des neuen geistigen Klimas, das durch die Zulässigkeit der „Information in beiden Richtungen"

entstanden war, und auch ihres Einflusses auf die Doktrin; siehe auch die Angriffe gegen die Mißachtung der Bedeutung von Angebot und Nachfrage, die Debatte über die „Rentabilität" usw „Voprosy Ekonomiki" erklärte, daß „zur Ausnutzung der schnellen Elektronenrechner das gegenwärtige System der Rechnungsführung und Betriebsüberwachung von Kopf bis Fuß geändert werden muß."

Die Automatisierung der Kontrolle in Regierung und Produktion verlangte selbstverständlich eine durchgängige Überprüfung der allgemeinen Funktionen von Regierung und Management. Die „Modernisten", jetzt schon mit offizieller Parteiunterstützung, fuhren fort, die Bedeutung der Information in beiden Richtungen zu unterstreichen, die „ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem leitenden Zentrum (Organ) und demjenigen herstellt, das geleitet wird". Tatsächlich gingen manche Enthusiasten so weit, zu behaupten, „Sein bedeutet Geleitetsein", weil „sogar der Leiter von den Resultaten seiner Aktionen geleitet werden muß".

Unter den zahlreichen Verbrechen, politischen und anderen Irrtümern, die sich Stalin zuschulden kommen ließ, die aber in dieser Periode wöchentlich oder täglich bloßgestellt wurden, hoben die Fachjournale insbesonere Stalins Feldzug gegen die Rückinformation hervor.

Stalin war natürlich gegen die Information in beiden Richtungen. Es wurde zum Beispiel darauf hingewiesen, daß die sowjetische statistische Wissenschaft für eine lange Periode so gut wie gar nicht existierte. „Dem Kadermord in dieser Zeit des Personenkultes fiel eine große Anzahl Statistiker zum Opfer, insbesondere diejenigen, die an der Volkszählung von 1937 mitgewirkt hatten."

Die geometrische Methode der Statistik wurde als eine „bürgerliche Methode" verboten, und später stellte sich dann heraus, daß keineswegs etwa die allgemeine Verbrauchsstatistik geheimgehalten worden war, sondern daß sie gar nicht existierte, weil, nach den Worten des Professors Zaubermann, „Stalin das Thermometer zerschlug, um zu verhindern, daß die Temperatur abgelesen werde".

Die Satellitenstaaten folgen den Sowjets

Alle wichtigeren Tageszeitungen, Zeitschriften und Fachschriften der Sowjetunion und ihrer europäischen Satelliten publizierten 1962 und 1963 Artikel, in denen die Verstärkung der Elektronenforschung, die Anwendung schnell arbeitender Rechenmaschinen und die Ausbildung von Programmierern gefordert wurde. Im Herbst 1962 wurde die Ungarische Akademie der Wissenschaften von der offiziellen Parteizeitung heftig getadelt, weil sie nicht genug dafür getan habe, daß „die Kybernetik alle wissenschaftlichen Tätigkeiten und alle Arbeiten an den Universitäten durchbluten solle. Die Sowjetische Akademie unterstrich in einer besonderen Erklärung die Wichtigkeit der kybernetischen Forschung. Die Akademien der Volksdemokratien können als die wichtigsten Fürsprecher dieser Angelegenheit bezeichnet werden. Die Ungarische Akademie ist indessen zu lässig in dieser Angelegenheit. Zwar hat die Akademie vor drei Jahren ein . Präsidialkomitee für Kybernetik'errichtet, aber dieses hat sehr wenig unternommen. Innerhalb der Akademie der Wissenschaften haben die verschiedenen Fakultäten keine genügenden Anstrengungen unternommen, die Anwendung der Kybernetik in allen Zweigen von Wissenschaft und Technologie zu gewährleisten" Die Zeitung ließ keinen Zweifel daran, daß in Lehre und Forschung der Universitäten, genau wie in allen Zweigen der Sowjetwirtschaft, der Kybernetik eine weit bedeutsamere Rolle eingeräumt werden müsse.

Ähnliche Artikel in den Satellitenzeitungen ließen erkennen, daß die europäischen COMECON-Länder von Moskau im Sommer 1962 aufgefordert worden waren, die Anwendung der Kybernetik zu erweitern und die Heranbildung „mathematischer Kader" von „Programmierern hohen Niveaus" zu beschleunigen und zu verstärken. Einige der Säuberungen und Entlassungen, die sich 1962 in der westkommunistischen Welt zeigten, und ebenso verschiedene Beförderungen, hatten wenig mit Politik zu tun. Gegner der Kybernetik oder solche, die unfähig waren, mit diesen neuen Entwicklungen umzugehen, wurden aus ihren Regierungs-, Partei-, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Positionen entfernt. Im Januar 1962 eröffnete die Universität von Nowosibirsk eine nationale Kampagne, um mathematische und physikalische Talente aufzuspüren. Da sich das mathematische Talent sehr frühzeitig kundgibt, wurden guten Mathematikschülern aller sowjetischen Oberschulen im Alter von 14 bis 18 Jahren Fragebogen überreicht. Die besten zweihundert-achtzig davon wurden dann im Sommer zu einer „Mathematik-Olympiade" eingeladen.

Die Akademiemitglieder Lawrentjew und Soboljew hielten vor den Teilnehmern Vorträge über die Theorie des Programmierens, über mathematische Analytik usw. Die besten Teilnehmer wurden sofort in eine besondere Lehranstalt für Mathematik und Physik für außerordentlich Begabte in Nowosibirsk ausgenommen. Die Schüler beginnen die Grundlagen der Elektronik und der Kybernetik mit sechzehn Jahren zu erlernen, so daß sie, wenn sie die Nowosibirsker Universität erreichen, deren Spezialaufgabe es ist, geeignete Wissenschaftler heranzubilden, sogleich mit kleineren Forschungsaufgaben betraut werden können. Diese jungen Forscher der Zukunft brauchen nicht zwei Jahre zwischen Mittel-

und Hochschule in der Produktion zu arbeiten wie die meisten anderen Studenten der Sowjetunion.

In Sowjetdeutschland entschied Walter Ulbrichts Politbüro, daß der Mathematikunterricht an den Oberschulen und Universitäten beträchtlich verbessert und erweitert werden müsse. Funktionäre der Planung, der Wirtschaft und der Industrie wurden an die Rostocker Universität zu sechsmonatigen Kursen geschickt, um die Kunst der „praktischen Anwendung der Grundprinzipien der Mathematik" zu erlernen. Ulbricht führte aus, er erwarte von seinen Funktionären, daß sie die dringliche Wichtigkeit der Elektronik und der Kybernetik für die Volkswirtschaft erkennen.

Die Politik hat nicht mehr die totale Befehlsgewalt

In der Wissenschaft, in der Industrie und zum Teil auch in der Volkswirtschaft wurde die Diktatur der Partei und des Dogmas erheblich gemildert. Von vielen dogmatischen Reaktionären wurde dies als eine von Chruschtschow eingeleitete Revision des Leninismus angesehen. Tatsächlich hatte das Prinzip, „daß die Führung der Politik zukommt", womit natürlich kommunistische Politik und Marxismus gemeint waren, jahrzehntelang als Hauptmaxime des Kommunismus gegolten. Mitten in dem Kampf, den Chruschtschow führte, um dieses Prinzip zu ändern, tauchte, höchst willkommen, ein bisher unveröffentlichter Teil eines Lenin-Artikels aus dem Jahre 1918 auf. Die Prawda behandelte die Entdeckung dieses Lenin-Manuskripts als ein höchst bedeutsames Ereignis. Lenin wurde mit folgenden Sätzen zitiert: „Als die Probleme der Überzeugung des Volkes und der Ergreifung der Macht von primärer Wichtigkeit waren, erkannte man den Agitatoren die führenden Positionen zu (aber): , der Über-gang von einer kapitalistischen zu einer sozialistischen Gesellschaft besteht darin, daß die politischen Aufgaben den wirtschaftlichen untergeordnet werden'.. . ; in hohem Maß notwendig ist es, die Organisation des Sozialismus vom Standpunkt der Manager, der Trusts und der hervorragenden Organisatoren des Kapitalismus zu studieren."

Dies führte zu einem ganz entschiedenen Konflikt in der allgemeinen Situation. Die Politik hat nicht länger die totale Befehlsgewalt, was Wissenschaft, Planung, Wirtschaft und Industrie betrifft. Hier ist, dank der überaus passenden Lenin-Worte, nicht länger Platz für revolutionäre Agitation und für Parteieifer, der sich der objektiven Wirklichkeit widersetzt. In diesen Sphären wurde der marxistisch-leninistischen Ideologie ihre Führungsrolle versagt. Die Politik behält indessen sehr wohl die Befehlsgewalt, was die Landwirtschaft, die Geisteswissenschaft und insbesondere die Literatur und die Kunst betrifft. Diese gehören zur ideologischen Sphäre.

In Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie besteht eine „friedliche Koexistenz" zwischen sowjetischem und ausländischem Ideengut.

Die Partei selbst spricht von der „Welt der Wissenschaft", ohne die früher gebräuchlichen Unterscheidungen von „bürgerlicher und kommunistischer Wissenschaft". Dagegen gibt es keine „Welt der Literatur", der Musik oder der schönen Künste. Hier indessen ist die Welt, wie Chruschtschow und seine Genossen 1962 und 1963 immer wieder betonten, scharf geteilt. Eine ideologische Koexistenz in der Literatur, in den Künsten und in den Geistes-wissenschaften kann es nicht geben. Parallel damit bleiben die Landwirtschaft und ihre Arbeitskräfte noch unter „politischem Kommando". In der Landwirtschaft erwartete man 1963 von den Parteifunktionären, daß sie ihre Arbeit als politische Agitatoren fortführten und die „bürgerlichen Sachgläubigen" und den „kapitalistischen Objektivismus" attackierten. Die westlichen Kommunisten (die wegen ihres „Revisionismus" von der rotchinesischen Führerschaft ständig angegriffen werden) waren 1963 gezungen, in einem gespaltenen Geistes-klima zu leben. Es war fast so, als wären zwei kommunistische Parteien in die Existenz getreten; die eine, die sich immer mehr normal fortschrittlich und wissenschaftsorientiert gab, und eine andere, die der dogmenbesessenen Partei-und Revolutionsagitatoren.

Konflikt zwischen Lockerung und Dogmatismus

Kommunikation mit dem wirklichen Leben der Bevölkerung ist aufs entschiedendste untersagt, soweit es die Literatur und die Künste angeht. In dieser Hinsicht unterscheiden sich das neue Parteiprogramm und die Parteibeschlüsse von 1962/63 in keiner Weise von den stalinistischen Dogmen. Literatur und Künste müssen auf der Plattform des „sozialistischen Realismus" verbleiben und die Führung durch die Partei hinnehmen.

Literatur und Künste müssen auf dieser Basis „bedeutende Faktoren der ideologischen Erziehung" sein, sie müssen „in den Sowjetmenschen die Eigenschaften von Baumeistern der neuen Welt kultivieren. Sie müssen auf den Grundsätzen der Partei beruhen"

Während nach den Anweisungen der Partei „verschiedene wissenschaftliche Gesichtspunkte sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Zukunft das Recht auf Existenz haben", ist in Künsten und Literatur kein Raum für Experimente, für Neuerungen oder für verschiedene „Ismen". Form und Stil sind allein der sozialistische Realismus. Der Schriftsteller soll nicht das Leben schildern, wie er es sieht — das würde bürgerlicher Realismus sein. Sondern er soll der aktuellen Wirklichkeit das Bild der Partei auferlegen und zeigen, wie die Zukunftsvision der Partei in der Gegenwart ins Leben tritt. Alle Vorfälle, Individuen, Aspekte im wirklichen täglichen Leben, die die Partei mißbilligt, sollen als außergewöhnlich und atypisch dargestellt werden, während die Ziele der Parteipropaganda und-agitation als bereits existierende typische Realitäten vorgeführt werden sollen.

Das Studium des Marxismus-Leninismus wird den Schriftstellei n und Künstlern immer noch als die einzige Quelle eines „wahren Verständnisses" der Gegenwart aufgetragen, die ein Teil des unvermeidlichen historischen Prozesses ist, der zur kommunistischen Gesellschaft führt. Die Vision der Partei von der kommunistischen Zukunft muß eine implizierte Existenz in der Gegenwart haben. Eine „realistische Schilderung" darf nicht nur den Fort-

schritt in Richtung auf diese unvermeidliche Zukunft zeigen, sondern soll ihn auch beschleunigen helfen.

Wissenschaft, Wirtschaft und Industrie müssen im gegenseitigen übereinstimmen mit den aktuellen Realitäten sein, weil die kommunistischen Führer erkannt haben, daß sie auf diesen Gebieten nicht gegen die Tatsachen und gegen die Vernunft ankämpfen können. Sie, die Führer, müssen entsprechend informiert sein. Literatur und Künste andererseits werden von diesen kommunistischen Führern als komplizierte Werkzeuge angesehen, um die beherrschten Massen entsprechend den marxistischen Dogmen und Absichten zu ändern — zu transformieren. Wenigei verständlich ist es, daß Chruschtschow und die gegenwärtigen westkommunistischen Führungsgruppen sich weigern, die wissenschaftliche Objektivität und die Bedeutung des gegenseitigen Informationsverkehrs auf dem Gebiete der Landwirtschaft anzuerkennen. Obwohl die Landwirtschaft offensichtlich bei der Errichtung der kommunistischen Gesellschaft und bei den sowjetischen Bemühungen, den Westen einzuholen, eine wichtige Rolle zu spielen hat, erwartet man von ihr immer noch, daß sie sich den Forderungen der Dogmen anpaßt. Agrarwissenschaftler werden immer noch attackiert und kaltgestellt, wenn ihre Resultate den Erwartungen des Kremls widersprechen. und Chruschtschow und seine Genossen fahren fort in ihrer Bemühung, die menschliche Natur der Bauern ändern zu wollen. Die Erfahrungen und Lehren von fast fünf Jahrzehnten konnten diese Führer nicht überzeugen, daß auch die Leistungskraft der Landwirtschaft von der subjektiven Haltung der Bauern abhängt.

Konflikte sind unvermeidlich, wenn ein großer Teil der Bevölkerung, der in den höchst vitalen Gebieten der Wissenschaft und Industrie in seiner Arbeit frei von dogmatischen Bindungen sein soll, in seiner Freizeit mit einer partei-dirigierten, dogmenbesessenen Philosophie, Literatur und Kunst versorgt wird. Schlimmer noch — die Majorität der Bevölkerung, die Bauernschaft, muß unter konstanter Parteikontrolle sowohl in ihrer Arbeit als in ihrer Freizeit leben.

Dieser Konflikt und die schizophrene Haltung, die dahintersteht, ist eine der großen bewegenden Kräfte zukünftiger Entwicklungen in der kommunistischen Reformation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prawda, 2. Juli 1954. Ähnliche und gewöhnlich schärfer ausgedrückte Warnungen füllten die Fachzeitschriften in der unmittelbar folgenden Periode.

  2. Prawda vom 19. Juli 1955.

  3. Prawda, a. a. O.

  4. Voprosy filosofii, Moskau 1953, Nr. 5, S. 218.

  5. Malenkow wurde 1955 als Ministerpräsident abgesetzt; 1957 wurde er aller seiner sonstigen Ämter enthoben

  6. Vestnik Akademii Nauk, UdSSR, Moskau, Januar 1957.

  7. Voprosy filosofii, Moskau 1957, Nr. 4, S. 150.

  8. Westsibirische Zweigstelle in Nowosibirsk, ost-sibirische Zweigstelle in Irkutsk, fernöstliche Zweigstelle in Wladiwostok und Jakutsk und Physikalisches Institut in Krasnojansk. In Irkutsk begann man sofort mit der Errichtung von acht neuen Instituten. Später wurden weitere Einrichtungen in Kamerovo, Ulan Ude und Kamtschatka errichtet.

  9. Vestnik Akademii Nauk, UdSSR, Nr. 7. 1958.

  10. Filosofskie Problemy Akademija Nauk, Moskau 1959

  11. Bolschaja Sowjetskaja Enziklopedija, zweite Ausgabe Band 51, Moskau 1959, S 149

  12. Osnowij Marksisma-Leninisma; Moskau 1959. Englischer Text, zitiert nach Fundamentals ot Marxism-Leninism; Foreign Languages Publishing House, Moskau 1959, zweite Ausgabe, Moskau 1961, S 13

  13. Kommunist, Nr. 9, 1959.

  14. Ebenso Akademiemitglied Berg in Voprosy Filosofii, 1961. Nr. 2, S. 11— 23.

  15. Ebda. 1961, Nr. 1, S. 15— 57.

  16. Programm der KPdSU, Foreign Languages Publishing House, Moskau 1961, S. 59.

  17. Ebda., S. 60— 61.

  18. Dennis Gabor, Inventing A Future, Martin Secker and Warburg, London 1963, S. 198.

  19. 1962, Nr. 2, S. 58.

  20. Siehe auch Voprosy Ekonomiki, Nr. 1, S. 115.

  21. Literaturnaja gaseta, Moskau, 3. Sept. 1962.

  22. Seite 117.

  23. Vestnik Statistik!, Moskau 1962, Nr. 1, S. 4.

  24. Nepszabadsag, 23. September 1962, Kultur-beilage, S. 7.

  25. Prawda, 27. September 1962.

  26. Parteiprogramm S. 110.

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