Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, zu der die deutsche Marine ebensowenig unmittelbar beigetragen hatte wie das deutsche Heer wurde von ihr nicht nur ohne erkennbaren Widerspruch hingenommen, sondern großenteils begrüßt Warnende oder ablehnende Stimmen waren jedenfalls nicht zu hören. Daß ein älterer Seeoffizier als „Preuße" dem „Österreicher" Hitler gegenüber gewisse Vorbehalte empfand war innerhalb der Marine, die sich etwas darauf zugutehielt, der „Schmelztiegel der Nation" zu sein und von landsmannschaftlichen Ressentiments nichts zu wissen eine Ausnahme, die noch weniger politisches Gewicht besaß als vereinzelte skeptische Worte bei Messegesprächen in jener Zeit Was indes in der Heimat immerhin Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers aus den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte", 1. Heft, Januar 1963, nachgedruckt. möglich gewesen wäre, war „draußen* so gut wie undenkbar. Die „einwandfreie Haltung'des Kreuzers „Köln“ z. B., der im Dezember 1932 mit Kadetten zu einer Schulschiffreise ausgelaufen war und den 30. Januar 1933 in Übersee erlebte verstand sich daher von selbst. Verwirrende, auf Sensationsmeldungen der Auslandspresse beruhende Vorstellungen von den neuen Zuständen in der Heimat konnten sich allenfalls vorübergehend auf die „Stimmung", aber nicht auf die „Haltung" der Offiziersanwärter auswirken; nach ihrer Berichtigung noch unterwegs durch die jüngeren Kameraden auf der „Karlsruhe“, die bei ihrer Ausfahrt der heimkehrenden „Köln“ begegnete, war das Unbehagen rasch verflogen
Weil Hitler wohl wußte, was er der Nichteinmischung der Reichswehr verdankte, mußte er versuchen, sie mindestens auf dieser Linie zu halten, oder besser noch, sie zu gewinnen. Deshalb beeilte er sich, mit ihrer Führung Kontakt zu bekommen. Er stellte sich ihr schon am 3. Februar bei einem Empfang im Hause Hammersteins mit einer längeren Rede als Kanzler vor Offenbar hatte er damit bei der Admiralität größeren Erfolg als bei der Generalität und konnte ihn beim ersten Vortrag Raeders kurz darauf noch festigen Womit er die Marine gewann, war — neben dem allgemeinen Versprechen, die Wehrmacht aus der Innenpolitik herauszuhalten — die ausdrückliche Zusage, sie großzügig auszubauen, ohne es zu einem Wettrüsten, geschweige denn einem Konflikt mit England kommen zu lassen. Dem Werben Hitlers um die Marine diente auch sein Erscheinen bei deren Übungen im Mai 1933 sowie eine entsprechende Presse-Propaganda die das noch schwelende Mißtrauen wegen seiner scharfen Kritik an Tirpitz und der deutschen Flottenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg auslöschen sollte
Ebenso aufrichtig — „auf Abruf" — wie seine Versicherung, die Armee aus der Politik herauszuhalten, meinte Hitler damals seine Auslassungen zur Englandpolitik. Rein kontinental eingestellt, hat er — um mit Tirpitz zu sprechen — „die See nicht verstanden“. Sie war und blieb ihm „unheimlich" wozu seine starke Anfälligkeit für die Seekrankheit beigetragen haben mag Andererseits „schwärmte" er für die Marine und begeisterte sich mit seinem unleugbaren Sinn für Technik vornehmlich für die großen Schiffe als Höchstleistungen technischer Präzision So förderte er den Ausbau der Marine wünschte jedoch keinen Gegensatz zu England, sei es wegen seiner wesentlich kontinentalen Ziele, sei es wegen seiner Bewunderung für die politische Leistung des Empire, sei es auf Grund seiner Rassen-Ideologie. Mit dem von ihm angeregten Flottenabkommen — abgeschlossen am 18. Juni 1935 — schien Hitler dann das Fundament einer dauernden Verständigung gelegt Daß dennoch ein Konflikt nicht ausbleiben konnte, wenn er, weit über eine Revision des Versailler Vertrages hinausgehend, die gewaltsame Vorherrschaft auf dem Kontinent erstrebte, erkannte er ebensowenig, wie er die britische Mentalität überhaupt begriff, über jene drohenden Konsequenzen täuschte sich auch die Marine selbst hinweg, obwohl Hitler seine Expansionsabsichten früh offenbart hatte und obwohl Raeder selbst schon von dem bloßen Versuch einer Änderung der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages eine Kriegsgefahr befürchtete
Jedenfalls hielt Raeder einen Krieg, schon we-gen der materiellen Schwäche der Marine, auf lange Zeit für undenkbar Die scheinbare „Übereinstimmung" zwischen ihm und Hitler in den „für die Zukunft der Marine entscheidenden Fragen" machte ihn und damit die ganze Marine zu vertrauensvollen Gefolgsleuten des innen-und außenpolitisch erfolgreichen „Führers" der ihnen für die Terrorakte der Organe des Regimes seltsamerweise nicht persönlich verantwortlich erschien
Freilich gab es für die Marine auch weniger — oder doch weniger ernsthafte — Reibungen mit der Partei als für das Heer. Von Hause aus hatte sie kaum Berührung mit den örtlichen Dienststellen der NSDAP, oder sie dominierte in den Küstenstandorten derart, daß die dortigen Instanzen der Partei sich nicht an sie herantrauten Zwischenfälle, die in „Zusammenstößen" von Marineangehörigen mit Parteiorganen bestanden oder auf Amtsanmaßung von Parteifunktionären beruhten, wurden zum Teil mit Nachdruck von Raeder selbst geregelt sie verursachten jedenfalls keine Animosität gegen die Nationalsozialisten, wie sie von der Marine in der Zeit vorher der „Linken" gegenüber empfunden worden war Die Niederschlagung des soge-nannten Röhm-Putsches stärkte sogar im Ganzen das Vertrauen in Hitler obwohl die illegalen und brutalen Methoden der Aktion rasch bekannt wurden und bei einem Teil des Offizierkorps Empörung und Erschütterung hervorriefen Ein Versuch des damaligen Korvettenkapitäns Heye, Raeder gemeinsam mit dem Heer zu einer wirkungsvollen Stellungnahme bei Hitler zu veranlassen, schlug aber fehl, — und zwar kaum deshalb, weil Raeder persönlich zu ängstlich dafür gewesen wäre, sondern weil er „nicht zuständig" zu sein glaubte und überdies von einem solchen Schritt Nachteile für die Marine befürchtete Trotz dieser eben erst gemachten Erfahrungen leistete er darum ohne Bedenken den neuen „persönlichen" Eid und ihm folgend die Marine, wobei sie die an sich ja ganz unmotivierte erneute Vereidigung einerseits als „RoutineAngelegenheit" auffaßte andererseits aber auch als ersehnte Herstellung eines persönlichen Loyalitätsverhältnisses begrüßte
Seinen eigenen Worten nach wurde für Raeder die Grenze, an der seine Gefolgschaft für Hitler endete, lediglich von seinem Fachgebiet bestimmt Nicht das Terrorsystem konnte ihn dazu bewegen, aus Protest seinen Abschied einzureichen, geschweige denn Widerstand zu leisten, sondern erst und allein die Tatsache, daß Hitlers Maßnahmen schließlich seinem fachlichen Gewissen zuwiderliefen. Wohl hat die Bekämpfung der Kirche dem überzeugten Christen Raeder manches Mißbehagen bereitet; doch sicherte er nur die Marine-Seelsorge energisch und erfolgreich gegen die Angriffe der Partei und trat für seine Marinepfarrer bei der Gestapo ein Desgleichen schützte er aktive Seeoffiziere, die nach der Rassen-Ideologie der NSDAP „nicht einwandfrei“ waren, vor Verfolgungen, behielt sie entweder im Dienst — und zwar ohne Nachteile für ihre Laufbahn — oder sorgte für ihr ehrenvolles Ausscheiden und weiteres Fortkommen Wenn er darüber hinaus in wenigen Einzelfällen alter Bekanntschaft helfend eingriff, obwohl die betreffenden Personen nicht „in sein Ressort“ fielen so ändert das nichts an seiner prinzipiellen „Selbstbeschränkung" d. h. an dem Verzicht, seine amtliche Autorität für die Kirche und die verfolgten Juden überhaupt einzusetzen.
Da Hitler ihm in den ersten Jahren innerhalb der Marine freie Hand ließ — weil er mit dem Ausbau seiner eigenen Position genug zu tun hatte und inzwischen die Marine bei einem hervorragenden Fachmann gut aufgehoben wußte —, sah Raeder keine Veranlassung, sich einzuschalten, wenn das Recht mit Füßen getreten wurde. Nach dem Prinzip der „unpolitischen“ Haltung des Soldaten und seiner „unbedingten Korrektheit gegen die bestehende Regierung" gab es für die Marine „keinen Zweifel" —und Raeder ließ keinen daran aufkommen —, „daß eine unbedingte Disziplin in den eigenen Reihen selbst bei größten Belastungen aufrechterhalten werden müsse" Ob wirklich noch niemand in jenen Tagen in die Zukunft sehen und wissen konnte, „was sich Jahre später ereignen würde", wie Raeder dazu hilfsweise argumentiert hat, blieb bei solchen Vorsätzen ohnehin eine akademische Frage.
II.
Die ersten Zweifel an Hitler wollen Raeder im Frühjahr 1938 anläßlich der Blomberg-Fritsch-Krise gekommen sein Die Vorstellungen eines — damals noch „jüngeren" — Seeoffiziers wie Heye, gemeinsam mit dem Heer energische Schritte bei Hitler zu unternehmen, lehnte er jedoch ab während er ein halbes Jahr später, nach der „Kristallnacht"
vom 9. /10. November 1938, auf die empörten Meldungen einer Reihe führender Offiziere der Marine wenigstens über „die Unmoral der Handlungen und die eingetretene Schädigung des deutschen Ansehens" Klage beim Staatsoberhaupt führte Obwohl von der lahmen — in der Diktion auf Raeder berechneten — Ausrede Hitlers „innerlich nicht befriedigt", ließ er sich damit abspeisen und sah seinen Grundsätzen entsprechend keine weiteren „Möglichkeiten des Eingreifens". Sehr anders reagierte Raeder aber schon wenige Tage danach, als Hitler während eines Vortrages vor ihm plötzlich heftig die bisherige Baupolitik der Marine, und zwar namentlich die Pläne der beiden — später „Bismarck" und „Tirpitz" getauften — Schlachtschiffe kritisierte In diesem Augenblick ersuchte der Oberbefehlshaber der Marine in relativ scharfer Form um seine Entlassung. Von da an häuften sich die Auseinandersetzungen — die jedesmal Raeders Ressort betrafen — so, daß er, der von seinem ersten Abschiedsgesuch auf Drängen Hitlers Abstand genommen hatte, trotz äußerer Ehrungen sein Amt zum 1. Oktober 1939 erneut zur Verfügung stellte Der inzwischen ausbrechende Krieg machte Raeder freilich sofort anderen Sinnes obwohl er gerade in diesem Augenblick allen Grund zur Enttäuschung und zum Zweifel an Hitler gehabt hätte Jetzt auszuscheiden, erschien seinem rein „soldatischen'Denken als Desertion. Wenn die Marine schon, unfertig wie sie war, nicht mehr tun konnte als „kämpfend und in Ehren unterzugehen" so wollte Raeder ebenso selbstverständlich auf seinem Posten bleiben, wie dies von jedem Kommandanten eines Schiffes verlangt wurde. Wie wenig er bedachte, daß wesentlich mehr auf dem Spiel stand als seine persönliche Ehre oder selbst die der Marine zeigt auch seine Verständnislosigkeit für das Verhalten von Beck, das er nicht einmal als Möglichkeit in Erwägung zog Um was es wirklich ging, erkannte mit aller Klarheit fast allein der Abwehrchef Canaris der mit Raeder selbst wie mit der Marine im ganzen zu wenig unmittelbaren Kontakt mehr besaß als daß sein Anteil am Widerstand gegen Hitler seiner Waffengattung zuzurechnen wäre. Vielmehr distanziert sich „die Marine" noch heute weitgehend von ihm, wie sie denn — von wenigen Ausnahmen abgesehen — überhaupt »den Widerstand" ablehnt
Dennoch fehlte es — neben Canaris — nicht an einigen einsichtigen Männern innerhalb der Marine, die sich an dem ersten, noch „legalen" Akt der deutschen militärischen Opposition während der Sudeten-Krise im Hochsommer 1938 beteiligten. Bis dahin waren, wie gesagt, Raeder und die Marineführung von Hitlers Rüstungen nicht beunruhigt worden. Sogar die Ankündigungen vom 5. November 1937, bekannt durch das Hoßbachdokument, will Rae-der nicht ernst genommen, sondern Görings beruhigenden Versicherungen geglaubt haben, Hitler wolle das Heer nur bei seiner Aufrüstung anspornen Daran änderte selbst die neue Weisung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht vom 7. bzw. 21. Dezember 1937 nichts, weil der Ernstfall an die Voraussetzung „voller Kriegsbereitschaft auf allen Gebieten" oder einer sicheren Neutralität der Westmächte geknüpft war, — was dem ganzen Plan scheinbar theoretischen Charakter gab. Nun zeigte der Aufmarschplan „Grün“ gegen die Tschechoslowakei zwar ein Nahziel, das Raeders schwerste Bedenken hätte hervorrufen müssen, weil es über eine Revision der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrages hinausging Doch reagierte er immer noch nicht, obwohl er jetzt auch „fachlich" betroffen war und die schon länger spürbare Feindseligkeit Hitlers gegen England das Schlimmste befürchten lassen mußte Stark beeindruckt von den vorangegangenen außenpolitischen Erfolgen Hitlers, vertraute er noch immer auf ihn und sein „Glück“
Dafür hegten im Oberkommando der Marine zwei Männer die gleichen Sorgen wie Bec: der Chef des Stabes der Seekriegsleitung, Vizeadmiral Guse, und sein erster Operationsoffizier, Fregattenkapitän Heye, — bezeichnenderweise Offiziere in Stellungen, die denen des Chefs des Generalstabes und seines la entsprachen. Heye, Sohn des ehemaligen Chefs der Heeresleitung und ein Offizier, der schon vor der „Machtübernahme" durch politisches Denken „unangenehm aufgefallen" war verfaßte im Juli (1938) eine „Lagebetrachtung“ im Falle eines deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei Wie Beck sah er das Eingreifen Englands und Frankreichs voraus, möglicherweise später auch Amerikas und Rußlands, weil der deutsche Überfall „wie ein Fanal“ wirken werde und die anderen sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen würden, „die deutsche Gefahr ein für allemal zu bannen". Schon ein Krieg gegen die Westmächte aber bedeute „den Verlust des Krieges für Deutschland mit allen Folgen". In geschickter Taktik geißelte Heye an dieser Stelle zugleich den Terror im eigenen Lande, indem er ihn als Grund für die gefährliche Antipathie des „feindlichen und neutralen Auslands" gegen Deutschland hinstellte, der durch Stärkung der „Staatsautorität . . . gegenüber den Befugnissen und Rechten der Partei . . . weitgehend der Boden entzogen“ werden sollte Die abschließende Feststellung der Aufgabe des Soldaten dem Politiker gegenüber: „der politischen Führung die militärische Beurteilung, auch der ungünstigsten Lage darzulegen, damit die politische Führung die Größe ihrer Verantwortung kennt und ihre Entschlüsse nicht auf unvollständige Unterrichtung aufbaut", war wohl an Clausewitz orientiert, wurde von Heye indes der besseren „Wirkung" halber lieber mit einem angeblichen „Führerwort" begründet. Ihm schloß sich Guse an mit der — für den zurückhaltenden und von Natur nicht „kämpferischen" Chef der Ski sehr beachtlichen — Forderung gemeinsamer Vorstellungen der drei Oberbefehlshaber der Wehrmacht bei Hitler, bzw. wenigstens der beiden Oberbefehlshaber des Heeres und der Kriegsmarine, da Göring wahrscheinlich „nicht dazu zu bewegen sein'werde. Doch auch ein gemeinsamer Schritt von Brauchitsch und Raeder unterblieb, weil soldatische Gehorsamspflicht und die Hoffnung, es werde wieder gut gehen, beide davon abhielten
Bei dem darauffolgenden ersten Akt „illegaler" Opposition, dem Versuch, Hitler in dem Augenblick mattzusetzen, in dem er den „Fall Grün" verwirklichen wollte, war von der Marine niemand beteiligt. Wohl stand Canaris leitend und schützend hinter Oster, der im Verschwörerkreis um Halder und Witzleben als der „Motor" erschien, doch kann er eben nicht als Vertreter „der Marine" betrachtet werden. Dasselbe gilt von dem damaligen Kapitänleutnant Liedig, der ebenfalls zur Abwehr gehörte und bei einer Heeresdienststelle eingesetzt war. Er hatte sich mit für den Stoßtrupp zur Verfügung gestellt, der unter der Führung seines ehemaligen Kameraden aus der Brigade Ehrhardt, Oberstleutnant Heinz, in die Reichskanzlei eindringen und Hitler verhaften sollte
Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der weiter tätigen, wenn auch sich wandelnden Oppositionsgruppe um Halder und Witzleben und dem späteren Widerstandskreis in der Marine ist nicht zu erkennen. Verschiedene Versuche des Generalstabschefs, auch Marineoffiziere heranzuziehen, waren nicht nur erfolglos, sondern sogar gefährlich Verhältnismäßig offen konnte Halder wohl mit dem damaligen Chef der Seekriegsleitung, Admiral Schniewind, reden. Doch bei allem Verständnis für Kritik am Regime verstand dieser weitergehende Andeutungen, wie: daß man die kritische Einstellung in Taten umsetzen müsse, nicht oder wollte sie nicht verstehen. Ihre gegenseitige Sympathie schloß hier wohl eine Gefährdung Halders aus, während dieser bei den wenigen anderen Seeoffizieren, die er ansprach, froh sein mußte, daß sie keinen Alarm schlugen.
Die „völlige Unbrauchbarkeit" der Marine „für Zwecke des Widerstandes" bestätigte sich für den Generalstabschef so kraß, daß er sie danach bewußt nicht weiter umwarb zumal sie „technisch" nur wenig nutzen konnte.
Wenn sie später dennoch — obschon nur mit einer kleinen Zelle und nur teilweise aktiv — an der militärischen Opposition beteiligt war, scheint das auf „zufälligen" persönlichen Umständen zu beruhen: nämlich darauf, daß es Claus von Stauffenberg war, der im Herbst 1943 die aktive Leitung des Widerstandes in der Armee übernahm und er einen Bruder (Berthold) in der Seekriegsleitung hatte, der im Völkerrechts-Referat der Operationsabteilung — zuletzt als sogenannter Marine-Oberstabsrichter — tätig war. Eine „autochthone" Opposition entstand in der Marine also nicht, sondern es bedurfte dazu des Anstoßes von außen.
III.
Ohne Zweifel hat Claus von Stauffenberg die-sen Anstoß zum aktiven Widerstand in der Marine gegeben. Obwohl Beck ihr dafür ebensowenig Bedeutung beimaß wie zuvor Hal-der sollte wenigstens soviel erreicht werden, daß sie nach dem erhofften Erfolg des Anschlages auf den neuen Kurs einschwenkte Die Erfahrung vom März 1943 — daß nämlich damals selbst bei geglücktem Atten-tat der anschließende Umsturz nicht „glatt" verlaufen wäre — ließ dies ratsam erscheinen.
Trotz ihres Temperaments-Unterschiedes — Claus: stürmisch-drängend, Berthold ruhig und gelassen — war Berthold seinem einundeinhalb Jahre jüngeren Bruder von jeher eng verbunden. Daß er sich indes von diesem hätte hinreißen lassen, sofern er nicht von sich aus zu denselben Anschauungen oder Entschlüssen kam, ist nach dem Urteil eines Freundes nicht anzunehmen Ja, es scheint unmöglich, einen von beiden als Inaugurator anzusprechen: bei der Art ihrer brüderlichen Verbundenheit hätte Claus nicht ohne Berthold gehandelt, und dieser wäre ohne des Bruders Begabung und Feuer nicht zum Handeln gekommen Sein sittlich fundiertes Gerechtigkeitsgefühl ließ ihn, der anfänglich im Nationalsozialismus positive Ansätze zu erkennen geglaubt hatte, bald zum überzeugten Gegner werden. Stets bereit, das Recht und die Menschlichkeit zu vertreten, verhinderte er in seiner Kriegs-Dienststellung unauffällig, oder doch ohne daß es den Betroffenen immer klar wurde, manches Unrecht Wenn sich die deutsche Seekriegsführung an die Regeln des Völkerrechts hielt, so war das auch sein Verdienst über die Lage des Reiches war er teils durch seine offizielle Position, mehr aber noch durch seine persönlichen Beziehungen zu Trott zu Solz, den er seit 1938/39 kannte, gut und laufend informiert. Die Einsicht, daß der Untergang drohte, trieb auch ihn zum Handeln. Dabei kam es gerade ihm wesentlich darauf an, daß die Sühne für die Verbrechen des Nationalsozialismus eine deutsche Sadie blieb, die noch vor Kriegsende erfolgen müsse. Nicht durch Maßnahmen der Gegner — wie es später geschah —, sondern durch deutsche Gerichte sollten die Schuldigen bestraft werden, und erst danach Verhandlungen — wie er hoffte, für einen Kompromißfrieden — fol-gen
So trat Berthold von Stauffenberg im Herbst 1943 an den damaligen Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder heran, dem er zuerst dienstlich, dann aber auch menschlich eng verbunden war und der schließlich mit ihm das Martyrium teilen sollte. Kranzfelder, aus einer bayerischen Juristenfamilie stammend, war eher aus romantischer Veranlagung denn aus Neigung für den Soldatenberuf Seeoffizier geworden. Er wollte einfach hinaus in die Welt, die er dann zu einem Teil auf einer Schulschiffreise des Kreuzers „Berlin* kennenlernte. Hätten nicht materielle Umstände ihn daran gehindert — sein Vater starb früh und hinterließ die Familie in recht beschränkten Verhältnissen —, so wäre er wohl Wissenschaftler geworden, um der „Wahrheit" nachzuspüren. Bemerkenswert ist, daß ihn im fernen Osten der Buddhismus, „die große Ruhe in sich selbst", besonders anrührte Geistig und körperlich sehr begabt, auf guter Schule vorgebildet (Jesuitenschule), wurde er „CrewÄltester“, d. h. Jahrgangsbester, von 1927. Erkannte man seine Leistungen wie seine Kameradschaftlichkeit wohl allerseits an, so fand er doch nur wenig engere Freundschaft. Ein gewisser beruflicher und gesellschaftlicher Ehrgeiz, verbunden mit einiger Verschlossenheit, soweit er nicht auf geistige Verwandtschaft stieß, ließen ihn manchem fremd erscheinen. Seine zum guten Teil andersartige Laufbahn — er wurde „Dickschiffs-und Stabsmann", während die Kameraden mehr bei kleineren Einheiten und „an der Front" eingesetzt wurden — hat wohl den Abstand vergrößert Nachdem ein Anfall von Lungenbluten seine Zeit als Wachoffizier auf dem Panzerschiff „Admiral Scheer" vorzeitig beendet und auch eine Kur in der Schweiz ihn nicht wieder borddienstfähig gemacht hatte, wurde er in die Seekriegsleitung kommandiert, um nun im Kriege im „Politischen Referat" der Opera-tionsabteilung verwendet zu werden Hier war er mit Berthold von Stauffenberg in dienstliche Berührung gekommen, aus der sich, bei allem Unterschied des Temperaments, auf Grund einer geistigen, seelischen und sittlichen Übereinstimmung enge Freundschaft entwickelte. Voller Abscheu gegen die Unrechtsnatur des Systems und verzweifelt über die politische und militärische Lage, bejahte er — nach längerem Ringen mit sich selbst — seit Februar 1943 grundsätzlich den Umsturz so daß Berthold von Stauffenberg in ihm rasch einen Helfer für seine Ziele fand.
Vorsichtig gingen die beiden nun daran, den Kreis zu erweitern. Sie wandten sich im Herbst 1943 an den Korvettenkapitän z. V. Dr. Sydney Jessen, der als Feindlage-Bearbeiter in der Nachrichtenabteilung der Ski (3/Skl) Dienst tat Es war zu erwarten, daß nach dem geplanten Attentat und Hitlers Tod eine Phase der Direktionslosigkeit eintreten werde; also kam es daraus an, daß die Verschworenen sich der Macht vergewisserten und verhinderten, daß ein Nachfolger aus der NS-„Elite“ die Gelegenheit für sich nützte. Dabei galt es vor allem, die Nachrichtenmittel der Marine in die Hand zu bekommen oder wenigstens für die Gegner zu blockieren. Daher der Weg zu Jessen, den Kranzfelder zufällig auf einer Privatgesellschaft kennengelernt hatte, wobei sich beide rasch politisch völlig verstanden Jessen, der sich persönlich wohl sofort zur Verfügung stellte, aber „technisch" im gewünschten Sinne nicht helfen konnte, wies die beiden weiter an den ihm vertrauten Kapitän z. S. Kupfer, damals Chef der Abteilung Nachrichtenübermittlungsdienst Sie besuchten ihn und begannen ein „eindeutiges politisches Gespräch", das jedoch zu keinen konkreten Vereinbarungen führte. Kupfer, der Berthold von Stauffenberg zum erstenmal sah, war erklärlicherweise sehr überrascht und fragte bei Jessen nach, wieso die Herren zu ihm gekommen seien und was es damit auf sich habe. Die Antwort, daß Jessen sie zu ihm geschickt habe, zerstreute den Verdacht einer „Bespitzelung".
Der bald darauf folgende zweite Besuch Stauffenbergs und Kranzfelders bei Kupfer verlief daher in voller Offenheit untereinander. Die beiden gestanden freimütig ein, daß sie Verbindung mit Widerstandskreisen im Generalstab d. H. hätten und daß dort die Beseitigung des Regimes geplant sei. Es sollten im gegebenen Augenblick Fernschreiben auf allen möglichen Kanälen ergehen, und es komme darauf an, diese Nachrichtenmittel zu besitzen und für Gegenbefehle zu lähmen. An eine Zerstörung des Netzes sei nicht gedacht. Ihre klare Frage war, ob Kupier als Abteilungschef des Nachrichtendienstes in der Seekriegs-leitung die Durchgabe der Aufrufe gewährleisten und anschließend den Apparat stillegen könne. Kupfer seinerseits sagte daraufhin nicht sofort zu, sondern schlug eine dritte Zusammenkunft vor. Er mußte sich überlegen, ob er überhaupt mitmachen wollte und ob die an ihn gestellten Forderungen technisch durchführbar waren, — auch, ob noch jemand hinzugezogen werden sollte. All das besprach er mit Jessen und kam zu einem vollen „Ja", das er den Verschworenen mitteilte.
Es folgten einige weitere Besprechungen, die darum gingen, ob die Marine als solche nicht doch aktiv an dem Widerstand beteiligt werden könne. Aber schnell waren Kranzfelder, Kupfer und Jessen sich darüber einig, daß die Gefahr, verraten zu werden, in keinem Verhältnis zu dem möglichen Nutzen stehen würde: es waren einfach nicht genügend Truppenteile zum Einsatz für die Zwecke der Opposition vorhanden. Die Frage, ob die Marine überhaupt „ansprechbar" sei, wurde in diesem Augenblick nicht weiter geprüft, da Jessen von dem Mißerfolg eines Versuchs überzeugt war. Bemühungen, den Kreis wesentlich zu erweitern, wurden daher nicht unternommen, und die einzige Verbindung der Marine zur militärischen Opposition im Heer war und blieb Berthold von Stauffenberg. Die Marine geriet darum in der nächsten Zeit an den Rand der Entwicklung bzw. in die Rolle eines bloßen „Mithörers", der soweit informiert wurde, wie es für die Erfüllung der ihm zugedachten Aufgabe nötig war. Insbesondere fand keinerlei Schriftwechsel statt, was die meisten der Beteiligten später vor dem Schlimmsten bewahrte, zumal sie von den weiteren Zusammenhängen und Verbindungen innerhalb des Widerstandes, zum Kreisauer Kreis oder zum zivilen Widerstand um Goerdeler, nichts erfuhren
Ursprünglich war die Nachrichtenzentrale der Marine in der Bendlerstraße bzw. am Tirpitzufer in Berlin konzentriert. Die verstärkten Angriffe alliierter Bomber auf die Hauptstadt veranlaßten aber den Chef der Seekriegsleitung, Meisel, vorsorglich Ausweichlager im Norden der Stadt bei Bernau und Eberswalde vorzubereiten wohin auch gegen Ende November 1943 Teile des OKM umzogen Das ehemalige Berliner Amt wurde dezentralisiert, denn Kapitän Kupfer hatte seine eigene Dienststelle jetzt in Eberswalde, andere Führungsstäbe saßen in Bernau, und die Waffenämter waren verstreut untergebracht Die damit auftretende Frage, ob die rasche Durchgabe der Befehle nach einem Anschlag noch garantiert sei und das Netz blockiert werden könne, mußte Kupfer mit „Nein" beantworten.
Damit fiel die Marine, ohnehin auf eine Nebenrolle beschränkt, faktisch aus. Gleichwohl wurde noch manches kritische Gespräch geführt, doch weihte man die betreffenden Offiziere schließlich nicht ein, weil man sie nicht belasten wollte, zumal man von ihnen keine wirksame Hilfe erwarten konnte.
Ferner wurde die Suche nach einem Admiral nicht aufgegeben, der sich vielleicht zur Verfügung stellen was bei - würde, der Befehls struktur und Mentalität der Marine sehr wichtig gewesen wäre. Hierauf abzielende Gespräche wurden von Jessen mit Vizeadmiral Weichold geführt, der im März 1943 von seinem Posten als „Deutscher Admiral beim italienischen Admiralstab" abgelöst worden war Ursprünglich mit Dönitz befreundet, hatte er später dessen stärkstes Mißfallen erregt, weil er ihm nach der Ernennung zum Oberbefehlshaber der Marine offen erklärt hatte, der Krieg im Mittelmeer sei verloren. Er war daher mit fadenscheinigen Begründungen „in die Wüste geschickt“ worden und konnte noch froh sein, daß er mit der bloßen Versetzung in die Reserve davongekommen war.
Als Jessen sich an Weichold — einen Crew-Kameraden — wandte, war er, ohne es zu ahnen, an einen Eingeweihten geraten. Für ihn war Weichold einfach der bewährte und vertrauenswürdige Admiral, der mit seinem persönlichen und fachlichen Ansehen vielleicht größere Teile der Marine im Sinne der Opposition zu beeinflussen vermochte. Von den Verbindungen Weicholds zu Moltke konnte er nichts wissen. Diese beiden hatten in Berlin und in Rom manches sorgenvolle und heikle politische Gespräch geführt; aber Weichold lehnte, wie Moltke, ein Attentat ab wenn auch teilweise aus anderen Gründen: nicht so sehr aus ethischen Motiven als aus der politischen Erwägung, daß ein gelungener Anschlag eine neue Dolchstoßlegende heraufbeschwören könne und daß es deshalb besser sei, wenn Hitler sich selbst ad absurdum führe. Obwohl dies weitere Opfer forderte, war Weichold gegen ein Attentat und ließ daher keine Bereitschaft erkennen, sich dem aktiven Widerstand anzuschließen.
Noch weniger weit gediehen bzw. als noch problematischer erwiesen sich die Überlegungen Kupfers, einen anderen Admiral zu gewinnen. Er mußte schließlich auf jeden direkten Versuch verzichten, weil nach seinem Eindruck die für ein entscheidendes Gespräch erforderliche Vertrauensbasis nicht gewährleistet war
An Gladisch — seit Kriegsbeginn Reichskommissar am Oberprisenhof — dachte anscheinend niemand. Wohl hatte er für seinen engeren Stab Persönlichkeiten gewählt, die nicht mit der Partei sympathisierten: an der Spitze, als seinen Vertreter, Admiral von Gagern weiter Prof. Dr. Wiedmann, den Mitschöpfer der deutschen Prisenordnung mit dem er befreundet war und mit dem man offen reden konnte dazu den nachmaligen Staatssekretär Dr. Lenz oder den Korvettenkapitän von Tirpitz, den Sohn des einstigen Großadmirals Daß Gladisch sich selbst im Sinne des Widerstandes exponieren werde, war nach den bisherigen Erfahrungen aber kaum anzunehmen und so wurde er offenbar nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Als er dann doch erfuhr, daß man Hitler und seine Clique mit Gewalt beseitigen wolle, hat er darüber strengstes Stillschweigen gewahrt — Auch Vizeadmiral Ruge, damals im Stabe Rommels in Frankreich, wurde nicht herangezogen, obwohl er eher in Frage gekommen wäre als Gladisch. Mehr als einmal hatte der Marschall offen und vertraulich mit dem Admiral über seine Sorgen gesprochen und Widerhall gefunden auch machte Speidel ihm gegenüber Andeutungen, ohne indes Ruge ein „vollständiges Bild des Geplanten" zu geben So war dieser noch am 20. Juli ahnungslos, bis ihn Speidel, in der Meinung, der Umsturz sei gelungen, über alles unterrichtete Sicherlich wäre Ruge danach eindeutig mit den Verschworenen gegangen, kam aber zu seinem Glück nicht mehr dazu, weil inzwischen auch in Paris der Umschwung eingesetzt hatte. Seine mögliche Bereitschaft für die Sache der Opposition war in der kleinen „Zelle" in der Seekriegsleitung nicht bekannt, und so ist sie an ihn nie mit konkreten Fragen oder Wünschen herangetreten.
Für die Opposition bedeutete das alles, daß die Marine für einen aktiven Einsatz nicht zu haben war, und Kupfer teilte Berthold von Stauffenberg dies als abschließendes Ergebnis mit. Der kleinen Gruppe von Seeoffizieren, zu welcher — ohne deren Wissen — noch die zwei „Zivilisten" aus Stauffenbergs Umgebung: der Freiburger Ordinarius für Kunstgeschichte Kurt Bauch und der Hapag-Direktor Werner Traber hinzukamen, blieb nichts anderes übrig, als stillzuhalten und auf die Initialzündung von Seiten der Armee zu warten. Daß Berthold von Stauffenberg und Kranzfelder auf einer Dienstreise nach Schweden im Winter 1943/44 im Interesse des Widerstandes tätig wurden und daß Berthold von Stauffenberg, als juristischer Berater der Opposition an den Aufrufen maßgeblich mitarbeitete änderte nichts an der beengten Aktionsmöglichkeit des kleinen Kreises innerhalb der Marine selbt. Dennoch sollte die Entwicklung schließlich aus seiner Mitte heraus, was das Datum der Auslösung betrifft, entscheidend, und zwar verhängnisvoll beeinflußt werden. Nachdem Claus von Stauffenberg mehrfach vergeblich geplant hatte, die Bombe zu zünden, war er entschlossen, die nächste Gelegenheit zu ergreifen. Ein neuer Termin lag noch nicht fest klar war indes, daß die Zeit drängte Ob Stauffenberg aber auf jeden Fall am 20. Juli, für den er ins FHQu bestellt wurde, gehandelt hätte, ist doch wohl fraglich hätte er nicht scheinbar ausweglos vor der Notwendigkeit gestanden. Vielleicht hätte der Umstand, daß die Sitzung statt im Bunker in der verhältnismäßig leichten Baracke stattfand, ihn sonst noch einmal davon abgehalten. Denn sollte der erfahrene Frontoffizier — trotz verständlicher Nervosität — nicht bemerkt haben, daß die Wirkung der Sprengladung erheblich gemindert war, wenn die »Dämmung*'durch die festen Wände entfiel? Gerade weil die Pläne darauf basierten, daß Hitler selber beseitigt war, mußte er das Risiko scheuen, daß der Tyrann am Leben blieb. Er handelte jedoch, weil er meinte, keine andere Wahl zu haben. Und dies ging auf Mitteilungen Jessens zurück.
Korvettenkapitän Dr. Jessen gehörte seit Jahren zum Freundeskreis der Familie der Frau von Bredow, geb. Gräfin von Bismarck, in Potsdam, der Schwester des dortigen Regierungspräsidenten Er stand dem Hause so nahe, daß ihm ein Zimmer überlassen wurde, als er seine eigene Berliner Wohnung durch
Luftangriff verloren hatte. Dort verbrachte er, soweit der Dienst es zuließ, sein Wochenende, und so auch den Sonntag, den 16. Juli 1944. Liebenswürdig, hilfsbereit und großzügig, wie die Gräfin war, lud sie gewöhnlich noch eine Anzahl jüngerer und älterer Gäste ein, darunter Ausländer, die in der wohltuenden Atmosphäre des Hauses geistige und körperliche Erholung fanden. Dazu gehörte an diesem Tage auch ein junger Adeliger ungarischer Staatsangehörigkeit, der als Bankangestellter in Berlin tätig war.
Dieser erzählte Jessen nachmittags im Gespräch, in Berlin gehe das Gerücht um, das FHQu werde in der kommenden Woche in die Luft gesprengt. Jessen erschrak. Er war ja grundsätzlich über die Pläne der Verschworenen im Bilde und mußte die grobe Indiskretion eines Eingeweihten vermuten. Der Quelle auf den Grund zu gehen, schien ihm nicht angängig, weil er den jungen Grafen nur flüchtig kannte. Obwohl die Dame des Hauses den Nationalsozialismus schärfstens ablehnte, konnte der Gast gefährlich sein, so daß eine Demaskierung ihm gegenüber nicht ratsam schien. Möglicherweise hätte der Ungar, wenn er die Verbindung Jessens mit dem Wider-stand erfahren hätte, freimütig seine Informationsquelle genannt: eine Tochter des Hauses, die diese Nachricht wieder von dem Adjutanten des Obersten von Stauffenberg, Werner von Haeften, hatte. Die Indiskretion war wohl fahrlässig genug, jedoch bis dahin nicht über das Haus hinausgedrungen, wie der junge Mann übertreibend behauptet hatte. Zum Unglück für die Opposition kam dieser echte Tatbestand aber erst nach dem Fehlschlag vom 20. Juli durch die Untersuchungen der Gestapo ans Licht und das Schicksal nahm inzwischen seinen Lauf.
Jessen, der sich bemühte, weiter kein Aufsehen zu erregen, meldete nämlich sein Erlebnis tags darauf in der „Koralle“ Stauffenberg und Kranzfelder, als er sie am Abend erreichte. Da alle drei von der Gefährlichkeit dieser Indiskretion völlig überzeugt waren, fuhr Kranzfelder am 18. Juli in die Bendlerstraße zu Claus von Stauffenberg und kam gegen 17 Uhr zurück mit der Nachricht, daß dieser sich daraufhin zu einem sofortigen neuen Versuch entschlossen habe, auch wenn er nur Hitler allein und nicht zugleich auch Himmler und Göring treffen könne. Er habe hinzugefügt, dies werde sein letzter Versuch sein Darauf fuhr Berthold zu seinem Bruder, und der Schlag wurde vorbereitet
Die Mitverschworenen wurden unterrichtet Den letzten Abend verbrachten die Brüder zusammen ohne die Freunde
Am Nachmittag hatten Jessen und Berthold von Stauffenberg noch einen langen Spaziergang gemacht, wobei ersterer die Frage stellte, ob etwas für den Fall des Scheiterns des Attentats vorgesehen sei Berthold verneinte entschieden, es sei alles auf das Gelingen aufgebaut. Seiner Frau jedoch hatte er am 14. Juli, dem Tage vor einem der mißglückten Versuche, anvertraut: „Das Furchtbare ist, zu wissen, daß es nicht gelingen kann und daß man es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun muß.“ Nach menschlicher Voraussicht konnte alles gelingen. War es das Bewußtsein für das jeder menschlichen Berechnung sich entziehende Ausmaß des Unternehmens, was die Verschworenen bescheiden machte, dazu das Gefühl der persönlichen Verantwortung gegenüber den nächsten Angehörigen, weshalb sie für den schlimmsten Fall ein Trostwort hinterlassen wollten? Für sie alle galt wohl, was Kranzfelder einmal schrieb: „Machen wir ruhig Pläne, denn die Hoffnung ist die unversiegliche Kraftquelle, aus der wir schöpfen können und sollen. Den-ken wir im Glück ein wenig ans Unglück und im Unglück ein wenig an kommendes Glück, beim Zusammenbruch an den Aufbau, der da kommt, an das neue Grün, das aus den Ruinen sprießt.“ In diesem Geiste waren sie zum Handeln und auch zum Opfer bereit.
IV.
Am 20. Juli 1944 gegen 13. 20 Uhr, während einer Besprechung in der Seekriegsleitung, erhielt Dönitz einen Anruf, er möge sogleich ins „Führerhauptquartier" kommen Gründe für die Forderung waren nicht -dringende an gegeben worden, so daß der ObdM ungehalten rückfragen ließ In der Meinung, Probleme der Seekriegsführung sollten erörtert werden, wollte er nicht unvorbereitet fahren und gab den Befehl, in Zukunft stets so-fort festzustellen, um was es sich handle. Da aber auch die Rückfrage keinen weiteren Aufschluß gab, machte sich Dönitz gegen 14. 15 Uhr, zusammen mit seinem persönlichen Berater, Konteradmiral Wagner, noch immer ahnungslos auf die Reise. Erst beim Empfang auf dem Flugplatz Rastenburg — gegen 16. 45 Uhr — erhielt er von dem damals ins FHQu kommandierten Korvettenkapitän Mejer Kenntnis vom Attentat.
Die Bombe Stauffenbergs, die für Hitlers Umgebung verderblicher war als für den Tyrannen, hatte alle drei Seeoffiziere, die bei der Lagebesprechung anwesend waren, verwundet. Hitlers Marineadjutant, Konteradmiral von Puttkamer, und der zum Wehrmachtführungsstab kommandierte Kapitän z. S. Assmann erlitten schwere, der Vertreter des ObdM im „Führerhauptquartier“, Vizeadmiral Voss, relativ leichtere Verletzungen Sie mußten sofort ins Lazarett überführt werden doch hatte Voss zuvor noch den nur leicht verletzten Luftwaffen-Oberst von Below gebeten, den Oberbefehlshaber anzurufen Den wahren Sachverhalt durfte Below nicht angeben, weil man die Ereignisse vorerst geheim hielt, um die Fahndung nach dem — bereits hinreichend verdächtigen— Täter nicht zu gefährden. Allerdings waren die Gegenaktionen des Regimes in den ersten Stunden nach dem Anschlag we-der schnell noch zielsicher. Hitler selbst „hielt Hof", statt zu handeln und mehr der Um-stand, daß auch die Opposition kostbare Zeit verlor, verhinderte eine Krise auf Grund der ungewissen Lage, als daß sie durch Energie und klare Anweisungen aus der Zentrale des Systems im Keim erstickt worden wäre
Bei der Seekriegsleitung ging das bekannte Fernschreiben Witzlebens um 20. 05 Uhr abends ein Weil an diesem Tage in der „Koralle", dem Ausweichquartier der Ski nahe Bernau, die neue Kinobaracke eingeweiht wurde, war der Chef der Ski, Admiral Meisel, zusammen mit seinem Adjutanten, Dr. jur. Raudszus, zur Vorführung gegangen Da erschien ein „Läufer" (Ordonnanz) mit einer Meldung, die Meisel öffnete und beim Schein des Projektors las. Das Schreiben, das mit den Worten begann: „Der Führer Adolf Hitler ist tot", überraschte ihn derart, daß er es zunächst wortlos an Raudszus weiterreichte. Seine erste gedankliche Reaktion, die Nachricht sofort bekanntzugeben, verwarf er gleich wieder. Die Rundfunkmeldung des Nachmittags über das gescheiterte Attentat war ihm im Augenblick offenbar noch nicht bekannt doch nahm er mit Recht an, daß die plötzliche dringende Berufung des Oberbefehlshabers ins FHQu mit diesen Ereignissen Zusammenhänge. Er rechnete sich aus, daß Dönitz inzwischen dort eingetroffen sein mußte, und beschloß, bei ihm sicherheitshalber nachzufragen. Bevor noch die Verbindung zur „Wolfsschanze" zustandekam, wurde jedoch von dort aus angerufen (20. 50 Uhr). Dönitz selbst war am Apparat, erklärte kurz, daß Hitler lebe, und befahl, daß die Kriegsmarine nur seinen oder Anordnungen des „Reichsführers SS" folgen dürfe Damit war, nachdem Meisel den Befehl zum Teil schon telefonisch voraus und zwischen 22. 40 und 22. 58 Uhr noch durch Fernschreiben an alle Befehlshaber und Marine-Oberkommandos durchgegeben hatte die Lage für die Ma-130) rine eindeutig geklärt und ihre Loyalität gegenüber dem Regime gesichert.
Von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Umsturzes — vielleicht von gleichem Rang wie die Beseitigung Hitlers selbst—, wäre gewesen, daß die Opposition den Nachrichten-Apparat des Systems in ihre Hand bekam oder wenigstens das FHQu von der Außenwelt abschnitt Anfangs gewann der Aufstand tatsächlich an Boden, weil die Verschwörer ihre Befehle absetzen konnten Auch der Marine-Nachrichtenoffizier (MNO) Berlin hatte das Fernschreiben Witzlebens ge-gen 19. 00 Uhr an alle höheren Dienststellen der Marine durchgegeben die es — außer dem Flottenchef — innerhalb der nächsten Stunden richtig empfingen Inzwischen hatte jedoch schon die rückläufige Bewegung eingesetzt, wobei es erstaunlich bleibt, wie der Befehl des Feldmarschalls von Witzleben an vielen Stellen immer noch wirkte. Zum Teil war zwar die Rundfunk-Sondermeldung des Nachmittags nicht gehört worden, wie im Be-reich des weit entfernten Marine-Gruppenkommandos Süd (in Sofia) zum andern bewährte sich wohl jene geschickte Einleitung des Fernschreibens, die ja den Putsch einer »gewissenlosen Clique frontfremder Parteiführer'
behauptete und insofern nicht im Widerspruch zur Rundfunkmeldung stand Bei den Marine-Oberkommandos Norwegen (in Oslo), Ostsee (in Kiel) und Nordsee (in Wilhelmshaven)
wurde, obwohl die Nachricht vom Scheitern des Attentats über den Äther bekanntgeworden war, befehlsgemäß Alarm ausgelöst, bis durch die Gegenanweisungen des ObdM bzw.der Ski die Peripetie kam
Ob Paris »das Erbe Berlins übernehmen“
und den Staatsstreich noch hätte vollenden können, nachdem er in der Reichshauptstadt zusammengebrochen war, ist zweifelhaft. Jedenfalls stemmte sich in Paris die Marine aktiv dagegen: der Befehlshaber des Marine-Gruppenkommandos West, Admiral Krancke, war bereit, seine Truppen zur Befreiung des verhafteten SD einzusetzen und auf das Heer schießen zu lassen Der dortige SD-Chef Oberg dankte ihm denn auch am nächsten Morgen „für das tatkräftige Verhalten ... in der vergangenen Nacht" Die Seekriegsleitung sah die Rolle, die Krancke sich selbst zuschrieb, allerdings als weniger bedeutend an, zumal er sich auf ihre Kosten herausstrich und sie dadurch geradezu gefährdete. Auf ihren Einspruch mußte Krancke deshalb das zu seinen Gunsten retuschierte Kriegstagebuch einen Monat später durch einen Zusatz berichtigen, der den eigenen Anteil der Ski, d. h.den klärenden Anruf ihres Chefs gegen 10 Uhr abends, ausdrücklich festhielt
Der Chef der Seekriegsleitung war es auch, der die Festnahme Berthold von Stauffenbergs anordnete und sie deshalb ausdrücklich gegen seinen Oberbefehlshaber reklamierte der sich dieses „Verdienst" gern selber zugeschrieben hätte Zwar wurde Berthold von Stauffenberg, der sich in die Bendlerstraße begeben hatte, dort in der Nacht ohnehin von Skorzeny verhaftet der wieder auf Befehl von Kaltenbrunner bzw. Himmler handelte;
aber in der Periode der Verfolgungen nach dem 20. Juli war keiner hochgestellt und bewährt genug, als daß es nicht ratsam für ihn gewesen wäre, seine Treue zum „Führer" zu dokumentieren. Deshalb der Wettstreit zwischen Dönitz und Meisel; Raeder, der in Ungnaden entlassene ehemalige ObdM, beeilte sich sogar, seine Loyalität persönlich „in der Höhle des Löwen" zu versichern, — wobei er freilich seiner Sache so wenig gewiß war, daß er vorsichtshalber eine geladene Pistole mit sich nahm Bedauern darüber, daß es „nicht geklappt" habe, sprach man damals höchstens in ganz vertrautem Kreise aus, — wie es sogar Kranckes Stabschef, Admiral Hoffmann, tat Ein Wort der Zustimmung oder Bewunderung für die Opposition verlauten zu lassen, war tollkühn und grenzte an Selbstmord, wurde aber dennoch von jüngeren Offizieren gewagt von denen einige — ohne zum Widerstand zu gehören — offenbar den Sinn des Geschehens besser erfaßten, als die maßgebliche höhere Führung es tat oder wollte. Besonders vorsichtig mußten die Mitwisser der Verschwörer sein, die fast alle von vornherein verdächtig waren, weil sie zu Bert-hold von Stauffenberg in dienstlichen oder persönlichen Beziehungen gestanden hatten. Am meisten litt Kranzfelder unter der Furcht der Entdeckung. Als der hochsensible Mann bei einer Besprechung in der Operationsabteilung der Ski das Mißlingen des Anschlages erfuhr, war er so betroffen, daß er kreideweiß wurde und unter dem Vorwand, sich krank zu fühlen, den Raum verließ Er wollte „nicht auf dem Sandhaufen sterben" und war die nächsten Tage so bedrückt, daß er dadurch der Sekretärin Stauffenbergs, die noch nichts von seiner Verbindung zur Opposition gewußt hatte, auffiel Obwohl selbst in höchster Gefahr, quälte ihn doch noch mehr die Sorge um den Freund, der schon in den Händen der Gestapo war. Wenige Tage darauf wurde auch er verhaftet. Wie er verraten wurde, ist nicht voll geklärt Berthold von Stauffenberg jedenfalls hat niemanden preisgegeben Vorwürfe machte sich im Gefängnis bei einem flüchtigen Gespräch mit Jessen Hauptmann d. R. Kaiser: er habe — wenn auch nur mit den Anfangsbuchstaben — Namen von Angehörigen des Widerstandes in seinem Notizbuch ausgezeichnet Am 24. Juli wurde Kranzfelder von Offizieren im Beisein des Geschwaderrichters Nischling durch den Chef der Ski befehlsgemäß verhaftet und in Handschellen nach Berlin zur Gestapo überführt Vom sogenannten Volksgerichtshof wurde er am 10. August, zusammen mit Berthold von Stauffenberg, verurteilt und danach hingerichtet
Voller Verzweiflung über das fernere Schick-sal seines Volkes, ging er selbst gefaßt in den Tod
Alle anderen kamen glücklicher davon. Wohl wurde auch Jessen eine Woche nach dem Anschlag verhaftet ein unbedachtes Wort Kranzfelders — die Aussage, daß Jessen ihm das Gerücht von einem bevorstehenden Sprengstoffanschlag auf das FHQu mitgeteilt habe, — wurde ihm zum Verhängnis Weil ihm aber trotz eifriger Nachforschungen der Gestapo nicht mehr nachgewiesen werden konnte als diese — von Jessen als pflichtgemäße Meldung bezeichnete — Mitteilung, wurde er bald aus dem „Komplex 20. Juli" herausgenommen. Statt dessen sollte ihm in Bregenz wegen einiger „defaitistischer“ und „wehrzersetzender" Äußerungen gegenüber einem ehemaligen Kameraden der Prozeß gemacht werden. Er wurde im August aus der Wehrmacht ausgestoßen, doch bevor ihm das Urteil gesprochen werden konnte, rettete ihn der allgemeine Zusammenbruch
Weil die Gestapo, die auf bloßen Verdacht hin sofort viele Heeresoffiziere aus ihren Wohnungen geholt hatte, in dem geschlossenen Lager der Ski nicht gleichermaßen zupacken durfte, wurden die übrigen Mitwisser der Verschwörung vor einem schlimmen Ende bewahrt. Am meisten gefährdet waren die Sekretärin Bertholds von Stauffenberg und Professor Bauch. Beide hatten aber am Tage nach dem Fehlschlag noch Zeit, alles belastende Material — die für den Fall des Gelingens vorbereiteten Aufrufe — zu beseitigen Zudem waren ihre nächsten Vorgesetzten, Konteradmiral Meyer als Chef der Operationsabteilung der Ski und Dr. Eckhardt als Leiter des Völkerrechtsreferats, bemüht, unauffällig, aber wirksam zu helfen. Das Verhör von Fräulein Appel durch Eckhardt wurde so menschlich und behutsam durchgeführt, daß diese auch Professor Fahrner schützen konnte. Der Versuch der Gestapo, sie durch Überrumpelung doch noch zu fangen, mißlang am Tage darauf nicht zuletzt durch einen glücklichen Zufall so daß ihr schließlich mit der Ver-leihung einer Kriegsauszeichnung durch Meyer sofort demonstrativ das Vertrauen ausgesprochen wurde. Bauch andererseits, der das Mißtrauen vieler gegen ihn nahezu körperlich fühlte, konnte nach Rücksprache mit dem Admiral bei der Personalabteilung des OKM in Eberswalde selbst dafür sorgen, daß der schon öfter von der Freiburger Universität gestellte, ihm bis dahin aber immer unerwünschte Antrag auf „u. k. -Stellung“ jetzt bearbeitet wurde. Um nicht noch in letzter Minute in die Nachforschungen der Gestapo verwickelt zu werden, konnte er schon geraume Zeit vor der offiziellen Entlassung (1. Sept.) „auf Urlaub" fahren und aus dem Blickfeld verschwinden.
Weiter geriet keiner der Mitwisser mehr in unmittelbare Gefahr; weder Traber noch Kupfer wurden auch nur einmal verhört Letzterer, der durch einen langen Lazarett-Aufenthalt nach einem Sportunfall die unmittelbare tägliche Verbindung mit der Gruppe um Stauffenberg verloren hatte und vor dem 20. Juli gerade wieder dienstfähig geworden war, befand sich an diesem Tage — mit Einverständnis der Verschwörer — auf einer Besichtigungsreise bei Swinemünde. Auf der Durchfahrt zum Genesungsurlaub von Kranzfelder noch kurz und unverblümt gewarnt, erhob sich für ihn in seinem Kurort am Bodenrsee die bange Frage, ob er einer möglichen Verhaftung durch Flucht in die Schweiz zuvorkommen solle. Weil er damit sich und seine Freunde belastet hätte, unterließ er dies, ohne es bereuen zu müssen.
Dafür geriet der Kriegstagebuchführer der Ski, Korvettenkapitän Mejer, noch in arge Bedrängnis, als man schon glauben konnte, daß sich die Verfolgungswelle nach dem 20. Juli gelegt habe. Mejer, der tatsächlich nichts mit dem Umsturzversuch zu tun hatte, obwohl er dem Regime nicht freundlich gesonnen war, wurde plötzlich mittelbar durch Goerdeler „belastet", weil er in seiner Eigenschaft als Leiter des „Deutschen Nachrichten-Büros" zu ihm und anderen Beteiligten früher gewisse, aber nicht tiefere Beziehungen unterhalten hatte In seinem Falle bewährte sich die „Geschlossenheit" der Marine nach innen und außen noch einmal. Der Chef der Ski glaubte ihm die ehrenwörtliche Versicherung seiner Unschuld und setzte sich so energisch für ihn ein, daß die Gestapo ihn unverzüglich wieder freigab und nicht weiter behelligte Der politische Kredit, den Dönitz persönlich und die Marine insgesamt besaßen, rettete, paradox genug, alle Angehörigen und Mitwisser der Opposition in ihren Reihen außer denen, die sich soweit kompromittiert hatten, daß sie den Schergen Himmlers nicht mehr entzogen werden konnten. Ohne daß er es wollte, kam die scharfe Reaktion der ObdM den Gefährdeten zugute. Hitler durfte überzeugt sein, daß Dönitz nichts unterlassen werde, „jeden zu vernichten, der sich als Verräter entpuppt" — und so gedeckt, konnten einige höhere Führer ihre Untergebenen unauffällig, aber wirksam schützen Indem so verhindert wurde, daß der wahre Umfang des Anteils der Marine am Widerstand bekannt wurde, stieg ihr politisches Ansehen weiter, bis Hitler sich am Ende allein von ihr nicht „verraten" fühlte und ihren Oberbefehlshaber zu seinem Nachfolger bestimmte. V.
In der Abschiedsansprache vor seinen engeren Mitarbeitern am 1. Februar 1943 hatte Raeder erklärt: „Ich glaube, Sie werden mir darin zustimmen, daß es mir gelungen ist, im Jahre 1933 die Marine geschlossen und reibungslos dem Führer in das Dritte Reich zuzuführen. Das war zwanglos dadurch gegeben, daß die gesamte Erziehung der Marine in der Systemzeit trotz aller Einflüsse von außen her auf eine innere Haltung hinzielte, die von selbst eine wahrhaft nationalsozialistische Einstellung ergab. Aus diesem Grunde hatten wir uns nicht zu ändern, sondern konnten von vornherein aufrichtigen Herzens wahre Anhänger des Führers werden."
Selbst wenn man berücksichtigt, daß Raeder sich selbst und die Marine aus Sorge um die eigene Sicherheit wie um die Zukunft seines Lebenswerkes für ältere und „bessere" Nationalsozialisten ausgab, als es der Wirklichkeit entsprach, waren seine Ausführungen im Kern richtig. Das oft kolportierte Schlagwort Hitlers von der angeblich „kaiserlichen“ Marine ist jedenfalls kein Gegenargument Denn fühlte die Marine tatsächlich „kaiserlich", so bedeutete das noch keineswegs ein entschiedenes Eintreten für die Person des letzten Kaisers — so viel sie ihm auch verdankte — oder auch nur für eine Restauration der Monarchie Der Operationsbefehl für die Flotte bei Kriegsbeginn 1914, der die Marine lahmlegte, hatte das Vertrauen in die „allerhöchste Führung" erschüttert und der Übertritt Wilhelms II. nach Holland den Rest zerstört. So war die „kaiserliche Einstellung" vor allem eine Sehnsucht nach einer starken, verantwortlichen Führung. Je weniger das ohnehin ungeliebte parlamentarisch-demokratische System hier bot, desto mehr wuchs das Verlangen nach einer starken Hand; und wenn beim Heer die Gleichsetzung von straffer Befehlsführung und starkem Staat aus preußisch-monarchischer Tradition herrührte, so bei der Marine aus noch älteren, sozusagen natürlichen Bedingungen des Bordlebens und der Seefahrt Daher zunächst die Hingabe an Hindenburg, der auch für die Marine der „Ersatzkaiser" war — dann die Hoffnungen auf Hitler Daneben war die Marine von jeher relativ „liberal" Verhältnismäßig jung, nicht aus feudalistisch-aristokratischen Wurzeln entsprungen, personell weitgehend „bürgerlich" zusammengesetzt nicht landsmannschaftlich gebunden in ihren Einheiten, durch Auslandsdienst weltoffen war sie schon zur Zeit der Monarchie ihrem eigentlichen Gründer und Förderer gegenüber freier und unbefangener als die Armee — wie umgekehrt der Kaiser sich an Bord zumeist ungezwungener, „menschlicher" gab als gewöhnlich und sich von Seeoffizieren auch Kritik und offene Worte gefallen ließ Die Revolution von 1918 — so schmerzlich die Erinnerung daran auch brannte, und so wenig es je wieder dahin kommen sollte — hinterließ weiterhin ihre Spuren: die Marine war seitdem verhältnismäßig „sozial“ eingestellt, ohne „sozialistisch“ zu werden Es herrschte, nicht nur im inneren Dienst, ein besonderes Gefühl für soziale Belange des „Volkes", so daß der Nationalsozialismus, der, eklektisch wie er war, auch solche Töne anschlug, hierin bei der Marine Widerhall fand
Als Schrittmacher des Nationalsozialismus gelten ferner wohl die ehemaligen Freikorpsleute — eine Ansicht, die von der traditionslosen „Bewegung" selbst bisweilen propagiert wurde um sich mit konstruierten „Ahnenreihen'eine gewisse Legitimität zu schaffen. Tatsächlich entstammte eine Anzahl prominenter nationalsozialistischer Funktionäre den Freikorps Was aber die Marine angeht, so rekrutierte sie sich ihrerseits keineswegs so ausschließlich aus den Freikorps, wie es nationalsozialistische Propaganda — sei es aus Unwissenheit, sei es in tendenziöser Absicht — behauptet hat Die im Jahre 1933 maßgebliche höhere Führung hatte nicht erst den Umweg über die Freikorps gemacht, sondern war kontinuierlich im Dienst geblieben oder nach einer mehr oder minder langen Pause in die neue Marine eingetreten
Weiter sind die Angehörigen der verschiedenen ehemaligen Freikorps in der Reichsmarine nicht einander gleichzusetzen: diejenigen, die nur vorübergehend in Freiwilligenverbänden innerhalb oder außerhalb des Reiches (Baltikum) gekämpft und sich schon vor dem Kapp-Putsch der neuen Wehrmacht der Republik zur Verfügung gestellt hatten, wurden von den später Gekommenen mit Mißtrauen, ja fast als Überläufer betrachtet Ein Unterschied bestand sogar zwischen den Angehörigen der beiden ehemaligen Brigaden Ehrhardt und Loewenfeld, die in diesem Zusammenhang die wichtigsten sind Die letzteren standen dem neuen Staat zwar zunächst reserviert gegenüber, söhnten sich jedoch — besonders nachdem ihrem alten Führer Mitte 1922 das Kommando über den Schulkreuzer „Berlin'anvertraut worden war — mit den neuen Verhältnissen weit eher aus als die Ehrhardtleute Von einer festen Einheitsfront dieser anti-republikanischen Elemente kann also keine Rede sein — abgesehen davon, daß gerade einige ehemalige Ehrhardtleute später zum „Widerstand" stießen Immerhin war, im ganzen gesehen, eine gewisse gefühlsmäßige Aufnahmebereitschaft für die Parolen des Nationalsozialismus bei den Freikorpsleuten vorhanden; zumindest sträubten sie sich später nicht, Hitler als Kanzler und „Führer" anzuerkennen Spürbar wurde die Neigung für den Nationalsozialismus in der Marine gegen Ende der zwanziger bzw. Anfang der dreißiger Jahre. Bis dahin hatte er in den nördlichen Teilen des Reiches und an der Küste allgemein eine geringere Rolle gespielt als im Süden. Mit seinem Anwachsen und seiner Ausbreitung nordwärts (14. Sept. 1930!) erregte er natürlich auch in der Marine zunehmend Aufmerksamkeit, und zwar hauptsächlich unter den jüngeren Offizieren sowie den Unteroffizieren und Mannschaften. Nachdem sie schon vorher gelegentlich heimlich und in Zivil Versammlungen und Kundgebungen der NSDAP besucht hatten, zum Teil aus reiner Freude am „Klamauk", wurden sie je länger, desto mehr von den „nationalen" und „sozialen" Tönen sowie dem angeblichen unbedingten Gegensatz zum Kommunismus beeindruckt bis die „Idee" bei ihnen ziemlich offene und entschiedene Bekenner fand Die älteren und höheren Offiziere allerdings hielten sich — auf jeden Fall äußerlich — mehr zurück Kapitän z. S. von Schröder, der Sohn des „Löwen von Flandern", war eine auffallende Ausnahme: Wohl war seine Einladung Hitlers auf den Kreuzer „Köln", der zufällig in Wilhelmshaven lag, als auch Hitler die Stadt besuchte, keine geplante Aktion aber doch eine politische Demonstration. Sie wurde als solche, obwohl der Kommandant formal im Recht war, von älteren Seeoffizieren mißbilligt immerhin verfehlte die bei dieser Gelegenheit abgegebene Versicherung Hitlers, für einen Auf-und Ausbau der Marine arbei203) ten zu wollen nicht ihre Wirkung auf die Marineführung 210), die ihre Hoffnungen um so mehr auf eine Regierung Hitlers setzte, als sie mit ihren Forderungen bei den vorhergehenden Kabinetten, nicht nur bei den Sozialdemokraten, oft auf Gegnerschaft gestoßen war
Raeder, seit dem 1. Oktober 1928 Chef der Marineleitung, wußte nicht nur, daß der Nationalsozialismus in der Marine Fuß gefaßt hatte sondern sogar, daß er für sie gefährlich geworden war. Seine Erinnerungen verschleiern dies bezeugen indessen seinen „Attentismus“, der Hitler zugute kam. Denn auf die alarmierende Meldung des damaligen Chefs des Stabes der Ostsee-Station, Admiral Marschall, im Herbst 1932 die überwiegende Mehrzahl der Kommandeure in seinem Befehlsbereich glaube ihrer Leute im Falle eines Einsatzes bei einem nationalsozialistischen Putsch nicht sicher zu sein, gab ihm Raeder nichts weiter zur Antwort, als die vage Versicherung, er werde die Marine schon so führen, daß sie keinen Schaden nehme.
Obwohl selber kein „Politiker", also auch kein Nationalsozialist sondern reiner „Soldat", beobachtete Raeder aufmerksam den politischen Horizont und hatte eine gute Witterung für die Wirkung politischer Entwicklungen auf sein Ressort Für sein Lebenswerk, den bestmöglichen Auf-und Ausbau der Marine, war er bereit, unter allen Flaggen zu segeln. „Woher ich meine Panzerschiffe kriege, ist mir egal“ war seine Maxime — und Hitler versprach ihm welchel So wartete er ab — in der Zwischenzeit mit Hilfe seiner persönlichen Autorität bemüht, der Marine eine Zerreißprobe zu ersparen und Provokationen zu verhindern — bis ihm Hindenburgs Entschluß ermöglichte, die neue Flagge zu setzen Hierin traf er sich auf halbem Wege mit der Marine — die aus ersichtlichen Gründen von vornherein für den Nationalsozialismus viel anfälliger war als das Heer
VI.
Den Vorwurf, durch die Meuterei auf der Flotte die Revolution 1918 ausgelöst zu haben, wurde von der Marine schmerzlich empfunden und verursachte ein Trauma, das sie nie überwand Canaris war einer der wenigen, die sich von solchen Befangenheiten freigemacht hatten Hier lag ein wesentlicher Grund dafür, daß sich die Marine, selbst nachdem sie erkannt hatte, wohin Hitler steuerte, nicht gegen ihn stellte. Gefördert noch durch die Erlebnisse des Kapp-Putsches, durch welchen sie fast wieder auseinandergebrochen war entwickelte sich im Laufe der Zeit ein „Komplex* mit der fixen Idee: Nie wieder abweichen von der „Legalität", nie wieder „politisieren“, nichts gegen die „Regierung" Die ganze Erziehung in der Marine zielte in diese Richtung und wirkte noch fort, als die Grundlagen des Rechtsstaates, die ja die Voraussetzung für solche Loyalität sind, vom Hitler-Regime längst verlassen worden waren.
Wenn überhaupt, so war eine Revision dieser Haltung nur durch Befehl „von oben" möglich. Raeder, der von der Verworrenheit der Befehls-verhältnisse und Dienststellen während des Ersten Weltkrieges stark beeindruckt worden war, erstrebte vom ersten Tage seiner Leitung an eine energische Zusammenfassung und baute eine so straffe persönliche Führung auf, wie sie bis dahin nicht existiert hatte
Gegen Offiziere, die ernstlich — und vor allem: nach außen erkennbar — andere Meinungen vertraten als er, konnte er rücksichtslos vorgehen; sie wurden verabschiedet. Der häufige und rasche Wechsel der Flottenchefs ist nur der augenfälligste Beweis dafür
Eben deshalb war Raeder auch entschiedenster Gegner eines neuen Admiralstabes: jede Möglichkeit einer „Nebenregierung" sollte von vornherein ausgeschlossen werden. Seine Antipathie dagegen nahm beinahe groteske Formen an Nach außen hin, sowohl nach oben wie nach unten, sollte „sein Wille für die Marine alleiniges Gesetz sein" Gleichwohl tolerierte er — aus seiner für „unpolitisch" gehaltenen Einstellung heraus — dabei Offiziere, die dem Nationalsozialismus nicht freundlich gesonnen waren, „solange sie ihre Pflicht taten" I Das hieß: ebensowenig wie er daran dachte, jemals aktiv gegen Hitler und sein Regime zu opponieren, durfte — und würde — es nach seiner Meinung ein anderer Marineoffizier tun Versuche, seine Unterstützung zu wirksamen Schritten nach der „Röhm-Revolte" oder der „Kristallnacht" zu erhalten, schlugen daher tehl, und selbständiges Vorgehen ohne bzw gar gegen den ObdM bedeutete mit Sicherheit schnelle Kassation, wenn auch noch nicht mehr.
Schlimmer sollte es in dieser Hinsicht unter Dönitz werden. Nicht nur, daß dieser das bisherige Führungsprinzip übernahm und weiter ausbaute — er war auch, im Gegensatz zu seinem Vorgänger, bewußt „politisch". Wenn er bald nach seiner Amtsübernahme eine Reihe verdienter und erfahrener hoher Offiziere entließ, so nicht deshalb, weil er den dienstälteren Admiralen aus Taktgründen nicht zumuten wollte, unter ihm — dem Jüngeren — zu bleiben sondern weil er sie nicht ohne weiteres für „zuverlässig" genug in seinem und des Regimes Sinne hielt Wie Goebbels bezeugt, war sein „gründliches Aufräumen" ganz nach dem Herzen des „Führers" dessen Vertrauen er rasch gewinnen wollte und gewann Daß es ihm dabei — in klarer Erkenntnis der damaligen Führungspraxis — auch darum ging, sachliche Vorteile für die Marine herauszuholen ist glaubhaft, war aber gewiß nicht sein eigentliches Motiv. Größeres Verständnis für die Seekriegsführung, Abwehr unberechtigter Angriffe etwa von Seiten Görings auf die Marine und bessere Materialzuteilungen sollten schöne Nebenerfolge werden waren jedoch nicht tiefster Grund seiner bewußt und öffentlich dokumentierten Einstellung zu Hitler und dem Nationalsozialismus. überzeugt von Hitlers einmaliger Größe und Bedeutung für das deutsche Volk, unter-warf er sich ihm bis an die Grenze persönlicher Würde übernahm den Rassenwahn und die feindliche Haltung gegen die Kirchen aus Hitlers Ideologie und verlangte von seinen Offizieren dasselbe. „Bedingungslos Wächter des nationalsozialistischen Staates“ zu sein, war seine Forderung am 15. Februar 1944 Kein Wunder also, daß bei ihm trotz allem, was schon geschehen und noch zu erwarten war, keine Neigung zum Widerstand gegen das Regime bestand Seine haßerfüllten Ausbrüche gegen die „Verbrecher“
nach dem 20. Juli und seine unerschütterliche Treue zu Hitler und der „Idee" über dessen Ende hinaus sind Zeugnis dafür, wie sich Dönitz dem Nationalsozialismus verschrieben hatte Uber allen anders Gesinnten hing seine Drohung, sie zu „zerbrechen"
Dennoch hatten sich in der Marine, so sehr sie anfangs mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, je länger desto mehr Skepsis und Kritik geregt. Waren es teilweise nur fachliche Zweifel — Zweifel an der militärischen Führung und am „Endsieg" —, die laut wurden so gab es andererseits doch auch echte moralische Erschütterungen, als die Verbrechen des Regimes bekannt wurden Das Bild, das die Marine bei näherem Zusehen am 20. Juli und danach bot, war weder so „geschlossen"
noch so eindeutig, wie es Dönitz wünschte oder es der Öffentlichkeit seinerzeit erschien. Aber Widerstandszellen gab es in breiterem Maße nicht. Warum?
über alle einmalig-zufälligen sachlichen und persönlichen Momente hinaus war letztlich der besondere Geist prinzipieller Subordination in ihrem Offizierkorps dafür verantwortlich, der anders war als die im Heer übliche Unterordnung.
Aus einer ursprünglich „technischen" Notwendigkeit des Bordlebens hatte sich — gefördert durch die soziale Struktur der Marine — eine „Tradition" entwickelt, d. h. eine geistige Grundhaltung, die einen der wesentlichsten Teile des speziellen „Ehrbegriffs" des Seeoffiziers ausmachte. Die Freiheit der Entscheidung, die sich die moralisch und intellektuell Besten in der Armee stets vorbehalten haben, auch einmal dem Obersten Kriegsherren den Gehorsam zu verweigern und aktiven Widerstand zu leisten, wenn das Gewissen es verlangte: diese Möglichkeit war im allgemeinen im Ehrenkodex der Marine nicht enthalten. So versagte sie, indem sie in einer bestimmten — zugegeben: bisher noch nicht dagewesenen — geschichtlichen Situation diese „Ehre" verabsolutierte und damit pervertierte, d. h. durch starre, bloß äußerliche Befolgung des Prinzips der Treue und des Gehorsams zur „Konvention" erstarren ließ
Die der Marine gemeinhin zugeschriebene besondere hohe geistige Qualifikation hingegen war nicht mehr in solchem Ausmaß vorhanden, daß sie als Korrektiv wirksam werden konnte.
Die im Kriege 1939— 1945 führende Generation war im Durchschnitt im letzten Jahr vor dem Ersten Weltkrieg oder gar später eingetreten.
Sie hatte die frühere umfassende Erziehung nicht mehr erfahren und in der Zeit nach 1918 das Versäumte unter den veränderten Umständen nicht nachholen können. Die so konsequente Ablehnung eines neuen Admiralstabes tat ein übriges während in der Armee gerade diese Tradition im höheren Offizierkorps gepflegt wurde Schließlich war es kein Zufall, daß der militärische Widerstand gegen Hitler im wesentlichen vom Generalstab getragen wurde. Statt dessen hatte die Marine ein ausgezeichnetes Spezialistenkorps gezüchtet, das sich auf das eigene Ressort verstand, aber auch darauf beschränkte und in der Ausnahme-Situation der NS-Ära moralisch wie politisch indifferent blieb In diesem Zusammenhang von moralischer Schuld des einzelnen zu sprechen, fällt schwer, weil der einzelne sich weitgehend mit dem „Zeitgeist" und dem seiner Kaste in Übereinstimmung befand. Indes die Marine als Ganzes bewährte sich in dieser Hinsicht nicht: ein hypertrophes Spezialistentum hatte zu wenig Raum gelassen für selbständigen sittlichen Mut und ein immer waches Gewissen, die unteilbar waren und sich nicht kommandieren ließen.