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Zur Typologie einer totalitären Führungsschicht | APuZ 37-38/1963 | bpb.de

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APuZ 37-38/1963 Ausgang der Weimarer Zeit Zur Typologie einer totalitären Führungsschicht

Zur Typologie einer totalitären Führungsschicht

Joachim C. Fest

Psychische Konfliktsituation als Ausgangslage

Einer Schlußbetrachtung, deren Aufgabe es ist, einige wesentliche Ergebnisse der vorgelegten Studien zusammenzufassen, bietet der Ausgangspunkt wie von selbst sich an. Der Versuch, die psychologischen Strukturen prominenter Führungsfiguren des Dritten Reiches aufzudecken, hat in einem jede Erwartung übertreffenden Maße nahezu die ganze Skala menschlicher Blößen, Mängel und Unzulänglichkeiten zutage gefördert. Eher ratlos sieht sich der Chronist jener Epoche dem Problem gegenüber, so viel Unvermögen, so viel Durchschnittsmaß und charakterliche Nichtigkeit mit den außerordentlichen Wirkungen, die davon ausgingen, in einen begreifbaren Zusammenhang zu bringen. Was ihm begegnet, ist nie Größe, selten ein überragendes Talent, und in kaum einem Falle eine große Besessenheit auf ein Ziel hin; es ist nicht einmal eine im hergebrachten Sinne niedrige Leidenschaft, die groß wäre durch die Intensität des dahinter wirksamen Willens, sondern es sind ganz überwiegend „kleine" Schwächen, Egoismen, in Verstiegenheiten und Antriebe durchaus kleinen, wenn auch enthemmten Charakteren. Die Analyse von Elementen einer Psychologie totalitärer Herrschaftsformen ist zumindest im Falle der führenden nationalsozialistischen Akteure nicht, wie man oft gemeint hat, eine Aufgabe der Dämonologie und nur mit deren vergleichsweise ungesichertem Begriffsapparat zu lösen; sie ist vielmehr die Beschreibung konkreter, individueller Versagens-weisen. Von Hitler bis Heydrich, von Goebbels bis Rosenberg sind es durchweg trieb-oder affektbestimmte Ausgangslagen, von denen her jede einzelne der hier skizzierten Erscheinungen zur Macht drängte oder sich von der bereits zur Macht drängenden Bewegung mitreißen ließ, und das gleiche gilt schließlich von der Masse des Volkes selbst, deren Repräsentanten die führenden Männer des Regimes in diesem Sinne durchaus gewesen sind. Gemeinsam war ihnen allen, daß sie primär nicht von einer übergreifenden Idee, sondern von einer psychischen Konfliktsituation getrieben den Weg in die Politik fanden, was immer auch zur Verschleierung dieses elementaren Sachverhalts an ideologischen Konstruktionen errichtet worden ist; es ging nicht so sehr darum, einen Zukunftsentwurf von verbindender Kraft zu verwirklichen, sondern ein Triebverlangen abzureagieren.

Dennoch war der Nationalsozialismus kein ausschließlich von den individuellen Begehrkeiten seiner Wortführer bestimmter, auf sich selbst beschränkter Machtwille; vielmehr enthielt er zweifellos ein utopisches Element. „Götter und Tiere, so steht die Welt heute vor uns", hat Hitler gelegentlich in einem seiner vertraulichen machtphilosophischen Exkurse vor seiner engsten Umgebung ausgerufen Der lapidare Satz ist wohl bündigste Formel dessen, was der Nationalsozialismus jenseits aller weltanschaulichen und macht-taktischen Maskeraden gewesen ist. Auf ihr basieren sein Herrschaftsanspruch, sein Menschenbild, seine rassischen und hegemonialen Zielsetzungen, und sie birgt den nicht weiter zurücktührbaren Grund, auf dem die mannigfachen ideologischen Elemente sich entfalteten. Die herrischen und hybriden Züge im Gesicht des Dritten Reiches, die Kälte dieses Profils, seine pathetische Angestrengtheit, aber auch die wüsten, fratzenhaften Verzerrungen, die Brutalität seiner Konturen und nicht zuletzt die neurotische Verbissenheit, die ihm sind in Grundsatz enthalten, eigen war, dem daß der Mensch nicht gleich Mensch sei, sondern geschieden in Götter und Tiere

Wie die Götter aussahen und möglicherweise auch die Tiere, der Idealtypus und die wirkliche Erscheinung; welche Wechselbeziehungen zwischen ihnen bestanden; ob die einen der anderen bedurften; in welchen Voraussetzungen der Mensch erkennbar wird, der die modernen Gewaltherrschaften errichtet und der, mit dem sie errichtet werden können; ja ob es überhaupt den Typus des totalitär disponierten Menschen gibt — in solchen Fragen bekundet sich die Sorge eines „gebrannten" Zeitalters, das die Feuer des Totalitarismus nicht nur scheuen gelernt hat, sondern ihren Ursachen durch Erkenntnis entgegenwirken will. Gewiß liegen große Partien des Problems noch im Dunkeln oder im eher fragwürdigen Bereich massenpsychologischer Deutungsversuche. Immerhin aber lassen sich aus dem tatsächlichen Erscheinungsbild der Gefolgschaft Hitlers sowie aus den spezifischen Ausleseprinzipien des Nationalsozialismus Elemente gewinnen, die diesen Typus eingrenzen und wesentlich markieren.

Totalitäre Herrschaft will einen „neuen Menschen"

Jede totalitäre Herrschaft geht von einem neuen Menschenbild aus, es ist dies geradezu per definitionem das Merkmal, das sie von den klassischen Formen der Zwangsherrschaft unterscheidet. Ihr revolutionärer Anspruch zielt nicht allein auf den Umbau des Staates; sie schreibt nicht nur neue Gesetze vor, fordert nicht nur neue Ordnungsprinzipien oder neue Formen des Zusammenlebens, sondern: den neuen Menschen. Sie will, anders als die großen Umwälzungen vergangener Epochen, nicht die Sachen, sondern die Personen, nicht die Strukturen, sondern die Existenz selbst verändern — eben dies macht sie totalitär. Nichts bezeugt den in diesem strengen Sinne totalitären Charakter des Dritten Reiches eindeutiger als der auf allen gesellschaftlichen Ebenen konsequent unternommene Griff nach dem Menschen mit dem Ziel, einen neuen Typus zu prägen, dessen Bildung von nationalsozialistischer Seite denn auch als „die Aufgabe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet worden ist Hitler selbst hat dieses Vorhaben geradezu mit dem Sinn seines Machtstrebens identifiziert, wenn er versicherte: „Die Auslese der neuen Führerschicht ist . mein Kampf um die Macht. Wer sich zu mir bekennt, ist berufen, eben durch dieses Bekenntnis und die Art, wie er sich bekennt.

Das ist die große umwälzende Bedeutung unseres langen, zähen Kampfes um die Macht, daß in ihm eine neue Herrenschicht geboren wird, berufen, nicht bloß die Geschicke des deutschen Volkes, sondern der Welt zu lenken."

In zahllosen Reden und Verlautbarungen hat Hitler immer wieder das Bild des „neuen Menschen" beschworen, und die vielen Akklamateure des Regimes, die jedem seiner Schritte oder Programmpunkte einen ideologisch verbrämten Beifall zollten, haben die Heraufkunft dieses Menschen als den Anbruch des „wahrhaft goldenen Zeitalters" gefeiert Wie durchweg in der von nur wenigen originalen Zutaten geprägten „Weltanschauung" des Nationalsozialismus ist auch in diesem Falle der Rückgriff auf ältere Vorstellungen, hier der sozialdarwinistischen Schule des 19. Jahrhunderts, unverkennbar; der eigene Beitrag lag nicht auf der ideologischen, sondern auf der exekutiven Ebene: in der haarsträubend buchstäblichen Konsequenz, mit der die Verwirklichung dieser Planspiele mit der menschlichen Natur betrieben wurde.

Charakterologische Grundsätze der NS-Erziehung

Dem Programm zur Vernichtung der Fremd-oder Gegenrassen entsprachen die Bestrebungen zur „Aufadelung“ der Blutsubstanz des eignen Volkes. Dahinter war die Überzeugung wirksam, daß das deutsche Volk selbst vom postulierten Typus des rassisch reinen Herrenmenschen mit seinen besonderen schöpferischen, kulturellen und führungstechnischen Fähigkeiten weit entfernt sei, ausgenommen die höheren und möglicherweise mittleren Ränge der nationalsozialistischen Gefolgschaft, die eben durch ihren Rang und ihr Bekenntnis zur Person des Führers rassisch legitimiert waren. Sie repräsentierten die Auslese und die Vorstufe zu jener neuen Artprägung, deren Träger identisch in Erscheinung, Ausdruck und Haltung waren. Es mache die Größe der Bewegung aus, so verkündete Hitler gelegentlich, daß „sechzigtausend Mann äußerlich wirklich eine Einheit geworden" seien, „daß nicht nur die Ideen dieser Glieder (der Bewegung) uniform sind, sondern auch ihr physiognomischer Ausdruck. Wenn man diese lachenden Augen sieht, diesen fanatischen Enthusiasmus, dann weiß man .. wie in der Bewegung hunderttausend Menschen ein einziger Typus geworden sind" Den erstrebten Zustand, in dem die Gesamtheit des Volkes diesem Bilde entsprach, hat Hitler als das Ergebnis eines langen biologischen und pädagogischen Prozesses angesehen. In seiner Geheimrede vor dem Offiziersjahrgang 1938 sprach er von einer hundert Jahre dauernden Entwicklung, an deren Ende eine Mehrheit über jene Auslesemerkmale verfügen sollte, mit denen sich die Welt erobern und beherrschen lasse. „Wer den Nationalsozialismus nur als politische Bewegung versteht", so hat er an anderer Stelle geäußert, „weiß fast nichts von ihm. Er ist mehr noch als Religion: er ist der Wille zur neuen Menschenschöpfung"

Es war indes wohl nur im Verlauf einer jener Exaltationen, in die Hitler während seiner endlosen nächtlichen Monologe im engsten Kreis zu geraten pflegte, wenn er diesen neuen Menschen mit raubtierhaften, dämonischen Zügen malte, „furchtlos und grausam", wie er meinte, so daß er selbst vor diesem Bilde erschrocken sei Auch die revolutionären Attribute, mit denen dieser Neuentwurf des Menschen, eine Zeitlang zumindest, ausgestattet wurde, enthüllen sich bei näherem Zusehen als rhetorisches Beiwerk; denn was schon die Macht-und Selbsterhaltungsinteressen der Führungsspitze verbieten, folgt auch aus der inneren Struktur totalitärer Herrschaft selbst: sie zielt nicht auf den revolutionären, sondern auf den aggressiven Typus, dessen Aggressivität allerdings abgerichtet und zu beliebigen Zwecken einsetzbar ist. Die Erkenntnis der eigenen sozialen und persönlichen Situation, die eine der begrifflichen Voraussetzungen des wahrhaft revolutionären Menschen ist, wurde hier konsequent verdunkelt und durch das Element der „Gesinnung" ersetzt, theoretische Klarheit durch die Kategorie des „gläubigenErlebens" und jene „Blindheit", die in wechselnden Wortverbindungen die nationalsozialistische Wertehierarchie bestimmte: als blinde Treue, blinde Tapferkeit oder blinder Gehorsam. Die charakterologischen Grundsätze, nach denen auf den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten oder den SS-Ordensburgen die junge Elite des kommenden Großgermanischen Reiches herangebildet wurde, orientierten sich denn auch ganz an Begriffen, die auf den beherrschbaren Typus abzielten: nicht unbedingt furchtlos, sondern bedingungslos sich fügend, nicht grausam, sondern sachlich und perfektionistisch, dabei kühn im Einsatz, diszipliniert, uneigennützig und ebenso funktionswillig wie vom Bewußtsein seines Herrentums erfüllt. Robert Ley hat in seiner Schrift „Der Weg zur Ordensburg" das Bild dieses neuen Menschen anschaulich beschrieben: „Wir wollen wissen, ob diese Männer den Willen zum Führen in sich tragen, zum Herr-sein, mit einem Wort zum Herrschen. Die NSDAP und ihre Führer müssen herrschen wollen. Wei die Totalitätsansprüche auf die Führung des Volkes nicht erhebt oder gar gewillt ist, sie mit andern zu teilen, kann nie Führer der NSDAP sein. Wir wollen herrschen, wir haben Freude am Herrschen, nicht um ein Despot zu sein oder um einer sadistischen Tyrannei zu huldigen, sondern weil wir felsenfest daran glauben, daß in allen Dingen nur einer führen und auch nur einer die Verantwortung tragen kann. Diesem einen gehört auch die Macht. So werden diese Männer z. B. reiten lernen, nicht um einem gesellschaftlichen Vorurteil zu huldigen, sondern sie sollen reiten lernen, um das Gefühl zu haben, ein lebendes Wesen absolut beherrschen zu können . . . Wir wollen, daß diese Männer jeder Lebenslage gewachsen sind und sich durch nichts in der Welt imponieren lassen . . . Diese Männer, die damit der Orden der NSDAP zu Ehre und Macht bringt und ihnen alles gibt, was ein wirklicher Mann vom Leben erhoffen kann, sollen auf der anderen Seite erkennen und das in der Tiefe ihres Herzens bewahren, daß sie diesem Orden auf Gedeih und Verderb verfallen sind und ihm unbedingt gehorchen müssen ... So will ich: diese Männer, die die Ehre haben, politische Leiter in Deutschland zu werden und denen sich somit das Tor zur höchsten Macht und zu höchster Führung öffnet — denn sie allein werden dereinst Deutschland führen—. sollen wissen und erkennen, daß es ein Zurück für sie nicht mehr gibt. Wer versagt oder wer gar die Partei und ihren Führer verrät, wer der Gemeinheit in sich selber nicht Herr zu werden vermag, den wird dieser Orden vernichten. Wem die Partei das Braunhemd auszieht — das muß jeder von uns wissen und erkennen —, dem wird dadurch nicht nur ein Amt genommen, sondern der wird auch persönlich mit seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern vernichtet sein. Das sind die harten und unerbittlichen Gesetze eines Ordens. Auf der einen Seite dürfen die Menschen in den Himmel greifen und sich alles holen, was ein Mann nur wünschen kann. Auf der anderen Seite ist der tiefe Abgrund der Vernichtung."

Herrenmenschentum und Entpersönlichung, autonomes Machtgefühl und Automatismus, Unerschrockenheit und Unterwürfigkeit: in solchen ambivalenten Bewußtseinslagen offenbarte der verlangte Typus seine wahren Umrisse. Aus der zitierten Passage läßt sich nahezu die gesamte Skala der Dressurformeln des total verfügbaren, auf wirkungsvollen Funktionsvollzug abgestellten Menschen analysieren. Auf ihn richteten sich die Bemühungen zahlreicher pädagogischer Institutionen. Daneben führte die vom Nationalsozialismus entwickelte rassische Abart der „Psychosomatik", der im sogenannten Rassehöchstwert zugleich die charakterlichen und intellektuellen Höchstwerte verbürgt schienen, zu Versuchen, den neuen Menschen planmäßig zu züchten; in den genetischen und ehegesetzlichen Maßnahmen, wie sie teils verwirklicht, teils für die Nachkriegszeit vorgesehen waren, wurden die Ansätze dazu erkennbar

Idealtypus und Realität

Vor dem Hintergrund dieser Bestrebungen und idealtypischen Prospekte nahm sich die Wirklichkeit widersprüchlich genug aus. Man wird lange suchen müssen, um innerhalb der Führungsschicht des Dritten Reiches, deren vorherrschender Typus doch eher wie das rassisch vielfach überlagerte und durchkreuzte Mischprodukt einer alpinen Provinz wirkte, jene blutmäßigen Vorstellungen auch nur angedeutet zu finden. Und wenn, ganz auf der Linie des rassischen Leitbildes, „das Gesunde“ als „heroischer Befehl" proklamiert wurde so hat auch hier der tatsächliche Befund eher entgegengesetzte Ergebnisse vorzuweisen. Abgesehen von der schwerer faßbaren neurotischen Konstitution fast aller führenden Nationalsozialisten war eine beträchtliche Anzahl auch im engeren klinischen Sinne krank, darunter Goebbels, Göring, Ley, Himmler und nicht zuletzt Hitler selbst. Mit der Fiktion, daß die rassische Werthaftigkeit sich nicht so sehr im äußeren Erscheinungsbild oder in physischen Merkmalen, als vielmehr in der Reaktion auf die nationalsozialistische Idee und ihren Führer zeige, half Hitler sich über solche offenbaren Diskrepanzen hinweg, unbekümmert um die damit ausgesprochene Desavouierung der gesamten Rassen-theorie: dies, so versicherte er, „ist die unfehlbare Methode, die Menschen zu suchen, die man finden will, denn jeder hört nur auf den Klang, auf den sein Innerstes gestimmt ist" Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, wie sie beispielsweise in einer Schrift unter dem Titel „Unsere Führer im Lichte der Rassenfrage" vorgetragen wurden, die darauf hinwies, daß die nationalsozialistische Repräsentanz „vorwiegend aus nordischen Menschen mit sehr guten führerischen charakterologischen Merkmalen" bestehe, war die außerordentliche Seltenheit der blutmäßig geforderten „Artgestalt" innerhalb der sogenannten Alten Garde doch unverkennbar Das hatte seine Ursache nicht nur in der ideologischen Indolenz und der eingestandenermaßen vor allem werbetechnischen Funktion von Parteiprogramm und Weltanschauung, sondern auch in der Entstehungsgeschichte der Bewegung.

Militante Minderheit von Enttäuschten

Den soziologischen Kern der frühen Anhängerschaft bildete eine militante Minderheit von Enttäuschten, Verbitterten aus allen Klassen und Ständen. Und wenn auch die Wendung gegen „den Juden" relativ frühzeitig erfolgte, ja von vornherein zu den entscheidenden Sammlungsparolen der Partei rechnete, so war doch dessen nordische „Gegengestalt" noch lange nicht der rassisch konkret verbindliche Ideal-typus, wie denn überhaupt nicht nur das biologische, sondern auch das soziale, ideologische Woher eines jeden ebenso gleichgültig blieb wie allen zusammen das Wohin. Nur Bewegung, aktivistische Protestkundgebung verband sie, der gleiche oder doch ähnliche Ursprung ihrer prinzipiellen Antigefühle und Ressentiments: das Unvermögen, eine militärische und politische Katastrophe der Nation individuell zu bewältigen. Im Grunde gab es, jenseits der Grundmaxime des „Dreinschlagens", die aus der bayerischen Kulisse ihre eigentümlichen Stichworte erhielt, keine strengeren ideologischen Prämissen, wenn auch die Überzeugung gefordert wurde, daß Bewegung und Dreinschlagen „für Deutschland" geschähen, und außerordentlich kennzeichnend hat Göring in Nürnberg versichert, er habe sich aus revolutionären Beweggründen der Partei angeschlossen, „nicht etwa wegen des ideologischen Krams" Die Gruppe der sogenannten Ernst-meinenden, die ein wie immer geartetes gesellschaftliches Erneuerungskonzept vorzuweisen hatten, blieb demgegenüber stets in der Minderheit, und als entscheidender Antrieb für den Beitritt zur Partei Hitlers haben ideologische Zielsetzungen wohl bei kaum einem der führenden Gefolgsleute gewirkt. Nahezu in jedem Einzelfalle läßt sich verfolgen, in welchem Maße persönliche Anpassungsschwierigkeiten und unartikulierte Mißstimmungen, überhaupt die große Lebensverlegenheit jener Generation, den ausschlaggebenden Anstoß zur Politik auslösten, die in jener unruhigen Epoche rasch zum klassischen „Beruf" der Heimat-und Kontaktlosen wurde. Gerade das übersteigert männliche Gebaren der Bewegung, ihre halbmilitärischen Organisationsformen, wirkten stets eher verräterisch als Hinweiszeichen auf die Labilität von Menschen, die nur innerhalb geschlossener Formationen ihr individuelles Ohnmachtsbewußtsein zu verdrängen vermochten. Wie Babeuf konnten sie fast alle von sich sagen, daß die revolutionäre Zeit sie „schrecklich verdorben" habe, so daß sie zu jedem anderen Beruf als dem des Politikers unfähig geworden seien. Es waren unbalancierte Naturen mit einem von Krieg und Nach-krieg pervertierten Wertbewußtsein, Entwurzelte, in denen sich das „nationale Gemütsleiden" mit dem individuellen Versagen zu mitunter ausgesprochen neurotischen Befunden verband — Hitler selbst ist noch immer das anschaulichste Beispiel für diesen Sachverhalt, aber auch Heß ist hier zu nennen, Rosenberg und vor allem das unübersichtliche Gewimmel im zweiten Glied, darunter die Angehörigen der Freikorps und nationalen Verbände, die rasch zur Bewegung stießen. Das eher blinde Bedürfnis nach radikaler Umkehrung der bestehenden Verhältnisse, in dem die divergierenden Erwartungen ihren einheitlichsten Nenner fanden, hat Gregor Strasser vollendet in der Formulierung zum Ausdruck gebracht, Nationalsozialismus sei „das Gegenteil von dem, was heute ist", während Hitler betonte: „Zu was kommen (werden) niemals die, welche in der Erhaltung eines gegebenen Zustandes den letzten Sinn ihrer Lebensaufgabe erblicken" rerum novarum cupidi.

Absolute Bindungslosigkeit

Das entscheidende Auslesemerkmal während der frühen Phase der Bewegung war folglich die nahezu absolute Voraussetzungslosigkeit ihrer Anhänger. Gerade daß sie nichts besaßen, keine Bindungen, keine traditionell bestimmten Achtungsreservate, kein „Herkommen", nicht die Stützen familiärer, religiöser, sozialer Zugehörigkeiten, und selbst die Übereinkünfte von Konvention und Gesittung in einer nihilistischen Gesamtbereinigung ihrer Existenz verleugneten, machte sie teils zu Material, teils zu Wortführern totalitärer Aspirationen. Und wenn die Voraussetzungslosigkeit ihre wesentliche Voraussetzung war, so war es daneben allenfalls noch die Bereitschaft zu Gewaltanwendung und „direkter Aktion": bildete sie im Innern der Bewegung einen festen Kitt, weil außer gemeinsamen Idealen, wie Hitler meinte, nichts die Menschen so fest verbinde wie „gemeinsame Verbrechen" so wirkte sie nach außen, auf die von der Katastrophe gleichfalls Betroffenen, geradezu als Beweis für den Ernst einer Empörung, die angesichts einer zerrütteten Ordnung nicht auf heimliche Kompromisse sann, sondern alle Schiffe verbrannt und alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte.

Diese Kombination von Bindungslosigkeit und Gewaltglaube, die an sämtlichen Exponenten der nationalsozialistischen Bewegung nachweisbar ist, zählt denn auch nicht nur zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Aufstieg Hitlers, sondern ist die wohl entscheidende Signatur vortotalitärer Phasen überhaupt. Was hier, im Zusammenbruch einer überlieferten Ordnung, zum Vorschein kam, war der Macchiavellismus des kleinen Mannes, der keine Instanzen mehr kannte, vor denen er sich für seine Worte und Werke verantwortlich fühlte und angesichts eines problematisch gewordenen Daseins kurzerhand zum Verbrechen Zuflucht nahm. Der Glorienschein, den eine, wenn auch ideologisch drapierte und als politisches Kämpfertum ausgegebene Kriminalität in wachsendem Maße umgab, die Bewunderung für „große Männer" und Führernaturen sowie die verbreitete Verachtung aller Normen, waren auf psychologischer Ebene nichts anderes als ein Identifizierungsversuch mit der historischen Größe an sich, die ebenfalls weder Gesetz noch Rücksicht kannte, sondern nur immer ihren Weg ging. Hinter solchen Denk-und Reaktionsweisen war unschwer die Absicht zu erkennen, ein in Krieg und Nachkrieg mit allen ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Degradierungserscheinungen verlorenes Selbstbewußtsein zurückzugewinnen. Die Diffamierung der Moral als „kleinbürgerlich" enthüllte indes die Kleinbürgerlichkeit der Diffamierenden selbst. Jene eigentümliche Mischung aus provinzieller Beschränktheit und Cäsarenträumen, wie sie für die Mehrheit der nationalsozialistischen Führungsfiguren so überaus charakteristisch ist, hat Rudolf Heß in einem Brief aus der Spandauer Haft noch einmal auf bezeichnende Weise dokumentiert: „Meine geistige Ausgleichstätigkeit der letzten Zeit", so heißt es da, „bewegte sich zwischen Heinrich Seidels , Leberecht Hühnchen'und Rankes , Männer und Zeiten', also der Atmosphäre von Monsieur Petit, als er noch friedlich seinen Kohl in einem Vorort von Paris pflanzte, und jener um Napoleon auf dem Feldherrnhügel von Austerlitz."

Anziehungskraft der Totalitären ein psychologisches Problem

Im übrigen hat die nationalsozialistische Bewegung aus der Radikalität ihres Auftretens, das ihr eine so auffallende Ähnlichkeit mit den „politico-criminellen Associationen" Sorels verschaffte, tausendfältigen Gewinn gezogen. Die bürgerlichen Politiker, die ihr die Kette ihrer Gewaltakte zum Vorwurf machten, waren zwar unstreitig im Recht; aber die Art ihrer Argumentation bewies doch auch immer wieder, daß sie die panischen Züge einer Zeit nicht verstanden, in der sich eben diese bürgerliche Welt mit ihren Ordnungs-und Gesittungsvorstellungen zum Sterben anschickte. Gewiß sind die totalitären Neigungen einer Gesellschaft eng gekettet an politische, soziale und wirtschaftliche Bedingungen; aber sie sind vorab ein psychologisches Problem. Indem die „Unpsychologen von Weimar" sie ausschließlich von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ebene her zu bekämpfen versuchten, verkannten sie doch deren eigentliche Struktur. Die Anziehungskraft der NSDAP rührte gerade daher, daß sie das Bedürfnis der durch die Niederlage, das Autoritätsvakuum der Nachkriegsjahre, die Inflation und später die Weltwirtschaftskrise verzweifelten Massen nach Aggression stillte. „Ich will Menschen um mich haben", rief Hitler, „die gleich mir in der Gewalt den Motor der Geschichte sehen und daraus die Konsequenzen ziehen." In der Gewalt den Motor nicht so sehr der Geschichte, als vielmehr der eigenen Interessen zu sehen, wurde in wachsendem Umfange, bei immer breiteren Schichten, zum kennzeichnenden Reaktionsmerkmal, das stärker als alle Geschehenszusammenhänge im Vordergrund auf jene Krise hindeutete, aus der jederzeit der Umschlag in ein totalitäres Abenteuer erfolgen konnte. Der blind-fordernde Glücksanspruch vor allem des verängstigten und deklassierten Kleinbürgertums, sein säkularisiertes Glaubensverlangen, seine Neigung, hinter allen Schicksalsschlägen das Wirken finsterer Mächte zu wittern und das eigene Versagen auf fremde Schultern abzuwälzen, seine Sentimentalität und schließlich sein Kapitulationsbedürfnis vor der starken Pose — das alles fand vor den Rednertribünen der Nationalsozialisten eine wenn auch schamlos manipulierte Befriedigung.

Hitlers Gewalt über Menschen und Massen

Es war vor allem die Erscheinung Hitlers, die das ziellose Aufbegehren aus seiner Dumpfheit erlöste. Erst in ihm, der wie das synthetische Produkt all der kollektiven Unlustgefühle jener Jahre wirkte, erhielten die zunächst hundertfältig rivalisierenden nationalen Gruppen, Bünde und Sekten sowie später die ziellos fluktuierenden Massen ihren unbestrittenen Führer und damit ihre Hoffnungen, ihre Feinde, ihre Ziele und taktischen Einsatzbefehle. Er ermöglichte es ihnen, das Bewußtsein eigener Schwäche in der Gleichsetzung mit einer vermeintlich elementaren Kraft zu überwinden. Dank seiner Überlegenheit, die sich im innerparteilichen Machtkampf ebenso bewährte wie in der suggestiven Gewalt über Menschen und Massen, gelang es ihm alsbald, * die diffusen Ressentiments fest zu verklammern. Und während die einstigen Antriebe und Programmpunkte, wie verschwommen sie auch immer gewesen sein mochten, zusehends verblaßten, wurde er selbst zum wirksamsten Zusammenhalt der im Grunde programmlosen Bewegung. „Es entstand alles . . .", so hat Hans Frank später bemerkt, „ausschließlich aus Hitler selbst. Und die mit ihm zogen als seine engsten Männer, folgten nicht, weil sie seinem Programm folgten, sondern weil sie als Gefolgsleute Adolf Hitlers Marsch in die Zukunft begleiteten." Noch kürzer stellte der SA-Führer August Schneidhuber in einer Denkschrift fest, daß die Anziehungskraft der Partei auf die Massen „nicht etwa das Verdienst von Organisatoren (ist), sondern allein das des Kennwortes . Hitler', unter dem alles zusammenhält"

Die von Hitler der Partei auferlegte Kommando-und Unterwerfungsstruktur änderte freilich das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit der neuen Elite. Zum Aktivismus, der bis dahin ihr einziges Merkmal war, trat mit dem Zeitpunkt, da seine Erscheinung die halbmythologischen Züge des „Führers" annahm, die Forderung auf absoluten Gehorsam, auf der nach einem Wort Franz L. Neumanns alle charismatische Herrschaft gegründet ist Bis kurz vor seinem Ende, noch aus der Zelle seines unterirdischen Bunkersystems heraus, hat er ihr in der rigorosesten Weise Geltung zu verschaffen gewußt. Die Zugehörigkeit zur engeren Gefolgschaft mußten sie alle sich durch ein tausendfach beleidigtes Selbstwertgefühl, das ständige sacrificium honoris, erkaufen, und wer darin noch einen Stachel zu empfinden vermochte, log sich wie Goebbels mit der Formel darüber hinweg, daß es das größte Glück eines Zeitgenossen sei, einem Genie zu dienen Was in den Figuren der Umgebung Hitlers immer wieder greifbar wird, war ein substanzleerer, aber verbissener Wille zur Macht, der sich so häufig mit der Bereitschaft zu äußerster Servilität verbindet. Selbst Göring, der sich nicht zu Unrecht rühmte, er sei „der einzige Mann in Deutschland neben Hitler (gewesen), der eigene, keine abgeleitete Autorität hatte", mußte gestehen: „Wenn eine Entscheidung zu treffen ist, zählt keiner von uns mehr als der Stein, auf dem er steht. Der Führer allein entscheidet." Und sofern Hitler Widersetzlichkeit nicht einfach, wie im Falle Gregor Strassers oder Ernst Röhms, durch Ausstoßung oder Liquidierung ahndete, griff er auf die abgestufteren Mittel demonstrativer Gleichgültigkeit oder Zutrittsbeschränkung zurück. Die Wirkung solcher Maßnahmen wurde beispielsweise an Rosenberg, Frank oder Ribbentrop deutlich, über deren Leiden und Verzweiflungen, als sie von Hitler nicht mehr gelobt, beachtet oder herangezogen wurden, immerhin genügend bekanntgeworden ist, um den wohl nur noch mit religiösen Kategorien faßbaren Charakter der psychischen Zwangsgewalt Hitlers zu ermessen. Von Himmler, Göring und Ribbentrop wird berichtet, daß sie auf kritische Ausbrüche Hitlers hin so krank wurden, daß sie das Bett aufsuchen mußten, und wenn Frank ausrief: „Unsere Verfassung ist der Wille des Führers", so galt das zweifellos auch im übertragenen medizinischen Sinne.

Die Suche nach einem Vatersurrogat, die angesichts der Unselbständigkeit und Persönlichkeitsarmut so vieler führender Gefolgsleute ein wesentliches Motiv der über alle Demütigungen hinweg aufrechterhaltenen Anhänglichkeit an die Person Hitlers gewesen ist, hat im Bewußtsein seiner Nähe die tiefste Befriedigung erfahren. Die Strenge und Willkür, mit der er seiner Umgebung gegenübertrat, hat dieses Gefühl nur bestätigt und verstärkt. Ganz in diesem Sinne hat denn auch Ribbentrop in Nürnberg geäußert, der Gedanke, Hitler zu töten, wäre ihm wie Vatermord erschienen Am Endpunkt solcher Erscheinungen steht dann die unsägliche, aber überaus aufschlußreiche Äußerung Franks kurz vor seiner Hinrichtung: er rüste sich zum Abschied von dieser Erde, um dem Führer zu folgen

Zynische Herrschaftsgrundsätze

Was immer in diesen Phänomenen von der monströsen Macht Hitlers über die Gemüter offenbar wird — sie machen auch etwas von der Mechanik des elitären Ausleseverfahrens sichtbar. Nur wer sich zu den Akten byzantischer Unterwerfung bereitfand, erhielt die höhere Weihe des Zutritts zum engsten Kreis der nächtlichen Tischrunden, in denen Hitler, voller Verachtung für das Volk, die Crapule, seine zynischen Beherrschungsgrundsätze preisgab und weiterreichte. Man hat die Spitzen totalitärer Bewegungen mit Geheimgesellschaften verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren und was immer aus der verschwörerischen Abgeschiedenheit dieser Gesprächsrunden bekanntgeworden ist, unterstreicht diesen Gedanken. Während nach außen hin der Katalog „granitener Grundsätze" ebenso wie die Versicherung der eigenen Friedensbereitschaft oder die Beschwörungen der Ordnungsabsichten des Regimes den Eindruck prinzipienfester Gutwilligkeit sicherten, gab er sich hier, in seinen einsamen Monologen, wie er war. Sein taktischer Opportunismus, seine Treulosigkeit gegenüber Ideen und Grundsätzen, die ihm eigene Mischung aus Fanatismus und Berechnung, die noch die leidenschaftlichsten Regungen der Wut mit verschlagenen Zweckerwägungen durchsetzte und allein den eigenen Machtanspruch als unverzichtbare Maxime gelten ließ — das alles wird darin ebenso evident wie der im Wortsinne barbarische Kulturhaß, die ausgreifenden Welteroberungspläne, die Entwürfe zur rassischen Flurbereinigung oder zur Umgliederung der Gesellschaft. Die Absichten der Führungsschicht, so meinte Hitler, dürften „niemals die Gedanken des einfachen Parteigenossen beschweren" und sprach vom „ganz besonderen heimlichen Genuß, zu sehen, wie die Leute um uns nicht gewahr werden, was mit ihnen wirklich geschieht". Die neue Sozialordnung, die er den Eingeweihten verkündete, sah vier Schichten vor: den „durch Kampf erlesenen“ nationalsozialistischen Hochadel; sodann die Hierarchie der Parteimitglieder, die „den neuen Mittelstand abgeben" werden; schließlich „die große Masse der Anonymen . . ., das Kollektiv der Dienenden, der ewig Unmündigen“ und zuletzt „die Schicht der unterworfenen Fremdstämmigen. . ., nennen wir sie ruhig die moderne Sklavenschicht"

Die Kälte und skrupellose Rationalität in der Ausnutzung menschlicher Leidenschaften, Illusionen und Erwartungen, die gänzlich wertfreie Sachlichkeit in der Planung des Ungeheuerlichen, hat mitunter die Einsicht verdunkelt, daß Hitler und die gesamte nationalsozialistische Elite selbst in allen düsteren Winkeln der Irrationalität verhaftet waren. Zwar ist richtig, daß Verblendung und Haß zu jener technischen Perfektion, die den Durchsetzungsstil des mörderischen Geschehens gekennzeichnet hat, nicht in der Lage sind; aber es war eine rein aufs Methodische beschränkte Nüchternheit, die den trüben Grund der affekt-gebundenen Fixierungen nicht erreichte. Gerade die erwähnten Gespräche Hitlers machen diesen Tatbestand eindringlich deutlich. So oft Hitler selbst oder die Teilnehmer der Runde sich in schneidenden Macchiavellismen turmhoch über die Menge des verachteten Volkes erhoben glaubten, warf sie die nächste Bemerkung in all ihrer aberwitzigen Verstiegenheit auf ihre Ursprungsbereiche zurück. Weniges nur kennzeichnet den totalitären Charakter nationalsozialistischer Spielart treffender als dieses unvermittelte Nebeneinander von Macchiavellismus und Magieverfallenheit, von Kälte und dumpfem Irrglauben, totaler Vorurteilslosigkeit und totalem Mystizismus

Ideologiefreie Postenjäger

Diese Mischungselemente haben denn auch nicht nur das Denken und Verhalten der Spitzengruppe, sondern das Klima der gesamten Bewegung geprägt. Der Typus des nationalsozialistischen Funktionärs, der während der Machtergreifung in den Jahren 1933/34 in die Schlüsselstellungen drängte, verfügte zumeist über eine erstaunliche Kenntnis in den Möglichkeiten, eigene Ansprüche durchzusetzen, Gegner oder Rivalen auszuschalten, Einflußzonen zu erobern oder Positionen abzusichern. Der Scharfsinn, der seine machttaktischen Situationsanalysen und Reaktionen auszeichnete, stand jedoch durchweg in einem verblüffenden Gegensatz zur Verschwommenheit seiner ideologischen Ausgangsüberzeugungen. Das herrschende Menschenbild, das sich halb an den Naumburger Stiftergestalten, halb an Cesare Borgia orientierte und das Bekenntnis zu altdeutschem Adel unbekümmert mit den Praktiken einer robusten Selbstsucht verband, zeugte auf seine Weise von dem gleichen Sachverhalt. Er machte zugleich, als ein Beweisstück mehr, den Rang deutlich, der den ideologischen Konstruktionen als bloßen Zugnummern oder Verschleierungsmitteln zu-kam. Tatsächlich waren sie nichts anderes als der „große Prospekt im Hintergrund unserer Bühne", von dem Hitler gesprochen hat Gerade auch auf der unteren und mittleren Ebene der Parteihierarchie ging es um nackte Wunschbefriedigung und Sicherung persönlicher Interessen. Das ständige Ringen um Selbstbehauptung, der Zwang zur Vervollständigung des Machtwissens, zehrten die gesamte intellektuelle Energie auf und sorgten für jene verbreitete ideologische Teilnahmslosigkeit, die sich jenseits der allgemeinsten Vokabeln von Vaterland, Ehre, Blut oder Treue selbst mit dem Widersprüchlichsten zufriedengab.

Gewiß bezieht jede revolutionäre Bewegung einen Teil ihrer Dynamik aus dem Prinzip der Carriere ouverte aux talents, aber die Erscheinungen der Anfangsphase des Dritten Reiches waren mit solchen Formeln nicht mehr hinreichend zu erfassen: es war weniger Macht-eroberung als Machterbeutung. Hitler selbst hat diesem Treiben seiner Gefolgsleute widerspruchslos zugesehen, es kümmerte ihn „einen Dreck": „Macht was ihr wollt, aber laßt euch nicht erwischen", äußerte er, nicht ohne freilich auch diese Aufforderung mit machtpsychologischen Erwägungen zu motivieren: „Nur wer sein eigenes Fortkommen mit der allgemeinen Sache so verknüpft, daß keins mehr vom andern zu trennen ist, nur auf den kann ich mich verlassen."

Das parasitäre Herrenmenschtum, das sich in dieser Jagd nach Posten, Pfründen und Pensionen in seiner kleinbürgerlich-habsüchtigen Struktur demaskierte, erwies sich aus den gleichen Gründen den übernommenen sachlichen Aufgaben keineswegs gewachsen. Was sich, angefangen von der Exekutive des Reiches bis hinab zu den Landratsämtern und Bürgermeistereien oder auch in den Gau-und Kreisleitungen der NSDAP mit derber Machtallüre breitmachte, hatte den verwaltungstechnischen Anforderungen des Amtes zumeist nichts als das revolutionäre Recht und die eigene angestaute Begehrlichkeit entgegen-zusetzen. Zutreffend hat Goebbels angesichts solcher ideologisch kaschierten Triebentladungen bemerkt, diese Männer brauchten „nur noch das alte jus primae noctis, um größere Macht zu besitzen als die absolutesten Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts" Ausnahmen fanden sich nur wenige, die Regel bezeichneten, neben zahllosen zweit-und drittrangigen Namen, Erscheinungen wie Mutschmann, Brückner, Forster, Streicher oder Lutze. Einige von ihnen mußten denn auch alsbald wegen offenbarer Unfähigkeit abgesetzt oder auf reine Repräsentativposten abgeschoben werden; die Mehrzahl allerdings sah sich von Hitler, selbst gegen den bisweilen heftigen Widerstand aus den eigenen Reihen, gedeckt; wie denn überhaupt „die harten . Männer'..., die beim Volke unbeliebt oder verhaßt waren", nach einem Zeugnis aus seiner engsten Umgebung, Hitlers „höchstes Vertrauen genossen", als alter Revolutionär bevorzugte er stets die rücksichtsloseren Naturen Goebbels, auf seine Weise zweifellos zu den Ausnahmen zählend, hat gegen Ende des Krieges über diese alte Parteielite ein tatsächlich abschließendes Urteil gefällt: „Das ist doch im besten Fall menschlicher Durchschnitt. Kein einziger hat die Qualitäten eines mittelmäßigen Politikers, geschweige denn das Format eines Staatsmannes. Sie sind doch alle die Schreier aus dem Bürgerbräukeller geblieben, die sie immer waren. Und viele von ihnen haben noch das bißchen Verstand, das sie einst zur Bewegung führte, in zwölf Jahren Wohlleben versoffen. Diese Meute bösartiger Kinder, die jeder gegen jeden intrigieren, die nur auf ihr persönliches Wohl und auf ihre Stellung beim Führer bedacht sind, und die die Summe all dieser ihrer Handlungen . Regieren'nennen, sie tun und lassen heute, da der Führer sie nicht mehr am festen Zügel führt, was sie wollen."

Der total verfügbare Mensch

Allerdings hat der Typus des braunen Amts-walters, einmal in seinen Interessen befriedigt, nicht lange als elitäres Element figuriert. Allzusehr schienen diese schwerfälligen, ungeprägten Erscheinungen, deren Gesichter so viel dumpfe Brutalität ausdrückten, die Partei an ihre voraussetzungslose Vergangenheit zu erinnern. Auch die Figur des SA-Führers, die lange als elitäres Modell gedient hatte, büßte nach der Affäre Röhm rasch ihren Vorbild-charakter ein. Unterdessen wurden, vor allem durch die Aktivität Himmlers, Bestrebungen erkennbar, das Gesicht des Dritten Reiches erstmals auch typologisch den postulierten Idealvorstellungen anzunähern, jenen „Orden guten Blutes" zu schaffen, dessen Begründung der Reichsführer-SS als das „unverrückbare Gesamtziel" seiner Tätigkeit bezeichnet hat Der Typus des verhunzten Kleinbürgers, wie ihn insbesondere die Funktionäre der Politischen Organisation repräsentiert hatten, sah sich infolgedessen alsbald abgelöst, und an die Stelle seiner stämmigen und berechnenden Diesseitigkeit trat die zunächst von eher schwärmerisch-strengen Vorstellungen geprägte Figur des SS-Mannes. In bewußter Anlehnung an bestehende Ordenstraditionen setzte Himmler seinen ganzen sektiererischen Ehrgeiz daran, durch Auslese, Schulung und Zucht den nationalsozialistisch und nordisch geprägten Idealtypus hervorzubringen. In einer seiner zahllosen Verlautbarungen zu diesem Thema hat er gefordert, der SS-Mann müsse die „Tradition echten Soldatentums, die vornehme Gesinnung, Haltung und Wohlerzogenheit des deutschen Adels, das Wissen und Können sowie die schöpferische Tatkraft der Industriellen und die Tiefe deutschen Gelehrtentums auf dem Boden rassischer Auslese mit den sozialen Forderungen der Zeit" verbinden Die zunehmende Betrauung der SS mit terroristisch-polizeilichen Funktionen, wie sie der Diktatur zwangsläufig erwuchsen, hat indes dazu geführt, daß solche Postulate bald nur noch als leerer Anspruch wirkten, der das ordinäre Mordgeschäft moderner Sbirren romantisch verbrämte. Ein höherer SS-Führer hat diese Doppelfunktion mit den Worten umschrieben: „Die Auslese der neuen Führerschicht vollzieht die SS — positiv durch die National-politischen Erziehungsanstalten (Napola) als Vorstufe, durch die Ordensburgen als die wahren Hochschulen der kommenden nationalsozialistischen Aristokratie sowie durch ein anschließendes staatspolitisches Praktikum; negativ durch die Ausmerzung aller rassenbiologisch minderwertigen Elemente und die radikale Beseitigung jeder unverbesserlichen politischen Gegnerschaft ..."

Der Widerspruch zwischen Anspruch und Funktion der SS hat nicht zuletzt auch das merkwürdig heterogene Charakterdiagramm ihrer Mitglieder geprägt. Zwar kann die Frage, ob und in welchem Umfange die Wirkungsweise totalitärer Systeme gerade den Typus des zwiegespaltenen Menschen verlangt, in dieser zusammenfassenden Betrachtung nicht näher untersucht werden. Immerhin hat ihm die SS, als die utopische Vorhut des Nationalsozialismus, den kalten Perfektionismus ihrer Zukunftswelt in einem Maße zu danken, der einen solchen Zusammenhang nahelegt. In den verschiedentlich beschriebe-nen Phänomenen des „Zwiedenkens“ oder „Zwieverhaltens" ist der gleiche psychologische Tatbestand, wenn auch vorwiegend mit dem Blick auf die kommunistische Welt, analysiert worden. Erscheinungen wie Rudolf Höß, Otto Ohlendorff oder Adolf Eichmann haben diese Figur des total verfügbaren Menschen, der das schlechthin Unvereinbare ohne jeden Anflug innerer Bedrängnis ins Gleichgewicht zu bringen vermag, jeder auf seine bestürzende Weise repräsentiert. Die tägliche Mordpraxis und eine fast zärtliche Familienbeziehung, Erörterungen über die Verbesserung der „feuerungstechnischen Kapazität" der Verbrennungsöfen und die fast sprichwörtlich gewordenen Hausmusikabende bei Kerzenlicht, sinnlose Härten und Schikanen gegenüber den Opfern und ein strenges Ethos der „Anständigkeit", das sich beispielsweise über Diebstähle unter den jüdischen Lagerinsassen tief entrüsten konnte — das alles stand unvermittelt nebeneinander, und wenn Rudolf Höß in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen klagt, daß er doch auch „ein Herz" gehabt habe und „nicht schlecht" gewesen sei, so wirkt das eben darum so erschreckend, weil es in gewissem Sinne die Wahrheit ist. Äußerste Gefügigkeit nach oben und Unbeugsamkeit nach unten, Unsicherheit in der Sphäre persönlicher Entscheidungen und entschlossene Kaltblütigkeit im Einsatz, Sentimentalität im privaten Bereich und Gefühls-armut im Dienst, das Vermögen, sich aufzuspalten und doch in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein: aus solchen und zahlreichen ähnlich gelagerten Gegensatzpaaren lassen sich die Ansatzpunkte zu einer Psychologie dieses Typus gewinnen. Sein Anlehnungsbedürfnis, das ein Ausdruck fehlender Persönlichkeitssubstanz war, wurde durch das absichtsvoll geförderte Bewußtsein der allgegenwärtigen Bedrohung noch verstärkt, so daß sich das Gefühl der Sicherheit, wo überhaupt, nur zusammen mit der blinden Vollzugstreue einstellte. „Menschliche Regungen", so vermerkte Rudolf Höß, seien ihm „beinah wie Verrat am Führer" vorgekommen

Anarchie der Rivalitäten

Im Gegensatz zu der verbreiteten Vorstellung, die den totalitären Systemen eine monolithische Geschlossenheit ihres Machtgefüges nachrühmt, sind sie strukturell überwiegend chaotisch. Hinter der Fassade verschworener Gemeinsamkeit wuchern die Rivalitäten, die Feindschaften, die Intrigen, und die voraufgegangenen Kapitel haben dafür eine Fülle von Belegen erbracht. Das Grundgefühl der Unsicherheit, das gerade in den führenden Rängen wirksam ist, treibt jeden einzelnen zu im Grunde nichtigen Anstrengungen persönlicher Absicherung, die von der Autoritätsspitze nicht nur geduldet, sondern eher noch unterstützt werden; denn wo angesichts der ausschließlichen Kompetenz des einen Führers alle übrigen Kompetenzen belanglos werden, darf jeder sich nach eigenem Vermögen seine Einflußdomänen schaffen, die wiederum vom Ehrgeiz, von der Eifersucht der Mitbewerber und notfalls auch durch gesteuerte Verlagerungen der Machtgewichte hinreichend in Schach gehalten werden. Noch heute fällt es mitunter schwer, das bizarre Durcheinander in den Beziehungen der Führungskräfte des Dritten Reiches aufzudecken, und die unterschiedlichen Motivstrukturen, die den gegenseitigen Abneigungen das Gepräge gaben, in ihren wechselnden Frontstellungen zu dechiffrieren. In den verbissenen Machtkämpfen vor dem Throne Hitlers stand jeder irgendwann gegen jeden, Göring gegen Goebbels, Goebbels gegen Rosenberg, Rosenberg gegen Ley (er versucht, „mich hinter meinem Rücken um mein Lebenswerk zubringen" Bormann gegen Frank, Frank gegen Himmler und alle gegen alle. Die ständigen Fehden um die außenpolitische oder propagandistische Zuständigkeit haben, mit teilweise grotesken Zügen, die Folgen dieses „Multicaesarismus" deutlich gemacht. Nicht zu Unrecht fühlte Charles Dubost, der stellvertretende französische Hauptankläger in Nürnberg, sich an „die kleinen Höfe der italienischen Renaissance" erinnert

Hitler hat diese Anarchie der Rivalitäten immer gefördert, sie war, von Beginn seiner Laufbahn an, eines der verläßlichsten Mittel seiner innerparteilichen Erfolgstaktik. Nicht zuletzt deshalb blieb er, auch im realen Macht-sinne, bis ans Ende der ausschließliche Bezugspunkt, die dynamische Mitte der „Bewegung", Wirkungsachse einer großen zentripetalen Kraft, die den Lauf der Trabanten bestimmte und das System der Gleichgewichts-lagen zwischen ihnen herstellte. Jede Veränderung, jede Bewegungsphase, Aufstieg oder Untergang, waren auf ihn hin orientiert, „ihr Licht war der Widerschein seines Lichts" Angesichts der Erscheinung Hitlers wird denn auch, nachdrücklicher als irgend sonst, der psychologische Grundtatbestand sichtbar, der seine gesamte Anhängerschaft unter den vielfach wechselnden persönlichen Vorzeichen miteinander verband: die personale Leere, der Mangel an fester individueller Prägung, an humanem Maß schließlich. Die Elemente des totalitär disponierten Menschen, die sich im Verlauf dieses Überblicks ergaben: seine Voraussetzungslosigkeit, seine Kontaktschwäche und Labilität, der aggressiv betonte Charakter seiner Vorurteile, die Trieb-bestimmtheit, die Gespaltenheit und seine Führervergottung ebenso wie seine Menschen-verachtung sind immer wieder zurückführbar auf den einen Befund personaler Armut.

Ausführende des Hitlerschen Willens

Nicht nur in der Richtungslosigkeit, die den meisten Lebensläufen bis zur Begegnung mit Hitler eigen ist, wird er greifbar, sondern noch in den abseitigsten Neigungen: in der verbreiteten Suche beispielsweise nach historischen „Vordermännern", so wenn Himmler sich als Reinkarnation Heinrichs I. betrachtete und aus den eigenen Reihen nicht ungern die Bezeichnung „der schwarze Herzog" hörte, oder Rosen-berg sich als geistiger Nachfahre Heinrichs des Löwen, Friedrichs des Großen und Bismarcks feiern ließ „Warum liebt der deutsche Mensch Adolf Hitler?", hat Robert Ley 1942 in einer Rede im Berliner Sportpalast ausgerufen, und mit der keineswegs nur für ihn selbst bezeichnende Wendung geantwortet: „Weil er sich bei Adolf Hitler geborgen weiß — das Gefühl der Geborgenheit, das ist es!“ Die starken Gesten und die großen Worte, die sie alle zu handhaben wußten, haben lange die Einsicht verdeckt, daß sie nichts anderes als Projektionen des Hitlerschen Willens gewesen sind. Vor allem die Generationen der Miterlebenden waren immer wieder versucht, die individuelle Bedeutung der Gefolgsleute Hitlers an der Macht des Regimes zu messen. Erst der Prozeß, der ihnen gemacht wurde, hat die Wahrheit ihrer nur von Hitler ausgeliehenen Statur enthüllt. Vor den Schranken des Gerichts erschien (von wenigen Ausnahmen wie Göring oder Speer abgesehen) eine aufgelöste, gesichtslose Herde von Unpersönlichkeiten, denen nicht einmal die Millionen Opfer, die ihre Herrschaft gekostet hatte, ein flüchtiges Gewicht zu geben vermochte. Nie waren sie, die doch immerhin erst ein Volk, dann einen Erdteil unterworfen und die Welt herausgefordert hatten, mehr als Protuberanzen ihres Führers Hitler gewesen. Sie waren keineswegs groß und grausam, wie eine im Nahe-liegenden verhaftete Vorstellungsweise vermutet hatte; auch die meist polemisch gefärbten Urteile, die ihnen geistige Unbeweglichkeit oder gar Dummheit vorgeworfen haben, verkennen den Kern des Problems; denn der Gleichmut, mit dem sie alle das widerspruchgesättigte Theorienwerk der nationalsozialistischen Weltanschauung hinnahmen, war weniger in mangelnden intellektuellen Fähigkeiten als vielmehr im Zynismus von Machtpraktiken begründet, die Ideologien nicht glaubten, sondern benutzten.

Die in Nürnberg veranstalteten Testuntersuchungen haben denn auch bei der Mehrheit einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten ergeben In Wirklichkeit waren sie weder das eine noch das andere, sondern einfach leer, fremden Zwecken offen und bereit, sich mißbrauchen zu lassen: ausgelaugte Existenzen, Menschenhüllen, deren Schwäche der konstituierende Beitrag zur Herrschaft Hitlers gewesen war. „Alles (lag) in einem mich mitreißenden mächtigeren Schicksal beschlossen", hat einer der Angeklagten versichert Der Prozeßverlauf bestätigte auch, was mit diesen Bemerkungen schon angedeutet ist: daß sie sich nicht einmal einer Idee verschworen fühlten, so daß alles, Gewalt, Krieg und Völkermord, am Ende den Charakter eines Irrtums, eines schrecklichen Mißverständnisses annahm, vor dessen Folgen sie sich achselzuckend fortstehlen wollten. Dem vorherrschenden Typus, wie er vor allem auch in den Nürnberger Nebenprozessen zum Vorschein kam, fehlte selbst die kriminelle Unbedingt-heit, er hatte die kleinbürgerlichen Haltungen und Antriebe seines Ursprungs bewahrt; sein Fanatismus war besinnungslose Tüchtigkeit. Pedantisch, mit einer mörderischen „Liebe zur Sache", hatte er stets nur getan, was er als seine Pflicht begriff, und war, wie Himmler oder Höß, schlechthin unfähig, seinen furchtbaren Ruf zu begreifen. Statt des von aller Welt erwarteten „Tieres aus der Tiefe" erhob sich von den Bänken der Angeklagten immer nur die platte „Normalität". Man hat in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Regimes, noch verlegen um die Entschlüsselung seines Wesens, von einer „Krisis des Faustischen" gesprochen und den Nationalsozialismus damit als ein Phänomen übermenschlichen Aufbegehrens gedeutet. In solchen Formeln zeigte ein fundamentales Mißverständnis sich an Nicht Faust, sondern Wagner war die Figur der Krise.

Das geschichtliche Versagen eines ganzes Volkes

Die Darstellung führender Akteure jener Jahre, die der Gegenstand des Buches ist, sollte indessen nicht dazu dienen, eine Gruppe von Sündenböcken zu schaffen, die das geschichtliche Versagen eines ganzen Volkes in die Wüste des Vergessens zu tragen hätte. Die Sammlung zeitgeschichtlicher Porträt-studien bedarf am Ende des Hinweises auf eine Schuld, die vom Verhalten der nationalsozialistischen Spitzenfiguren nicht erfaßt wird. „Hitler", beteuerte Hans Frank in Nürnberg, „war der Teufel. So verführte er uns alle." Solche Wendungen mindern die allgemeine Verantwortung nicht; denn die Wahrheit ist doch, daß ein Volk erst die Bedingungen seiner Verführbarkeit besitzen muß, um sich dem Abenteuer des Totalitarismus hinzugeben. Im Bereich historischer Verfehlung gibt es keine „Teufel", die unterm selbstkritischen Befragen nicht die Physiognomie des Mannes von der Straße annähmen. Die nationalsozialistischen Führer waren im Grunde nur besonders ausgeprägte Erscheinungen eines Typus, der in der gesamten Gesellschaft anzutreffen war, und das Gesicht des Dritten Reiches war in diesem Sinne das Gesicht eines ganzen Volkes. Denn noch immer ist es so, daß nicht die Vergolder, sondern die Anbeter den Götzen machen. Nichts wäre gefährlicher, so hat ein Historiker unlängst bemerkt, „als jetzt, da die lügenhafte Legende von Hitler zerstört ist, eine neue Legende gegen Hitler auf Kosten der Wahrheit und Gerechtigkeit zu züchten.

Dazu gehört nicht zuletzt auch, daß man nicht alle Schuld allein ihm und dem Nationalsozialismus zuschiebt" Unter den Bedingungen, die das Geschehen jener Jahre ermöglichten, wird man an erster Stelle nicht die vielfältigen aktuellen Notstände der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre nennen; sie waren eher Symptome als Ursachen des Versagens. Die Voraussetzungen für totalitäre Herrschaft in einem Lande sind in tieferen Schichten zu suchen, denn sie sind „die Folge eines irrigen Selbstverständnisses des Menschen" Man muß nicht zu den Anhängern der These zählen, daß die deutsche Geschichte einen einzigen konsequenten Weg zum Nationalsozialismus bedeute, um dennoch die Elemente jenes Versagens in Entwicklungsketten mit teilweise langen historischen Anlauffristen vorgebildet zu finden. Immer wieder sieht man sich dabei auf das traditionelle deutsche Un-verhältnis zur Politik zurückverwiesen: auf jenen fatalen deutschen Bildungsbegriff insbesondere, der das Politische aussperrte, es zum verachteten Geschäft fragwürdiger Erscheinungen oder zu einer Sache der „starken Männer" machte; der den Mangel an bürgerlicher Freiheit durch den Rückzug auf die „innere Freiheit" kompensierte und eine falsche politische Enthaltsamkeit ebenso wie ein heroisch durchsetztes Politikbewußtsein kultivierte; dem nicht der parlamentarische Ausschuß mit seinem Kompromißcharakter, sondern Dürers „Ritter, Tod und Teufel" als Symbol politischer Alltags-bewährung erschien; der seine Orientierungsschwäche als „Tiefe" oder „Gemüt" feierte und der Welt als „deutsche Art und Sendung" entgegenhielt; der den Staat nicht als ein System von Gleichgewichtslagen zur Schonung individueller Freiheitsreservate begriff, sondern als absolute Größe mit weitgehenden Unterwerfungsansprüchen, als ein Sakralwesen, heilig nicht nur als Römisches Reich deutscher Nation, sondern heilig schlechthin. In solchen und zahlreichen anderen Voraussetzungen wurde das ideologische Milieu vorbereitet, in dem Hitler seine Wirkungen erst zu entfalten vermochte Hier hat denn auch die vielberedete Bewältigung der Vergangenheit einzusetzen, sie umfaßt nicht nur die Vergegenwärtigung und Kenntnis der letzten dreißig Jahre. Eine lange und elende Tradition der deutschen Geistesgeschichte, die sich neben ihren humanen Entwicklungen und schließlich zusehends dagegen zu behaupten wußte, ist in jene Erscheinung eingegangen, die wir Nationalsozialismus nennen — er hatte in der Tat seine Geschichte, längst bevor es eine Geschichte des Nationalsozialismus gab. Ganze Generationen von Universitätslehrern, schriftstellernden Pseudopropheten und vaterländischen Vereinsvorsitzenden haben daran mitgewirkt, jene Atmosphäre zu schaffen, in der die herrschende Vernunftfeindschaft, die Verrohung des Lebens, die Korrumpierung sittlicher Maßstäbe nur noch der besonderen politischen Zuspitzungen und des mitreißenden Wortführers bedurften, um ihre zerstörerische Gewalt zu entfalten.

Vergessen ist keine angemessene Reaktion

Gewiß ist Hitler heute vergessen, und jenes Nichts einer „Weltanschauung", mit dem er einen so gewaltigen Aufruhr erzeugte, ist mit ihm dahingegangen. Selbst die Spuren seiner Herrschaft schrecken nur noch wenige. Unter den Dokumenten, die von der psychischen Gewalt seiner Erscheinung zeugen, blieb nicht viel mehr als der Eindruck seiner Stimme, die den überlebenden eher Gefühle der Verlegenheit als der Faszination bereitet.

„Diese Bestandslosigkeit", so hat Hannah Arendt in ihrem Buch . Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft'bemerkt, „hat sicher etwas mit der sprichwörtlichen Unbeständigkeit der Massen und des Massen-ruhms zu tun, mehr noch mit der Bewegungssüchtigkeit totalitärer Bewegungen, die sich überhaupt nur halten können, solange sie in Bewegung bleiben und alles um sich herum in Bewegung versetzen, so daß in gewissem Sinne auch gerade diese Vergeblichkeit den toten Führern kein schlechtes Zeugnis über das Ausmaß ihrer Erfolge in bezug auf die spezifisch totalitäre Infizierung ihrer Untertanen ausstellt; denn gerade diese außerordentliche Umstellungsfähigkeit und Kontinuitätslosigkeit ist, wenn es überhaupt so etwas gibt wie einen totalitären Charakter oder eine totalitäre Mentalität, zweifellos ein hervorragendes Merkmal. Es wäre daher ein Irrtum, zu meinen, daß Unbeständigkeit und Vergeßlichkeit ein Zeichen dafür seien, daß die Massen von dem totalitären Wahn ... geheilt seien; das Ungekehrte könnte der Fall sein."

Es fällt nicht leicht, in der politischen Wirklichkeit der Gegenwart Beweiselemente zu finden, die den skeptischen Grundton dieser Erwägung widerlegten. Zwar hat das Hitler-regime sich in einem alle historische Erfahrung übersteigenden Maße kompromittiert und, für die Mehrheit des Volkes insbesondere nach dem Ende, Züge offenbart, die sentimental-verklärenden Gefühlsbindungen keinen Raum lassen. Jener verhängnisvollen Neigung, die nicht zuletzt der Weimarer Republik das eigentümliche Gefühlsvakuum beschert und ihr die Lebensmöglichkeiten genommen hat: die Diffamierung der Gegenwart im Zeichen hemmungslos idealisierter Erinnerungskomplexe, ist damit der Boden entzogen. Auch begegnet man kaum mehr jenen romantizistischen, von aggressiven Stimmungen durchsetzten Fluchtvorstellungen in imaginäre Reiche der weiteren Vergangenheit oder der Zukunft, die der politischen Bewußtseinsgeschichte der Deutschen so lange das fatale Gepräge gegeben haben; der unter mancherlei Gestalt und Namen die Phantasie der Nation immer wieder erregende Traum vom „Dritten Reich" ist mit der abschreckenden Gestalt, in der es sich schließlich verwirklicht hat, dahingegangen. Das Deutschland der nachhitlersehen Zeit hat sich zu einer Haltung der Gegenwärtigkeit entschlossen, zu der frühere Generationen immer unfähig schienen und de-ren Mangel zu den Hauptschwächen des politischen Lebens unseres Volkes zählte. Sie wäre uneingeschränkter Bejahung sicher, wenn daraus nicht weniger das Verlangen spräche, die jüngste Vergangenheit in ihren Voraussetzungen erkennend zu überwinden, als vielmehr zu verdrängen. Die sowohl von Ressentiments wie von unkritischer Selbstbeschwichtigung gleichermaßen freie Revision unserer geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bewußtseinsinhalte, die Klärung der Beziehung von Geist und Macht, Gesellschaft und Freiheit, die Problematik von Obrigkeit, Gehorsam, staatsbürgerlicher Verantwortung, zivilem Ethos, Widerstand oder moderner Rechtsstaatlichkeit — alle diese und zahlreiche ähnliche Fragenkomplexe sind, auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft, nur in Ansätzen überprüft worden, und es ist kein ermutigendes Zeichen, daß alle diese Begriffe einen abgenutzten Klang erhalten haben. Gewiß ist Hitler tot. Aber er war, trotz allem, zu groß, zu unverleugbar Symptom und Ergebnis spezifischer Fehlentwicklungen unserer Geschichte, zu sehr „in uns selbst", als daß das Vergessen eine angemessene Reaktion wäre. Der totalitäre Infekt überdauert in vielen, oft unscheinbar anmutenden Äußerungsformen die Phase seiner eigentlichen Wirksamkeit. Die weltweite politische Entwicklung der Nachkriegszeit hat dem deutschen Volk, zumindest in der Bundesrepublik, eine Schonzeit gewährt, in der es die Bewährungsprobe auf ein verändertes Bewußtsein noch nicht zu leisten hatte. Möglich ist immerhin, daß die nicht selten apologetisch ins Treffen geführte „politische Vernunft" unseres Volkes nur der Reflex „vernünftiger" Umstände ist. Die Antwort steht noch aus.

Durch ein Versehen ist die Ausgabe der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte vom 4. September 1963 falsch numeriert worden. Statt B 35-36/63 hätte es heißen müssen B 36-37/63. Um die Nummer 37 nicht gänzlich entfallen zu lassen, hat die vorliegende Ausgabe die Nummer B 37-38/63 erhalten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. H. Rauschning, „Gespräche mit Hitler", Zürich/Wien/New York 1940, S. 232.

  2. Anläßlich des Beuthener Todesurteils gegen die fünf Mörder von Potempa erschien im August 1932 im „Völkischen Beobachter" ein Artikel Alfred Rosenbergs unter dem Titel „Mark gleich Mark, Mensch gleich Mensch", der dafür plädierte, daß auch im Rechtsleben Mensch nicht gleich Mensch und Tat nicht gleich Tat sei; vgl. F. Th. Hart, „Alfred Rosenberg", München 19373, S. 81 ff.

  3. A. Rosenberg, „Der Mythos des 20. Jahrhunderts", München 194312, S. 531. Vgl. dazu auch die außerordentlich instruktive Schrift von Hans Buch-heim, „Totalitäre Herrschaft, Wesen und Merkmale", München 1962, insbesondere S. 14 ff.

  4. Vgl. H. Rauschning, a. a. O., S. 45.

  5. Vgl. Gottfried Griesmayr, „Das völkische Ideal" (als Ms. gedruckt), S. 160. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist auch ein Artikel von Ernst Krieck über den „Wandel der Wissenschaftsidee und des Wissenschaftssystems im Bereich der nationalsozialistischen Weltanschauung", der die völkisch-politische Anthropologie als „Sinnmittelpunkt" im nationalsozialistischen „Kosmos der Wissenschaften" feierte; zit. bei Walther Hofer, „Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 — 1945", Frankfurt/Hamburg 1957, S. 99 f.

  6. Zit. bei H Arendt, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", Frankfurt 1957, S. 613.

  7. H. Rauschning, a. a. O., S. 232. Hitlers Rede vor dem Offiziersjahrgang 1938 ist zit. bei H. A. Jacobsen/W. Jochmann, „Ausgewählte Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus 1933— 1945", Bielefeld 1961, unter dem Datum vom 25. 1. 1939.

  8. H. Rauschning, a. a. O., S. 233.

  9. Zit. bei K. Heiden, Adolf Hitler, Bd. II, Zürich 1937, S. 177 f. Vgl. dazu auch den aufschlußreichen Artikel von Karlheinz Rüdiger „Auslese der Bewegung", in: „Wille und Macht, Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend", 4. Jg., Heft 12, 15. Juni 1936; abgedr. in H. A. Jacobsen/W. Jochmann, a. a. O.

  10. Wie weit diese Überzeugung von der gegenseitigen Bedingtheit rassischer und charakterlicher Werte ging, wird durch eine von Felix Kersten, „Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform", Hamburg o. J., S. 100 f. geschilderte Episode belegt: Himmler hatte gelegentlich einen blonden, hochgewachsenen jungen Mann kennengelernt und ihn ohne weitere Nachprüfung, lediglich auf Grund seiner offenkundigen rassischen Voraussetzungen, in die Leibstandarte Adolf Hitler übernommen. Als er bald darauf erfahren mußte, daß dieser Mann ein mehrfach vorbestrafter Krimineller war, sei er „erschlagen gewesen, denn so etwas habe er einem blonden Menschen nicht zugetraut'1.

  11. So Hanns Johst in einer „Rede zur Kundgebung des Deutschen Schrifttums", zit. in „Völkischer Beobachter" vom 24. Juli 1936.

  12. Hitler am 3. Sept. 1933 beim Abschluß des Parteitages in Nürnberg, zit. bei C. Horkenbach, „Das Deutsche Reich von 1918 bis Heute, Das Jahr 1933", Berlin 1935, S. 364. Die Stelle lautet im Zusammenhang: „Es war damit nur entscheidend, durch welche Methode man diese Menschen finden würde, die als Nachfolger und damit Erbträger der einstigen Schöpfer unseres Volkskörpers heute seine Forterhalter sein können. Es gab hier nur eine Möglichkeit: Man konnte nicht von der Rasse auf die Befähigung schließen, sondern man mußte von der Befähigung den Schluß auf die rassische Eignung ziehen. Die Befähigung aber war feststellbar durch die Art der Reaktion der einzelnen Menschen auf eine neu zu proklamierende Idee."

  13. Alfred Richter, „Unsere Führer im Lichte der Rassenfrage und Charakterologie", Leipzig 1933, S. 12.

  14. Zit. bei D. M. Kelley, „ 22 Männer um Hitler", Olten/Bern 1947, S. 78. Auf die außerordentliche Bedeutung gerade der Münchener und bayerischen Umgebung für den Aufstieg der NSDAP hat in jüngster Zeit vor allem die gute Darstellung von H. H. Hofmann, „Der Hitlerputsch", München 1961, hingewiesen.

  15. „Mein Kampf", München 193337, S. 441; die berühmte und treffende Formel Gregor Strassers fand sich in einer Rede vom 20. Okt. 1932 vor der NSBO im Berliner Sportpalast.

  16. Vgl. Norman H. Baynes, " The Speeches of Adolf Hitler”, Oxford 1942, Bd. I, S. 75.

  17. Zit. bei Ilse Heß, „England—Nürnberg—Spandau. Ein Schicksal in Briefen", Leoni 1957, S. 107.

  18. H. Rauschning, a. a. O., S. 256. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Hitlers Äußerung: „Weltgeschichte wird durch Minoritäten gemacht dann, wenn sich in dieser Minorität der Zahl die Majorität des Willens und der Entschlußkraft verkörpert" („Mein Kampf", S. 441.)

  19. Vgl. W. Sauer in : K. D. Bracher/W. Sauer/G. Schulz „Die nationalsozialistische Machtergreifung", Köln u. Opladen 1960, S. 850; ferner: H. Frank, „Im Angesicht des Galgens", Neuhaus 19552, S. 369 f.

  20. F. L. Neumann, „Behemoth", New York 19442, S. 96.

  21. Goebbels „Tagebücher 1942/43", Zürich 1948, S. 135 (Eintrg. vom 21. März 1942); es handelt sich dabei um eine Äußerung General Schmundts, die Goebbels beifällig zitiert.

  22. Berichtet von Sir Nevile Henderson, " Failure of a Mission", London 1940, S. 282; zit. nach A. Bullock, „Hitler", Düsseldorf 1959, S. 391.

  23. G. M. Gilbert, „Nürnberger Tagebuch", Frankfurt 1962, S. 230.

  24. H. Frank, a. a. O., S. 89. Die außerordentliche Suggestivmacht Hitlers erwies sich im übrigen nicht nur an seinen nationalsozialistischen Gefolgsleuten. Hindenburg, Papen, Blomberg, Industrielle oder Professoren verfielen ihm in mehr oder minder entwürdigendem Maße. General v. Brauchitsch ließ im November 1939 von einem Auflehnungsversuch der Generalität einfach ab, als Hitler ihn anschrie, und selbst der in seinem fachmännischen Hochmut fest verkapselte Hjalmar Schacht versicherte gelegentlich, er ginge „nie ohne innere Befreiung von einer Aussprache mit Hitler fort — er fühle sich immer gestärkt", wie H. Rauschning, a. a. O., S. 178, berichtet. Die einzige Ausnahme innerhalb der eigentlichen Führungsspitze schien Reinhard Heydrich zu sein. Das mag freilich nicht zuletzt darin seinen Grund haben, daß er in nicht so engem Kontakt mit Hitler persönlich stand, dafür vielmehr seinen „Strohmann" Himmler zur Verfügung hatte. Anders liegt der Fall Röhm. Er hielt sich wohl frei von den

  25. Alexandre Koyre, " The Political Function of the Modern Lie“, in: " Contemporary Jewish Record”, Juni 1945, zit. nach H. Arendt, „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", S. 556. Vgl. in diesem Zusammenhang auch eine von H. Rauschning, a. a. O., S. 40, wiedergegebene Äußerung Darres: „Nur wenn Wissen wieder den Charakter der Geheimwissenschaft zurückerlangt hätte und nicht allgemein zugänglich sei, würde es wieder die Funktion einnehmen können, die es normalerweise habe, nämlich Mittel der Beherrschung zu sein." In seiner erwähnten Rede vor dem Offiziersjahrgang 1938 meinte Hitler ebenfalls, daß er Gedanken vortragen werden, „die vielleicht in späteren Jahrzehnten oder Jahrhunderten (!) offen ausgesprochen werden können, deren offizielle Bekanntgabe in den zurückliegenden Jahren und wohl auch heute noch der Werdekraft der Bewegung in einzelnen Teilen unseres Volkes vielleicht aber Abbruch tun könnte“; vgl. H. A. Jacobsen/W. Jochmann, a. a. O.

  26. Vgl. H. Rauschning, a. a. O., S. 46, 181, 45 f.

  27. Vgl. dazu insbesondere Erwin Faul, „Der moderne Macchiavellismus", Köln/Berlin 1961, S. 329 f., der als Beispiele für diesen Sachverhalt Hitlers „mystische Vorstellungen über die geschichtliche Stunde des Deutschtums", „die ganz persönlichen Gefühle des Getragenwerdens von determinierenden Kräften, der . Vorsehung', wie er es nennt", und schließlich Hitlers „Haltung in der Judenfrage" anführt. Schon Theodor Heuss hatte 1932 in seiner Studie über „Hitlers Weg" Stuttgart/Berlin/Leipzig 1932, darauf hingewiesen, daß sich „in der NSDAP zwei sehr verschiedene Tendenzen überdecken: eine völlig irrationale und eine höchst rationalistische. Beide haben ihre Wurzeln in Hitlers Persönlichkeit, wie sie dem Doppelsinn deutschen Wesens entgegenkommen. Man könnte von bürokratischer Romantik sprechen"; S. 118.

  28. Vgl. H. Rauschning, a. a. O., S. 177.

  29. Zu diesem gesamten Komplex: H. Rauschning, a. a. O., S. 89 ff.

  30. Zit. bei R. Semmler, „Goebbels", London 1942, S. 86.

  31. So O. Dietrich, „ 12 Jahre mit Hitler", München 1955, S. 33. Ein anschauliches Beispiel für die Bevorzugung der jeweils härteren Naturen bietet der Streit zwischen Erich Koch und Alfred Rosenberg während des Krieges über die Politik in den Ost-gebieten.

  32. W. v. Oven, „Mit Goebbels bis zum Ende", Bd. II, Buenos Aires 1950, S. 299.

  33. Ansprache Himmlers an das Offizierskorps der Leibstandarte-SS Adolf Hitler vom 7. Sept. 1940; zit. nach IMT XXIX, S. 109 (1918—PS).

  34. Vgl. F. Kersten, a. a. O., S. 304.

  35. Äußerung eines SS-Führers der Ordensburg Vogelsang im Herbst 1937; zit. bei E. Kogon, „Der SS-Staat", Berlin 1947, S. 20 Vgl. dazu auch die von F. Kersten, a. a. O., S. 298 ff. berichteten Äußerungen Himmlers über die Waffen-SS, die freilich auch zahlreiche allgemeine Prinzipien und Auslesegrundsätze enthalten. Zur Doppelfunktion der SS ferner: Reinhard Heydrich, „Wandlungen unseres Kampfes", München 1935, insbes. S. 20.

  36. „Kommandant in Ausdiwitz. Autobiographische Aufzeichnungen von Rudolf Höß“, Eingel. und kommentiert von Martin Broszat, Stuttgart 1958, S. 129.

  37. Vgl. H. G. Seraphim, „Das politische Tagebuch Alfred Rosenbergs", S. 78.

  38. IMT XIX, S. 604 f.

  39. A. Bullock, a. a. O., S. 734. Goebbels bemerkte mit einem ähnlichen Bild: „Es ist schon so: nur ein paar Flammen brennen in Deutschland. Die anderen werden lediglich von ihrem Schein bestrahlt"; vgl. „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei", Berlin 1933, S. 17 (Eintrg. vom 4. Jan. 1932). Fast die gleiche Bemerkung taucht ziemlich genau ein Jahr später, am 3. Jan. 1933, in diesem Tagebuch noch einmal auf; vgl. a. a. O., S. 233.

  40. Vgl. F. Th. Hart, a. a. O., S. 58 f.; F. Kersten, a. a. O., S. 190.

  41. Dazu G. M. Gilbert, a. a. O., S. 35 f. S. 35 f.

  42. So Ernst Kaltenbrunner, zit. bei C. Haensel, . Das Gericht vertagt sich“, Hamburg 1950, S. 166.

  43. Johannes Pinsk, „Krisis des Faustischen", Berlin 1949. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die treffende Kritik, die Helmut Heiber in seinem Buch „Joseph Goebbels", Berlin 1962, S. 415, an den Dämonisierungstendenzen übt, wie sie der Diskussion sowohl innerhalb der deutschen als auch der ausländischen Öffentlichkeit das merkwürdig gleichartige Gepräge gaben.

  44. Hans Frank zu G. M. Gilbert, vgl. „Nürnberger Tagebuch", S 145.

  45. So H. H. Hofmann, a. a. O., S. 278.

  46. H Buchheim, a. a. O , S. 85.

  47. Vgl. dazu Ernst Weymar, „Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert", Stuttgart 1963, der die Verantwortung der deutschen Bildungstradition für die Anfälligkeit breiter Schichten gegenüber dem Nationalsozialismus herausarbeitet bzw. mit reichem dokumentarischem Material belegt. Einen Hinweis verdient an dieser Stelle auch die hervorragende Arbeit von Hans Schwerte, „Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie", Stuttgart 1962 In einem Anhangkapitel enthält das Buch auch eine Analyse des Ideologisierungsprozesses, dem sich das im Text erwähnte Dürer-Bild „Ritter, Tod und Teufel" ausgesetzt sah.

  48. H. Arendt, a. a. O., S. 456.

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JoachimC. Fest, stellvertretender Haupt-abteilungsleiter der Fernsehspiel-Abteilung und Leiter der Redaktion Zeitgeschichte beim NDR Hamburg, geb. 1926.