Wie immer, wenn es sich um die Interpretation der Politik kommunistischer Staaten handelt, erhebt sich auch bei der Einschätzung des sowjetisch-chinesischen Konflikts in der westlichen Diskussion die zentrale Frage, wie weit die Politik der kommunistischen Großmächte von nationalen Interessen und wie weit sie von echten ideologischen Triebkräften bestimmt wird. Kann man diesen Konflikt als ein Beispiel dafür ansehen, wie die Einheit der marxistisch-leninistischen Lehre durch die Verschiedenheit der Interessen der Staaten, die sie anzuwenden suchen, gesprengt wird, oder muß man die Ursache des ganzen Streits in primär ideologischen Meinungsverschiedenheiten suchen?
Der Verfasser des folgenden Aufsatzes hat an anderer Stelle seine Auffassung begründet, daß der Konflikt der letzten Jahre, dessen offene Austragung Moskau und Peking so lange zu vermeiden suchten, in erster Linie den Verschiedenheiten der wirtschaftlichen, militärischen und diplomatischen Situation der beiden kommunistischen Großmächte und den darauf gegründeten Interessengegensätzen entspringt, und daß er erst sekundär ideologische Formen angenommen hat
So offenkundig das Bestehen solcher ideologischen Stilunterschiede zwischen sowjetischem und chinesischem Kommunismus seit langem ist, so verwirrend waren sie auf den ersten Blick für den außenstehenden, kritischen Beobachter. So wurde um die Wende von 1956 auf 1957 der chinesische Rat an Chruschtschow, die neue Führung der polnischen Kommunisten unter Gomulka zu dulden und ihr die gewünschte größere Autonomie in Fragen des polnischen Staats-und Wirtschaftsaufbaus zuzugestehen, solange sie nur außenpolitische Blockdisziplin halte
Offenkundig sind also die zugrundeliegenden ideologischen Verschiedenheiten von einer Art, die mit unseren Gegensatzpaaren von tolerant und intolerant, liberal und doktrinär, Lockerung und Erstarrung nicht in ihrem Kern erfaßt wird. Um diesen Kern zu finden, muß man auf die geschichtliche Eigenart des chinesischen Kommunismus als einer eigenständigen Bewegung eingehen. Die chinesischen Kommunisten sind ja nicht wie ihre osteuropäischen Genossen durch sowjetische Waffengewalt, sondern wie die jugoslawischen Ketzer im wesentlichen aus eigener Kraft zur Macht gekommen. Sie haben den Sieg mit einer originellen, den Bedingungen ihres Landes angepaßten Strategie errungen, die sie unter Abweichung vom sowjetischen Vorbild und an entscheidenden Punkten im Widerspruch zu sowjetischen Ratschlägen entwickelt haben. Und diese Strategie ist in der chinesischen kommunistischen Partei von einem Manne durchgesetzt worden, der nicht von Moskau zum Parteiführer bestimmt war, sondern sich gegen Moskaus ursprüngliche Absicht durch den Erfolg seiner Politik selbst zum Führer gemacht hat — eben von Mao Tse-tung.
Die Partisanentradition
Die Geschichte der eigenständigen Entwicklung des chinesischen Kommunismus beginnt so mit dem selbständigen Hervortreten Mao Tsetungs als Führer einer kleinen Partisanen-gruppe um die Wende von 1927/28. Die Stalinsche Chinapolitik der zwanziger Jahre hatte mit einer katastrophalen Niederlage der chinesischen Kommunisten geendet
Doch um seine Bauernpartisanen als disziplinierte, mobile Armee zu organisieren, brauchte Mao — ganz wie später Tito — trainierte Kommunisten, proletarische und intellektuelle Kader aus der Stadt; und hier stieß er zunächst auf den Widerstand von Parteiführung und Komintern
Die Loslösung von der „proletarischen“ Fiktion
Diese Eigenart des Weges der chinesischen Kommunisten zur Macht ist natürlich auch im Westen allgemein bemerkt worden; und ganz wie die Doktrinäre im kommunistischen Lager, in Rußland wie in China, Maos Strategie jahrelang als bedenklich unorthodox ansahen, so haben auch manche westliche Beobachter zunächst geglaubt, die chinesischen Kommunisten seien gar keine „wirkliche" kommunistische Partei, sondern eine bloße agrarrevolutionäre Volksbewegung. Der Irrtum beider Auffassungen lag darin, daß sie das Wesen der modernen kommunistischen Parteien in der Marxschen Lehre von der Rolle des Industrie-proletariats sahen und nicht in der Leninschen Lehre von der Rolle der zentralistisch organisierten Diktaturpartei. In Wirklichkeit waren auch die russischen Bolschewiki nie, wie sie behaupteten, eine Klassenpartei der Arbeiterschaft und konnten es auf Grund ihrer Organisationsform gar nicht sein, denn diese Form machte sie von der tatsächlichen Unterstützung der Arbeiterklasse unabhängig und befähigte sie, ihre soziale Basis nach Bedarf zu wechseln: Nur demokratisch aufgebaute Parteien können echte Klassenparteien sein, weil nur sie an den gesellschaftlichen Nährboden, dem sie entstammen, dauernd gebunden sind. Die Bolschewiki sind vielmehr eine moderne totalitäre Kaderpartei, von Berufsrevolutionären geführt, die sich im Anfangsstadium ihrer Entwicklung auf einen Teil des russischen Industrieproletariats gestützt hat, aber inzwischen als herrschende Partei längst mit der staatlichen Bürokratie verschmolzen ist und gelernt hat, zwischen den verschiedenen Klassen der sowjetischen Gesellschaft zu balancieren und sie alle zu manipulieren. Und genauso ist Maos chinesische kommunistische Partei keine Klassenpartei der Bauern, sondern eine totalitäre Kaderpartei, die sich im Bürgerkrieg in erster Linie auf die Bauernschaft gestützt hat, aber als herrschende Partei die Bauern ebenso zu manipulieren und, wenn nötig, zu kujonieren versteht wie alle anderen Klassen der chinesischen Gesellschaft.
Und doch gibt es hier einen wichtigen Unterschied. Die offizielle leninistische Lehre besteht auf der Fiktion, die kommunistische Partei sei die klassenbewußte Vorhut des Proletariats, d. h. sie verkörpere dessen wahre historische Interessen auch dann, wenn die wirklich lebenden Arbeiter so kurzsichtig und verblendet sind, ihr nicht zu folgen. Es ist auch durchaus plausibel, daß Lenin selbst an diese Fiktion geglaubt hat — daß ihm nie klar zum Bewußtsein kam, wieweit er sich mit seiner neuartigen Organisations-und Staatsform von der Marxschen Vorstellung der proletarischen Partei und der proletarischen Diktatur entfernt hatte. Bei Stalin, unter dessen Herrschaft sich die soziale Zusammensetzung der bolschewistischen Partei so radikal verändert hat, ist es schon viel weniger wahrscheinlich, daß er sich dieses Stück seines marxistischen Kinder-glaubens bewahrt hat; und Mao hätte seine historische Leistung kaum vollbringen können, ohne sich bewußt über die proletarische Fiktion hinwegzusetzen und den im strikten Sinne klassenlosen Charakter der modernen totalitären Partei klar zu erkennen. Doch solches Durchschauen der traditionellen marxistischen Fiktion gibt dem kommunistischen Führer in einem Lande, in dem das Industrie-proletariat nun einmal eine kleine Minderheit ist — und anfänglich eine noch viel winzigere Minderheit war —, eine unvergleichlich größere politische Bewegungsfreiheit als seinen doktringebundenen Rivalen: Sie ist Maos wahres arcanum regni, sein Geheimrezept zur Erringung und Behauptung der Macht.
Die Strategie der „neuen Demokratie"
Denn die Wirkung jener Loslösung von der Fiktion der proletarischen Klassenbasis blieb nicht auf den Übergang zum bäuerlichen Partisanenkrieg beschränkt, so entscheidend dieser erste Schritt von Maos selbständiger Strategie auch war. Zum zweitenmal zeigte er sich als Neuerer in den Jahren der internationalen Volksfrontpolitik vor dem zweiten Weltkrieg und der kommunistischen Politik der natioralen Einheitsfront während der ersten Kriegs-jahre. Das Ziel dieser Politik war in den Augen Stalins die Gewinnung nichtproletarischer Klassen und nichtsozialistischer Regierungen für ein Bündnis gegen die von Hitler-deutschland und Japan drohenden Gefahren; das Mittel eine Koalition der Kommunisten mit bürgerlichen Parteien für ein Programm, das außenpolitischen Widerstand gegen die „faschistischen Aggressoren" und Freundschaft für die Sowjetunion mit demokratischen Reformen in der Wirtschafts-und Sozialpolitik verband, aber ausgesprochen sozialistische und revolutionäre Forderungen sorgfältig vermied. Nun, auch Mao Tse-tung schloß in jenen Jahren ein Bündnis mit Tschiang gegen Japan und proklamierte ein gemäßigtes Reformprogramm unter der Losung der „neuen Demokratie", das an alle patriotischen Klassen appellieren sollte — neben Arbeitern und Bauern auch an das Kleinbürgertum und die sogenannte „nationale", d. h. nicht mit dem fremden Imperialismus verbundene Bourgeoisie. Doch im Gegensatz zu den kommunistischen Parteien des Westens suchte er dies Bündnis verschiedener Klassen nicht durch eine Koalition verschiedener Parteien zu verwirklichen, sondern proklamierte kühn und ganz unmarxistisch, seine kommunistische Partei vertrete die Interessen all dieser Klassen
Die Umerziehung des Klassenfeindes
Nun erhebt sich freilich die Frage, was denn aus dieser Fiktion werden soll, wenn nach der Machtergreifung die programmgemäße Transformation der Gesellschaft, die Umwälzung der Existenzbedingungen aller nichtproletarischen Klassen durch eine permanente Revolution von oben beginnt. Wie kann die herrschende Partei die Klassen liquidieren, deren Interessen sie eben noch zu vertreten vorgab? Hier liegt die dritte strategische Originalität von Maos Kommunismus: Das Wort von der Liquidierung ganzer Klassen kommt in seinem Lexikon nicht vor. Was nach seiner Theorie liquidiert wird, ist die alte Klassenlage — die Funktion, nicht die Personen: denen wird vielmehr mit einer Mischung von administrativem Druck und Überredung ein Funktionswandel aufgezwungen. Als Schulbeispiel denke man etwa an die Verwandlung der vielen, vielen Tausende Kleinunternehmer in den chinesischen Städten erst in „Teilhaber", die den Profit ihres Betriebes mit dem Staat teilen, und nach der vollen Enteignung in angestellte Betriebsleiter: Der ganze Druck von Staat und Partei ist nicht darauf gerichtet, sie wegzutreiben, sondern möglichst viele von ihnen zum Akzeptieren dieser Transformation ihrer Lage zu bringen. Auch die Kollektivierung der chinesischen Landwirtschaft ist zunächst in ähnlichen Etappen und mit ähnlichen Methoden erfolgt. Das heißt natürlich nicht, daß der Druck nicht oft hart und der Verlust an wirtschaftlicher Selbständigkeit nicht für viele der Betroffenen bitter war, oder daß man die begeisterten Erklärungen der umerzogenen Unternehmer, wieviel besser sie sich in ihrer neuen Rolle als Angestellte des Staates fühlten, für bare Münze nehmen soll. Aber es heißt, daß die chinesischen Kommunisten sich diese gewaltigen Umwälzungen dadurch erleichtert haben, daß sie nicht ganze Klassen von vornherein als Feinde behandelten, sondern sich das kühne Ziel setzten, gleichzeitig mit den materiellen Lebensbedingungen dieser Klassen auch ihre Haltung zu Staat und Wirtschaft, zu Eigeninteresse und Gesamtinteresse umzuformen — oder, um es in marxistischer Sprache auszudrücken, das gesellschaftliche Bewußtsein dieser Millionen gleich-zeitig mit ihrem gesellschaftlichen Sein zu transformieren.
Was das für die Ideologie und den Arbeitsstil der chinesischen Kommunisten bedeutet hat und noch bedeutet, davon wird weiter unten die Rede sein. Hier will ich nur noch einmal unterstreichen, daß alle diese originellen Leistungen des chinesischen Kommunismus, angefangen von der Machtergreifung mit Hilfe einer wesentlich aus Bauern rekrutierten Partisanenarmee über die Ersetzung der Volksfrontkoalition durch eine Politik des Klassen-bündnisses im Rahmen der einen kommunistischen Partei bis zum Entschluß, die bürgerlichen und bäuerlichen Klassen nach dem Siege nach Möglichkeit lieber umzuerziehen als zu liquidieren — daß alle diese Leistungen nur darum möglich gewesen sind, weil Mao sich offenbar niemals hat ernsthaft von der Fiktion leiten lassen, eine kommunistische Diktatur-partei müsse eine Klassenpartei des Proletariats sein. Das gilt aber in besonderem Maße auch von der großen Neuerung des Jahres 1958 — der Einrichtung der Volkskommunen auf dem Lande, in die binnen weniger Monate 100 Millionen Bauernfamilien, also die überwiegende Mehrheit des chinesischen Volkes, hineingetrieben wurden.
Das Neue an den Volkskommunen
Das wesentlich Neue an diesen Kommunen bestand nicht einfach in der Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Kollektive zu sehr viel größeren Einheiten, auch nicht in dem höheren Grad der Ersetzung von Familieneigentum durch Gemeineigentum, sondern darin, daß in diesen neuen Produktionseinheiten die bisherige Freizeit der Bauern in raffiniert orgasierter Arbeitsteilung und unter quasi-militärischer Disziplin ausgenutzt wurde, um in größtem Umfang hausindustrielle Produktion zu organisieren
Nur: Vom Klassenstandpunkt hatte auch diese Neuerung Maos einen Haken. Denn während die klassische, sowjetische Methode der Industrialisierung darauf hinausläuft, daß man die überflüssige Landbevölkerung durch Hunger in die neuen Städte treibt und damit den Anteil des Industrieproletariats an der Bevölkerung schnell vermehrt, wird bei der chinesischen Methode diese überschüssige Bevölkerung in den Volkskommunen an Ort und Stelle, auf dem Lande selbst und ohne Trennung von der Scholle, zu primitiver Industrieproduktion mobilisiert, also ohne das eigentliche Industrieproletariat sofort zu vermehren. Das hat natürlich zwingende objektive Gründe in dem Mangel an Kapital für eine Industrialisierung vom Stalinschen Typus, ganz wie die Methode des Partisanenkrieges ihre zwingenden Gründe in dem Fehlen einer breiten, kampfkräftigen Arbeiterbewegung und die relativ schonende Transformation des Kleinbürgertums und der Bauernschaft ihre zwingenden Gründe darin hatte, daß diese Klassen nun einmal in China noch immer die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bilden. Die chinesischen Kommunisten sind sich dieser Kontinuität der Probleme und Lösungsmethoden auch durchaus bewußt; sie haben bei der Bildung der Volkskommunen ausdrücklich an die Methoden improvisierter industrieller Selbstversorgung angeknüpft, die sie während der Jahrzehnte des Partisanenkrieges in den ländlichen Sowjetgebieten entwickelt hatten. Aber auch die Bildung der Volkskommunen war, ganz wie die früheren Neuerungen Maos, nur möglich, weil für Mao die Gesamttransformation der Gesellschaft in kommunistischer Richtung wichtiger war als das spezifische Dogma, die kommunistische Herrschaft könne nur durch die schnelle Stärkung des Industrie-proletariats dauernd gesichert werden.
Es ist in erster Linie die Loslösung von diesem proletarischen Dogma, die es Mao wieder und wieder ermöglicht hat, die kommunistische Strategie in schöpferischer Weise an die Probleme eines übervölkerten und unterentwikkelten Landes anzupassen, das seine Revolution noch mit weit weniger Industrie begann als Rußland vor 40 Jahren — und mit einem ganz anderen, unvergleichbaren Bevölkerungsdruck. Doch der Sinn dieser Anpassung ist nicht gewesen, sich in Anbetracht der rückständigeren Bedingungen einstweilen mit bescheideneren Zielen zu begnügen, sondern im Gegenteil, diese objektiven Bedingungen mit Hilfe der Staatsmacht und der Umerziehung des ganzen Volkes in einem Tempo zu transformieren, das nicht nur Marx, sondern auch Lenin und Stalin für unmöglich gehalten hätten. Der Sprung über die objektiven Bedingungen Aus der vorstehenden Analyse ergibt sich, daß ohne die stillschweigende, aber konsequente und daher zweifellos bewußte Loslösung Maos vom proletarischen Klassendogma die Machtergreifung und die Machtbehauptung der Kommunisten in China, wo das Industrieproletariat noch vielfach schwächer war als im Ruß-land von 1917, nie möglich gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Maosche „Abweichung" vom Marxismus nicht zufällig, sondern notwendig war — notwendig, weil in China alle objektiven Voraussetzungen des Sozialismus oder gar Kommunismus im Marxschen Sinne ganz offenbar fehlen. Der Gedankengang von Karl Marx war in sich völlig logisch: Danach war die Beendigung der Ausbeutung und die Möglichkeit einer klassenlosen Gesellschaft an die Bedingungen materiellen Überflusses und hohen Bildungsniveaus der Allgemeinheit gebunden, und diese sollten durch die gewaltige Produktivität der modernen industriellen Massenproduktion heraufgeführt werden. In unterentwickelten Ländern, wo die moderne Industrie nur als Insel in einem Meer von Bauern existiert, die an der Hungergrenze dahinvegetieren, kann offenbar von Sozialismus im Marxschen Sinne noch nicht ernsthaft die Rede sein; der Versuch, in solchen Ländern die Produktionsmittel zu verstaatlichen, kann wohl zu einer planwirtschaftlichen Diktatur und zur Ersetzung der privatkapitalistischen Ober-klasse durch eine neue Klasse von staatskapitalistischen Bürokraten, nicht aber zur klassenlosen Gesellschaft oder zur Demokratie der Werktätigen führen. Genau das ist schon vor der Machtergreifung der Bolschewiki von ihren menschewistischen Kritikern warnend geltend gemacht worden; und das völlige politische Scheitern der Menschewisten sollte uns nicht blind machen gegenüber der intellektuellen Redlichkeit und Treffsicherheit ihrer Voraussagen, die von der Geschichte der Sowjetunion und des kommunistischen China restlos bestätigt worden sind.
Es liegt eine reizvolle Ironie der Geschichte darin, daß sich die russischen Bolschewiki im Winter 1958/59 gegen ihre chinesischen Genossen haargenau der gleichen marxistischen Argumente bedienen mußten, die 40 Jahre zuvor von ihsen menschewistischen Kritikern gegen sie selbst geltend gemacht wurden — als nämlich die chinesischen Kommunisten im Überschwang ihrer permanenten Revolution die neuen Volkskommunen als ein abgekürztes Verfahren anpriesen, um direkt in die höhere Stufe der klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft hineinzuspringen und die russischen älteren Brüder mit einem gewaltigen Satz einzuholen und zu überholen. Wenn die Bauern in den Volkskommunen einen Teil ihrer Arbeitszeit mit primitiver Hausindustrie zubrachten — war das nicht die von Marx vorausgesagte Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land? Wenn sie statt Löhnen nur noch Rationen in Naturalien und ein kleines Taschengeld erhielten, und zwar gleiche Rationen unabhängig von ihrer Leistung — war das nicht die Verwirklichung der Marxschen Formel für die höhere Stufe des Kommunismus, „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen"? Es blieb den Sowjets vorbehalten, trocken und etwas säuerlich zu erklären, daß diese Formel sich auf ein Stadium des Überflusses und nicht der Rationierung bezieht, daß Überfluß modernste Produktionsmethoden voraussetzt, daß die erforderliche hohe Produktivität nicht ohne eine längere Periode von materiellen Anreizlöhnen, und das heißt von differenzierten Geldlöhnen, erreicht werden kann, und auch nicht ohne eine längere Periode der beruflichen Arbeitsteilung zwischen Industrie und Landwirtschaft
Die chinesischen Kommunisten haben diese Mahnungen zu größerer Bescheidenheit und nüchternem Realismus nach einigen Monaten auch angenommen — teils unter dem Druck der Schwierigkeiten, die bei der überstürzten Durchführung ihres allzu ehrgeizigen Programms entstanden waren, und teils im Austausch für die Gewährung einer neuen, substantiellen Rate sowjetischer Kapitalhilfe. Doch die Grundtendenz, die sich bei dieser Gelegenheit gezeigt hatte — der Versuch, die objektiven materiellen Bedingungen im Sinne des Marxismus noch kühner zu überspringen als die Bolschewiki selbst, so daß diese nun in die Rolle ihrer eigenen menschewistischen Kritiker von einst gedrängt werden, sollte auch weiterhin für den chinesischen Kommunismus charakteristisch bleiben.
Die „idealistische" Umstülpung des Marxismus Daran ist auch durchaus nichts innerlich Unmögliches. Denn jene marxistische Kritik an den utopischen Illusionen der Bolschewiki von einst und der chinesischen Kommunisten von heute übersah und übersieht einen politisch wesentlichen Punkt. Es ist zwar unmöglich, in einem unterentwickelten, rückständigen, kapitalarmen Land mit Hilfe staatlicher Planwirtschaft in den Sozialismus im Marxschen Sinne, in die klassenlose Gesellschaft hineinzuspringen. Aber es ist, wie Stalin gezeigt hat, durchaus möglich, mit Hilfe einer planwirtschaftlichen, bürokratischen Diktatur das Tempo der Industrialisierung und überhaupt der Modernisierung eines solchen Landes enorm zu beschleunigen. Die Gesellschaft, die dabei entsteht, ist gewiß alles andere als klassenlos oder demokratisch, und also alles andere als sozialistisch im Marxschen Sinn. Doch sie durchlebt den Prozeß der Rationalisierung, der industriellen Disziplinierung der Massen und der Kapitalakkumulation, der in den alten Industrieländern Europas Jahrhunderte gedauert hat, in einigen Jahrzehnten. Der Grund ist, daß die Rolle der Gewalt und der Ideologie — zweier nicht im engen Sinne ökonomischer Faktoren — bei diesem Prozeß der treibhaus-mäßig beschleunigten Modernisierung in den kommunistischen Diktaturen weit großer ist, als Marx sich jemals hätte vorstellen können
Wenn man heute rückblickend nach den Kernpunkten fragt, in denen Lenins politische Konzeption vom klassischen Marxismus abwich, so kommt man auf zwei Grundgedanken: Die Überzeugung von der Notwendigkeit einer zentralistisch aufgebauten Partei, der die Rolle zufällt, ihre Vorstellung von der geschichtlichen Aufgabe in die Arbeiterklasse hinein-zutragen, und von der Möglichkeit, diese Partei könne in einer Situation, in der die industriellen Voraussetzungen des Sozialismus noch fehlen, die diktatorische Staatsmacht ergreifen und behaupten und doch an ihren Zielen festhalten. Wenn man weiter tragt, worin Stalin über Lenin hinausging, so muß die Antwort lauten: In der Anwendung dieser Partei-macht mit einer bis dahin geschichtlich unerhörten Gewaltsamkeit zur fortgesetzten Umwälzung der Gesellschaft. Die Originalität Mao Tse-tungs, der sich ein ähnliches Ziel unter noch viel rückständigeren Bedingungen setzte, besteht nun darin, daß er neben der Rolle der Gewalt die Möglichkeiten der Umformung des Massenbewußtseins, über die ein modernes totalitäres Parteiregime verfügt, noch weit zielbewußter als die Sowjets als Waffe der* gesellschaftlichen Umwälzung eingesetzt hat. Karl Marx hat bekanntlich gesagt, die Dialektik des geschichtlichen Prozesses stünde bei seinem Lehrer Hegel auf dem Kopf, weil Hegel sie als Dialektik des Gedankens verstanden hatte; man müsse sie auf die Füße stellen, also als Dialektik der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse begreifen, „um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu finden". Nun, je weiter und je länger der Marxismus nach Osten wanderte, aus den alten, entwickelten Industrieländern weg, desto weniger blieb von diesem ökonomischen Materialismus übrig und desto stärker wurde die aktive Rolle des Bewußtseins als Faktor der Umwälzung wieder in den Vordergrund geschoben — bis man heute von Mao Tse-tungs Methode wirklich sagen kann, er habe die Marxsche Dialektik wieder auf den Kopf gestellt.
Die Umerziehung der Kader — Maos innerparteilicher Stil Diese idealistische Umstülpung des Marxismus hat sich nun im Laufe der Jahre mehr und mehr im Denk-und Arbeitsstil der chinesischen kommunistischen Partei ausgedrückt und seine Eigenart geprägt. Der Punkt, an dem diese Eigenart zum erstenmal sichtbar wurde, war die erste Kampagne des sogenannten Cheng Feng in den Jahren 1941/42. Cheng Feng heißt Berichtigung oder Ausrichtung des Denkens, Korrektur unorthodoxer Tendenzen, und zwar handelte es sich hier ausgesprochen um die Erziehung zur „richtigen" Denkweise innerhalb der Partei. Zu jener Zeit, mitten im Weltkrieg, hatte Mao sein Hauptquartier noch in Yenan, tief in Nordwestchina, aber seine Armeen kontrollierten erhebliche Teile des Landes, und er hatte mit Tschiang Kai-scheks Regierung ein Abkommen auf Waffenstillstand und Zusammenarbeit gegen die Japaner. Seine Partei hatte also gleichzeitig die Probleme einer herrschenden Partei im eigenen Territorium und einer komplizierten Koalitionsdiplomatie im Verhältnis zu Tschiang, dem Todfeind, aber zeitweiligen Verbündeten. Es ist gewiß kein Wunder, daß dieser Druck ganz verschiedenartiger Probleme zu erheblichen innerparteilichen Spannungen, Auseinandersetzungen und Rivalitäten führte; und viele der verantwortlichen Funktionäre hatten offenbar die Tendenz, diese Meinungsverschiedenheiten mit den gleichen Methoden zu entscheiden wie Stalin — nämlich mit der Abstempelung ihrer jeweiligen innerparteilichen Gegner als Feinde der Partei und Verräter und mit der Anwendung von Polizeimethoden im innerparteilichen Kampf. Gegen diese Tendenzen wandte sich schon 1941 in Maos Auftrag Liu Shao-tschi, der inzwischen Maos Nachfolger als Staatschef geworden ist, in einer Broschüre über die Methoden des innerparteilichen Kampfes
Denn freilich: Kampagnen gegen Sektierertum und gegen mechanisches Auswendiglernen hat es bei den Bolschewiki auch gegeben. Aber nur bei den chinesischen Kommunisten gibt es diese Betonung des Gedankens, daß der ganze Erfolg der Partei in der Erziehung der Kader von der richtigen Denkmethode abhängt und daß die Tendenzen zum Abfall in faulen Liberalismus auf der einen und enges, kommandierendes Sektierertum auf der anderen Seite nicht nur das Produkt fremder Klasseneinflüsse, sondern die natürlichen Versuchungen menschlicher Schwäche sind, gegen die das Parteikollektiv den einzelnen mit nimmermüder puritanischer Wachsamkeit schützen muß.
Mehr und mehr kommt so ein moralisch-idealistischer Ton in die Parteiarbeit hinein; mehr und mehr wird auch darauf bestanden, den Sünder nicht nur zu kritisieren und, wenn nötig, seiner Funktion zu entheben, sondern ihn wirklich zu „korrigieren", d. h. zu bessern, sein Eingeständnis seiner Fehler und Einverständnis mit den getroffenen Maßnahmen durch moralisch-ideologischen Druck zu erreichen. Und es ist Tatsache, daß in der Geschichte des chinesischen Kommunismus unter Mao Parteisäuberungen im Sinne eines Aussiebens der Mitgliedschaft zwar häufig vorgekommen sind, Beseitigungen von führenden Kommunisten als Verrätern nach Stalinschem Muster aber nur in ganz vereinzelten Fällen.
Es ist diese Atmosphäre des von oben gesteuerten, aber durch das Kollektiv von unten ausgeübten ideologisch-moralischen Drucks, von Mao als innerparteilicher Stil in der Wildnis von Yenan entwickelt, die nach dem Endsieg 1949 auf die Umerziehung des ganzen Volkes und besonders der kleinbürgerlichen Schichten übertragen wurde. Sie erklärt, daß bei aller Brutalität der chinesischen Kollektivierung der Polizeiterror, die physische Gewalt eine so viel geringere Rolle gespielt hat als in Rußland, und der Nachbarschaftsterror, der mit ideologisch-moralischen Mitteln arbeitet, eine so viel größere. Daß China heute das klassische Land der „Gehirnwäsche", der Manipulierung der Seele des einzelnen durch den ideologischen Apparat des totalen Staates ist, ist letzten Endes ein Ausdruck dieser besonderen Betonung des Bewußtseins im Versuch, die objektiv rückständigen Bedingungen zu überspringen. Nirgends hat sich diese Eigenart , des chinesischen Kommunismus ideologisch schlagender manifestiert als in der Krise der kommunistischen Weltbewegung, die 1956 von der Entgötterung Stalins durch Chruschtschows Geheimrede ausgelöst wurde, überall im europäischen Kommunismus rief das Eingeständnis von Stalins Verbrechen die bange Frage hervor, wie solche Entartungserscheinungen in einer sozialistischen Gesellschaft möglich gewesen seien. Selbst ein so treuer Paladin wie der italienische Kommunistenführer Tog-liatti kokettierte mit der trotzkistischen und titoistischen These, Stalins Schreckensherrschaft sei nur auf dem Hintergrund der kasten-mäßigen Abschließung der neuen staatskapitalistischen Bürokratie möglich gewesen. Die offizielle Antwort der Bolschewistenführer, die sowjetische Gesellschaft habe sich trotz Stalins sogenannter Fehler die ganze Zeit in sozialistischer Richtung vorwärts entwickelt und die Ausmordung einer ganzen Generation von Revolutionären sei nur eine bedauerliche Begleiterscheinung des Persönlichkeitskults, befriedigte niemanden. Nur die chinesischen Kommunisten fanden eine in ihrem Denkschema völlig sinnvolle Antwort: Es sei falsch, so sagten sie, für Stalins Fehler gesellschaftliche oder klassenmäßige Wurzeln zu suchen — die Ursachen dieser Fehler lägen lediglich in seinem Verlassen des richtigen Denkstils zugunsten einer falschen, subjektivistischen und „kommandistischen" Denkmethode
Das Experiment von 1957
So war es denn auch logisch, daß die chinesischen Kommunisten auf diese Erschütterung, und besonders auf den Schock der ungarischen Revolution, 1957 mit einer neuen Cheng Feng Kampagne reagierten. Aber diesmal ging Mao in seiner idealistischen Umstülpung des Marxismus noch weiter als 15 Jahre zuvor. Er erklärte nunmehr ausdrücklich, es sei normal, daß auch in einer sogenannten sozialistischen Gesellschaft Widersprüche bestünden — in andern Worten, daß auch in einem Land unter kommunistischer Parteidiktatur Unzufriedenheit und Interessenkonflikte existierten. Doch diese Widersprüche blieben „nichtantagonistisch", d. h. nicht explosiv, solange die Partei die richtigen Methoden anwende — solange sie nämlich genug Ventile offen ließe, um die Existenz von Unzufriedenheit und Konflikten rechtzeitig zu bemerken, und solange sie auf solche Symptome mit genug taktischer Elastizität und Überzeugungskraft reagiere, um die unzufriedenen Elemente im Rahmen der Loyalität zum Regime zu halten. Nur wo die Parteiführung den falschen Arbeits-und Denkstil habe, könnten solche Konflikte vom äußeren Klassenfeind ausgenutzt werden und wie in Ungarn einen „antagonistischen*, also regime-gefährdenden Charakter annehmen
So wurde die zweite Cheng Feng-Kampagne von 1957 zum Anlaß der bewußten Öffnung von Ventilen für Kritik in der Presse, in Diskussionen und Petitionen, ja für gelegentliche legale Streiks, alles im Vertrauen, die KP Chinas sei ideologisch stark genug, um mit aller Unzufriedenheit teils durch Detailreformen, teils durch gutes Zureden fertig zu werden. Doch die Praxis zeigte bald die Grenzen dieser kommunistischen Form der moralischen Aufrüstung: Die Nöte der chinesischen Massen waren viel zu schwer, die Interessenkonflikte viel zu ernst, um sich mit bloßem Zureden aus der Welt schaffen zu lassen, wenn sie einmal an die Oberfläche kamen. Binnen kurzem war Mao gezwungen, die Ventile wieder zu schließen, den Deckel erneut auf den übersprudelnden Kessel zu setzen, die allzumutigen Kritiker als eingeschlichene Feinde zu behandeln. Es zeigte sich, daß Bewußtseinsmanipulation im totalen Staat die Gewalt nicht ersetzen, sondern nur ergänzen kann.
Ganz so wie die Überbetonung der Rolle des Bewußtseins durch die chinesischen Kommunisten dem mißlungenen „rechten" Experiment mit der Diskussionsfreiheit von 1957 zugrundelag, so erklärt die gleiche Überbetonung auch die „linken" Übertreibungen bei der Schaffung der Volkskommunen im folgenden Jahr. Wieder glaubten die kommunistischen Kader, ideologischer Druck una Erziehung würden auf die Dauer genügen, um Hunderte von Millionen Bauern ohne Anreizlöhne zu mehr als 12stündiger Arbeit zu zwingen und zum praktischen Verzicht auf das Leben im Familienhaushalt zu veranlassen — und wieder mußten sie sich erst durch die enormen Schwierigkeiten der Praxis überzeugen, daß sie zu weit gegangen waren und daß die schnöde materialistische Kritik der Sowjets einen berechtigten Kern hatte.
Keine dieser Korrekturen konnte freilich die idealistische Grundtendenz ändern, die in der Geschichte und Ideologie der chinesischen Kommunisten tiefe Wurzeln hat und die immer wieder zu Differenzen, Rivalitäten und Konflikten mit den Sowjets führt. Diese Wurzeln gehen letzten Endes auf die Bedingungen der Armut und Rückständigkeit Chinas zurück, die von den Kommunisten noch kühnere Sprünge erfordern als in Rußland. Aber derartige Bedingungen bestehen ja nicht nur in China, sondern mehr oder weniger in allen unterentwickelten Ländern, besonders da, wo wirtschaftliche und technische Rückständigkeit zusammen mit rapider Bevölkerungszunahme und traditionellen Lebensformen, die eine industrielle Modernisierung behindern, einen wahren Zauberkreis der auf den ersten Blick unlösbaren Probleme bilden. Das gilt heute noch von großen Teilen Asiens, des Nahen Ostens und in etwas anderer Art auch Lateinamerikas. Doch gerade in diesen Ländern ist oft die Anziehungskraft des Kommunismus weit größer als in den Industrieländern Europas mit ihrer starken, seit langem organisierten Arbeiterschaft — besonders seine Anziehungskraft auf die modernistischen, nationalistischen Intellektuellen, deren ehrgeiziger Tatendrang ungeduldig nach einem Ausweg aus dem Zauberkreis der Stagnation und Rückständigkeit sucht. Der Kommunismus interessiert diese Schicht nicht als eine Form der Arbeiterbewegung oder als angebliche Verwirklichung eines Ideals sozialer Gerechtigkeit, sondern eben als ein solcher Ausweg — als ein Rezept zum gewaltsamen Herausreißen ihrer Länder aus der Stagnation und zum schnellen Aufbau eines machtvollen modernen Staates.
China als Vorbild der Revolution in Asien
Für Menschen, die sich aus diesen Gründen für den Kommunismus interessieren, ist aber das Beispiel Chinas offenkundig zunächst noch näherliegend, unmittelbarer anwendbar und deshalb eindrucksvoller als das der Sowjetunion. So war es unvermeidlich, daß sowohl die Kommunisten wie die kommunistenfreundlichen Intellektuellen Asiens mehr und mehr auf China blickten und von China zu lernen suchten. Angesichts der geschichtlich gewordenen Verschiedenheiten zwischen der Ideologie des sowjetischen und chinesischen Kommunismus lag in dieser Anziehungs-und Expansionskraft des Maoschen Vorbildes aber von nun an auch die Möglichkeit eines Konflikts — des Konflikts zwischen dem Autoritätsanspruch Moskaus, des älteren und noch immer unvergleichlich mächtigeren Partners im Bündnis der beiden kommunistischen Großreiche, und der tatsächlich schnell wachsenden Autorität Chinas, des jüngeren und schwächeren, doch heute ungleich dynamischeren Partners. Dieser Konflikt wurde von den beiden Partnern gewiß nicht gewollt. Genau wie sie bemüht waren, im gemeinsamen Interesse ihres Bündnisses gegen die nichtkommunistische Welt ihre materiellen Interessenkonflikte in größter Heimlichkeit zu regeln und gar nicht erst an die Oberfläche kommen zu lassen, ob es sich nun um die Ausbeutung der Bodenschätze im an Rußland grenzenden Sinkiang oder den Einfluß beider Seiten auf die äußere Mongolei, um das Tempo und Ausmaß der sowjetischen Kapital-hilfe für die Industrialisierung Chinas oder die künftige Produktion eigener chinesischer Atomwaffen handelte — genauso haben beide Seiten lange versucht, jedes Sichtbarwerden von ideologischer Rivalität um den Einfluß in der kommunistischen Weltbewegung zu vermeiden. Anfänglich wurde das auch durch die Folgen der langjährigen Isolierung der chinesischen Kommunisten von der Außenwelt erleichtert. So gewiß Mao Tse-tung und seine Mitarbeiter ihren eigenen Weg zur Macht gingen, ohne Stalins Rat in chinesischen Dingen zu folgen, so gewiß verließen sie sich in den langen Jahren in der Wildnis auf die Informationen und das Bild von den weltpolitischen Vorgängen, die ihnen von sowjetischer Seite vermittelt wurden. Das Weltbild der chinesischen Kommunisten war, im Unterschied zur Originalität ihrer innerchinesischen Strategie, hundertprozentig stalinistisch, und die Brutalität, mit der Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag Anfang 1956 Stalins Autorität zerstörte, kam Mao aus diesem Grunde höchst unerwünscht.
Umgekehrt war Stalin selbst bereit gewesen, 1948/49 aus dem Siege der chinesischen Kommunisten, der ihm überraschend kam, zu lernen: Er wollte keinen zweiten Titokonflikt mit einem weit stärkeren und als Verbündeter weltpolitisch weit wichtigeren Partner. Unmittelbar nach Maos Sieg folgte eine ganze Serie von übereilten und wenig erfolgreichen Versuchen der Kommunisten Asiens, in Burma, Malaya, Indonesien, den Philippinen und selbst in Indien, die chinesische Taktik des Partisanenkrieges zu kopieren. Und auf der Pekinger Tagung des kommunistischen Weltgewerkschaftsbundes Ende 1949 konnte Liu Shao-tschi, der Parteitheoretiker Maos und seither sein Nachfolger als Staatschef, die Strategie der chinesischen Kommunisten mit Moskaus Zustimmung ausdrücklich als Vorbild für die Kommunisten Asiens proklamieren
China als Pionier der Blockdiplomatie in Asien
Es war unvermeidlich, daß die Rolle der chinesischen Kommunisten in der Herausarbeitung der Asienpolitik des Sowjetblocks nach Stalins Tod noch bedeutender wurde als vorher. Dasselbe Jahr 1954, in dem Chinas Ministerpräsident Tschou En-lai auf der Genfer Konferenz der Großmächte erschien und mithalf, den Waffenstillstand in Indochina zu schließen, sah auch den Beginn der aktiven Diplomatie Chinas gegenüber den neutralen Ländern Asiens — die Verkündung der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz und Nichteinmischung durch Tschou und den indischen Ministerpräsidenten Nehru, ironischerweise ausgerechnet aus Anlaß eines Abkommens über Tibet, und Tschous erste Staatsbesuche bei seinen neutralen Nachbarn. All dieser Aktivität lag deutlich eine erste Revision des Stalinschen Weltbildes zugrunde — Peking hatte sich überzeugt, daß die großen ehemaligen Kolonialländer wie Indien, Burma, Indonesien nicht nur zum Schein unabhängig geworden und in Wirklichkeit Werkzeuge der imperialistischen Westmächte geblieben waren, wie das Kominform bis dahin gelehrt hatte, sondern echte außenpolitische Bewegungsfreiheit besaßen, und daß es der Mühe wert war, sie neutral zu erhalten und am Anschluß an das neue SEATO-Bündnis zu hindern. Als im Herbst desselben Jahres Chruschtschow, Bulganin und Mikojan nach Peking kamen, waren sie sich mit ihren Gastgebern nicht nur über die Richtigkeit dieser neuen Analyse und der darauf gegründeten neuen diplomatischen Taktik einig, sondern auch über die Notwendigkeit einer neuen Haltung gegenüber Japan, das nicht mehr von vornherein als Feind behandelt werden, sondern zwecks Loslösung vom amerikanischen Bündnis umworben werden sollte. Im folgenden Jahre erreichte die neue Asiendiplomatie ihren sichtbaren Höhepunkt mit der außerordentlich erfolgreichen Teilnahme Tschous an der Konferenz der asiatischen und afrikanischen Nationen in Bandung einerseits, der Indienreise Chruschtschows und Bulganins andererseits; und eines der grundsätzlich bedeutendsten Ergebnisse des sowjetischen XX. Parteitages im Februar 1956 war die ausdrückliche theoretische Revision des Stalinschen Dogmas über die exkolonialen Nationen durch Chruschtschow und die Proklamierung einer außenpolitischen Konzeption, die sich das Ziel setzte, über das sogenannte „sozialistische Lager", also über den Sowjetblock hinaus, eine neutrale „Zone des Friedens" zu schaffen
Mao und die Krise des Sowjetblocks
In dieser ganzen Entwicklung erwiesen sich die chinesischen Kommunisten als Pioniere einer neuen, erfolgreichen Politik des ganzen Sowjetblocks in Asien, ohne daß sich daraus irgendwelche organisatorische Konsequenzen ergaben: Soviel wir wissen, gingen die technischen Verbindungen der meisten kommunistischen Parteien Asiens weiterhin nicht nach Peking, sondern nach Moskau, und Peking schien keinen Anspruch auf direkten organisatorischen Einfluß zu erheben — außer in Ländern, wo die Kommunisten ganz überwiegend chinesischer Nationalität waren, wie in Malaya. Doch die formelle Auflösung des Kominformbüros im April 1956 mußte die Frage nach der Form der internationalen Kontakte erneut auf die Tagesordnung stellen, und das gerade im Augenblick, wo die traditionelle Autorität der Sowjetunion durch Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Verbrechen in der ganzen kommunistischen Welt-bewegung erschüttert war und wo selbst wichtige europäische Kommunistenführer nach Peking pilgerten, um sich angesichts der verwirrenden Neuigkeiten aus Moskau bei Maos ungebrochener Autorität — der Autorität des Führers einer siegreichen Revolution und nicht eines Nachfolgers von Nachfolgern — Trost und theoretische Sicherheit zu holen. Je stärker im Fortgang des Jahres 1956, auf Grund der polnischen und ungarischen Ereignisse, die Krise der kommunistischen Ideologie im allgemeinen und der sowjetischen Autorität im besonderen in Erscheinung trat, um so häufiger wurden diese kommunistischen Pilgerfahrten zum Orakel von Peking.
Um die Jahreswende 1956/57 wurde es klar, daß die Überwindung der Krise und der künftige Zusammenhalt des Sowjetblocks zu einem wesentlichen Teil vom Einsatz der intakten Autorität Maos abhängen könnte, und die chinesischen Kommunisten waren viel zu brennend am Funktionieren der sowjetischen Großraumwirtschaft in Osteuropa interessiert, um diesen Einsatz zu verweigern. Er erfolgte theoretisch mit ihrer Stellungnahme zu Stalins Fehlern, worin sie die Sowjetunion von allen strukturellen Entartungserscheinungen frei-sprachen, mit ihrer Verurteilung der ungarischen Volkserhebung als „gegenrevolutionär“ und mit ihrer Zurückweisung auch der zögernden und vorsichtigen jugoslawischen Kritik an der sowjetischen Intervention in Ungarn; und er wurde praktisch-diplomatisch ergänzt durch Tschou En-lais Europabesuch und seine Vermittlungsaktion zwischen Chruschtschow und der neuen polnischen Parteiführung unter Gomulka
Der Beginn der ideologischen Rivalität
Doch es verging kein halbes Jahr nach dieser Novemberfeier, bevor die ersten Zeichen der gefürchteten ideologischen Rivalität sich zeigten. Im April 1958 nämlich gründeten die chinesischen Kommunisten ihre erste experimentelle Volkskommune, und sie gaben ihr den ominösen Namen — Sputnik
Wir können über die Ursachen nur Vermutungen anstellen. Aber wir wissen, daß die Volkskommunen als Teil des Versuches entstanden, die dringlichsten Probleme der Hebung der chinesischen Produktion trotz extremen Kapitalmangels zu lösen, und wir wissen auch, daß dieser Versuch zum Teil deshalb nötig wurde, weil die Sowjetunion China zwar in erheblichem Umfang maschinelle Ausrüstungen für neue Fabriken anbot, aber seit 1956 keine neue Kredithilfe mehr zur Finanzierung ihres Ankaufs
So kam es im Herbst und Winter 1958 zum ersten Mal zu ziemlich unverhüllten ideologischen Rivalitäten zwischen Peking nud Moskau. Während Pekings Kampagne für die neuen Volkskommunen auf dem Höhepunkt war, schwieg Moskau zunächst über das ganze Unternehmen, veröffentlichte dann einige betont nüchterne Berichte über die heroische Primitivität der auf dem Lande geschallenen Hochöfen und die kriegskommunistische Atmosphäre der Arbeit in den Kommunen und begann schließlich, in theoretischen Artikeln über den Weg zum Kommunismus in der Sowjetunion ohne jede Erwähnung Chinas wieder und wieder zu betonen, daß Fortschritt zur höheren Stufe des Kommunismus ohne die höchste technische Produktivität unmöglich sei
Auch die meisten osteuropäischen Satelliten folgten dieser Moskauer Sprachregelung. Doch'gerade einige der primitivsten von ihnen, besonders Bulgarien und Albanien, zeigten sich von dem chinesischen Experiment in hohem Grade angezogen. In Albanien wurde die chinesische Methode der Heranziehung leitender bürokratischer Funktionäre zu gelegentlicher körperlicher Arbeit als ein Symbol der „Klassenlosigkeit" kopiert
Die sowjetische Gegenaktion Die entscheidende sowjetische Gegenaktion, von den zu vermutenden, nicht öffentlichen Eingriffen in den verschiedenen kommunistisch regierten Ländern abgesehen, erfolgte im Zusammenhang der Vorbereitung des XXL Parteitags der KPdSU; und vieles spricht dafür, daß dieser außerordentliche, also statutenmäßig noch nicht fällige Parteitag hauptsächlich aus diesem Grunde einberufen wurde. Denn der einzige Tagesordnungspunkt, der neue Siebenjahresplan, hätte auch in anderer Form beschlossen und popularisiert werden können; ein Parteitagsthema wurde er nur dadurch, daß dieser Plan nicht als ein rein wirtschaftliches Programm, sondern als der erste Schritt der Grundlegung für die höhere Stufe des Kommunismus, und der Parteitag selbst als „Kongreß der Erbauer des Kommunismus" firmiert wurde. So gab die Vorbereitung für den Parteitag umfassende Gelegenheit, wieder und wieder den Zusammenhang zwischen Produktivität, Lebensstandard und Übergang zur klassenlosen Gesellschaft in orthodox marxistischer Weise herauszustellen, und auch die Notwendigkeit der differenzierten Anreizlöhne und überhaupt der Erhaltung des Geldmaßstabes auf dem Wege zum Kommunismus zu betonen — und jedes dieser Argumente war ein Schlag gegen die Ansprüche der chinesischen Kommunisten und gegen ihr idealistisches überspringen der objektiven Bedingungen, obwohl sie nie dabei erwähnt wurden.
Bereits im Dezember 1958 wurde der Druck dieser Kampagne sowjetischer Kritik, zusammen mit dem Druck der praktischen Schwierigkeiten, die sich bei der Durchführung des Volkskommunenprogramms herausgestellt hatten, so stark, daß die chinesische Parteiführung einen teilweisen Rückzug antreten mußte. Auf der Dezembertagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas wurden die Vorstellungen vom direkten Hineinspringen in den „Kommunismus" korrigiert, und es wurde anerkannt, daß es sich einstweilen nur um den Aufbau des „Sozialismus" und die Schaffung gewisser Keime des Kommunismus handle — der wirkliche Übergang zur klassenlosen Gesellschaft werde viele Jahre dauern
Es war vorauszusehen, daß die Liquidierung des ersten sichtbaren ideologischen Konflikts die Wurzeln der Rivalität nicht beseitigen würde. Auch weiterhin hielten die chinesi sehen Kommunisten daran fest, daß ihre Volks-kommunen immerhin Keime des Kommunismus enthielten und damit den Anfang eines eigenen, originellen Weges zur klassenlosen Gesellschaft darstellten. Hinter dieser Differenz aber steht der ganze historisch bedingte Unterschied im Denkstil der chinesischen und sowjetischen Kommunisten, der immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten und Rivalitäten führen muß.
Doch so gewiß die Eigenart der chinesischen kommunistischen Ideologie und Strategie auf die Bedingungen der Modernisierung eines unterentwickelten und übervölkerten Landes zurückgeht, so gewiß ist es. daß die im Zusammenhang mit den Volkskommunen erweckten utopischen Hoffnungen ein Echo in den Herzen und Hirnen nicht nur der chinesischen Kommunisten, sondern vieler anderer Kommunisten Asiens gefunden haben. Und so gewiß war damit zu rechnen, daß diese Kommunisten Asiens bei künftigen Auseinandersetzungen die Sprache der chinesischen Kommunisten leichter verstehen würden als das durch den Fortschritt der industriellen Technik verwestlichte Russisch ihrer sowjetischen Genossen.