Psychische Konfliktsituation als Ausgangslage
Einer Schlußbetrachtung, deren Aufgabe es ist, einige wesentliche Ergebnisse der vorgelegten Studien zusammenzufassen, bietet der Ausgangspunkt wie von selbst sich an. Der Versuch, die psychologischen Strukturen prominenter Führungsfiguren des Dritten Reiches aufzudecken, hat in einem jede Erwartung übertreffenden Maße nahezu die ganze Skala menschlicher Blößen, Mängel und Unzulänglichkeiten zutage gefördert. Eher ratlos sieht sich der Chronist jener Epoche dem Problem gegenüber, so viel Unvermögen, so viel Durchschnittsmaß und charakterliche Nichtigkeit mit den außerordentlichen Wirkungen, die davon ausgingen, in einen begreifbaren Zusammenhang zu bringen. Was ihm begegnet, ist nie Größe, selten ein überragendes Talent, und in kaum einem Falle eine große Besessenheit auf ein Ziel hin; es ist nicht einmal eine im hergebrachten Sinne niedrige Leidenschaft, die groß wäre durch die Intensität des dahinter wirksamen Willens, sondern es sind ganz überwiegend „kleine" Schwächen, Egoismen, in Verstiegenheiten und Antriebe durchaus kleinen, wenn auch enthemmten Charakteren. Die Analyse von Elementen einer Psychologie totalitärer Herrschaftsformen ist zumindest im Falle der führenden nationalsozialistischen Akteure nicht, wie man oft gemeint hat, eine Aufgabe der Dämonologie und nur mit deren vergleichsweise ungesichertem Begriffsapparat zu lösen; sie ist vielmehr die Beschreibung konkreter, individueller Versagens-weisen. Von Hitler bis Heydrich, von Goebbels bis Rosenberg sind es durchweg trieb-oder affektbestimmte Ausgangslagen, von denen her jede einzelne der hier skizzierten Erscheinungen zur Macht drängte oder sich von der bereits zur Macht drängenden Bewegung mitreißen ließ, und das gleiche gilt schließlich von der Masse des Volkes selbst, deren Repräsentanten die führenden Männer des Regimes in diesem Sinne durchaus gewesen sind. Gemeinsam war ihnen allen, daß sie primär nicht von einer übergreifenden Idee, sondern von einer psychischen Konfliktsituation getrieben den Weg in die Politik fanden, was immer auch zur Verschleierung dieses elementaren Sachverhalts an ideologischen Konstruktionen errichtet worden ist; es ging nicht so sehr darum, einen Zukunftsentwurf von verbindender Kraft zu verwirklichen, sondern ein Triebverlangen abzureagieren.
Dennoch war der Nationalsozialismus kein ausschließlich von den individuellen Begehrkeiten seiner Wortführer bestimmter, auf sich selbst beschränkter Machtwille; vielmehr enthielt er zweifellos ein utopisches Element. „Götter und Tiere, so steht die Welt heute vor uns", hat Hitler gelegentlich in einem seiner vertraulichen machtphilosophischen Exkurse vor seiner engsten Umgebung ausgerufen
Wie die Götter aussahen und möglicherweise auch die Tiere, der Idealtypus und die wirkliche Erscheinung; welche Wechselbeziehungen zwischen ihnen bestanden; ob die einen der anderen bedurften; in welchen Voraussetzungen der Mensch erkennbar wird, der die modernen Gewaltherrschaften errichtet und der, mit dem sie errichtet werden können; ja ob es überhaupt den Typus des totalitär disponierten Menschen gibt — in solchen Fragen bekundet sich die Sorge eines „gebrannten" Zeitalters, das die Feuer des Totalitarismus nicht nur scheuen gelernt hat, sondern ihren Ursachen durch Erkenntnis entgegenwirken will. Gewiß liegen große Partien des Problems noch im Dunkeln oder im eher fragwürdigen Bereich massenpsychologischer Deutungsversuche. Immerhin aber lassen sich aus dem tatsächlichen Erscheinungsbild der Gefolgschaft Hitlers sowie aus den spezifischen Ausleseprinzipien des Nationalsozialismus Elemente gewinnen, die diesen Typus eingrenzen und wesentlich markieren.
Totalitäre Herrschaft will einen „neuen Menschen"
Jede totalitäre Herrschaft geht von einem neuen Menschenbild aus, es ist dies geradezu per definitionem das Merkmal, das sie von den klassischen Formen der Zwangsherrschaft unterscheidet. Ihr revolutionärer Anspruch zielt nicht allein auf den Umbau des Staates; sie schreibt nicht nur neue Gesetze vor, fordert nicht nur neue Ordnungsprinzipien oder neue Formen des Zusammenlebens, sondern: den neuen Menschen. Sie will, anders als die großen Umwälzungen vergangener Epochen, nicht die Sachen, sondern die Personen, nicht die Strukturen, sondern die Existenz selbst verändern — eben dies macht sie totalitär. Nichts bezeugt den in diesem strengen Sinne totalitären Charakter des Dritten Reiches eindeutiger als der auf allen gesellschaftlichen Ebenen konsequent unternommene Griff nach dem Menschen mit dem Ziel, einen neuen Typus zu prägen, dessen Bildung von nationalsozialistischer Seite denn auch als „die Aufgabe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden ist
Das ist die große umwälzende Bedeutung unseres langen, zähen Kampfes um die Macht, daß in ihm eine neue Herrenschicht geboren wird, berufen, nicht bloß die Geschicke des deutschen Volkes, sondern der Welt zu lenken."
In zahllosen Reden und Verlautbarungen hat Hitler immer wieder das Bild des „neuen Menschen" beschworen, und die vielen Akklamateure des Regimes, die jedem seiner Schritte oder Programmpunkte einen ideologisch verbrämten Beifall zollten, haben die Heraufkunft dieses Menschen als den Anbruch des „wahrhaft goldenen Zeitalters" gefeiert
Charakterologische Grundsätze der NS-Erziehung
Dem Programm zur Vernichtung der Fremd-oder Gegenrassen entsprachen die Bestrebungen zur „Aufadelung“ der Blutsubstanz des eignen Volkes. Dahinter war die Überzeugung wirksam, daß das deutsche Volk selbst vom postulierten Typus des rassisch reinen Herrenmenschen mit seinen besonderen schöpferischen, kulturellen und führungstechnischen Fähigkeiten weit entfernt sei, ausgenommen die höheren und möglicherweise mittleren Ränge der nationalsozialistischen Gefolgschaft, die eben durch ihren Rang und ihr Bekenntnis zur Person des Führers rassisch legitimiert waren. Sie repräsentierten die Auslese und die Vorstufe zu jener neuen Artprägung, deren Träger identisch in Erscheinung, Ausdruck und Haltung waren. Es mache die Größe der Bewegung aus, so verkündete Hitler gelegentlich, daß „sechzigtausend Mann äußerlich wirklich eine Einheit geworden" seien, „daß nicht nur die Ideen dieser Glieder (der Bewegung) uniform sind, sondern auch ihr physiognomischer Ausdruck. Wenn man diese lachenden Augen sieht, diesen fanatischen Enthusiasmus, dann weiß man .. wie in der Bewegung hunderttausend Menschen ein einziger Typus geworden sind"
Es war indes wohl nur im Verlauf einer jener Exaltationen, in die Hitler während seiner endlosen nächtlichen Monologe im engsten Kreis zu geraten pflegte, wenn er diesen neuen Menschen mit raubtierhaften, dämonischen Zügen malte, „furchtlos und grausam", wie er meinte, so daß er selbst vor diesem Bilde erschrocken sei
Herrenmenschentum und Entpersönlichung, autonomes Machtgefühl und Automatismus, Unerschrockenheit und Unterwürfigkeit: in solchen ambivalenten Bewußtseinslagen offenbarte der verlangte Typus seine wahren Umrisse. Aus der zitierten Passage läßt sich nahezu die gesamte Skala der Dressurformeln des total verfügbaren, auf wirkungsvollen Funktionsvollzug abgestellten Menschen analysieren. Auf ihn richteten sich die Bemühungen zahlreicher pädagogischer Institutionen. Daneben führte die vom Nationalsozialismus entwickelte rassische Abart der „Psychosomatik", der im sogenannten Rassehöchstwert zugleich die charakterlichen und intellektuellen Höchstwerte verbürgt schienen, zu Versuchen, den neuen Menschen planmäßig zu züchten; in den genetischen und ehegesetzlichen Maßnahmen, wie sie teils verwirklicht, teils für die Nachkriegszeit vorgesehen waren, wurden die Ansätze dazu erkennbar
Idealtypus und Realität
Vor dem Hintergrund dieser Bestrebungen und idealtypischen Prospekte nahm sich die Wirklichkeit widersprüchlich genug aus. Man wird lange suchen müssen, um innerhalb der Führungsschicht des Dritten Reiches, deren vorherrschender Typus doch eher wie das rassisch vielfach überlagerte und durchkreuzte Mischprodukt einer alpinen Provinz wirkte, jene blutmäßigen Vorstellungen auch nur angedeutet zu finden. Und wenn, ganz auf der Linie des rassischen Leitbildes, „das Gesunde“ als „heroischer Befehl" proklamiert wurde
Militante Minderheit von Enttäuschten
Den soziologischen Kern der frühen Anhängerschaft bildete eine militante Minderheit von Enttäuschten, Verbitterten aus allen Klassen und Ständen. Und wenn auch die Wendung gegen „den Juden" relativ frühzeitig erfolgte, ja von vornherein zu den entscheidenden Sammlungsparolen der Partei rechnete, so war doch dessen nordische „Gegengestalt" noch lange nicht der rassisch konkret verbindliche Ideal-typus, wie denn überhaupt nicht nur das biologische, sondern auch das soziale, ideologische Woher eines jeden ebenso gleichgültig blieb wie allen zusammen das Wohin. Nur Bewegung, aktivistische Protestkundgebung verband sie, der gleiche oder doch ähnliche Ursprung ihrer prinzipiellen Antigefühle und Ressentiments: das Unvermögen, eine militärische und politische Katastrophe der Nation individuell zu bewältigen. Im Grunde gab es, jenseits der Grundmaxime des „Dreinschlagens", die aus der bayerischen Kulisse ihre eigentümlichen Stichworte erhielt, keine strengeren ideologischen Prämissen, wenn auch die Überzeugung gefordert wurde, daß Bewegung und Dreinschlagen „für Deutschland" geschähen, und außerordentlich kennzeichnend hat Göring in Nürnberg versichert, er habe sich aus revolutionären Beweggründen der Partei angeschlossen, „nicht etwa wegen des ideologischen Krams"
Absolute Bindungslosigkeit
Das entscheidende Auslesemerkmal während der frühen Phase der Bewegung war folglich die nahezu absolute Voraussetzungslosigkeit ihrer Anhänger. Gerade daß sie nichts besaßen, keine Bindungen, keine traditionell bestimmten Achtungsreservate, kein „Herkommen", nicht die Stützen familiärer, religiöser, sozialer Zugehörigkeiten, und selbst die Übereinkünfte von Konvention und Gesittung in einer nihilistischen Gesamtbereinigung ihrer Existenz verleugneten, machte sie teils zu Material, teils zu Wortführern totalitärer Aspirationen. Und wenn die Voraussetzungslosigkeit ihre wesentliche Voraussetzung war, so war es daneben allenfalls noch die Bereitschaft zu Gewaltanwendung und „direkter Aktion": bildete sie im Innern der Bewegung einen festen Kitt, weil außer gemeinsamen Idealen, wie Hitler meinte, nichts die Menschen so fest verbinde wie „gemeinsame Verbrechen"
Diese Kombination von Bindungslosigkeit und Gewaltglaube, die an sämtlichen Exponenten der nationalsozialistischen Bewegung nachweisbar ist, zählt denn auch nicht nur zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Aufstieg Hitlers, sondern ist die wohl entscheidende Signatur vortotalitärer Phasen überhaupt. Was hier, im Zusammenbruch einer überlieferten Ordnung, zum Vorschein kam, war der Macchiavellismus des kleinen Mannes, der keine Instanzen mehr kannte, vor denen er sich für seine Worte und Werke verantwortlich fühlte und angesichts eines problematisch gewordenen Daseins kurzerhand zum Verbrechen Zuflucht nahm. Der Glorienschein, den eine, wenn auch ideologisch drapierte und als politisches Kämpfertum ausgegebene Kriminalität in wachsendem Maße umgab, die Bewunderung für „große Männer" und Führernaturen sowie die verbreitete Verachtung aller Normen, waren auf psychologischer Ebene nichts anderes als ein Identifizierungsversuch mit der historischen Größe an sich, die ebenfalls weder Gesetz noch Rücksicht kannte, sondern nur immer ihren Weg ging. Hinter solchen Denk-und Reaktionsweisen war unschwer die Absicht zu erkennen, ein in Krieg und Nachkrieg mit allen ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Degradierungserscheinungen verlorenes Selbstbewußtsein zurückzugewinnen. Die Diffamierung der Moral als „kleinbürgerlich" enthüllte indes die Kleinbürgerlichkeit der Diffamierenden selbst. Jene eigentümliche Mischung aus provinzieller Beschränktheit und Cäsarenträumen, wie sie für die Mehrheit der nationalsozialistischen Führungsfiguren so überaus charakteristisch ist, hat Rudolf Heß in einem Brief aus der Spandauer Haft noch einmal auf bezeichnende Weise dokumentiert: „Meine geistige Ausgleichstätigkeit der letzten Zeit", so heißt es da, „bewegte sich zwischen Heinrich Seidels , Leberecht Hühnchen'und Rankes , Männer und Zeiten', also der Atmosphäre von Monsieur Petit, als er noch friedlich seinen Kohl in einem Vorort von Paris pflanzte, und jener um Napoleon auf dem Feldherrnhügel von Austerlitz."
Anziehungskraft der Totalitären ein psychologisches Problem
Im übrigen hat die nationalsozialistische Bewegung aus der Radikalität ihres Auftretens, das ihr eine so auffallende Ähnlichkeit mit den „politico-criminellen Associationen" Sorels verschaffte, tausendfältigen Gewinn gezogen. Die bürgerlichen Politiker, die ihr die Kette ihrer Gewaltakte zum Vorwurf machten, waren zwar unstreitig im Recht; aber die Art ihrer Argumentation bewies doch auch immer wieder, daß sie die panischen Züge einer Zeit nicht verstanden, in der sich eben diese bürgerliche Welt mit ihren Ordnungs-und Gesittungsvorstellungen zum Sterben anschickte. Gewiß sind die totalitären Neigungen einer Gesellschaft eng gekettet an politische, soziale und wirtschaftliche Bedingungen; aber sie sind vorab ein psychologisches Problem. Indem die „Unpsychologen von Weimar" sie ausschließlich von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ebene her zu bekämpfen versuchten, verkannten sie doch deren eigentliche Struktur. Die Anziehungskraft der NSDAP rührte gerade daher, daß sie das Bedürfnis der durch die Niederlage, das Autoritätsvakuum der Nachkriegsjahre, die Inflation und später die Weltwirtschaftskrise verzweifelten Massen nach Aggression stillte. „Ich will Menschen um mich haben", rief Hitler, „die gleich mir in der Gewalt den Motor der Geschichte sehen und daraus die Konsequenzen ziehen."
Hitlers Gewalt über Menschen und Massen
Es war vor allem die Erscheinung Hitlers, die das ziellose Aufbegehren aus seiner Dumpfheit erlöste. Erst in ihm, der wie das synthetische Produkt all der kollektiven Unlustgefühle jener Jahre wirkte, erhielten die zunächst hundertfältig rivalisierenden nationalen Gruppen, Bünde und Sekten sowie später die ziellos fluktuierenden Massen ihren unbestrittenen Führer und damit ihre Hoffnungen, ihre Feinde, ihre Ziele und taktischen Einsatzbefehle. Er ermöglichte es ihnen, das Bewußtsein eigener Schwäche in der Gleichsetzung mit einer vermeintlich elementaren Kraft zu überwinden. Dank seiner Überlegenheit, die sich im innerparteilichen Machtkampf ebenso bewährte wie in der suggestiven Gewalt über Menschen und Massen, gelang es ihm alsbald, * die diffusen Ressentiments fest zu verklammern. Und während die einstigen Antriebe und Programmpunkte, wie verschwommen sie auch immer gewesen sein mochten, zusehends verblaßten, wurde er selbst zum wirksamsten Zusammenhalt der im Grunde programmlosen Bewegung. „Es entstand alles . . .", so hat Hans Frank später bemerkt, „ausschließlich aus Hitler selbst. Und die mit ihm zogen als seine engsten Männer, folgten nicht, weil sie seinem Programm folgten, sondern weil sie als Gefolgsleute Adolf Hitlers Marsch in die Zukunft begleiteten." Noch kürzer stellte der SA-Führer August Schneidhuber in einer Denkschrift fest, daß die Anziehungskraft der Partei auf die Massen „nicht etwa das Verdienst von Organisatoren (ist), sondern allein das des Kennwortes . Hitler', unter dem alles zusammenhält"
Die von Hitler der Partei auferlegte Kommando-und Unterwerfungsstruktur änderte freilich das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit der neuen Elite. Zum Aktivismus, der bis dahin ihr einziges Merkmal war, trat mit dem Zeitpunkt, da seine Erscheinung die halbmythologischen Züge des „Führers" annahm, die Forderung auf absoluten Gehorsam, auf der nach einem Wort Franz L. Neumanns alle charismatische Herrschaft gegründet ist
Die Suche nach einem Vatersurrogat, die angesichts der Unselbständigkeit und Persönlichkeitsarmut so vieler führender Gefolgsleute ein wesentliches Motiv der über alle Demütigungen hinweg aufrechterhaltenen Anhänglichkeit an die Person Hitlers gewesen ist, hat im Bewußtsein seiner Nähe die tiefste Befriedigung erfahren. Die Strenge und Willkür, mit der er seiner Umgebung gegenübertrat, hat dieses Gefühl nur bestätigt und verstärkt. Ganz in diesem Sinne hat denn auch Ribbentrop in Nürnberg geäußert, der Gedanke, Hitler zu töten, wäre ihm wie Vatermord erschienen
Zynische Herrschaftsgrundsätze
Was immer in diesen Phänomenen von der monströsen Macht Hitlers über die Gemüter offenbar wird — sie machen auch etwas von der Mechanik des elitären Ausleseverfahrens sichtbar. Nur wer sich zu den Akten byzantischer Unterwerfung bereitfand, erhielt die höhere Weihe des Zutritts zum engsten Kreis der nächtlichen Tischrunden, in denen Hitler, voller Verachtung für das Volk, die Crapule, seine zynischen Beherrschungsgrundsätze preisgab und weiterreichte. Man hat die Spitzen totalitärer Bewegungen mit Geheimgesellschaften verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren
Die Kälte und skrupellose Rationalität in der Ausnutzung menschlicher Leidenschaften, Illusionen und Erwartungen, die gänzlich wertfreie Sachlichkeit in der Planung des Ungeheuerlichen, hat mitunter die Einsicht verdunkelt, daß Hitler und die gesamte nationalsozialistische Elite selbst in allen düsteren Winkeln der Irrationalität verhaftet waren. Zwar ist richtig, daß Verblendung und Haß zu jener technischen Perfektion, die den Durchsetzungsstil des mörderischen Geschehens gekennzeichnet hat, nicht in der Lage sind; aber es war eine rein aufs Methodische beschränkte Nüchternheit, die den trüben Grund der affekt-gebundenen Fixierungen nicht erreichte. Gerade die erwähnten Gespräche Hitlers machen diesen Tatbestand eindringlich deutlich. So oft Hitler selbst oder die Teilnehmer der Runde sich in schneidenden Macchiavellismen turmhoch über die Menge des verachteten Volkes erhoben glaubten, warf sie die nächste Bemerkung in all ihrer aberwitzigen Verstiegenheit auf ihre Ursprungsbereiche zurück. Weniges nur kennzeichnet den totalitären Charakter nationalsozialistischer Spielart treffender als dieses unvermittelte Nebeneinander von Macchiavellismus und Magieverfallenheit, von Kälte und dumpfem Irrglauben, totaler Vorurteilslosigkeit und totalem Mystizismus
Ideologiefreie Postenjäger
Diese Mischungselemente haben denn auch nicht nur das Denken und Verhalten der Spitzengruppe, sondern das Klima der gesamten Bewegung geprägt. Der Typus des nationalsozialistischen Funktionärs, der während der Machtergreifung in den Jahren 1933/34 in die Schlüsselstellungen drängte, verfügte zumeist über eine erstaunliche Kenntnis in den Möglichkeiten, eigene Ansprüche durchzusetzen, Gegner oder Rivalen auszuschalten, Einflußzonen zu erobern oder Positionen abzusichern. Der Scharfsinn, der seine machttaktischen Situationsanalysen und Reaktionen auszeichnete, stand jedoch durchweg in einem verblüffenden Gegensatz zur Verschwommenheit seiner ideologischen Ausgangsüberzeugungen. Das herrschende Menschenbild, das sich halb an den Naumburger Stiftergestalten, halb an Cesare Borgia orientierte und das Bekenntnis zu altdeutschem Adel unbekümmert mit den Praktiken einer robusten Selbstsucht verband, zeugte auf seine Weise von dem gleichen Sachverhalt. Er machte zugleich, als ein Beweisstück mehr, den Rang deutlich, der den ideologischen Konstruktionen als bloßen Zugnummern oder Verschleierungsmitteln zu-kam. Tatsächlich waren sie nichts anderes als der „große Prospekt im Hintergrund unserer Bühne", von dem Hitler gesprochen hat
Gewiß bezieht jede revolutionäre Bewegung einen Teil ihrer Dynamik aus dem Prinzip der Carriere ouverte aux talents, aber die Erscheinungen der Anfangsphase des Dritten Reiches waren mit solchen Formeln nicht mehr hinreichend zu erfassen: es war weniger Macht-eroberung als Machterbeutung. Hitler selbst hat diesem Treiben seiner Gefolgsleute widerspruchslos zugesehen, es kümmerte ihn „einen Dreck": „Macht was ihr wollt, aber laßt euch nicht erwischen", äußerte er, nicht ohne freilich auch diese Aufforderung mit machtpsychologischen Erwägungen zu motivieren: „Nur wer sein eigenes Fortkommen mit der allgemeinen Sache so verknüpft, daß keins mehr vom andern zu trennen ist, nur auf den kann ich mich verlassen."
Das parasitäre Herrenmenschtum, das sich in dieser Jagd nach Posten, Pfründen und Pensionen in seiner kleinbürgerlich-habsüchtigen Struktur demaskierte, erwies sich aus den gleichen Gründen den übernommenen sachlichen Aufgaben keineswegs gewachsen. Was sich, angefangen von der Exekutive des Reiches bis hinab zu den Landratsämtern und Bürgermeistereien oder auch in den Gau-und Kreisleitungen der NSDAP mit derber Machtallüre breitmachte, hatte den verwaltungstechnischen Anforderungen des Amtes zumeist nichts als das revolutionäre Recht und die eigene angestaute Begehrlichkeit entgegen-zusetzen. Zutreffend hat Goebbels angesichts solcher ideologisch kaschierten Triebentladungen bemerkt, diese Männer brauchten „nur noch das alte jus primae noctis, um größere Macht zu besitzen als die absolutesten Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts"
Der total verfügbare Mensch
Allerdings hat der Typus des braunen Amts-walters, einmal in seinen Interessen befriedigt, nicht lange als elitäres Element figuriert. Allzusehr schienen diese schwerfälligen, ungeprägten Erscheinungen, deren Gesichter so viel dumpfe Brutalität ausdrückten, die Partei an ihre voraussetzungslose Vergangenheit zu erinnern. Auch die Figur des SA-Führers, die lange als elitäres Modell gedient hatte, büßte nach der Affäre Röhm rasch ihren Vorbild-charakter ein. Unterdessen wurden, vor allem durch die Aktivität Himmlers, Bestrebungen erkennbar, das Gesicht des Dritten Reiches erstmals auch typologisch den postulierten Idealvorstellungen anzunähern, jenen „Orden guten Blutes" zu schaffen, dessen Begründung der Reichsführer-SS als das „unverrückbare Gesamtziel" seiner Tätigkeit bezeichnet hat
Der Widerspruch zwischen Anspruch und Funktion der SS hat nicht zuletzt auch das merkwürdig heterogene Charakterdiagramm ihrer Mitglieder geprägt. Zwar kann die Frage, ob und in welchem Umfange die Wirkungsweise totalitärer Systeme gerade den Typus des zwiegespaltenen Menschen verlangt, in dieser zusammenfassenden Betrachtung nicht näher untersucht werden. Immerhin hat ihm die SS, als die utopische Vorhut des Nationalsozialismus, den kalten Perfektionismus ihrer Zukunftswelt in einem Maße zu danken, der einen solchen Zusammenhang nahelegt. In den verschiedentlich beschriebe-nen Phänomenen des „Zwiedenkens“ oder „Zwieverhaltens" ist der gleiche psychologische Tatbestand, wenn auch vorwiegend mit dem Blick auf die kommunistische Welt, analysiert worden. Erscheinungen wie Rudolf Höß, Otto Ohlendorff oder Adolf Eichmann haben diese Figur des total verfügbaren Menschen, der das schlechthin Unvereinbare ohne jeden Anflug innerer Bedrängnis ins Gleichgewicht zu bringen vermag, jeder auf seine bestürzende Weise repräsentiert. Die tägliche Mordpraxis und eine fast zärtliche Familienbeziehung, Erörterungen über die Verbesserung der „feuerungstechnischen Kapazität" der Verbrennungsöfen und die fast sprichwörtlich gewordenen Hausmusikabende bei Kerzenlicht, sinnlose Härten und Schikanen gegenüber den Opfern und ein strenges Ethos der „Anständigkeit", das sich beispielsweise über Diebstähle unter den jüdischen Lagerinsassen tief entrüsten konnte — das alles stand unvermittelt nebeneinander, und wenn Rudolf Höß in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen klagt, daß er doch auch „ein Herz" gehabt habe und „nicht schlecht" gewesen sei, so wirkt das eben darum so erschreckend, weil es in gewissem Sinne die Wahrheit ist. Äußerste Gefügigkeit nach oben und Unbeugsamkeit nach unten, Unsicherheit in der Sphäre persönlicher Entscheidungen und entschlossene Kaltblütigkeit im Einsatz, Sentimentalität im privaten Bereich und Gefühls-armut im Dienst, das Vermögen, sich aufzuspalten und doch in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein: aus solchen und zahlreichen ähnlich gelagerten Gegensatzpaaren lassen sich die Ansatzpunkte zu einer Psychologie dieses Typus gewinnen. Sein Anlehnungsbedürfnis, das ein Ausdruck fehlender Persönlichkeitssubstanz war, wurde durch das absichtsvoll geförderte Bewußtsein der allgegenwärtigen Bedrohung noch verstärkt, so daß sich das Gefühl der Sicherheit, wo überhaupt, nur zusammen mit der blinden Vollzugstreue einstellte. „Menschliche Regungen", so vermerkte Rudolf Höß, seien ihm „beinah wie Verrat am Führer" vorgekommen
Anarchie der Rivalitäten
Im Gegensatz zu der verbreiteten Vorstellung, die den totalitären Systemen eine monolithische Geschlossenheit ihres Machtgefüges nachrühmt, sind sie strukturell überwiegend chaotisch. Hinter der Fassade verschworener Gemeinsamkeit wuchern die Rivalitäten, die Feindschaften, die Intrigen, und die voraufgegangenen Kapitel haben dafür eine Fülle von Belegen erbracht. Das Grundgefühl der Unsicherheit, das gerade in den führenden Rängen wirksam ist, treibt jeden einzelnen zu im Grunde nichtigen Anstrengungen persönlicher Absicherung, die von der Autoritätsspitze nicht nur geduldet, sondern eher noch unterstützt werden; denn wo angesichts der ausschließlichen Kompetenz des einen Führers alle übrigen Kompetenzen belanglos werden, darf jeder sich nach eigenem Vermögen seine Einflußdomänen schaffen, die wiederum vom Ehrgeiz, von der Eifersucht der Mitbewerber und notfalls auch durch gesteuerte Verlagerungen der Machtgewichte hinreichend in Schach gehalten werden. Noch heute fällt es mitunter schwer, das bizarre Durcheinander in den Beziehungen der Führungskräfte des Dritten Reiches aufzudecken, und die unterschiedlichen Motivstrukturen, die den gegenseitigen Abneigungen das Gepräge gaben, in ihren wechselnden Frontstellungen zu dechiffrieren. In den verbissenen Machtkämpfen vor dem Throne Hitlers stand jeder irgendwann gegen jeden, Göring gegen Goebbels, Goebbels gegen Rosenberg, Rosenberg gegen Ley (er versucht, „mich hinter meinem Rücken um mein Lebenswerk zubringen"
Hitler hat diese Anarchie der Rivalitäten immer gefördert, sie war, von Beginn seiner Laufbahn an, eines der verläßlichsten Mittel seiner innerparteilichen Erfolgstaktik. Nicht zuletzt deshalb blieb er, auch im realen Macht-sinne, bis ans Ende der ausschließliche Bezugspunkt, die dynamische Mitte der „Bewegung", Wirkungsachse einer großen zentripetalen Kraft, die den Lauf der Trabanten bestimmte und das System der Gleichgewichts-lagen zwischen ihnen herstellte. Jede Veränderung, jede Bewegungsphase, Aufstieg oder Untergang, waren auf ihn hin orientiert, „ihr Licht war der Widerschein seines Lichts"
Ausführende des Hitlerschen Willens
Nicht nur in der Richtungslosigkeit, die den meisten Lebensläufen bis zur Begegnung mit Hitler eigen ist, wird er greifbar, sondern noch in den abseitigsten Neigungen: in der verbreiteten Suche beispielsweise nach historischen „Vordermännern", so wenn Himmler sich als Reinkarnation Heinrichs I. betrachtete und aus den eigenen Reihen nicht ungern die Bezeichnung „der schwarze Herzog" hörte, oder Rosen-berg sich als geistiger Nachfahre Heinrichs des Löwen, Friedrichs des Großen und Bismarcks feiern ließ
Die in Nürnberg veranstalteten Testuntersuchungen haben denn auch bei der Mehrheit einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten ergeben
Das geschichtliche Versagen eines ganzes Volkes
Die Darstellung führender Akteure jener Jahre, die der Gegenstand des Buches ist, sollte indessen nicht dazu dienen, eine Gruppe von Sündenböcken zu schaffen, die das geschichtliche Versagen eines ganzen Volkes in die Wüste des Vergessens zu tragen hätte. Die Sammlung zeitgeschichtlicher Porträt-studien bedarf am Ende des Hinweises auf eine Schuld, die vom Verhalten der nationalsozialistischen Spitzenfiguren nicht erfaßt wird. „Hitler", beteuerte Hans Frank in Nürnberg, „war der Teufel. So verführte er uns alle."
Dazu gehört nicht zuletzt auch, daß man nicht alle Schuld allein ihm und dem Nationalsozialismus zuschiebt"
Vergessen ist keine angemessene Reaktion
Gewiß ist Hitler heute vergessen, und jenes Nichts einer „Weltanschauung", mit dem er einen so gewaltigen Aufruhr erzeugte, ist mit ihm dahingegangen. Selbst die Spuren seiner Herrschaft schrecken nur noch wenige. Unter den Dokumenten, die von der psychischen Gewalt seiner Erscheinung zeugen, blieb nicht viel mehr als der Eindruck seiner Stimme, die den überlebenden eher Gefühle der Verlegenheit als der Faszination bereitet.
„Diese Bestandslosigkeit", so hat Hannah Arendt in ihrem Buch . Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft'bemerkt, „hat sicher etwas mit der sprichwörtlichen Unbeständigkeit der Massen und des Massen-ruhms zu tun, mehr noch mit der Bewegungssüchtigkeit totalitärer Bewegungen, die sich überhaupt nur halten können, solange sie in Bewegung bleiben und alles um sich herum in Bewegung versetzen, so daß in gewissem Sinne auch gerade diese Vergeblichkeit den toten Führern kein schlechtes Zeugnis über das Ausmaß ihrer Erfolge in bezug auf die spezifisch totalitäre Infizierung ihrer Untertanen ausstellt; denn gerade diese außerordentliche Umstellungsfähigkeit und Kontinuitätslosigkeit ist, wenn es überhaupt so etwas gibt wie einen totalitären Charakter oder eine totalitäre Mentalität, zweifellos ein hervorragendes Merkmal. Es wäre daher ein Irrtum, zu meinen, daß Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit ein Zeichen dafür seien, daß die Massen von dem totalitären Wahn ... geheilt seien; das Ungekehrte könnte der Fall sein."
Es fällt nicht leicht, in der politischen Wirklichkeit der Gegenwart Beweiselemente zu finden, die den skeptischen Grundton dieser Erwägung widerlegten. Zwar hat das Hitler-regime sich in einem alle historische Erfahrung übersteigenden Maße kompromittiert und, für die Mehrheit des Volkes insbesondere nach dem Ende, Züge offenbart, die sentimental-verklärenden Gefühlsbindungen keinen Raum lassen. Jener verhängnisvollen Neigung, die nicht zuletzt der Weimarer Republik das eigentümliche Gefühlsvakuum beschert und ihr die Lebensmöglichkeiten genommen hat: die Diffamierung der Gegenwart im Zeichen hemmungslos idealisierter Erinnerungskomplexe, ist damit der Boden entzogen. Auch begegnet man kaum mehr jenen romantizistischen, von aggressiven Stimmungen durchsetzten Fluchtvorstellungen in imaginäre Reiche der weiteren Vergangenheit oder der Zukunft, die der politischen Bewußtseinsgeschichte der Deutschen so lange das fatale Gepräge gegeben haben; der unter mancherlei Gestalt und Namen die Phantasie der Nation immer wieder erregende Traum vom „Dritten Reich" ist mit der abschreckenden Gestalt, in der es sich schließlich verwirklicht hat, dahingegangen. Das Deutschland der nachhitlersehen Zeit hat sich zu einer Haltung der Gegenwärtigkeit entschlossen, zu der frühere Generationen immer unfähig schienen und de-ren Mangel zu den Hauptschwächen des politischen Lebens unseres Volkes zählte. Sie wäre uneingeschränkter Bejahung sicher, wenn daraus nicht weniger das Verlangen spräche, die jüngste Vergangenheit in ihren Voraussetzungen erkennend zu überwinden, als vielmehr zu verdrängen. Die sowohl von Ressentiments wie von unkritischer Selbstbeschwichtigung gleichermaßen freie Revision unserer geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bewußtseinsinhalte, die Klärung der Beziehung von Geist und Macht, Gesellschaft und Freiheit, die Problematik von Obrigkeit, Gehorsam, staatsbürgerlicher Verantwortung, zivilem Ethos, Widerstand oder moderner Rechtsstaatlichkeit — alle diese und zahlreiche ähnliche Fragenkomplexe sind, auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft, nur in Ansätzen überprüft worden, und es ist kein ermutigendes Zeichen, daß alle diese Begriffe einen abgenutzten Klang erhalten haben. Gewiß ist Hitler tot. Aber er war, trotz allem, zu groß, zu unverleugbar Symptom und Ergebnis spezifischer Fehlentwicklungen unserer Geschichte, zu sehr „in uns selbst", als daß das Vergessen eine angemessene Reaktion wäre. Der totalitäre Infekt überdauert in vielen, oft unscheinbar anmutenden Äußerungsformen die Phase seiner eigentlichen Wirksamkeit. Die weltweite politische Entwicklung der Nachkriegszeit hat dem deutschen Volk, zumindest in der Bundesrepublik, eine Schonzeit gewährt, in der es die Bewährungsprobe auf ein verändertes Bewußtsein noch nicht zu leisten hatte. Möglich ist immerhin, daß die nicht selten apologetisch ins Treffen geführte „politische Vernunft" unseres Volkes nur der Reflex „vernünftiger" Umstände ist. Die Antwort steht noch aus.
Durch ein Versehen ist die Ausgabe der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte vom 4. September 1963 falsch numeriert worden. Statt B 35-36/63 hätte es heißen müssen B 36-37/63. Um die Nummer 37 nicht gänzlich entfallen zu lassen, hat die vorliegende Ausgabe die Nummer B 37-38/63 erhalten.