Mit freundlicher Genehmigung des Rainer Wunderlich Verlages Hermann Leins, Tübingen, werden in dieser Ausgabe zwei Kapitel aus den „Erinnerungen 1905— 1933" von Altbundespräsident Heuss vorab veröffentlicht.
Der R. Piper Verlag, München, erteilte die Erlaubnis zum Vorabdruck des Schlußkapitels aus dem ebenfalls in Kürze erscheinenden Buch von Joachim C. Fest „Das Gesicht des Dritten Reiches — Profile einer totalitären Herrschaft".
Verfall der politischen Sitten Das Ausscheiden der „Jungdeutschen" aus der staatsparteilichen Fraktion konnte nicht als eigentlicher Verlust gewertet werden, nach meiner Erinnerung war auch in dieser Richtung keinerlei menschliche Vertrauensbeziehung entstanden, aber zunächst verlor die übriggebliebene Gruppe die Fraktionsstärke *). Als ein Mitglied der auch zertrümmerten Wirtschaftspartei und ein liberaler Mann des „Landvolkes" sich als „Gast" meldeten, war dieser klägliche Zustand ausgeglichen. Doch war es mit der „Arbeit" in dem Stile, der noch vor ein paar Jahren gelten mochte, nicht mehr weit her. Im wesentlichen regierte jetzt die zum Teil sehr qualifizierte Ministerialbürokratie bzw.der Artikel 48 der Verfassung, an den Brüning den Reichspräsidenten gewöhnt hatte — der Reichstag verzichtete auf einen Einspruch, denn sie mußten damit rechnen, daß ein Nachfolger Brünings den Aufstieg der Nationalsozialisten und der Kommunisten, bei dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit, nicht werde abbremsen können. Die Vortragstätigkeit im Lande offenbarte aber den vollkommenen Verfall der politischen Sitten. Man mußte jetzt damit rechnen, daß auch in Städten, wo man seine traditionelle Zuhörerschaft zu erwarten hatte, SA-Gruppen, verteilt oder geschlossen, den Versuch machten, durch Liedersingen das ganze Unternehmen zu stören — in Wiesbaden etwa kam es so weit, daß Jugendliche Feuerwerkskörper zur Entzündung und zum Krachen brachten, bis die Polizei eingriff und, wie ich mir nachher erzählen ließ, die Burschen in dem Vorraum des stattlichen Saales nach Strich und Faden verprügelte. Es sind aus dieser Zeit manche trübe Erfahrungen im Gedächtnis geblieben. *) Im Vorhergehenden wird berichtet, wie auf Betreiben des Parteivorsitzenden Erich Koch-Weser die Deutsche Demokratische Partei sich im Juli 1930 mit dem Jungdeutschen Orden Arthur Marauns vereinigt hatte. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930 umfaßte die Fraktion der Staatspartei 20 Mitglieder, von denen sechs dem Jungdeutschen Orden zugerechnet werden konnten. Sie hatten sich nach kurzer Zeit wieder von der Fraktion getrennt. (Anm. d. Red.).
Dabei hatte mir Heinrich Himmler eine Anekdote geschenkt, mit der ich, zumal in Württemberg, heiteren Beifall erntete. Er hatte, da seine Partei jetzt ein so gewichtiger Faktor im Parlament geworden, ein Büchlein „Der Reichstag 1930" selber geschrieben oder schreiben lassen; und unter dessen jüdischen Mitgliedern war auch ich aufgeführt. Diese Schrift, die auch sonst Unfug und Unwahrheiten genug enthielt, pflegte ich bieder mit ans Rednerpult zu nehmen: „Nun stammst du väterlicherseits aus einer jahrhundertealten Neckarschifferfamilie, mütterlicherseits lauter Förster durch viele, viele Generationen, zwei Berufe, in denen sich nach der Statistik sehr selten, wahrscheinlich gar nicht jüdische Menschen befanden, aber diese Nazis kommen doch hinter alles ..." In Schwenningen wurde ich von dem Naziblatt, das ein Trossinger Industrieller gegründet hatte, als „der bekannte Jude und Freimaurer" begrüßt, und die dortigen Demokraten bedrängten mich, Anzeige wegen Beleidigung zu erstatten. Ich mußte den Leuten klarmachen, daß das schlechterdings nicht gehe, da ich sehr nahe Freunde jüdischer Herkunft besitze oder solche, die Mitglieder einer Loge — nun müßten ja diese durch solchen Akt sich beleidigt fühlen. Immerhin schrieb ich eine „Berichtigung" nach dem bekannten Paragraphen 11: „Unwahr ist,..., wahr ist vielmehr, ..." Nach Berlin zurückgekehrt, fand ich die Antwort der Redaktion, sie würde nur der Wahrheit entsprechende Mitteilungen aufnehmen. Das ging mir denn doch etwas zu weit. Ich erstattete jetzt wirklich Anzeige bei der Staatsanwaltschaft in Rottweil wegen Mißachtung des Pressegesetzes. Das Amtsgericht Tuttlingen verhandelte die Sache; ein früherer Hörer von mir, der mit mir in Fühlung geblieben war, war dort Redakteur; ich machte ihn auf diesen „Prozeß" aufmerksam. Der Brief, den er mir schrieb, war amüsant; das wisse in Württemberg jedes Kind, daß ich kein Jude und kein Freimaurer sei. Der Amtsrichter verdonnerte die Leute zu dreißig Mark Strafe und zum Abdruck meiner Zeilen — aber deren Zusatz warf Licht in die kommenden Jahre: ob nicht die Großeltern jüdisch gewesen, sei damit noch keineswegs gesagt. Dieser Ahnenkomplex, der nachher eine so tragische Rolle in vielen Familien gespielt hat, ist mir also frühe genug gemeldet worden — ich nahm ihn damals nur als die Frechheit eines dürftigen Journalisten.
Wechselspiel außen-und innenpolitischer Krisen
Die internationale Lage blieb verworren genug. Briand hatte sich zur Kandidatur für die französische Staatspräsidentschaft bereit gefunden, war aber unterlegen — mußte dies als eine Absage an seine Aussöhnungspolitik gedeutet werden? Er war verbittert, behielt dann doch sein Ressort, in einem Kabinett, das Laval in Paris gebildet hatte. Er war für die Deutschen noch so wenig Figur geworden wie Henderson, der jetzt in England die Leitung der Außenpolitik übernommen hatte. Beide Männer hielten dafür, die Maschinerie der Völkerbund-Paragraphen lasse sich entwickeln. Aber es erwiesen sich dann die völkerpsychologischen Schwierigkeiten: den größten Raum beanspruchte die irgendwie befriedigende Regelung der volkhaften Minderheitenrechte, ein schwieriger Stoff, der fast ausschließlich dem deutschen Volke mit seinen vielerlei alten Siedlungsbezirken östlich und südöstlich vom großen Kernland den Anlaß zu Klagen und Anklagen gab. Diese aber waren ja wesentlich in den Bedingungen des Versailler Vertrages festgelegt — also das quälende, an sich nicht unverständliche peinliche Reagieren der „Welt", als ob die Deutschen mit dessen herben Tatsachen sich nicht abgefunden hätten und nie abtinden würden. Einen aktuellen Charakter fand diese ganze Problematik der Revisionsmöglichkeit der Pariser Vorortverträge, als zwischen Berlin und Wien, wo jetzt der frühere Bundeskanzler Dr. Schober das Außenministerium verwaltete, 1931 vorsichtige Gespräche eingeleitet wurden, zwischen den beiden Staaten eine „Zollunion" abzuschließen; diese mußte ja vor allem für Österreich willkommen sein, dessen ökonomische Entwicklung aus der Krisenhaftigkeit herausgeführt werden sollte: Curtius wagte diesen Schritt, von seinem neuberufenen Staatssekretär B W. von Bülow unterstützt; auch Gustav Stolper wurde zur sachkundigen Beratung herangezogen. Doch der Versuch mißlang; Flenderson, um den Genfer Rat politisch nicht zu überlasten, fand den Ausweg, die ganze Fragestellung an den Haager Gerichtshof abzuschieben, und der fand die Entscheidung, daß solches Abkommen nicht mit der juristischen Formelwelt des Friedensvertrages, den Österreich unterzeichnet hatte, vereinbar sei. Das war eine Niederlage — ein „Sieg" hätte vielleicht auch eine Erleichterung gegenüber der innenpolitischen Opposition der „Rechten" gebracht. Jetzt wirkte solcher Ausgang seelisch als Katastrophe.
Das Absinken des Beschäftigungsgrades in der Industrie, das Abziehen der Auslandskredite gefährdete auch die im Young-Plan immerhin weiter vorgesehenen, wenn auch reduzierten Transfer-Leistungen Deutschlands, auf die sich vor allem Frankreich angewiesen fühlte. In dieser prekären Lage tat der neue Präsident der USA, Herbert Hoover, ein hervorragender Techniker und Geschäftsmann, einen rettenden Schritt: Er schlug vor, im Juni 1931, daß für ein Jahr für alle internationalen Zahlungen aus den politischen Verträgen ein Moratorium ausgesprochen würde. Deutschland hatte allen Grund, aufzuatmen; doch machte es der amerikanischen Diplomatie, obwohl sie ihrem Land am meisten zumutete, noch reichlich Mühe, Frankreich zum Mitmachen zu gewinnen. Denn es schien so, daß im deutschen Nachbarland Hoovers Schritt volkspsychologisch nicht in seinem vollen Gewicht gewürdigt wurde; die nationalistischen Kundgebungen wuchsen.
Ihren Höhepunkt erreichten sie im Spätjahr 1931, da Hugenberg und Hitler eine gemeinsame Kundgebung in Bad Harzburg veranstalteten, bei der auch der „Stahlhelm", damals noch unter der Doppelführung eines Magdeburger Fabrikanten Seldte und des früheren Obersten Düsterberg, mitmachte; die „Sensation" wurde die Teilnahme von Hjalmar Schacht. In einem späteren Gespräch mit dem sehr gescheiten und sachlich denkenden Führer der württembergischen Sozialdemokratie, Wilhelm Keil, meinte dieser, Schacht sei einer der begabtesten Menschen gewesen, bei dem die Intelligenz sich mit dem fragwürdigsten Charakter verbunden habe — er drückte sich derber aus; ich war milder: „Ein Mann, der nicht im Schatten leben konnte." Er spürte, und nicht bloß jetzt, was unterwegs war, und er empfahl sich der kommenden Herrschaft, indem er, vermutlich wider besseres Wissen, einen neuen Verfall der deutschen Währung ankündigte. Damit wollte er nicht nur seinen Nachfolger in der Leitung der Reichsbank, Dr. Hans Luther, treffen, mit dem er bisher sich in den Ruhm teilte, 1923 die Inflation überwunden zu haben. Der Mitbegründer der demokratischen Partei stellte sich Hitler zur Verfügung und half ihm, mit verwegenen Manipula-tionen, die staatliche Arbeitsbeschaffung und den Neuaufbau der „Wehrmacht" zu finanzieren, bis auch er die Grenzen sah, die kommenden Schatten, und es fertigbrachte, zum Märtyrer des Dritten Reiches zu avancieren. Sein Benehmen in Harzburg hat ihm die scharfe Abwehr des Finanzministers Dietrich eingetragen, aber was bedeutete ihm, hartschlägig wie er schon war, der Zorn eines Mannes, der unter den Sorgen seines Amtes stöhnte.
Die zweite Kandidatur Hindenburgs
Die innerdeutschen Fragen erfuhren zum Frühjahr 1932 sozusagen ganz automatisch ihre Komplikationen: Die verfassungsmäßig auf sieben Jahre festgelegte Amtsdauer des Reichspräsidenten von Hindenburg ging zu Ende. 1925 hatten die Nationalsozialisten mit Ludendorff als ihrem Kandidaten das Rennen —sehr erfolglos — gewagt; der General hatte inzwischen unter dem Einfluß seiner zweiten Frau, die eine neue völkische Religion zu begründen begonnen, alles getan, seinen Kriegsruhm auszulöschen, hatte sich mit Hitler überworfen, und als er sich weigerte, bei der Weihe des sogenannten „Tannenberg-Denkmals" an der Seite seines ehemaligen Chefs die übliche Parade einiger Reichswehrformationen abzunehmen, wußte man, wie es menschlich um das Verhältnis der alten Kameraden bestellt war. Die Nationalsozialisten würden diesmal gewiß Hitler selber ins Gefecht schicken, der durch seine rastlose Propagandatätigkeit und durch den Aufstieg seiner Partei auch bei einigen Landtagswahlen bereits zur Legendenfigur geworden war. Brüning vermochte es, Hindenburg zu einer zweiten Kandidatur zu gewinnen. Er mochte sich wohl sagen — der Marschall war inzwischen vierundachtzig Jahre alt geworden —, daß dies eine Verlegenheitslösung sei, aber die Sorge vor Hitler veranlaßte die Mitte und die Sozialdemokraten, auf einen eigenen Bewerber zu verzichten; die Kommunisten blieben bei ihrem Thälmann, der einen starken Aufstieg erreichte. Aber auch Hugenberg wollte nicht resignieren; er präsentierte den zweiten Vorsitzenden des Soldatenverbandes „Stahlhelm", den Oberstleutnant Düsterberg, der sich in sozialpolitischen Sonderaktionen eine gewisse Achtung hatte schaffen können. Doch eine eigentliche „Konkurrenz" für den „böhmischen Gefreiten", wie Hindenburg Hitler genannt hatte, war der Oberstleutnant nicht, und sein öffentliches Wirken war nach dem Januar 1933 bald zum Ende gelangt, als „Goebbels „enthüllte“, daß ein Großvater Düsterbergs jüdischer Herkunft gewesen.
Bei dem ersten Wahlgang fehlten Hindenburg nur wenige Prozent an dem Sieg, der ihm im zweiten (10. April 1932) zufiel. Düsterberg hatte seinen Wählern jetzt die Parole für Hindenburg gegeben, Hugenberg ihnen die Entscheidung freigestellt. Die Thälmann-Stimmen sanken um eine Million, die offenkundig zu Hitler übergingen — es war eine unmögliche Aufgabe, für den überalterten Marschall draußen zu reden, weil der Gesundheits-und Geisteszustand des Greises ins Gerede kam. Das hat auch niemand erwartet — immerhin konnte Brüning, der mit letzter Hingabe seiner Kräfte für den alten Herrn warb, den Ausgang als seinen Sieg betrachten.
Doch es war ein Pyrrhussieg. Bald mußte der Reichskanzler erfahren, daß die Regierungsführung in dem Stil der beiden letzten Jahre ihrem Ende sich zuneige. Er selber hatte den Glauben, daß auch die Erleichterung der außen-politischen Lage erreichbar sei — die Verhandlungen mit England und mit Amerika verliefen in einer günstigen Atmosphäre, in Frankreich war zwar Aristide Briand gestorben, aber Herriot, der 1923 Poincare abgelöst hatte, war als Chef einer neuen Regierung in Tardieus Nachfolge getreten — da ergaben sich immer wieder innerdeutsche Schwierigkeiten. Brüning errang noch einen starken parlamentarischen Erfolg, als er sich einem Mißtrauens-Antrag stellte. Ich erinnere mich der Situation so deutlich, weil ich an diesem Tag, 11. Mai 1932, auch die eigene Abschiedsrede im Reichstag hielt, eine scharfe Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten, die nur mehr gelegentlich noch im Plenum erschienen. Brüning war so freundlich, erst nach meiner Rede zu sprechen, so daß ich, in der Erwartung seiner Darlegungen, einen anständig besetzten Saal vor mir hatte und den Göring, Goebbels, Frank hübsche Antworten auf ihre Störversuche geben konnte.
Eine Reichstagsrede am 11. Mai 1932 Es mag gestattet sein, um etwas von dem Inhalt der politischen Auseinandersetzungen in der verwirrten Zeit und von der Tonlage der Polemik unmittelbar zur Anschauung zu bringen, meine letzte Rede hier als „Dokumentation" ganz einfach zum Abdruck zu bringen — eben auch mit der Technik, in der die Parlamentsprotokolle Zwischenrufe, Zuspruch und Abwehr notieren:
Meine Damen und Herreni Der Reichstag ist auf einmal in merkwürdige Lage gekommen, ein Lob in den Zeitungen zu erhalten, das sonst fragwürdig erschien: daß er Jangweilig“ geworden sei. Wir sind alle gezwungen, festzustellen, daß die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gestern durch den Abgeordneten Strasser, mit dem auch ich mich nachher noch beschäftigen werde, in der Haltung seiner Rede mitteilen wollte, sie wolle jetzt dem Parlament, dem sie bisher nur ihre Störungen gewidmet hat, zu dem sie bisher in scharfem Gegensatz stand, sachlich dienen. Ja, es geht die Legende durch das Land, daß die Herren sich künftig an den Ausschüssen und sogar an deren Arbeit beteiligen wollen. Ich glaube, wir alle sind recht froh darüber, wenn die Herren jetzt kommen; wir wollen sehr dankbar sein, wenn da etwa Herr Gregor Strasser vor dem Zwang steht, der für uns alle erwünscht sein muß, das große Panoramagemälde der deutschen Zukunft, das er uns gestern entwarf, in die Form von juristisch gefaßten Paragraphen zu bringen (sehr gut!), wobei wir dann mit ihm gemeinsam in der Lage sind, die sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Voraussetzungen und Folgen seiner Vorschläge zu prüfen, eine Möglichkeit, die die Herren uns bis heute noch nie gewährt haben.
Zur Frage der Abrüstung
Doch davon später mehr. Zunächst einige Anmerkungen zur Außenpolitik. Ich knüpfe an die Rede des Herrn Göring an, an seine Kritik des Kanzlers Herr Göring sagte in seinen Darlegungen über die Abrüstungskonferenz, er könne da nur Mißerfolg nach Mißerfolg sehen; ein Nichts sei herausgekommen; nur eine völlig neue Form der deutschen Vertretung könne auf diesem Gebiet etwas erreichen. Herr Göring, von Ihnen hätte ich nicht erwartet, daß Sie hier im Reichstag, also in voller Verantwortung, die propagandistischen Naivitäten Ihrer Versammlungsreden wiederholen und dem Kanzler vorwerfen, nicht er, sondern der italienische Außenminister Grandi habe die Rede gehalten, die eigentlich der Kanzler und der Außenminister des Deutschen Reichs hätte halten müssen. Verehrter Herr Göring, Sie scheinen nicht ganz begriffen zu haben, oder Sie wollten davon keinen Vermerk nehmen, daß sich in der Zwischenzeit auf der Abrüstungskonferenz etwas nicht ganz Unerhebliches vollzogen hat: Der üble, von Deutschland abgelehnte Konventionsentwurf mit seinen gequälten Ausflüchten und gefährlichen Auswirkungsmöglichkeiten ist durchaus in die zweite Linie gedrängt; wir sind so weit, daß die Abrüstungsvorschriiten des Versailler Vertrags selber in gewissem Sinne als Modell der Kommissionsverhandlungen anzusprechen sind. Der Kanzler und Außenminister verdient nach meiner Meinung unseren Dank, daß er im Februar nicht aufgeregt und nicht nach innenpolitischem, billigem Beifall schielend, sondern ruhig, bestimmt in staatsmännischer Verantwortung die deutsche moralische Position vertreten hat — nur Naivität oder böser Wille kann den Vorteil übersehen, der darin liegt, daß die gleichen Mächte, die uns in Versailles die Bestimmungen über die deutsche Abrüstung aufgezwungen haben, und Italien wie Amerika gehörten zu ihnen, nunmehr von sich aus die Übertragung dieser gleichen Bestimmungen auf die anderen Mächte zu betreiben beginnen.
Dabei spielt die Sache sich nicht ab nach dem Katalog pazifistischer Beteuerungen; der größte notorische Pazifist in der Welt ist heute ein sehr realer Faktor, die Pleite aller Völker. Von dieser Seite her hat das Abrüstungsproblem ein ganz neues Gewicht erhalten. Als der Vertreter der Vereinigten Staaten vor-trug, welche Bedeutung der technischen Entwicklung in den Angriilswaffen zukommt,
welche Summen jede solche immer raffiniertere Kriegsmaschine kostet, wie sie aber alle in der Gefahr stehen, samt dem in sie investierten Kapital durch immer neue Erfindungen sachlich entwertet zu werden, was die rein technische Entwicklung für einen Einfluß auf die fortgesetzte Entwertung des Kapitals hat, von diesem Augenblick an ist die neue Zwangssituation auch der Völker deutlich geworden, die heute hochgerüstet sind. Ich habe nur eine Sorge, daß, wenn jetzt die Entwicklung auf der Abrüstungskonferenz in die technischen Kommissionen verlegt wird, dort eine Versteifung eintritt; denn es ist fast wider die Natur des Menschen, von Offizieren als Sachverständigen dort zu erwarten, daß sie Beschlüsse vorbereiten, die ihren Beruf und ihre Arbeit sozusagen überflüssig machen. (Sehr gut! bei der Staatsparteilichen Fraktionsgemeinschaft.) Wir müssen uns darüber klar sein: die Entscheidung muß absolut von der politischen Seite her gefunden werden, sie kann nur dort gefunden werden. Das Abrüstungsproblem bleibt für uns in erster Linie eine Frage der deutschen Sicherheit, unterbaut durch unseren moralischen Anspruch; zu ihrer Lösung gehört, daß sie als europäische Frage begriffen werde. Daß sie dies ist, ist durch nichts so deutlich geworden wie durch das Echo, das neulich die Alarmnachrichten über Danzig gehabt haben. Sie mögen unrichtig gewesen sein. Daß sie nicht bloß bei uns, sondern in der Welt als Möglichkeiten geglaubt werden konnten, hat blitzartig die ganze Lage beleuchtet.
Ausländsdeutsche und Parteipolitik
Herr Kollege Göring hat gestern von dem Ergebnis der Memeler Wahlen gesprochen. Ich glaube, daß hier im Hause jedermann, bei allen Parteien, nicht nur mit Spannung, sondern auch mit einem sicheren Gefühl des Aus-gangs der Dinge auf die Entwicklung im Memelland gesehen hat. Der Kollege Göring hat gemeint, sagen zu dürfen, dies sei ein Verdienst der Hitlerbewegung. Wollen wir damit anfangen, Fragen des Auslandsdeutschtums unter die binnenparteiliche Bewertung zu stellen, und dazu mit so fraglichem Recht? Nein. Warum dies nicht? Weil dies bisher die fast einzige Provinz des gesamtdeutschen Problems gewesen ist, aus dem alle, von Dr. Breitscheid bis zu Herrn von Freytag-Loringhoven, wir alle, die wir an diesen Dingen teilnehmen, die parteipolitische Bewertung bewußt und erfolgreich draußengehalten haben. (Sehr gut! bei der Staatsparteilichen Fraktionsgemeinschaft.) Ich sehe mit großer Sorge, nicht mit parteigetönter, sondern mit sachlicher Sorge, daß von Ihrer Gruppe innerhalb des Auslandsdeutschtums spezifisch parteipolitische Organisationen aufgezogen werden sollen. Ich will mich jetzt nicht darüber unterhalten, daß es nationalpolitisch wenig taktvoll ist, in „Bolzano" und „Merano“ nationalsozialistische Vereine zu gründen; das steht auf einem anderen Blatt. Aber Sie müßten vor Ihre Verantwortung spüren, was es an Gefahren bedeutet, das Auslandsdeutschtum Mitträger oder Mitopfer der bösen innerdeutschen Streite zu machen, wie es in Ihren Reden angeklungen ist.
Und ein anderes darf ich noch sagen, verehrter Herr Göring. Das, was die staatspolitische Grundauiiassung der Nationalsozialisten ist, jenes Prinzip vom „Staatsbürger", der nur sein kann, wenn er „Volksgenosse" ist, ist gerade für die Volksdeutschen draußen eine gefährliche Geschichte, wenn nämlich die anderen Völker und Staaten dahinterkommen. Das beginnt jetzt schon in Rumänien damit, daß sich Teile der rumänischen Nationalisten auf die 25 Punkte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei beziehen, wenn es sich darum handelt, das Staatsbürgerrecht unserer Siebenbürger und der sonstigen deutschen Volksgenossen im rumänischen Staat zu kränken. (Hört! Hört! links. — Zuruf von den Nationalsozialisten: Das haben die ganz unabhängig davon gemacht!) Die rumänischen Nationalisten lesen nach, was Sie über Minderheitenprobleme in Deutschland sagen, und sie sehen, daß die deutschen Nationalsozialisten den so-genannten „Volksgenossen" und den soge-nannten „Staatsbürger" verschieden ansehen und behandelt wissen wollen. Die Folge ist, daß, wenn die anderen Völker des staatsbürgerliche Prinzip der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei zu ihrer Staatskonstruktion verwenden würden (Sie wollen damit die paar hunderttausend Juden bei uns in Deutschland treffen!), daß dann die Millionen deutscher Volksgenossen draußen in eine gefährliche Lage kommen. Ich bin in großer Sorge, daß Ihre Argumentation auf andere Länder übergreift. (Abgeordneter Dr. Frick: Die deutschen Volksgenossen im Auslande werden doch schon längst unterdrückt, weil wir unter Ihrer Regierung schwach sind!) — Verehrter Herr Dr. Frick, das wissen wir genauso gut wie Sie, daß diese Volksgenossen unterdrückt werden, wissen aber auch, daß sie in dem Kampf um ihre kulturelle und politische Autonomie jede mögliche sachliche und moralische Unterstützung von Deutschland her erhalten. Offenbar verstehen Sie von diesen Dingen nichts, weil Sie sich mit ihnen noch nie ernsthaft auseinandergesetzt haben. (Abgeordneter Göring: Ein kraftvolles Deutsches Reich ist die beste Unterstützung!) — Gewiß, aber Sie gehen an die Deutschen des Auslandes heran, um das Mutterland, diese Herberge des Deutschtums, bei den Deutschen des Auslandes herunterzureißen und seinem Staat die moralische Kraft und Würde zu rauben! (Lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei den Sozialdemokraten. — Widerspruch und andauernde Zurufe bei den Nationalsozialisten.)
Über „nationale Opposition“ die
Darf ich jetzt weitergehen und die außenpolitische Auseinandersetzung noch etwas fortsetzen! (Abgeordneter Dr. Goebbels: Was wollen Sie eigentlich in diesem Hause? Sie haben ja gar keinen Anhang mehr!) — Herr Dr. Goebbels, ich vertrete hier meine Auffassung, (Abgeordneter Dr. Goebbels: Ihre Auffassung wollen wir gar nicht hören!) und Sie haben einmal einen Augenblick die Freundlichkeit, Ihr erregtes Getue zu mäßigen, soweit Ihnen das möglich ist. Ich werde mir nachher das Vergnügen machen, mich auch mit Ihnen noch etwas zu unterhalten. Aber Sie müßten eigentlich wissen, daß Ihnen für diese Reichstagssession in toto ein anständiges, manierliches und biederes Verhalten zur Auflage gemacht worden ist. Das gilt doch wohl auch für Sie. (Heiterkeit und Zurufe in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.) Ich möchte Sie deshalb bitten, diese Anweisung auch während meiner Rede mit zu berücksichtigen. (Erneute Heiterkeit in der Mitte und bei den Sozialdemokraten.)
Als wir vor zwei Jahren in den Kämpfen um den young-Plan standen, da hatten wir die Hauptauseinandersetzung um die Frage zu führen, ob denn die gegenwärtige politische Kombination es auf sich nehmen könne, die kommenden Generationen, wie man sich ausdrückte, zu „versklaven". Heute schon wagt man selbst bei der Agitation das Wort kaum mehr zu gebrauchen; die Entscheidungen sind zusammengerückt. Gewiß: Frankreich wird noch einmal um die juristische Formenwelt des Young-Plans kämpfen. Wir stehen heute vor der Groteske, daß die Engländer nach Lausanne kommen mit einem Etat im Hintergrund, in dem Neville Chamberlain die Tributzahlungen Deutschlands gestrichen hat, daß aber Tardieu sie in seinem Etat aufrechterhalten hat. Wir machen uns keine Illusionen darüber, daß nun alles glatt und einfach laufen wird, aber der Zwang der Dinge hat in fast der ganzen Welt die Grundauffassungen geändert. Es darf dabei an folgendes erinnert werden. Das deutsche Volk hat ein kurzes Gedächtnis. Für manches hat dies einen Vorzug; das deutsche Volk hat aber zu rasch vergessen, daß noch vor zwei Jahren in Mainz und in Speyer die Franzosen standen, (sehr richtig! bei der Staatsparteilichen Fraktionsgemeinschaft) daß die Frage, ob Deutschland in dem außenpolitischen Ringen eine größere Freiheit und Beweglichkeit erhalte, völlig daran gebunden war, daß wir zunächst für den deutschen Boden die territoriale Freiheit zurückgewannen. (Lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei den Sozialdemokraten. — Zurufe von den Nationalsozialisten.) Nun würde es bei diesen Kämpfen für die Vertretung Deutschlands in der auswärtigen Politik ganz gewiß eine Unterstützungsmöglichkeit, ja eine Aufgabe der Rechten geben. Von den Pflichten und dem Sinn einer Opposition hat gestern der Herr Abgeordnete Dr. Bell Grundsätzliches gesprochen; ich kann ihm dabei weithin folgen. Ich glaube, die Chance, daß wir in Deutschland eine — ich will einmal sagen: anständig funktionierende — „nationale Opposition" erhalten könnten, ist in dem Augenblick zerstört worden, als durch den berüchtigten Paragraphen des Volksbegehrens zum Young-Plan die moralische Infamierung der führenden deutschen Staatsmänner ausgesprochen war und vom Volk gefordert war — Zuchthausandrohung wegen Landesverrat: Von diesem Vorschlag, von dieser Diffamierung einer vaterländischen Gesinnung, die man an sich taktisch bekämpfen konnte, datiert die Unmöglichkeit, daß die „nationale Opposition" anständig mit in das Spiel der deutschen Kräfte eingesetzt wird.
Verleumdung demokratischer Politiker
Eine Anekdote von neulich scheint mir lehrreich genug — wir wollen gewiß nicht die Wahlkampferfahrungen hier alle repetieren. Der Kanzler Brüning kam in Stuttgart in folgende Lage, daß unser nationalsozialistischer Kollege Brückner am Tage vorher dort geredet und erzählt hatte: Der Brüning will bis zum 1. April Kanzler bleiben; nachher ist er daran nicht mehr interessiert. Warum will er denn bis zum 1. April Kanzler bleiben? Weil er dann pensionsberechtigt wird! (Zurufe in der Mitte und links: Pfui!) Der Mann namens Brückner hält die Rede weiter über die Ministerpensionen, wie er sie halt im Jahre 1920 gelernt hat; er ist in Übung geblieben. Er hat infolgedessen keine Kenntnis davon genommen, daß wir in der Zwischenzeit auf dem Gebiet hier ein Gesetz verabschiedet haben. Das wäre eine etwas zu starke Zumutung, die gesetzgeberische Tätigkeit dieses Hauses zu verfolgen. (Heitere Zustimmung links.) Die andere Rede ist auch sehr viel schöner und eindrucksvoller zu halten. Aber, frage ich mich, frage ich Sie, ist es denkbar, im englischen, französischen oder irgendeinem Volk der Welt, daß ein Reichstagsabgeordneter von dem Reichskanzler, auf den die Welt zu blicken sich gewöhnt hat, ein paar Wochen vor großen außenpolitischen Verhandlungen der Welt mitteilt: der Mann will sich bloß seine Pension sichern! Das ist das Schlimmste in diesen Auseinandersetzungen, (lebhafte Zustimmung in der Mitte und links) daß die Subalternität — denn ein solches Gehirn, das so etwas sagen kann, muß in seiner Konstruktion tief subaltern sein — (wiederholte Zustimmung) die Grundlage eines loyalen Kräftemessens verdirbt.
Es wäre für mich verlockend, mit Herrn Göring, der mir jetzt nicht mehr die Ehre seiner Anwesenheit gibt, etwas Geschichte zu treiben.
Er hat gestern den Kanzler Bismarck als Vorbild empfohlen und uns erzählt, daß Bismarck nicht bloß als Außen-, sondern auch als Innen-politiker die Volkskräfte an seine außenpolitische Zielsetzung herangezwungen hat. Nach welchem Geschichtsbuch hat eigentlich Herr Göring Bismarcksche Zeit gepaukt? (Heitere Zustimmung bei der Staatspartei.) Hat er denn nicht bemerkt, so groß und genial auf dem Hintergrund siegreicher Kriege die außenpolitische Leistung von Bismarck war und bleiben wird, daß Bismarck der Reihe nach große breite Kräfte des deutschen Volkstums, zuerst die, die hinter der katholischen Kirche standen und stehen, dann die Sozialisten, von dem Staate abzudrängen versuchte und der Zukunft damit ein schweres Erbe hinterließ? (Sehr richtig! links.) Hat er keine Kenntnis genommen — offenbar nicht! — von der Tragik des Bismarckschen Ausgangs? Weil Bismarck in den sechziger Jahren das preußische Parlament nach unten gedrückt hat und später das deutsche in den Vorraum der Verantwortung ein-zwang, hat er die Basis selber nicht wachsen lassen, auf die gestützt er seine Außenpolitik hätte weiterführen können. Der Enkel des Mannes, dessen Amt er, zum Teil im Kampfe mit dem Parlament, so hoch gestaltet hatte, konnte ihn von der Stelle jagen, weil Bismarck — und das ist die Tragik seiner innenpolitischen Arbeit — die Kräfte des Volkes selber nicht an die staatliche Verantwortung mit herangeführt hatte. (Sehr gut! bei der Staatspartei.)
Zur Wirtschaftspolitik
Hinter Lausanne erwächst nach meiner Meinung eine neue Aufgabe, die an Einsicht und Kraft vom deutschen Volke viel fordern wird. Wenn es gelungen sein wird, wie wir hoffen, daß die Reparationsirage im positiven Sinne erledigt wird, daß mit diesen die Welt und nicht bloß Deutschland allein zerstörenden Auflagen Schluß gemacht wird, dann wird die Welt vor der Erkenntnis stehen, daß sie damit noch nicht in Ordnung gekommen ist, daß dies nicht nur ein Schluß, sondern ein neuer Anfang sein muß. (Sehr richtig! links.) In die Völker muß wieder ein Wissen davon hineingebracht werden — ich sage „in die Völker" und nicht bloß zu den Staatsmännern und Wirtschaftsführern —, daß sie einzeln, daß ihre Gemeinschaft nur dann aufleben können, wenn im Innern der einzelnen Staaten und in ihrer Wechselbeziehung ein anständiges Vertrauensverhältnis wiederhergestellt wird, wie es nicht nur durch den Krieg, sondern durch die unselige Nachkriegszeit zerstört wurde. Wir haben in diesem Jahre an Wahlen in Deutschland allerhand erlebt; der Bedarf ist einigermaßen gedeckt. Das, was uns dieser Machtkampf um die Reichspräsidentenschaft an Hunderten von Millionen gekostet hat — ich denke jetzt nicht an bedrucktes Plakatpapier und dergleichen — durch die Ungewißheit und Erregung, in der Lähmung unserer Binnenwirtschaft und durch die Unsicherheit des auswärtigen Urteils, das spüren wir heute und wohl noch gewisse Zeit als zusätzliche Not. Die Sicherung der Stabilität im Innern ist eine der Voraussetzungen der wirtschaftlichen Neuverflechtung mit der Welt, vor der wir als Aufgabe stehen.
Das deutsche Volk findet sich vor einer fast seltsamen Gefahr. Nachdem die zoll-und devisenpolitische Abriegelung der Wirtschaften, zum Teil aus Transfergründen, zum Teil aus Industrialisierungen in Überseeländern während des Krieges, immer weiter fortgeschritten ist, wird die Losung gepredigt, daß wir aus der Not eine Tugend machen sollen, das heißt, daß wir diese „autarkische" Tendenz, die aus finanz-und wirtschaftpolitischen Konkurrenz-gründen oder aus währungspolitischen Gefährnissen fast überall entstanden ist, bejahen, daß wir in ihr den neuen Typus unserer wirtschaftlichen Zukunft sehen sollen. Das Problem der Autarkie ist von manchem der Redner behandelt worden. Ich hätte mich gern mit Herrn Strasser darüber auseinandergesetzt, daß die Autarkie, wie er sie sonst gelegentlich vertritt, von ihm mit einem gewissen nationalpolitischen heroischen Akzent ausgestattet wird: daß die Loslösung von Fremdem die Voraussetzung sei, um zur Freiheit zu kommen. Man kann die Autarkie, wie die Herren (zu den Nationalsozialisten) sie vertreten, bejahen, wenn man gleichzeitig den Mut hat, auszusprechen, daß dann die Aufgabe gestellt ist, den Hunger weiterer Millionen in Deutschland zu organisieren. (Lebhafte Zustimmung links.) Nur der darf für Autarkie eintreten, der dieses Problem in aller Deutlichkeit sieht und auch ausspricht.
Es wird oft gesagt, ich habe es auch schon in Ausführungen Strassers gelesen, die schwierige Lage Deutschlands sei — in diesem Zusammenhang wird dann nicht gegen das „System" gesprochen— die Auswirkung jener Fehlentwicklung der deutschen Geschichte, die um 1850 bis 1860 eingesetzt habe. Und dann kommen diese ganzen verschwiemelten Reden von der „liberalistischen", kapitalistischen Gesinnung, die das biedere deutsche Volk vergiften mußte und in diese Notlage zwangsläufig bringen. An sich ist solche Polemik gegen die Geschichte ziemlich müßig. Aber es darf auch hiergegen etwas gesagt werden: Die Leistung dieses so-genannten „liberalistischen", dieses kapitalistischen Systems ist einfach die gewesen, daß deutsche Menschen in Deutschland Arbeit, Brot und Wohnung gefunden haben. Alle diejenigen, die gegen die kapitalistisch-gewerbliche Entwicklung und gegen ihre Leistungen in der zweiten Hälfte des alten Jahrhunderts und im beginnenden neuen Jahrhundert reden, müssen gleichzeitig den Mut haben, zu bejahen, daß es besser gewesen wäre, wenn das deutsche Volk, wie es das bis zu den achtziger Jahren getan hat, Jahr um Jahr Hunderttausende mit deutschem Geld geschulter und ausgebildeter Menschen nach Übersee hätte auswandern lassen und daß diese dann von dort-her der Heimat Konkurrenz gemacht hätten. Wir stehen einfach unter dem Gesichtspunkt der Volkserhaltung in Deutschland vor dieser Frage, für die deutsche gewerbliche, industrielle Lage Arbeitsmöglichkeiten durch eine handelspolitisch verständige Politik zu sichern und neu zu schaffen.
Zoll-und Währungsprobleme
Derjenige, der die „Autarkie" bejaht, ist zum zweiten bereit, auf das Beste an Rohstoff zu verzichten; was Deutschland besitzt, das ist nämlich nicht seine Kohle oder sein Kali, sondern das Hirn seiner Erfinder, die Ausbildung seiner Menschen, die Konstruktionskraft seiner Ingenieure, die Zuverlässigkeit seiner Leistung im deutschen Facharbeiter, der Wagemut des unternehmenden Kaufmanns. Hier sind unsere wahren Aktivposten, die die kaputtschlagen wollen, die, romantisch oder interessenbe-dingt, glauben, daß die Loslösung von der Weltmarktverflechtung für Deutschland irgendwie eine Rettung sein könne. Ich gehe sogar so weit, zu sagen, daß die Landwirtschaftsvertreter endlich begreifen müßten, daß hier auch das Schicksal der deutschen Landwirtschaft beschlossen liegt. Wer die Geschichte der zoll-politischen Auseinandersetzungen in der Vorkriegszeit kennt, der weiß, daß sie damals auf einem verhältnismäßig primitiven Rang standen, hie Produzenteninteresse, hie Konsumenteninteresse, ausschließlich um den Warenpreis orientiert. Es bleibt das Zeichen einer bedeutungsvollen Entwicklung, daß es möglich wurde, was man auf dem Lande draußen ja fast gar nicht sagen kann, weil man ausgelacht wird, daß der geltende Zolltarif nicht in seinen Sätzen, sondern in seiner Rahmenanlage, wie Sie sich erinnern, seinerzeit von dem sozialdemokratischen Finanzminister Hilferding eingebracht worden ist, im Dezember 1929, eine vollkommen neue Lage, verglichen mit dem, was die Vorkriegszeit gesehen hatte; die Einsicht in die Verbundenheit wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge ist gewachsen, und wenn es in der Politik etwas wie Dankbarkeit und Anerkennung gäbe, müßte sie bei der Landwirtschaft für die Stützungsleistung der städtischen Massen vorhanden sein. Heute aber ist dies deutlich genug geworden, daß mit der alten Litanei Zoll und Zoll und Zoll das landwirtschaftliche Problem einfach nicht mehr gelöst werden kann. Das danke ich dem Herrn Minister Schlange, daß er als Bauernführer das einmal klar ausgesprochen hat; die anderen pflegen es nicht auszusprechen, (sehr gut! bei den Sozialdemokraten) weil sie auch noch die alte Walze weiterdrehen, obwohl in der Zwischenzeit doch wahrlich bei der Betrachtung der Preise im Ausland und bei uns klar genug geworden sein müßte, daß, auch wenn man die Preise zollpolitisch abgehängt hat, einfach in Deutschland die Leute ihre Waren nicht zu den Preisen loswerden, die sie erwarten und brauchen. Warum denn nicht? Ganz einfach: wenn sechs Millionen Arbeitslose, und was noch an Familienmitgliedern millionenhaft an ihnen hängt, wenn kleiner Mittelstand und Beamtentum mit einer gekürzten Kaufkraft an den Lebensmittelmarkt herankommen, so findet das landwirtschaftliche Produkt nach Menge und Preis einfach nicht den Absatz, den der Landwirt braucht. Ich möchte meinen, daß hier eine große pädagogische Aufgabe für die landwirtschaftlichen Führer liegt, wobei ich gleichzeitig fürchte, daß sie sich dieser Aufgabe entziehen werden. Statt daß sie vor der bäuerlichen Bevölkerung draußen von den „Arbeitsscheuen" in der Stadt reden, sollten sie ihr davon sprechen, daß die Wieder-einfügungdieser Massen in die gewerbliche Arbeit schlechthin die Voraussetzung einer landwirtschaftlichen Erholung in Deutschland ist. (Sehr wahr! links.)
Nun würde ich mich sehr gern mit Herrn Gregor Strasser darüber unterhalten, was er in seinem sachlichen Programm vorgetragen hat.
Er hat gemeint, daß das ein „neues Denken“
sei, (Heiterkeit links) das sich in Deutschland, vor allem bei vielen jungen Menschen, bereits durchgesetzt habe. Dieses neue Denken ist für denjenigen, der ein bißchen wirtschaftstheoretische Bildung hat, ein sehr altes Denken gewesen, (sehr wahr! bei der Staatsparteilichen Fraktionsgemeinschaft und den Sozialdemokraten) eine Kombination von deutscher Romantik und utopischem Frühsozialismus in der Weise von Weitling und Proudhon. Dabei gab es ein paar seltsame Zwischentöne, als dieser Feind des Liberalismus davon sprach, daß die „natürliche Harmonie" der Wirtschaft und Gesellschaft wieder gefunden werden müsse. Genau so klingts nämlich in der Fibel des klassischen Liberalismus. Und ich glaube, Herr Strasser hatte eine kleine Panne, als er dann die Bruderhand Herrn Woytinsky hinstreckte, den ich stark im Verdacht habe, daß er rassen-mäßig nicht ganz den Ansprüchen entspricht, (Heiterkeit) die von den Nationalsozialisten für ein koordiniertes Zusammenarbeiten erwartet werden müssen: Also in dem, was Herr Strasser uns als die große Aufgabe des morgigen Tages ankündigte, ist sehr, sehr viel Bekanntes vorgekommen. Das haben einzelne Kollegen schon ausgeführt.
Ich will auf die Einzeldinge der Arbeitsdienst-pflicht als Theorie und konkreten Vorschlag nicht eingehen. Vor Jahren hat hier unser Freund Walter Schücking diesen Gedanken als erster vorgetragen. Ich habe in den Ausführungen von Herrn Strasser wesentlich dies bemerkt: daß man eine kleine philologische Veränderung vorgenommen hat, nämlich daß man nicht mehr von der „Brechung der Zinsknechtschaft" redet, weil das eine durch die Abgedroschenheit und Inhaltslosigkeit fragwürdige Formel geworden ist, sondern daß man sie ersetzt hat durch das schöne Wort der „produktiven Kreditschöpfung“. Das ist eine neue Vokabel des nationalsozialistischen Programms, die wir jetzt lernen müssen.
Dabei hat sich wieder auch in den Darstellungen des Herrn Strasser erwiesen, daß die nationalsozialistische Währungspolitik, wenn ich so sagen darf, an einem negativen Gold-wahn leidet. Er machte breite Auseinandersetzungen darüber, wie es denn eigentlich mit dem Gold, mit seinen Vorräten und mit den goldgedeckten Umlaufsmitteln der Welt bestellt sei und daß da etwas nicht stimmen könnte. Nun, da stimmt freilich einiges nicht, vor allem auch stimmt einiges nicht in seinen Anschauungen! Die Währungsproblematik hängt nur sehr mittelbar an dem Gold als dem Wertmaßstab und Wertmittel des Spitzen-austausches, sie hängt viel stärker an den Fragen der Zahlungsbilanz, an den Problemen der ausgeglichenen Haushalte in den öffentlichen Wirtschaften.
Was schlägt Herr Strasser uns denn nun vor?
— Er schlägt uns in etwas verbrämter Form vor, daß wir auf die alte Idee zurückkommen sollen, eine Finanz-, Kredit-und Währungspolitik zu treiben, die, wie die Herren sich ausdrücken, „neue Werte" schafft. Davon ist im Reichstag schon einmal die Rede gewesen.
Im Februar 1931 haben die Herren Nationalsozialisten den Antrag eingebracht, daß „die Durchführung aller öffentlichen Ausgaben des Reichs, der Länder und der Gemeinden, durch welche Werte geschaffen werden (zum Beispiel Kraftwerke, Schulen, Krankenhäuser, Wohnungen, Straßen, Kanäle usw.), durch Ausgabe zinsloser Reichsdarlehnskassenscheine zu finanzieren" sei. Im Grunde genommen ist das, was über die gedachte staatliche „Wirtschafts-und Baubank" uns mitgeteilt wurde, nichts anderes als das, was damals schon vorgeschlagen war. Ich glaube, jeder — er braucht gar kein Währungstheoretiker zu sein, ich erhebe für mich gar nicht den Anspruch, ein solcher zu sein —, jeder, der nur halbsinnig die Entwicklung dieser letzten Zeit erlebt hat, muß ein Gefühl dafür erhalten haben, daß der Begriff des „Sachwerts" als einer dem Gold vorzuziehenden Unterlage, wie die Herren meinen, heute der fragwürdigste Wert für irgendwelche währungspolitischen Anbindungen geworden ist. Wenn der Herr Gottfried Feder das Glück und wir das Unglück gehabt hätten, daß vor ein paar Jahren seine Experimente mit der Sachwertunterlage neuer Gelder gemacht worden wären, dann wäre die Katastrophe da, die kommen muß, wenn die Experimente der Herren gemacht werden. Ich will nicht breit davon handeln. Wer einmal in einer städtischen Verwaltung war, weiß, daß zwar Schulen und Krankenhäuser und so fort von den Gemeinden in ihrer Vermögensaufstellung aufgeführt werden, mit manchmal sehr fragwürdigen Ziffern: Was fängt man mit einer Schule, was fängt man mit einem Krankenhaus an unter dem Gesichtspunkt, daß sie einen Marktwert darstellen? Aber, frage ich, hat schon jemand in der Welt ein Krankenhaus, eine Schule gesehen, die als Sachwerte ihre Rente tragen, aus der heraus die auf dieses Haus ausgegebenen Darlehnskassenscheine sich nach ein paar Jahren von selber durch Rückkauf wieder erledigen, wie die Theorie das will, da sie ja keine Inflation sei? Ich habe nur solche gesehen, die noch Zuschuß gekostet haben, (sehr wahr! in der Mitte und bei den Sozialdemokraten) so daß diese ganze währungspolitische Lehre nichts ist als theoretischer Unsinn, aber auch politische Gefahr in dem Augenblick, wo eine Regierung, sei sie zusammengesetzt wie immer, sich verleiten lassen würde, auf diesem Gebiete zu manipulieren. Die Inflation würde morgen vorhanden sein, mit diesem zusätzlichen Geld, das sich der Regulierung durch den Diskont entziehen würde, die Inflation, die ja zudem nicht nur eine Frage von mechanischen Mengenmanipulationen ist, sondern ein psychologisches Problem. Von der Regierung aber erwarten wir, daß sie, so hart die Auswirkungen der deflatorischen Periode, in der wir drinstecken, sind, auf diesem Gebiete bis zum letzten allen W/ährungsexperimenten widersteht, denn das deutsche Volk und die deutsche Wirtschaft könnte sie nicht ertragen. (Sehr wahr! in der Mitte.)
Jugend mit dem Hakenkreuz
Nun ein paar Bemerkungen zu der Frage, die in Herrn Görings Rede in die Höhe gestiegen ist. Er sprach von der heutigen Jugend, in der die Sehnsucht nach einer antikapitalistischen Ordnung der Dinge aufgestanden ist und nun bei den Nationalsozialisten die Erfüllung sucht und findet. Die Frage ist ernst genug; sie geht uns alle an, sie ist auch eine Frage der seelischen Pädagogik für diese Jugend mit dem Hakenkreuz. Die Herren haben sich jetzt der Auseinandersetzung in ihrer Mehrzahl entzogen. Dem Herrn Göring hätte ich erzählen können, daß, als er vor ein paar Monaten, noch vor den Wahlgängen, in den Tennishallen eine seiner Reden hielt, ein junges deutsches Mädchen mit einer Sammelbüchse herumlief. Und was sagte sie? „Für Brünings Beerdigung!"
(Lebhafte Zurufe aus der Mitte.) Das ist das Ergebnis einer politisch-moralischen Erziehung, wie sie von Ihnen (zu den Nationalsozialisten)
vor der Seele dieser jungen Menschen verantwortet werden muß. (Sehr wahr! in der Mitte.)
Wenn wir aber den „Generationenkampf“ betrachten, von dem heute gerne gesprochen wird, so sehen wir die Dinge in ihrer ganzen unerhörten Schwere. Die Statistik beweist nicht alles, aber sie beweist sehr viel: die tragische Lage dieser Zeit. Die Geburtenjahrgänge von 1907 bis 1911 sind in aller deutschen Volksgeschichte die stärksten Jahrgänge gewesen; von 1911 an sinkt die Kurve, und was dieses Sinken bedeutet, wird uns allen noch sehr schwere Aufgaben stellen für die wirtschaftlichen und sozialen Überlegungen kommender Zeiten. Was aber heißt es für diesen Augenblick? Daß diese stärksten Bevölkerungsjahrgänge, die Deutschland je erlebt hat, in die deutsche Wirtschaft und in die deutsche Politik in einem Zeitpunkt hineinkommen, da im Staat und in der Wirtschaft eine Einengung wie noch nie vorhanden ist. Generationenkampf hat es immer gegeben, aber was heute so furchtbar ist, das ist, daß es ein Kampf, zugespitzt formuliert, geworden ist, wo der Sohn mit dem Vater um den Arbeitsplatz kämpft. Das ist die ganze schwere Tragik, die wir mit ansehen müssen, in die wir helfend einzugreifen haben, weil wir auch sehen, welcher unendliche Mißbrauch, welches Zerschlagen seelischer Werte getrieben wird; indem man aus dieser Not der deutschen Jugend ein agitatorisches Gewerbe macht. Diese Überlegungen stehen für uns im Hintergrund, wenn wir alle Bemühungen um die Ausgestaltung des freiwilligen Arbeitsdienstes unterstützen.
„Elite" oder „Bonzen"
Nun ein paar Bemerkungen zur innerpolitischen Lage! Es ist gestern von dem Herrn Reichs-innenminister die Darstellung über die SA gegeben worden. Die SA ist von ihm schon lange Zeit beobachtet worden. Sie ist auch von uns beobachtet worden. Wir haben vor Jahren mit Interesse einmal gelesen, daß Herr Dr. Goebbels mitgeteilt hat, daß in dieser SA sich „die neue Aristokratie", der neue führende Menschentypus, bilde (Heiterkeit links). Wir sind ja in der seltsamen Lage, zu sehen, daß bestimmte Begriffe der romanischen, teils französischen, teils italienischen Sozialphilosophie, Begriffe von Sorel und Pareto, heute beim deutschen Nationalsozialismus ihre Heimat gefunden haben. Da ist etwa der Begriff der „Elite" — auch darüber hat Herr Strasser wunderbare Aufsätze geschrieben; die „Elite" wird den neuen, kommenden Staat bilden. Gut und schön. Aber, meine Herren Nationalsozialisten, während Sie sich hier noch als „Elite" installieren, sind im Hintergründe Ihre Leute schon dabei, zu entdecken, daß Sie bloß „Bonzen" seien, weil das, was sich selber für Elite hält, auf einmal, von dem anderen aus gesehen, nichts weiter ist als „Bonzentum". Es tut mir für Sie leid, daß die Dinge so sind. Nun ist gerühmt worden, was diese neue Aristokratie an Disziplin und an ethischer Geschlossenheit darstelle. Man kann über diese Disziplin verschiedene Auffassungen haben. Wer, wie ich etwa, in manchen Versammlungen die SA nicht nur als einen geschulten Gesangverein erfahren durfte, sondern sie auch einmal mit dem Drum und Dran von Schwärmern und Fröschen erlebt hat, der hat eine etwas kritische Vorstellung von dem, was den Typus der Elite in dieser neuen Aristokratie darstellt. Wir haben auch genug erfahren, daß dieses Instrument ein Instrument der Einschüchterung, der einfachen Terrorisierung, einen fortgesetzten Appell an den ängstlichen Spießbürger bedeutet. Herr Minister Groener, ich habe da nur eine Frage an Sie: wenn Sie so früh und so rechtzeitig — nach meiner Meinung mit guten Gründen — gesehen haben, daß hier eine für die Autorität des Staates schlechthin unmögliche Gruppierung entstanden ist, warum haben Sie dann nicht gleich die SA aufgelöst, warum haben Sie uns das Verbot nicht schon im vergangenen Oktober oder November beschert? Ich glaube, es würde sehr viel an Auseinandersetzungen dadurch leichter geworden sein, als der Zeitpunkt Ihrer Entscheidung dann bringen mußte (Sehr wahr! in der Mitte).
Auf der anderen Seite darf ich eine skeptische Bemerkung zu der Notverordnung über die „proletarischen Freidenker“ nicht unterdrükken. Herr Minister Groener, wir sind uns darüber klar und einig, daß die Geschmacklosigkeiten und für das Sittengefühl unerträglichen Ausschreitungen, die auf dem Gebiet vorgekommen sind, an sich eine Abwehr des Staates erfordern; aber wir wollen uns nicht der Illusion hingeben, daß in Auseinandersetzungen religiös-sittlicher Natur irgendwie durch rein staatliche Eingriffe etwas Entscheidendes erreicht wird. Hier sollen besser die Kirchen und die religiösen Verbände in ernstem Ringen ihre Kräfte mobilisieren. Die Polizei erreicht nur das Äußerliche.
Rechtsstaat und Staatsfeinde
Und nun noch ein paar Schlußbemerkungen. Als wir die Rede des Herrn Reinhardt und dann die Rede des Herrn Dr. Bang gehört haben, da hatten wir doch wieder eine Empfindung für die merkwürdige Paradoxie der deutschen Dinge, nämlich daß auf einmal Herr Bang und Herr Reinhardt und die anderen die Interpreten der Ideologie des „liberalen Rechtsstaats" sind, daß auf einmal auf dieser Seite der Rechten alles das buchstabiert wird, was „rechtsstaatliche“ liberale Tradition ist. (Zuruf von den Nationalsozialisten.) — Herr Dr. Frank, Sie können sich einmal mit Herrn Reinhardt zusammensetzen und einen neuen Kommentar zu Montesquieu schreiben; der könnte außerordentlich nett, geistreich und interessant sein. Bei Herrn Bang war es schon ein bißchen echter, denn der ist, wenn ich ihn ganz durchschaue — ich bin mir nicht völlig klar —, im Grunde genommen ein aus den siebziger Jahren auferstandener Manchester-Liberaler (Heiterkeit), bei ihm kann ich mir ungefähr vorstellen, daß er dahin paßt. Aber die Nationalsozialisten befinden sich in einer geradezu grotesken Lage, daß sie den liberalen Rechtsstaat deklamieren, während sie selber für den totalitären Machtstaat sind. Heute möchten sie gern aus unserem Wissen und aus der Verantwortung der Staatsmänner den einfachen Tatbestand verdrängen, daß jeder Staat Macht bedeutet, daß jeder Staat aufgebaut ist auf Befehlsgewalt und Gehorsams-anspruch und daß dieser gegenwärtige Staat gar keinen Grund hat, nun auf einmal sentimental zu werden, sobald er es mit seinen erklärten Feinden zu tun hat. Wenn der demokratisch-liberale Staat in der Zwangslage, in die er durch Sie (zu den Nationalsozialisten) versetzt wird, aus Ihrem Geistesgut eine kleine Voranleihe macht und mit den Mitteln, die jeder Staat braucht, der im Kampf um seine Existenz steht, mit den Mitteln der Gewalt sich zu bewahren und durchzusetzen versucht und es auch versteht, so sollten Sie darüber nicht zu greinen beginnen.
Und nun eine Schlußbemerkung. Es ist durch Herrn Görings Rede und durch Herrn Strassers Ankündigung — (Zuruf von den Nationalsozialisten: Die sind Ihnen wohl auf die Nerven gefallen?) — Nein, um Gottes willen! Ich habe so viel dummes und auch böses Zeug von Nationalsozialisten in meinem Leben über mich ergehen lassen müssen, daß Sie mir schon lange nicht mehr auf die Nerven fallen. Ich bin auf diesem Gebiet ganz immun geworden.
(Heiterkeit bei der Deutschen Staatspartei und bei den Sozialdemokraten.) Aber wenn ich mir überlege, was uns wieder einmal dargestellt wurde, daß in der NSDAP etwas Neues anhebt, daß ein neuer deutscher Typus entsteht, ein neuer politischer Stil, so bin ich gern bereit, . die fabelhaften Leistungen propagandistischer Natur, jene neue Technik der Suggestionen anzuerkennen, jenes eingeübte Wechselspiel, das zugleich den Helden und den Heiligen kennt: das eine Mal der große sieghafte Mann, das andere Mal der Märtyrer und die verfolgte Unschuld. Zu der Erkenntnis dieses Wechselspiels propagandistischer Methoden haben wir ein Weiteres hinzugelernt, und dafür werde ich den letzten acht Tagen vor der Präsidentenwahl dankbar bleiben. Damals haben wir armen Menschen — unsere Genußsucht war an sich gestillt — den „Völkischen Beobachter" Tag um Tag gekauft und haben gesehen, daß bei der physisch — ich sage: physisch — höchst anerkennenswerten Leistung des Herrn Adolf Hitler, da er über Deutschland hinwegbrauste, er sich einen Schmock in sein Flugzeug gesetzt hat, der eine Heldenepopöe über diesen Flug geschrieben hat, die das Grausamste an Kitsch war, was zur Zeit in der deutschen Publizistik geleistet werden kann. (Andauernde Zurufe von den Nationalsozialisten. — Glocke.) Ich glaube, vor den Erzeugnissen dieses Mannes, der da mitgeführt wurde, hat auch Herr Goebbels, der immerhin literarisches Stilgefühl hat, eine Bewegung gemacht, die ihm auch sonst nicht ganz fremd ist mit seinem parteigenössischen Schrifttum. Wenn poetisch und pathetisch vom „Dritten Reich" geredet und uns der neue Typ, der neue Stil des kommenden Deutschlands angekündigt wird, diese Woche vor dem 13. April hat uns gelehrt: Die Ausstattung des Dritten Reichs wird aus einem Großausverkauf von neulackierten und aufgeputzten Ladenhütern der Wilhelminischen Epoche bezogen sein (lebhafte Zustimmung in der Mitte und bei den Sozialdemokraten), und davon, meine Herren, haben wir, denke ich, genug gehabt. (Lebhafter Beifall bei der Staatsparteilichen Fraktionsgemeinschaft).
Das Echo der Rede
Nach Brünings großer, eindrucksvoller Darstellung der außen-und innenpolitischen Lage, die unter gewissen Voraussetzungen einen termingebundenen Optimismus kundgab, wurde, wie üblich nach einer Regierungserklärung, die Sitzung für eine Stunde unterbrochen, daß die Fraktionen sich beraten könnten. Dies blieb mir in heiterer Erinnerung: der junge hessische Sozialdemokrat Mierendorff, in dem die Kollegen seiner Fraktion, und nicht sie allein, einen kommenden Führer der Partei sahen, erteilte mir lachend den Ritterschlag: „Wenn dieser Laden noch eine Zeitlang beisammen bleibt, haben Sie die Chance, ein großer Parlamentarier zu werden! Denn Wels (der war damals der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende) hat sich zunächst nur mit Ihnen beschäftigt. Der Heussle habe die Rede gehalten, die keiner von unseren eigenen Leuten gewagt hätte." — Er gebrauchte ein sehr drastisches Bild. Wir lachten zusammen, freilich skeptisch, wie es in dem Hause weitergehe, doch ohne Ahnung über den Charakter der kommenden Dinge.
Die Entscheidung fiel in einer ganz anderen Sparte. Dem Reichspräsidenten war durch eine private Sammlung in der Industrie ein Ritter-gut in Ostpreußen, Neudeck, zum achtzigsten Geburtstag geschenkt worden — das war historisch die Form, in der siegreichen Feldherren und Staatsmännern der Dank ihrer Monarchen ausgesprochen wurde. (Wann dieser Brauch erfunden wurde, weiß ich nicht — im Archiv des Freiherrn vom Stein zu Kappen-berg findet sich ein Brief des Generals Gneisenau, in dem er seinen Anspruch auf das ehedem zum jetzt säkularisierten Kloster Fulda gehörige Schloß Johannisberg meldete, denn er und nicht Metternich habe Napoleon besiegt.) Immerhin: niemand mißgönnte Hinden-bürg eine solche Gabe, dessen Name ja mit siegreichen Feldzügen verbunden war, denen dann freilich die völlige Niederlage im Krieg folgte, bei der Übermacht der Gegner folgen mußte. Die Peinlichkeit, daß der Grundbucheintrag auf den Namen des Sohnes erfolgte (Erbschaftsteuer!), nahm man nicht weiter zur Kenntnis.
Brünings Entlassung
Es ist natürlich schwer zu entscheiden, ob und wie stark die neue Urlaubsumgebung auf Hindenburg gewirkt hat, indem sie ihn sehr nachdrücklich auf die Not der Landwirtschaft hinwies; daß dieser irgendwie unter die Arme gegriffen werden müsse, war eigentlich nicht strittig, und Brüning ernannte den pommerschen Grundbesitzer Schlange-Schöningen, der als deutschnationaler Abgeordneter sich wie Westarp, Lindeiner, Treviranus von dem Hugenberg-Joch gelöst hatte, zum Kommissar für die „Osthilfe". Dieser aber sah die Chance einer Gesundung, die von Dauer sein würde, nur darin, daß die Güter, die nicht zu halten wären, aufgeteilt und an freie Bauern vergeben würden — eine der in dem Ausmaße unerwarteten Folgen der Stein-Hardenbergschen „Bauernbefreiung" sollte rückgängig gemacht werden. Das war der Plan, der natürlich nur mit einiger Geduld durchgeführt werden konnte. Aber die Abwehr des Großgrundbesitzes setzte in kompakter Weise ein; für einen in seiner politischen Haltung konservativen Mann wie Schlange wurde die Formel vom „Agrarbolschewisten" gefunden, und Hindenburg scheint sich ihr unterworfen zu haben. Denn als Brüning ihm über die Gesamt-lage Vortrag hielt, erfuhr er, daß der Reichs-präsident sich innerlich darauf eingestellt habe, sich von ihm zu trennen — das Außenministerium möge er wohl weiter behalten. Die Position, die Brüning bei den entscheidenden Mächten durch seine Sachkenntnis sich erworben hatte, schien ihm immerhin deutlich geworden zu sein. Aber der Kanzler sagte nein, mußte wohl nein sagen, zumal er gar nicht wußte, an wen als seinen eigenen Nachfolger gedacht war — er schlug dem Kabinett den gemeinsamen Rücktritt vor. Der „Sieg", den er vor ein paar Wochen errungen, hatte sich in eine volle Niederlage verwandelt; er mußte sich vor den Deutschen in deren Mehrheit blamiert fühlen, auch in seiner Reputation vor der Geschichte gefährdet. Im Kabinett erfuhr er keinen Widerspruch Natürlich hatte das menschliche Vertrauen in den Reichspräsidenten _ Dank vom Hause Hindenburg! — einen schweren Schlag erlitten, zumal bei jenen Kreisen, die gegen ihre Instinkte ihm bei den beiden Wahlgängen die Stimmen gegeben hatten
Papen wird Kanzler
Die Entscheidung, die der Reichspräsident über Brünings Nachfolge traf, mußte überraschen:
es war der frühere Kavallerie-Offizier Franz von Papen, aus dem westfälischen Adel, durch seine Ehe mit einer Erbin des großen saarländischen keramischen Werkes Villeroy &
Boch zu stattlichem Vermögen gekommen, das ihm den Erwerb des Berliner Zentrumsblattes „Germania" gestattete. Es gelang ihm auch, einen Sitz im preußischen Landtag zu gewinnen, wo aber seine Parteifreunde geringe Freude an ihm gewinnen konnten, da er sich gegen die dortige Koalition seiner Gruppe mit den Sozialdemokraten stellte. Er war mit dem Staatssekretär im Reichswehrministerium, dem General von Schleicher, befreundet, einem klugen, vielleicht zu klugen Mann, der sich dem Regimentskameraden wohl überlegen fühlte und vermutete, ihn in der Hand zu behalten; Papen würde es, als Monarchist, in seiner gesellschaftlichen Gewandtheit schon fertigbringgen, ein gutes Verhältnis zu dem alten Herrn zu gewinnen. Schleicher meinte auch, daß ein Katholik nicht die ausgesprochene Gegnerschaft des Zentrums erfahren würde. Aber gerade darin täuschte sich der vielgewandte Mann; die Zentrumsfraktion empfand diese Betrauung geradezu als Affront und stellte sich geschlossen hinter Brüning.
Daß Papen ehrgeizig war, wird man ihm billigerweise nicht verübeln können — das ist das Recht, das mag sogar die Pflicht eines Mannes sein, den die öffentlichen Sorgen innerlich bewegen. Aber er konnte nicht verhindern, daß seine Amtszeit als Kanzler und sein Verhalten in den Hitlerjahren mit fast nur negativen Vorzeichen in die Geschichtsdarstellungen jener Periode eingegangen sind. Dagegen wollte er sich später wehren durch eine Autobiographie, die zuerst in England, dann in Deutschland (1952), hier unter dem provozierenden Titel „Der Wahrheit eine Gasse", herauskam. Ich habe sie damals zu lesen begonnen, um etwas zu lernen, blieb aber sehr bald in einem Wust von Unwahrheiten hängen, daß ich die weitere Lektüre aufgab. Nachdem er die Kadettenanstalt hinter sich gebracht hatte, wurde er für einige Zeit in das Pagenkorps des königlichen Hofes ausgenommen, und um zu erweisen, wie frühe sein politischer Sinn erweckt worden, gab er ein Bild von dem Eindruck, den bei Parlamentseröffnungen oder vergleichbaren Veranstaltungen im Schloß Männer wie Windthorst, Reichensperger, die alten Zentrumsgrößen, auf ihn gemacht haben (oder einige konservative Politiker, die erst später Figur wurden). Diese Frechheit der Irreführung ärgerte mich damals so, daß ich wieder unter die Publizisten ging und einen kleinen Essay „Papen als Historiker" veröffentlichte — wer so zu schwindeln versteht, hat alle Glaubwürdigkeit verloren. Dabei konnte Papen eigentlich seinen außen-politischen Start als „Erfolg" buchen — es war die Lausanner Konferenz, die noch von Brüning vorbereitet war und an die er dachte, als er seiner großen Rede die optimistischen Untertöne gab. Er hatte vor allem an die Verständigung gedacht, die er mit England erreicht hatte, daß die Reparationsfrage aus dem Schwebezustand, den auch der Young-Plan noch nicht beseitigt hatte, herausgeholt werde; es gelang, Mcdonald für solche Schlußentscheidung zu gewinnen, und dieser begegnete bei dem in die Führung der französischen Regierung zurückgekehrten Herriot verwandtem guten Willen. Etwas zögerlich war man in Washington, das mit dem Hoover-Moratorium ja die Rettung der Mark eingeleitet hatte; dort dachte man wohl noch an die dilettantenhafte Rolle, die Papen als deutscher Militärattache drüben gespielt hatte.
Papen hatte, vor der Konferenz, die Auflösung des Reichstages erwirkt, so daß er nach der Heimkehr die Parteien schon mit den Wahl-vorbereitungen beschäftigt fand; von dem Ergebnis der Lausanner Konferenz nahmen sie schon kaum mehr Kenntnis. Die Nationalsozialisten waren jetzt mit 230 Mandaten an die Spitze gekommen; das führte zu einer Besprechung des Reichspräsidenten mit Hitler, die aber negativ verlief und verlaufen mußte. Dessen erste Forderung, das Verbot von SA und SS aufzuheben, war schon vorher erfüllt worden; was Hitler von ihm an Vollmachten wünschte, war mehr oder weniger ein Verzicht auf die Rechte, deren Wahrung er mit dem Eid auf die Verfassung beschworen hatte. Dieser Eid war von ihm schon vorher in kaum erträglicher Weise strapaziert worden, als er Papen mit einer Notverordnung ermächtigte, die verhaßte preußische Regierung Braun einfach abzusetzen.
Die Überwältigung Preußens
Es ist ein langer publizistischer Streit entstanden, ob Braun und Severing falsch gehandelt haben, als sie diesem Druck wichen — der Hitler-Putsch vom Jahre 1923 war ja wesentlich durch den Generalstreik der Arbeiterschaft und durch die Haltung der Reichswehr in München erledigt worden. Braun und Severing haben in ihren Memoiren ihre Resignation gerechtfertigt oder doch verteidigt. „Generalstreik" ist natürlich rein technisch ein Risiko, wenn die Zahl der Arbeitslosen, der Arbeitsuchenden in die Millionen gestiegen ist. Und wer war ihrer Haltung sicher? Und wie stand es mit der Polizei? Erst später erfuhr man, daß ein hoher Beamter im preußischen Innenministerium in dubiose Beziehungen zu Hitlers Kreis getreten war. An die Spitze des Wehrministeriums aber war Groeners langjähriger Vertrauter, der General von Schleicher, getreten, der kaum Hemmungen besessen hätte, das besser ausgerüstete Militär gegen die Polizei marschieren zu lassen.
Zum „Kommissar“ für Preußen wurde der Essener Oberbürgermeister Bracht bestellt, der vor allem die mißliebigen Beamten aus den Ministerien, den Behörden der Provinzen und Regierungsbezirke hinauswarf. Die Frage der sachlichen Qualifikation spielte dabei keine Rolle. Aber Papens Erwartungen, mit seiner Auflösung einen zur Mitarbeit bereiten und fähigen Reichstag zu gewinnen, schlugen völlig fehl — das Zentrum hatte nur kleinen Gewinn, der politische Katholizismus beantwortete das undankbare Verhalten Hindenburgs mit betonter Treue gegen Brüning, auch die Sozialdemokratie konnte sich einigermaßen halten, aber völlig zerschlagen, fast schon ausgelöscht wurden die Mittelparteien. Die Volkspartei sank auf sieben, die Staatspartei auf vier Mitglieder. So klug waren wir selbst, um zu wissen, daß wir nichts mehr zu „melden" hatten, vielleicht noch Zeugen sein konnten der Schlußentartung der parlamentarischen Möglichkeiten.
Als Repräsentant der stärksten Fraktion war Göring der Präsident des neuen Reichstags geworden; Papen hatte inzwischen die Erfahrung machen müssen, bei allem Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Nationalsozialisten, daß er von dieser Seite keine Stütze erwarten dürfe. In der Reichstags-sitzung vom 12. September 1932 erwartete ihn also ein Mißtrauensvotum, das mit 510 gegen 42 Stimmen bei fünf Enthaltungen angenommen wurde; er hatte sich mit einer Auflösungsorder darauf vorbereitet. Aber Göring spielte mit ihm und gab ihm, als dem Chef einer bereits gestürzten Regierung, gar nicht das Wort. Es war die einzige Gelegenheit, bei der ich persönlich Papen gesehen habe. Ich konnte nie begreifen, wenn dieser oder jener aus seinem Kreise erzählte, er sei ein guter Erzähler oder dergleichen gewesen. Ich habe die Erinnerung an ein nichtssagendes Gesicht behalten, in dessen fahle Züge der Mangel an Begabung eingezeichnet war. Daß er das Talent zur Intrige besaß und pflegte, wissen wir erst aus den späteren Bekundungen seiner Mitarbeiter oder unmittelbaren Gegenspieler.
Letzte Chancen der Republik
Die Reichstagswahl am 6. November 1932 hat immerhin als Indiz das wichtige Ergebnis gebracht, daß die Nationalsozialisten, seit Jahren an einen Aufstieg gewöhnt, von 13, 7 auf 11, 7 Millionen Stimmen sanken. Darunter fanden sich auch Leute, die schockiert waren durch eine telegraphische Solidaritätserklärung Hitlers mit ein paar in SA-Uniform steckenden Mördern in dem oberschlesischen Dorf Potempa — ein Werkbundfreund sagte mir später, er sei wegen dieser Sache aus der NSDAP ausgetreten, aber mit so viel Gefühlsregungen durfte man bei dem damaligen seelischen Zustand der Deutschen nicht rechnen. Der Druck der ökonomischen Depression hatte begonnen nachzulassen. In welcher katastrophalen Finanzlage die NSDAP sich befand, hat man erst später durch Notizen in Goebbels'Tagebuchblättern erfahren.
Immerhin sah Papen sich gezwungen, die Stellung der Parteien zu erkunden; die Sozialdemokraten lehnten eine Einladung, mit ihm zu sprechen, einfach ab, das Zentrum teilte ihm mit, daß es seiner Führung sich nicht anvertrauen wollte — nur bei Hugenberg und bei Dingeidey, der jetzt die Deutsche Volkspartei leitete, konnte er mit einer Unterstützung rechnen — die Staatspartei hatte nur mehr zwei Abgeordnete und war praktisch ausgelöscht: ich selber habe diesem Parlament nicht mehr angehört. Papen trat zurück; das Kanzleramt übernahm der Mann, der ihn im Frühjahr selber für diesen Posten empfohlen hatte, der Reichswehrminister Kurt von Schleicher, der als nächster Mitarbeiter Groeners etwas wie ein Politikus geworden war und zu den Parteien auf seine Weise gute Beziehungen pflegte. Er wußte auch Bescheid über die Spannungen, die es innerhalb der einzelnen politischen Gruppen gab, etwa, daß ein Mann von der Robustheit Gregor Strassers, des „Organisationsleiters" der NSDAP, als die stärkste Figur neben Hitler galt — würde es möglich sein, den Anhang dieses Mannes unter seiner Führung zur Stütze zu gewinnen? Und würden die Gewerkschaften unmittelbar ein Stück politischer Verantwortung übernehmen? Daß Gregor Strasser im Dezember 1932 sein Parteiamt niederlegte — Hitler übernahm es dann unmittelbar —, ließ spüren, daß innerhalb der Nationalsozialisten Gegensätze sich gemeldet hatten. Doch welches Ausmaß sie damals angenommen, konnte niemand, dem es, wie mir, an jeglichem persönlichen Zusammenhang mit Angehörigen der Partei fehlte, irgendwie veranschlagen. Es mochte uns genügen, daß die nationalsozialistische Lawine ihre zerstörerische Entwicklung eingebüßt zu haben schien. Nicht ahnten wir, daß Franz von Papen das piel der Intrigen fortspann — ein Kölner Bankier von Schröder arrangierte für Anfang Januar eine Begegnung zwischen Papen und Hitler, in der Papen seinem Gesprächspartner vorschlug, sie möchten gemeinsam eine neue Regierung bilden. Er war offenbar über das Ende seiner Kanzlerschaft hinaus des Hindenburgschen Vertrauens sicher geblieben.
Das Verhängnis nimmt seinen Lauf
Hitler hatte insofern Glück, als Mitte Januar 1933 in dem Kleinstaat Lippe-Detmold Landtagswahl angesetzt war, bei der die ganze Redner-Prominenz der NSDAP in den Städtchen und Dörfern antrat. Die Schlappe von den letzten Reichstagswahlen wurde durch diesen lokalbegrenzten Erfolg wieder im Bewußtsein ausgelöscht — vielleicht hat dies auch auf den Reichspräsidenten Eindruck gemacht und ihn für seine endgültige Zustimmung zur Kanzlerschaft Hitlers beeinflußt. Auf eine Art von Doppelkanzlerschaft, wie sie offenbar Papen vorschwebte, ging Hitler freilich nicht ein, aber er kannte den Mann ja jetzt genügend und wußte, daß es ihm nicht schwerfallen würde, mit ihm fertig zu werden. Auch konzedierte er ein Kabinett, dessen Mehrheit aus Nichtnationalsozialisten bestand;
aus dieser Partei wurde nur Frick Innenminister und Göring preußischer Innenminister; Hugenberg erhielt die Wirtschaft, Seldte vom Stahlhelm das Arbeitsministerium, Schwerin-Krosigk behielt die Finanzen, und anstatt Schleicher holte man sich den General von Blomberg, der das Reich bei den Abrüstungsvorbesprechungen vertrat — man hat aus familiären Gründen nicht viel Freude an diesem Mann erlebt. Das Mißgeschick, das der August-besprechung zwischen Hindenburg und Hitler gefolgt war, sollte sich nicht wiederholen; erst aus späteren Veröffentlichungen erfuhr man, daß Papen auch den Sohn des Präsidenten, auch den Staatssekretär Meißner für sein Spiel gewonnen hatte. Es gab auch in der Führung der Staatspartei einige hervorragende Männer, die schon 1931 der Meinung waren, man solle Hitler an der Macht beteiligen, Männer, die nach 1933 aus Gründen der „Rasse" oder der „Versippung" Deutschland verlassen mußten; er werde sich an den Realitäten verbrauchen. Ich habe dem immer widersprochen: Blechmusik auf der Straße sei wirkungsvoller als „Kammermusik". Wie solche von den Nationalsozialisten verstanden wurde, hatten wir ja inzwischen ein paarmal erfahren können.
Ich entsinne mich noch genau, wie ich von der Kanzlerschaft Hitlers erfuhr, dem Vorgang, den man später „Machtergreifung" nannte. Am 30. Januar rief Georg Halpern bei mir an, was ich zur Kanzlerschaft Hitlers sage. Da ich gewohnt war, meinen Rundfunkapparat zu schonen — das hat sich in späteren Jahren etwas geändert —, konnte ich ihm nur sagen: „Das wird für euch Juden eine schlimme Zeit werden." Halpern war, wie ich, ein Schüler von Lujo Brentano, dabei ein überzeugter Zionist — als ich 1959 einen Besuch in Israel machte, traf ich ihn wieder, er hatte in dem Lande durch den Aufbau des Versicherungswesens eine geachtete Stellung erworben; wir sprachen davon, daß er der Vermittler der Unheilmeldung gewesen war.
Hitler selbst hat nie vergessen, wen er als Widersacher seines Aufstieges zu betrachten hatte, und als knapp anderthalb Jahre später die Reibungen zwischen den Ansprüchen des SA-Führers Röhm und der Wehrmacht peinlich wurden, hat er den General von Schleicher mit seiner Gattin sowie Gregor Strasser ermorden lassen. Er hatte das Glück (kann man eine Schande ein Glück nennen?), daß die Reichsregierung — der deutschnationale Reichsjustizminister Gürtner gewährte die Gegen-zeichnung — durch Reichsgesetz feststellte, die Untaten im Juni 1934 seien, ohne irgendein Jusjrzverfahren nach sich zu ziehen, allein durch den Willen des Führers rechtens.