In dieser Ausgabe wird mit freundlicher Genehmigung der New Yorker Vierteljahreszeitschrift FOREIGN AFFAIRS aus dem Aprilheft eine Analyse der Thesen des sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlers Professor Liberman und der durch sie ausgelösten Diskussion über die Wirtschaftspolitik der Sowjetunion nachgedruckt. „Seid fähig, notfalls von den Kapitalisten zu lernen. Macht Euch zu eigen, was sie an Vernünftigem und Nützlichem aufzuweisen haben."
(Lenin)
I Daß Chruschtschow diese Worte Lenins im Plenum der Kommunistischen Partei im November 1962 wieder aufgriff, überraschte viele westlichen Beobachter. Angesichts der wirtschaftlichen Expansion der Sowjetunion in jüngster Zeit mag es etwas anomal erscheinen, wenn die Sowjets erwägen, einige unserer grundlegenden Wirtschaftsmethoden zu übernehmen.
Besonders aufsehenerregend war der Vorschlag einiger russischer Wirtschaftler, daß in der sowjetischen Industrie dem Gewinn eine mehr funktionelle Rolle zugestanden werden sollte. Allerdings ist es nichts Neues, wenn sowjetische Wirtschaftler dem Gewinn mehr Bedeutung beimessen und Mängel ihres Planwirtschaftssystems eingestehen. In Augenblicken der Offenheit bringen sie oft beides zur Sprache. Neu ist jedoch, daß einige diesbezügliche spezifische Vorschläge zur allgemeinen Diskussion gestellt wurden.
Mit Zustimmung Chruschtschows sind die Vorschläge von E. Liberman, Professor am Institut für Technik und Wirtschaft in Charkow, in den Mittelpunkt einer der hitzigsten und bedeutungsschwersten Diskussionen sowjetischer Wirtschaftstheoretiker gestellt worden
Lenin oder gar Chruschtschow zum Zwecke einer ideologischen Rechtfertigung.
Lobgesänge auf die Überlegenheit der Sowjetunion über die Vereinigten Staaten, wie sie unumgänglicher Bestandteil fast aller früheren Debatten waren, fehlen plötzlich. Man unternimmt anscheinend den Versuch, den Kern des Problems zu ergründen, und beurteilt Ideen nach ihrem eigenen Wert oder Unwert.
Ist schon der Ton der Debatte an sich bedeutsam, so sind die Folgerungen der Vorschläge, die gemacht werden, und die Gründe, warum sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt unterbreitet wurden, von noch größerer Bedeutung. Ehe wir diese Dinge untersuchen, wollen wir die allgemeinen Ziele von Libermans Wirtschaftsreformen und seine speziellen Vorschläge darlegen.
II Prof. Liberman möchte die Wirtschaftskapazität seines Landes besser ausgenutzt sehen. Das ist auch das Hauptthema der Debatte. Die sowjetischen Wirtschaftsexperten einschließlich der hauptsächlichen Kritiker Libermans sind sich praktisch darin einig, daß Planung und Arbeitsanreiz verbessert werden müssen. Jeder ist selbstverständlich für ein perfektes Wirtschaftssystem.
Liberman zeichnet drei spezielle Ziele für eine sowjetische Wirtschaftsreform auf, wobei er unausgesprochen mehrere andere einschließt
Wie Liberman hervorhebt, besteht unter die-sen Umständen der leichteste Weg zum Erfolg nicht darin, nutzvoll zu arbeiten, sondern in dem Bemühen, daß das Planziel möglichst niedrig festgesetzt wird. Darüber hinaus muß ein Betriebsleiter, wenn er höheren Planzielen zustimmt, nicht nur in diesem, sondern auch im nächsten Jahr hart arbeiten. Da der Jahresplan nach den Leistungen des Vorjahres aufgestellt wird, führt tüchtige Leistung nur zu höheren Planzielen in der Zukunft. Unbeabsichtigt wird der Betriebsleiter dadurch veranlaßt, kurz zu treten und nicht sein Bestes zu tun.
Libermans zweites Ziel besteht darin, die Einführung neuer technischer Methoden und neuer Produkte anzuregen. Gegenwärtig ist es üblich, daß sich jeder Betriebsleiter gegen alle Änderungen des bestehenden Produktionsschemas sträubt. Änderung bedeutet Unsicherheit und eine mögliche Gefährdung der Planzielerfüllung. Neuerungen bedürfen auch der Genehmigung durch vorgesetzte Stellen, die wiederum unter gleichem Druck stehen.
Das dritte Reformziel, das nach Ansicht Libermans angestrebt werden sollte, ist eine Qualitätsverbesserung der Produktion. Da der gewährte Anreiz nur die Menge der Produktion betrifft, liegt kein Grund vor, warum sich jemand über die Qualität Gedanken machen sollte. Die Festsetzung eines Qualitätsstandards erschwert oft die Erfüllung des Mengensolls. Das führt dazu, daß irgend etwas anderes zu kurz kommt. Wenn die Planziele zu den Produktionskosten in Beziehung gesetzt sind, treten weitere Komplikationen auf. Die Verwendung besseren Rohmaterials zur Verbesserung der Qualität erscheint oft nicht wünschenswert, weil es dadurch schwierig wird, die im Plan festgesetzten Produktionskosten einzuhalten.
Obgleich Liberman alle diese Ziele nicht systematisch aufführt, deutet er doch einige weitere an. Die Methode, sich auf den Bruttowert der Produktion zu konzentrieren — die inzwischen teilweise durch die Anwendung von anderen Kriterien ersetzt wurde —, sollte vollkommen abgeschafft werden, denn sie führt dazu, daß sich die Betriebsleiter ausschließlich auf die Ziele für den tatsächlichen Produktionsausstoß konzentrieren, die schon lange vor dem eigentlichen Produktionsvorgang festgesetzt waren. Dadurch wird nicht nur die Änderung der Produktionsziele behindert und eine Qualitätsverschlechterung herbeigeführt, sondern es könnte auch zur Verschwendung führen.
Um den Bruttowert ihrer Produkte hochzutreiben, verwenden manche Betriebsleiter unnötig teure Rohmaterialien — ganz das Gegenteil dessen, was im vorigen Absatz beschrieben wurde. Wenn das zu einer Verbesserung der Qualität führt, ist nichts dagegen einzuwenden, aber kostspielige Einzelteile garantieren nicht immer das beste Produkt.
Liberman versucht auch, das abzuschaffen, was er „Bevormundung im kleinen" nennt. Darunter ist unangebrachte und übermäßige Einmischung vorgesetzter Stellen in den Betrieb zu verstehen. Diese vorgesetzten Stellen bestimmen alles in Einzelheiten und im voraus, so daß der Betriebsleitung keinerlei Spielraum mehr bleibt. Liberman führt einen Fall an, in dem einige Metallteile mit Abfallprodukten durcheinandergeraten waren. Es wurde der Antrag auf Beschäftigung zusätzlicher Arbeiterinnen gestellt, die den Abfall sortieren und die benötigten Teile heraussuchen sollten.
Dieser Antrag wurde abgelehnt mit der Begründung, daß dafür die für Löhne zur Verfügung stehenden Gelder „nicht ausreichten
Man macht sich augenblicklich auch Gedanken über das Fehlen einer wirksamen Kontrolle der Anlagen und Investitionen. Chruschtschow selbst ließ auf dem XXII. Parteikongreß erkennen, daß er sich dieses Problems bewußt ist, als er mit einigem Ernst vorschlug, für die Dauer eines Jahres ein Moratorium für alle neuen Anlagen zu verhängen. Unternehmen und Organisationen gäben zu viel aus und nähmen zu viele Verpflichtungen auf sich. Die Folge davon sei, daß zu viele Projekte gleichzeitig in Angriff genommen würden. Viele halten es für unumgänglich notwendig, daß Kapitalinvestierungen kontrolliert und wirksamere Kriterien für Kapitalanlagen entwickelt werden
III Libermans Vorschläge stellen die Antwort der liberalen Strömung unter den Wirtschaftlern auf die Unzulänglichkeiten im sowjetischen Wirtschaftssystem dar. Auf eine Formel gebracht fordern diese Wirtschaftler, daß man sich von Planzielen unabhängiger machen und sich mehr des Gewinnanreizes bedienen soll. Sie hoffen, daß dadurch der Betriebsleiter mehr Bewegungsfreiheit gewinnt, die Mittel klüger genutzt und entsprechend bessere Leistungen erzielt werden.
Im einzelnen würde Libermans Plan alle von zentraler Stelle festgesetzten Planziele abschaffen, außer den Anordnungen über Produktionsmenge, die Auswahl der herzustellenden Produkte, Bestimmungsort und Liefertermin. Für jemanden aus dem Westen scheint das keine große Verbesserung zu sein. Worin besteht die Elastizität? Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß Liberman die Abschaffung von sieben oder mehr anderen Zielen vorschlägt, die bis jetzt von oben festgesetzt wurden. Er erwähnt besonders die Pläne für Arbeitsproduktivität, die Zahl der Arbeiter, Löhne, Produktionskosten, Kapitalbildung, Kapitalinvestierung und neue technische Methoden. Obgleich diese Ziele nach wie vor in den Zuständigkeitsbereich der Bezirkswirtschaftsbehörde gehören sollen, sollen sie doch nicht mehr unterteilt werden und erst über die ganze Befehlskette bis zur einzelnen Fabrik gelangen. Er vertritt den Standpunkt, daß diese sieben Ziele dem Hauptziel der Fabrik, Qualitätswaren herzustellen, untergeordnet sind. Ursprünglich wurden sie als Mittel zum Zweck — zur Produktion — auferlegt. Liberman meint jedoch, daß die Betriebsleiter häufig Mittel und Zweck miteinander verwechselten. Um diese untergeordneten Ziele erfüllen zu können, ist der Betriebsleiter oft nicht in der Lage, das Hauptziel der Produktion nach bestem Vermögen zu erfüllen. Er führt an, daß die Vereinfachung der dem Betriebsleiter vorgeschriebenen Planziele die Möglichkeit vermindern wird, daß diese Ziele zueinander im Widerspruch stehen. Der Betriebsleiter, so meint er, sollte die Möglichkeit haben, für sieben oder mehr Aufgabengebiete seine Planziele auf Grund seiner eigenen Kenntnis von der Kapazität seines Betriebes selbst festzusetzen. Dadurch werde verhindert, daß Betriebsfremde den mit dem Betrieb Vertrauten Vorschriften machten. Folglich würden zwar dem regionalen Volkswirtschaftsrat (Sownarchos) weiterhin die Planziele für alle Sparten der Leistung und Produktion vorgeschrieben, dem Betriebsleiter jedoch nur die drei Planziele, die die tatsächliche Produktion betreffen.
Mit Hilfe einer solchen Reform hofft Liberman, die Planungs-und Produktionsaufgaben zu vereinfachen. Dabei hat er einige der Kräfte ausgeschaltet, die den Betriebsleiter gezwungen haben, dem Diktat der Zentralregierung Folge zu leisten. Um einen positiveren Anreiz zu schaffen, möchte Liberman einen neuen Maßstab angewandt sehen: die „Profitabilitätsrate". Das ist etwas mehr als das Konzept vom Gewinn (Ertrag weniger Kosten), das die Russen lange angewandt haben. Die Profitabilitätsrate definiert er als den gesamten Gewinn des Unternehmens in Beziehung gesetzt zu seinem festen und seinem Umlaufkapital. Ihre Bedeutung für den Betriebsleiter wird dadurch sichergestellt, daß die Profitabilitätsrate das einzige Kriterium für die Höhe der Prämie sein soll, die dem Unternehmen und seinen Angestellten gewährt werden.
Der Betriebsleiter kann eine höhere Profitabilitätsrate erzielen, indem er ein oder beide Elemente des Verhältnisses verändert. Erstens kann er den absoluten Gewinn erhöhen. Das kann geschehen durch einen wirksameren Einsatz der gegenwärtig dem Betrieb zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, Rohmaterialien und anderer Produktivkräfte. Zweitens kann er die Basis des festen und des Umlauf-kapitals verringern. Das kann er tun, indem er weniger Kapital in Anspruch nimmt und das behält, was er bereits besitzt.
Die Profitabilitätsrate des einzelnen Betriebes wird dann gemessen an der „Profitabilitätsnorm", die für die verschiedenen Industrien und Firmen festgesetzt wird. Die Prämien für einen Betrieb richten sich nach seiner Profitabilitätsrate im Verhältnis zu der für ihn gültigen Norm. Es wird ein Versuch gemacht werden, vergleichbare Betriebe miteinander in Wettstreit treten zu lassen. Die Normen werden auch abgeändert entsprechend dem Anteil neuer Produkte, die der Betrieb herzustellen versucht. Da die Einführung neuer Produkte gewöhnlich Startkosten und unvorhergesehene Probleme mit sich bringt, werden die Profitabilitätsnormen, die für den Betrieb maßgebend sind, gesenkt, wenn die Herstellung neuer in Angriff wird. Produkte genommen Wenn keine neuen Produkte eingeführt werden, werden die Normen erhöht. Man geht dabei von der Annahme aus, daß dadurch die Betriebe angeregt werden, neue Produkte und Methoden zu entwickeln. Zur Vermeidung von schlechten Qualitäten und der Überfüllung der Lager werden die Gewinne nur nach den tatsächlich errechnet. Zurückgegebene Gütern und Ware wird nicht abgesetzte von den Gesamteinnahmen abgezogen. Libermans Ziel besteht darin, ein System zu schaffen, das alle Abteilungen des Betriebes dazu veranlaßt, sich anzustrengen und sich selbst höhere Ziele zu stecken. Wenn der Betrieb eine höhere Profitabilitätsrate als die gegenwärtige anstrebt, werden keine Bußen verhängt. Die Profitabilitätsrate des Betriebes wird die tatsächlich verdiente sein. Wenn der Betrieb seine Ziele jedoch allzu niedrig festsetzt, wird die Profitabilitätsrate im Durchschnitt zwischen dem ursprünglich festgesetzten niedrigeren Ziel und der tatsächlich erreichten höheren Profitabilitätsrate bestehen. Es ist ferner geplant, daß die für den Betrieb in Frage kommende Profitabilitätsnorm für eine beträchtliche Zeit im voraus festgelegt wird. Wenn man Profitabilitätsnormen zwei, drei oder fünf Jahre im voraus festsetzt, ist nicht zu befürchten, daß die Planziele herauf-geschraubt werden, wenn der Betrieb in einem Jahr außergewöhnlich gute Ergebnisse erzielt. Da gute Arbeit nicht mit höheren Profitabilitätsnormen im folgenden Jahr bestraft wird, ist dem Betrieb jeder Anreiz gegeben, sich höhere Ziele zu stecken, und er hat keinen Anlaß, seine Produktionsleistungen zu bremsen. Um allseitige Anstrengungen in der Profit-Kampagne zu erreichen, schlägt Liberman vor, die Betriebs-Prämien ausschließlich nach der Höhe der Profitabilitätsrate zu bemessen. Zur Zeit gibt es viele Prämien-Fonds für verschiedene Arten von Arbeit. Liberman glaubt, daß das zu Widersprüchlichkeiten führt. Er möchte dem Betriebsleiter so viel Vollmacht wie möglich geben und ihm erlauben, den Prämien-Fonds auf die vorteilhafteste Weise zur Förderung der Produktion zu verwenden. Er könnte für Gehaltsprämien, neue Wohnungen oder neue Maschinen verwendet werden. Die einzige Bedingung, die Liberman stellt, ist die, daß die drei Planziele erfüllt sein müssen, ehe die Prämie festgesetzt wird.
Während Liberman zugibt, daß auch sein Plan vielleicht einige Mängel aufweist, so ist doch sein Hauptaugenmerk auf die Reformen gerichtet, die, wie er hofft, durch seine Vorschläge ermöglicht werden. Betriebsleiter werden keinen Grund mehr haben, um niedrigere Planziele zu kämpfen. Gleichzeitig ist ihnen jedoch jeglicher Anreiz gegeben, die Kosten zu vermindern und Kapital zu sparen. Da die Profitabilitätsrate sowohl von Kosten wie von Kapital abhängig ist, wird der Betrieb zum erstenmal ein ganz entschiedenes Interesse daran haben, an beiden zu sparen.
IV Wie zu erwarten war, fand dieser Plan, der die Grundstruktur der sowjetischen Wirtschaft zu unterminieren drohte, keine einhellige Zustimmung. Die meiste Kritik betraf die Folgen, die Libermans größeres Gewicht auf den Gewinn nach sich ziehen könnte. Andere kritisierten die Inkonsequenz, die in Libermans Vorschlägen lag. Die große Auseinandersetzung konzentrierte sich auf diese beiden Dinge.
Unter Wahrung einer bemerkenswerten Zurückhaltung argumentierten viele, daß Libermans Vorschläge allzu radikal seien und die Tatsache, daß er sich auf Gewinn im Verhältnis zum Kapital stütze, auf einen Kapitalismus hinausliefe. Die Erklärung Libermans und einiger seiner Anhänger, daß, „was gut für einen sowjetischen Betrieb auch gut für die Sowjetunion sei", erinnerte vielleicht allzu-sehr an Charles E. Wilson, als daß gute Kom6 munisten sie hätten ertragen können
Nach der traditionalistischen Auslegung von Libermans Plan würden sich solche schlimmen Folgen unvermeidlich einstellen. Diese Traditionalisten warnten davor, daß die Betriebsleiter anfangen würden, an nichts anderes mehr zu denken als an die Steigerung ihrer Gewinne (was selbst amerikanische Betriebsleiter nicht immer tun). Das würde dazu führen, daß Fabrikdirektoren, wo immer möglich, zur Produktion von Gütern übergingen, die höhere Gewinnspannen versprechen. Gleichzeitig würden sie es eilig haben, ihre Preise möglichst schnell in die Höhe zu treiben. Preise für Konsumgüter und Produkte der Schwerindustrie würden sich radikal verschieben. Selbst wenn eine befriedigende Preisreform im notwendigen Ausmaß ins Auge gefaßt werden könnte, so könnte sie doch nicht über Nacht durchgeführt werden. Die Folge wären Verwirrung und Wuchergeschäfte in verschiedenen Industriesektoren, zum mindesten in der Übergangsperiode. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde es zu einer plötzlichen Inflation und einem psychologischen, wenn nicht gar materiellen Chaos kommen.
Die Betonung einer gewinnbringenden Geschäftsführung würde, so erklärten die Kritiker, den Regierungs-Subventionen an die Schwerindustrie ein Ende setzen. In der Vergangenheit war Gewinn kein wichtiges Kriterium für Kapitalanlage und Entwicklung. Wenn die Regierung der Ansicht war, daß etwas auf sozialem oder wirtschaftlichem Gebiet für das langfristige Wohl der Sowjetunion notwendig war, so genügte das. Wenn man den Gewinn zur Bedingung machte, dann werde das nicht nur die zukünftige Verteilung von Mitteln, sondern auch das gegenwärtige Wirtschaftsleben beeinflussen. Zum Beispiel würden dann subventionierte Projekte wie der Bau von Dämmen oder die Entwicklung der sibirischen Hilfsquellen aufgegeben. Folglich würden zukünftige Bedürfnisse preisgegeben zugunsten von Projekten, die einen sofortigen Gewinn versprechen. Da mehr als 20 Prozent der sowjetischen Industrie zur Zeit eine Subvention benötigen, um weiter operieren zu können, würde vieles aus dem Gefüge geraten, und manch wertvolles Projekt müßte fallengelassen werden. Stattdessen würden die Betriebsleiter auf die Produktion von Verbrauchsgütern umschalten, wo immer dies möglich ist, um den in mehr als vier Jahrzehnten der Einschränkung aufgestauten Bedarf zu befriedigen. Das würde bedeuten, daß die Rohstoffe zu den Sektoren der Konsumgüter-industrie abwandern und aus der Schwerindustrie abgezogen würden, die doch bisher der Grundpfeiler für die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft gewesen ist. Damit würde die zentralisierte Planwirtschaft dem Untergang geweiht sein.
Abgesehen von den Hauptproblemen stellten einige Idealisten die dem Prämiensystem beigemessene Bedeutung in Frage. Diese „Puritaner" beklagten, daß jeder nur an höheren Anreizen interessiert zu sein schiene. Niemand spreche mehr von „Verpflichtungen"
Liberman und seine Anhänger ließen sich von derartigen Vorwürfen nicht abschrecken. Die Existenz künstlicher Anreiz in der Wirtschaft unterstreiche nur die Notwendigkeit von Verbesserungen. Sie gaben offen zu, daß Libermans Vorschläge eine grundlegende Preisreform notwendig mache. Obgleich Risiken vorhanden seien, blieben sie jedoch bei ihrer Ansicht, daß diese nicht so wichtig seien wie die Vorteile, die dadurch erzielt würden, daß man die Preise in Einklang mit den tatsächlichen Kosten bringt. Ferner übertreibe man die Folgen einer Preisreform. Die Preise für Konsumgüter seien wegen der hohen Umsatz-oder Verkaufssteuer immer hoch gewesen. Zu einem gewissen Grade werde nun der Druck der Nachfrage an die Stelle der Steuer treten, und die Verbraucherpreise würden insgesamt keine so großen Veränderungen erfahren. Falls die Einstellung der Subventionen an die Großindustrie die Industriepreise in die Höhe zu treiben neigte, so würden sich die Einkäufer der Fabriken dem widersetzen, denn sie brauchten niedrigere Materialpreise, um einen eigenen Gewinn zu erzielen. Und wenn gewisse Firmen eine überdurchschnittliche Profitabilitätsrate hätten, so sei das nur zu begrüßen.
Das bedeutete, daß sie leistungsfähig seien oder Waren herstellten, die der Verbraucher wünsche, und deshalb verdienten sie auch, erweitert zu werden. Wenn andere Hersteller nicht in der Lage seien, Gewinne zu erzielen, so deute das auf Mängel hin. Sie sollten entweder aufgeben oder den Preis ihrer Waren erhöhen.
Einige der freimütigeren Wirtschaftstheoretiker gingen sogar noch weiter. Sie behaupteten, daß, wenn Preise jemals einen realistischeren Stand erreichen sollten, für die Inanspruchnahme von Kapital eine richtige Abgabe erhoben werden müßte. Obgleich sie das Wort Zinsen nicht gebrauchten, schienen sie solche doch anzustreben. Die meisten von ihnen erkannten, daß Libermans Profitabilitätsrate indirekt eine Kapitalsbelastung war, denn sie führte dazu, die Inanspruchnahme von Kapital nicht wünschenswert erscheinen zu lassen.
Aber damit noch nicht genug. Es gab einige, die eine direkte Kapitalsbelastung forderten.
V. Kotkin und E. Slastenko gingen so weit, eine glatte 10°/ige Kapitalsbelastung zu fordern
Die Antwort der Anhänger Libermans bestätigte nur die schlimmsten Befürchtungen der Konservativen, die ganz einfach nicht bereit wärest, die zentrale Lenkung des Kapitals einzustellen und eine freie Preisbewegung zuzulassen. Wenn das vorhandene Kapital nicht nutzbringend verwendet werde, seien schärfere Kontrollen notwendig. Wie es der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler K. Plotnikow ausdrückte, wenn die Entscheidungsgewalt in die Hände der Betriebsleiter überginge, werde unvermeidlich Kapital weiter verschwendet, ungeachtet der Dementis und Versprechungen Libermans, daß die Kontrolle der Investierungen fortgesetzt werden sollte. Kapital könne nur erhalten werden, indem man es sorgfältig von zentraler Stelle aus einteile
Es wurde noch eine andere Art von Kritik erhoben, die sich nicht so sehr gegen die großen Auswirkungen des Liberman-Planes auf die gegenwärtige Struktur der sowjetischen Wirtschaft richtete als vielmehr gegen innere Widersprüche seiner Vorschläge. Zunächst einmal gab es schwache Punkte in der praktischen Anwendung der Profitabilitätsnormen. Es er-gab sich, daß ein Betrieb sein Stammkapital erhöhen und zu einer unbeabsichtigten Erhöhung seines Prämien-Fonds gelangen konnte, selbst wenn der Gewinn unverändert blieb
Der größte Widerspruch lag jedoch in der Entscheidung Libermans, daß staatlich festgesetzte Planziele für die Produktionsmenge, Auswahl der Erzeugnisse und Liefertermin nach wie vor dem einzelnen Betrieb von oben diktiert werden sollten. Die Erfüllung dieser Planziele durch den Betrieb würde es schwierig machen, die größtmögliche Profitabilitätsrate zu erzielen. Das bedeute, daß Widersprüche und Konflikte fortbestünden. Hinzu käme, daß keine Prämien gezahlt würden, wenn die Planziele nicht erreicht würden, ganz gleich, wie hoch die Profitabilitätsrate ausfiele. Natürlich verringere dieser zweifache Maßstab die Bedeutung des Gewinns. Er ließe auch darauf schließen, daß die Betriebsmittel-Quoten in Wirklichkeit nicht aufgegeben würden, wie ursprünglich vorgesehen war. Da dem Hersteller weiterhin Liefer-und Produktionsziele gesetzt sind, seien Pläne für die Zuteilung von Betriebmitteln und deren Verwendung auch weiterhin erforderlich.
Die Festsetzung von drei konkreten Planzielen für jeden Betrieb sei auch aus einem anderen Grunde voller Widersprüche. Wie erinnerlich, argumentierte Liberman, daß Betriebsangehörige besser als Betriebsfremde in der Lage seien, die Leistungsfähigkeit des Betriebes richtig einzuschätzen. Trotzdem sollten Gos-plan oder irgendeine andere Planungsstelle weiterhin die Vollmacht haben, die drei grundsätzlichsten Entscheidungen eines Betriebes zu treffen. Dadurch werde kaum eine Einmischung von außen verhindert. Ferner sei es unrealistisch, anzunehmen, daß der regionale Volkswirtschaftsrat (Sownarchos) davon Abstand nehmen werde, sich in die Arbeit eines Be-triebes einzumischen, selbst wenn die anderen sieben Ziele nicht direkt vorgeschrieben würden. Obgleich nicht jedem einzelnen Betrieb spezielle Vorschriften gemacht werden sollten, so würde dieser doch an die für den ganzen Betrieb gültigen Richtlinien des Volkswirtschaftsrates für diese sieben Sparten gebunden sein. Wenn ihnen auch die Einmischung in den Betrieb vermutlich untersagt würde, so könne man doch logischerweise annehmen, daß einige Volkswirtschaftsräte diese Regel verletzen würden, besonders dann, wenn ihre Bezirke die Planziele nicht erfüllten. So erscheine es klar, daß die in Libermans Plan vorgesehenen Wirtschaftsreformen eine Einmischung von Seiten der Verwaltung und Bürokratismus nicht ausschalten würden. Ferner könne mit Sicherheit angenommen werden, daß allerlei Manipulationen angestellt würden, um günstige Profitabilitätsnormen zu erzielen. Falls diese Normen elastisch gehandhabt werden sollten, um Angleichungen in bezug auf Größe, Bestimmungsort, Vergleichbarkeit und Mengenanteil der neuen Produkte zu ermöglichen, werde behördlicher Willkür und der Möglichkeit zum Feilschen viel Spielraum gegeben. Auch ein Druck zur Herabsetzung der Normen werde nicht ausgeschaltet. Wie früher läge es im Interesse des Betriebsleiters, sich um niedrigere Ziele zu bemühen. Seine Aufmerksamkeit wäre nicht nur auf Produktionsziele gerichtet, sondern auch auf die Profitabilitätsnorm. Der Prämienfonds könne nicht nur durch eine Erhöhung der Produktion und der Leistung vergrößert werden, sondern auch durch die Behauptung, daß die Kapazität des Betriebes geringer sei, als dies tatsächlich der Fall ist. Durch Erreichung einer günstigeren Norm könne der Betriebsleiter ebenso zu einer Prämie kommen wie durch eine Verbesserung seiner Produktion.
V .
Während Libermans Vorschläge zweifellos eine gewisse Verbesserung des gegenwärtigen Systems bedeuten würden, so ist doch der Endeffekt seiner widersprüchlichen Vorschläge sehr viel geringer, als es zunächst den Anschein hatte, und verfehlt sein ursprüngliches Ziel. Warum hat unter diesen Umständen diese Debatte so viel Aufregung verursacht? Weil Liberman offensichtlich verschiedene brennende Probleme angerührt hat. Kurz: die Sowjetunion hat ihre Technologie der Planung und Kontrolle überlebt. Was früher einmal für die Zwecke der sowjetischen Planer und Administratoren sehr geeignet war, erfüllt nicht mehr seinen Zweck. Die Bedürfnisse der Wirtschaft haben sich verändert. Quantitative Veränderungen haben sich in qualitative Veränderungen verwandelt. Methoden zur Befriedigung einer Art von Bedürfnissen sind nun unter veränderten Bedingungen unzulänglich und veraltet.
Gegen Ende der zwanziger Jahre erfuhr die sowjetische Wirtschaft in ihrem Funktionieren und ihrer Lenkung eine grundlegende Änderung. Es wurde der Beschluß gefaßt, in möglichst kurzer Zeit eine industrielle Grundlage zu schaffen. In der großen Debatte, die vor und während dieses Beschlusses geführt wurde, wurde entschieden, daß so etwas wie eine kapitalistische Form anfänglicher Akkumulation, wie Marx es genannt haben würde, notwendig war. Wie Alexander Erlich beschrieb, war es denjenigen, die die Industrialisierung vorschlugen, klar, daß gewaltige Kapitalmengen flüssig gemacht und größere strukturelle Veränderungen vorgenommen werden müßten
Bei all dieser willkürlichen Planung mußte der vom Markt ausgehende Druck ausgeschaltet werden. In manchen Fällen war dies unmöglich, aber die Marktkräfte konnten wenigstens in eine andere Richtung gedrängt werden. Preise und Gewinnanreize wurden dahingehend umgestaltet, daß sie den Aufbau der Schwerindustrie förderten und das Anwachsen der Leichtindustrie hemmten. Auf der einen Seite wurden die Preise für Konsumgüter verdoppelt, indem man sie mit einer Umsatzsteuer belegte. Damit wurde gleichzeitig die Verbrauchernachfrage eingedämmt und dem Staat eine Einnahmequelle geschaffen. Auf der anderen Seite wurden die Preise für Produkte der Schwerindustrie niedrig gehalten. Das erreichte man durch Betriebssubventionen und das Fehlen eines Zinssatzes. Obgleich die Abschaffung der Zinsbelastung in erster Linie das Ergebnis der marxistischen Lehre war, hatte sie die sehr wichtige Auswirkung, kapitalintensive Aufgaben finanziell weniger belastend erscheinen zu lassen. Während der Marktdruck niemals ganz ausgeschaltet wurde, begünstigten diese Maßnahmen doch die Umgestaltung der Wirtschaft. In beträchtlichem Maß wurde der Anteil der Schwerindustrie am Markt gefördert und sie auf Kosten der Leichtindustrie angekurbelt. Dadurch wurde die Verwendung von Produkten der Schwerindustrie und die Entfaltung einer breit angelegten Wirtschaftsaktivität begünstigt, was ja auch von den staatlichen Planern beabsichtigt war. Natürlich hatte diese Art des Vorgehens auch Verschwendung, mangelndes Gleichgewicht, einen niedrigen Lebensstandard und Leistungsunfähigkeit auf vielen Sektoren im Gefolge, besonders auf kurze Sicht betrachtet. Aber die Sowjets planten auf lange Sicht und machten sich keine besonderen Gedanken über die Kosten, die der Mensch dabei tragen mußte, oder über Verbraucherwünsche. Selbst wenn einige größere Projekte negative Erträge brachten, so konnten diese doch mehr als ausgeglichen werden durch große Ersparnisse an anderer Stelle. Die Produktivität des Kapitals war so groß, daß, selbst wenn man vom vorteilhaftesten Projekt absah, eine hohe Ertragsrate allgemein gesichert war. Wenn keine 30 °/o Gewinn erzielt wurden, so doch 20 °/o. Das Hauptziel bestand darin, Kapital anzuhäufen und in der Binnen-und Außenwirtschaft große Ersparnisse herauszuwirtschaften.
So war die Wirtschaftsstruktur der Stalin-Ära beschaffen. Viele Wirtschaftswissenschaftler haben überzeugend dargelegt, daß andere, weniger drakonische und mühselige Wege zu einer Industrialisierung hätten begangen werden können. Auf jeden Fall war bis Mitte der fünfziger Jahre die industrielle Basis der Sowjetunion geschaffen. In der Folgezeit machten sich Anzeichen dafür bemerkbar, daß in einer Industrie, die sich der Reife näherte, zentrale Planung und willkürliche Entscheidungen dem wirtschaftlichen Wachstum nicht mehr länger sehr dienlich waren.
Wenn man einen Augenblick nachdenkt, so kommt man zu der Überlegung, daß dies womöglich der Hauptanlaß für die gegenwärtige Debatte ist. Wie schon gesagt, handelt es sich hier um die erste heftige Auseinandersetzung über Wirtschaftsfragen seit den Diskussionen über die Industrialisierung in den zwanziger Jahren. Interessante historische Parallelen drängen sich auf. Damals wurde die Debatte durch die dringende Notwendigkeit herbeigeführt, die damals angewandten Methoden der Wirtschaftslenkung zu ändern. Jetzt scheint ein irgendwie ähnlicher Anstoß vorzuliegen. Die sowjetische Wirtschaft scheint sich an einem Wendepunkt zu befinden. Es ist klar, wie die Debatte zeigt, daß es in zunehmendem Maße schwierig wird, alles von zentraler Stelle aus zu planen. Die sowjetische Wirtschaft hat nicht nur an Umfang gewonnen, sie ist jetzt auch feiner durchgegliedert und mehr auf den Verbraucher bedacht. Infolgedessen können Kampagnen und Eifer nicht alle auftretenden Probleme lösen. Es gibt einfach zu viele Sektoren, die berücksichtigt werden wollen. Sie können nicht alle von zentraler Stelle aus behandelt werden. Man hat geschätzt, daß, wenn das Wirtschaftswachstum in gleichem Ausmaß anhält, die Planungsbürokratie bis 1980 auf das 36fache vergrößert werden müßte
Chruschtschow hat selbst erkannt, daß der kompliziertere Aufbau gewisser Sektoren der Wirtschaft, wie Chemie, Elektronik, Konsumgüter, sich für eine zentralisierte Planung nicht eignet. Wenn die Planer die Wirtschaft ausbauen sollen, fügen sie einfach einen neuen Hochofen dazu und erhöhen die Stahlproduktion. Wenn aber zufällig nicht gerade Stahl, sondern spezielle Kunststoffe oder elektronische Produkte benötigt werden, konzentrieren sich der Planer doch auf Stahl, weil es für zentrale Planer am einfachsten ist, Erhöhungen in der Stahlproduktion zu planen. Chruschtschow drückte es so aus:
„Die Produktion von Stahl ist wie eine gut ausgefahrene Straße mit tiefen Furchen. Von ihr werden nicht einmal blinde Pferde abweichen, weil sonst die Räder brechen würden. Ähnlich tragen manche Beamte Scheuklappen, die auf Stahl ausgerichtet sind. Sie tun alles so, wie sie es in ihren Tagen gelernt haben. Wenn ein Material auftaucht, das besser und billiger als Stahl ist, so kennen sie doch nur eine Parole: Stahl, Stahl!"
In dem Maße, in dem die Wirtschaft gewachsen ist, hat sich die marginale Produktivität des Kapitals verringert. Das bedeutet, daß der Ertrag aus neuen Investierungen nicht mehr so hoch ist wie früher. Wenn nun das Tempo des Wirtschaftswachstums beibehalten werden soll, müssen größere Projekte durchgeführt werden, denen von zentraler Stelle größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Deshalb muß die Maschinerie zum Treffen von Entscheidungen verbessert werden, damit die wirtschaftlichen Hilfsquellen bestmöglich genutzt werden können. Das bedeutet Erhöhung der Produktionsleistung mit der vorhandenen Kapazität und Auswahl der günstigsten Kapitalanlage. Das führt unvermeidlich zu Knappheits-Preisen und Zinsen, den oben erwähnten wirtschaftlichen Kriterien.
Die Probleme der Randgebiete der Wirtschaft (Leichtindustrie, Elektronik, Dienstleistungen, neue Produkte) sind noch viel komplexer. Diese Sektoren eignen sich am wenigsten für eine zentrale Planung, und trotzdem gewinnen sie im sowjetischen Leben immer mehr an Bedeutung. Hier ist Elastizität am Platze. Wenn sich die Verhältnisse ändern oder sich neue Möglichkeiten ergeben, müssen die Betriebsleiter der Randindustrien in der Lage sein, schnell zu reagieren, ohne erst in Moskau anfragen zu müssen. Normalerweise schenken die Planer in Moskau nur den Problemen Beachtung, die ein Ausmaß angenommen haben, das ihre Beachtung rechtfertigt. Kleinere Schwierigkeiten und günstige Gelegenheiten, die noch nicht allzu offensichtlich sind, bleiben manchmal unbeachtet. Dadurch werden Neuerungen in Rand-und anderen Gebieten, die keinen Vorrang genießen, gehemmt. Spontane und experimentelle Projekte sind im allgemeinen im sowjetischen System nicht möglich. Wenn nicht ein Planer sie offiziell unterstützt, sind Gelder, Material und Arbeitskräfte dafür nicht zu haben. Obwohl dadurch keinesfalls die Einführung von
Neuerungen in der Großindustrie und in den technischen Instituten verhindert wird, ist doch praktisch die Situation unmöglich, daß sich ein Mann mit einer Idee und einem Schuppen als Anfang plötzlich als Hersteller eines gefragten Artikels und Chef eines florierenden Unternehmens sieht. In einer hochentwickelten Wirtschaft kann ein solcher Fall zu einem wichtigen zusätzlichen Anlaß zur Expansion werden.
Das zentralisierte Plansystem ist ferner wenig geeignet, dem Verbrauchersektor gerecht zu werden. Solange der Verbraucher hintangestellt und gewissermaßen auf das Existenzminimum verwiesen wurde, gab es wenig Probleme. Ware war knapp und was produziert wurde, fand reißenden Absatz. Nachdem sich nun der Lebensstandard erhöht hat, ha-ben sich die Verhältnisse radikal verändert, und der Verbraucher ist viel wählerischer ge-worden. Zum Entsetzen der Sowjetplaner stapeln sich nun einige Waren in den Lagern. Obgleich noch an vielem Mangel herrscht und der Lebensstandard weit niedriger als in den meisten westlichen Ländern ist, belaufen sich nun die Lagerbestände an Konsumgütern auf 20 Milliarden Rubel (über 20 Milliarden Dollar). Man glaubt, daß von dieser Summe fast 3 Milliarden Rubel überschüssig sind
VI Das also ist das Dilemma der sowjetischen Wirtschaft und eines Wirtschaftsreformers wie Liberman. Es liegen zwingende Gründe für eine Änderung des gegenwärtigen Systems der sowjetischen Planung und Kontrolle vor. Jede grundlegende Reform jedoch, die sich ausschließlich auf den Gewinn als Anreiz verließe und eine grundlegende Preisreform erforderlich machte, würde solche schwerwiegenden Erschütterungen auslösen, daß ihre Folgen schwer abzusehen wären. Weil es fast 45 Jahre lang an dem ausgewogenen Verhältnis gefehlt hat, könnten der Druck und die Preisveränderungen, die aus der Entfesselung der bisher unterdrückten Nachfrage resultieren würden, schreckliche psychologische, wenn nicht gar politische Auswirkungen haben. Schon aus diesem Grunde erscheint es unwahrscheinlich, daß sich die Sowjetunion gänzlich auf Libermans Profitabilitätsrate stützen wird.
Außerdem könnte die Einführung von so etwas wie der Profitabilitätsrate nur dazu führen, daß eine Kategorie von Schwierigkeiten durch eine andere ersetzt wird. Daß Liberman das erkannt hat, dürfte erklären, warum seine Vorschläge so viele innere Widersprüche enthalten. Er hat zwei einander widersprechende Ziele vor Augen: erstens will er die Leistungsfähigkeit steigern und zweitens die Produktion spezieller Waren sicherstellen, die nach einem an zentraler Stelle aufgestellten Plan willkürlich bestimmt wird. Im gegenwärtigen Stadium der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung wäre das erste Ziel ohne das zweite politisch nicht annehmbar. Die Sowjetregierung ist nicht bereit, zuzulassen, daß das Streben nach Profit allein das hervorbringt, was für die Wirtschaft nötig ist. Ein größeres Schwergewicht auf den Profit würde vielleicht die Leistung steigern, höchstwahrscheinlich aber auch bedeuten, daß administrative Kontrolle und die Herstellung gewisser für die Gemeinschaft notwendiger Güter geopfert werden müßten. Während auf der einen Seite die Notwendigkeit besteht, die Aktivität in Randgebieten der Wirtschaft anzuregen, sind immer noch große Aufgaben, wie der Bau von Dämmen, die Vervollständigung des Verkehrsnetzes und seine Ausdehnung nach Sibirien hinein zu erfüllen, die nur von zentraler Stelle durchgeführt werden können. Worauf es ankommt, ist, der Zentralstelle so viel Macht zu belassen, daß sie die großen Projekte durchführen kann, die immer noch große Erträge versprechen, ohne deshalb auf die in den Randgebieten notwendige Elastizität zu verzichten. Prof. Liberman hat einen mutigen Versuch unternommen, den einander anscheinend widersprechenden Zielen gerecht zu werden. Nichtsdestoweniger ist es wahrscheinlich, daß noch viele andere Reformer, Reformen und Debatten kommen werden, ehe dieses gegenwärtige Dilemma der Sowjets gelöst ist.