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Wissenschaft und Widerstand: Das Beispiel der wWeißen Rose" | APuZ 29/1963 | bpb.de

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APuZ 29/1963 Artikel 1 Wissenschaft und Widerstand: Das Beispiel der wWeißen Rose" Marine, Nationalsozialismus und Widerstand

Wissenschaft und Widerstand: Das Beispiel der wWeißen Rose"

Karl Dietrich Bracher

i.

Zehn Jahre nach dem Beginn des Hitler-regimes, am 18. Februar 1943, Ratterten durch den Lichthof der Münchener Universität hunderte von hektographierten Flugblättern mit dem Aufruf an die Kommilitonen: „Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen ..." Und weiter stand zu lesen: „Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! Kein Drohmittel kann uns schrecken, auch nicht die Schließung unserer Hochschulen. Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewußten Staatswesen ..." Und zum Schluß: „Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus . . ."

Es waren die Tage, in denen die Katastrophe von Stalingrad offenbar geworden war. Aber schon in den Wochen und Monaten vorher waren ähnliche Flugblätter in München und von dort auch an anderen deutschen Universitäten, in Berlin, Freiburg, Hamburg, und in den Briefkästen vieler Bürger aufgetaucht, waren an Häuserwände und auf Straßen Münchens zahlreiche Freiheitsrufe gemalt: „Nieder mit Hitler" stand da weithin sichtbar zu lesen, und über dem Eingang der Universität selbst groß die Aufschrift „Freiheit"; russische Zwangsarbeiterinnen mühten sich, sie wieder zu entfernen.

An diesem 18. Februar hatte endlich ein eifriger Hausmeister die Studenten entdeckt, die die selbstgeschriebenen Flugblätter ausbreiteten. Die rasch alarmierte Gestapo verhaftete sie: den 24jährigen Medizinstudenten Hans Scholl aus Ulm und seine kaum 22jährige Schwester Sophie, Studentin der Naturwissenschaft und* Philosophie, wenig später auch ihren Freund Christoph Probst, Student der Medizin, 23 Jahre alt. Vier Tage später schon folgte nach Weisung von oben die Hinrichtung: am 22.

Februar fünf Uhr nachmittags, nur vier Stunden nach einem brutalen Schnellverfahren, zu dem der höchste Justizmörder des Regimes, der „Reichshenker" Roland Freisler aus Berlin herbeigeeilt war, an der Spitze des mit hohen SS-und SA-Führern besetzten „Volksgerichtshofs". Es war genau so, wie es damals ein Gerichtsbeamter hinsagte: „Das machen wir immer so. Wir warten gar nicht lange das Gnadengesuch ab; wir vollstrecken einfach."

Wenig später folgten neue Verhaftungen; sie endeten mit der Hinrichtung, richtiger gesagt, Walter Baum:

Marine, Nationalsozialismus und Widerstand (siehe Seite 17)

Ermordung weiterer Studenten: der Mediziner Willi Graf und Alexander Schmorell, und des 49jährigen Musikwissenschaftlers und Professors der Psychologie und Philosophie Kurt Huber. Schließlich mit qualvoller Verspätung noch nach anderthalbjähriger Haft die Hinrichtung des Chemiestudenten Hans-Karl Leipelt, der als Hamburger Verbindungsmann der Witwe Professor Hubers in Hamburg gesammelte Spenden überbringen sollte; sie war im Zuge der „Sippenhaftung“ wie viele der Familienangehörigen und Bekannten mit verhaftet worden. Zahlreiche andere Gesinnungsgenossen, die jüngsten 19 Jahre alt, trafen hohe Zuchthaus-und Gefängnisstrafen, weil sie die Flugblattaktion unterstützt hatten. Sie kamen meist aus Württemberg und Bayern, später traf auch eine größere Gruppe Hamburger Studenten das Verdikt * Die überstürzten Pauschalverfahren sollten den Widerstand, der sich vielfach regte, im Keime ersticken. Die Hast mochte auch Angst und schlechtes Gewissen des Regimes verraten, so wie es ja gleichzeitig auch die Massenvernichtungsaktionen mit der Heimlichkeit des Verbrechens betrieb. Drohend lakonisch verkündeten Kurzmeldungen in den Zeitungen und rote Plakate an den Litfaßsäulen das Gesetz dieser Diktatur, das schon die Bekundung des Freiheitswillens mit dem Tode bestrafte. Aber das Zeugnis konnten sie nicht hindern, das Hans Scholl noch vor dem Scharfrichter ablegte, als er zuletzt rief: „Es lebe die Freiheit!" Und Sophie Scholl hatte zuvor dem Volksgerichtshof den Satz ins Gesicht geschleudert: „Was wir geschrieben und gesagt haben, das denkt Ihr ja alle auch, nur fehlt Euch der Mut, es auszusprechen." Kritik und Zuversicht zugleich waren in diesen Worten: Kritik an der Unterwerfung des Geistes unter Gewalt und Verführung, Zuversicht im Blick auf die Unzerstörbarkeit des Gewissens und der Wahrheit. Unmittelbar nach dem 18. Februar war an Häuserwänden in München zu lesen: „Der Geist lebt!"

Freilich, weithin zündend hat diese Tat damals an unseren Universitäten nicht gewirkt; den wachsenden Regungen des Widerstandes stand eine ständig verschärfte Überwachung und Verfolgung gegenüber. Sie hat zur Verhaftung und Ermordung zahlreicher weiterer Studenten, besonders in Hamburg und Berlin, geführt. Aber kein Wort, kein Gnadengesuch hat die Münchner Universität selbst, Professoren oder Studentenschaft in jenen Monaten für ihre akademischen Mitbürger gewagt. Im Gegenteil: auch Professor Huber noch mußte mitanhören, wie auf einer eigens einberufenen Versammlung in der Universität am 25. Februar „der Gaustudentenführer seine jungen Freunde als ehrlose und niederträchtige Gesellen schmähte"

So bleibt die harte Frage an uns gerichtet, was (acist, Wissenschaft, Universität damals verhiochten.

Welche Antwort können wir heute, in der scheinbaren Sicherheit einer sich als freiheitlich bekennenden Demokratie, darauf geben? Wie ist das Vermächtnis ausgenommen, wahrgenommen worden?

Ganz offenbar haben jene Ereignisse im öffentlichen Bewußtsein nicht den Platz, der ihnen gebührt. Gewiß gibt es eine ganze Reihe von Büchern, die dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewidmet sind. Gewiß gibt es Gedenkveranstaltungen zum 20. Juli, dem nach außen augenfälligsten Symbol einer opfervollen, weitverzweigten Opposition ge-gen das Hitler-Regime. Aber wie es nicht gelungen ist, dies Gedenken in den Rang eines nationalen Besinnungstages zu erheben und im bundesrepublikanischen Leben zu verankern, so gilt auch das Wort noch, das Theodor Heuss zehn Jahre danach, am 20. Juli 1954, ausgesprochen hat: die Verpflichtung ist „noch nicht eingelöst, das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit"

Es ist die Frage nach dem inneren Gehalt und Sinn der äußerlich vergeblich scheinenden, in Gewalt und Blut erstickten Taten des Widerstandes, die damit gestellt ist. Was bedeuten sie für die politische und geistige Existenz eines Landes, das wohl der Vernichtung entgangen ist, die ihm seine Führer zubereitet hatten, das aber staatlich gespalten, in seinem geschichtlichen und politischen Selbstverständnis gebrochen, dem materiellen Wiederaufbau zugewandt, im Vergessen Schutz sucht vor den furchtbaren Bildern der Vergangenheit? Wir können uns nicht damit begnügen, die Ereignisse um die Tat der Geschwister Scholl und ihrer Freunde zu beschreiben, die für viele unter uns schon ferne, vor ihrem Lebenskreis liegende Geschichte sind. Wir fragen vielmehr nach ihrer Gegenwartsbedeutung und zugleich nach ihrem Platz an der politischen Bewußtseinsgeschichte der Deutschen, aber nicht nur der Deutschen, wie ja auch die Gedanken und Aufrufe jener Widerstandsgruppen erst im europäischen, übernationalen Zusammenhang ihren Sinn und ihr Ziel gefunden haben. In einem der Flugblätter, mit denen die Scholl-Gruppe die Studenten der Münchner Univer-sität gegen die Gewaltherrschaft aufzurütteln suchte, lesen wir die Sätze:

„Nur in großzügiger Zusammenarbeit der europäischen Völker kann der Boden geschaffen werden, auf welchem ein neuer Aufbau möglich sein wird ..." Und weiter: „Nur eine gesunde föderalistische Staatsordnung vermag heute noch das geschwächte Europa mit neuem Leben zu erfüllen."

Im deutschen Widerstand entfalten sich die verschiedensten Schichten und Richtungen. Früh regen sich sozialistische und gewerkschaftliche, bürgerliche und konservative, intellektuelle und kirchliche Opposition gegen den Unrechtsstaat Später treten im Staatsapparat und unter den Militärs die Gegner Hitlers hervor; ihnen standen wirksamere Mittel der Konspiration zur Verfügung, sie sind deshalb am ehesten bekannt und gewürdigt worden In dem Bereich, der uns am nächsten steht, im Bereich der Universität aber, hat die Aktion der „Weißen Rose" in München das sichtbarste Zeichen ces Widerstandes gesetzt. In drei großen Fragen tritt uns dieser Zusammenhang entgegen:

1. Wie kam es dazu, daß sich ein traditionsreiches und kulturerfülltes Land, voran Jugend und Universität, der Gewaltherrschaft ergeben haben, daß sie die Tyrannei teils hingenommen, teils begrüßt, teils selbst mitgetragen und gefördert haben?

2. An welchen Punkten, in welcher Gestalt hat sich alter und neuer Wille zum Widerstand dagegen erhoben, und was haben Bildung und Wissenschaft, so vielfach verführt und geschändet, zum Aufstand des Gewissens beizutragen vermocht?

3. Was schließlich hat die Erfahrung dieser Zeit uns zu sagen vermocht, in Staat und Gesellschaft, nicht zuletzt auch in unserem eigenen Bereich der Bildung und Wissenschaft?

Wieweit können wir sagen, daß die Vergangenheit fruchtbar für unser Den-ken und Tun geworden sei, daß die tiefen Schatten dieser Vergangenheit nicht wiederkehren, weil wir uns ihren Lehren geöffnet haben?

II.

Wir wissen heute genau und fast lückenlos zu schildern, wie die erste deutsche Republik gescheitert ist und wie es Hitler und seine Helfer verstanden haben, durch Terror und Ge-walt, fast mehr noch durch Täuschung und Lüge die totale, unkontrollierbare Macht an sich zu reißen. Die Zeitgeschichte hat ein umfassendes Bild von den Geschehnissen und Zusammenhängen gezeichnet, die der nationalsozialistischen Herrschaft das Gepräge gegeben haben. Aber umstritten ist die Frage geblieben, wie es um ihre geistigen Voraussetzungen und Wirkungen stehe, warum es geschehen konnte, daß gerade die gebildeten Schichten so rasch, wenn auch oft nur vorübergehend, der Verführung erlegen sind. Der Nationalsozialismus hat nicht ein einziges bedeutendes Buch, nicht einen einzigen originellen Gedanken hervorgebracht. Er berief sich auf ein Sammelsurium von Schlagworten, von Haß-und Gewaltparolen, die in Hitlers „Mein Kampf" oder in Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts" auf fast unlesbare Weise zu einer bombastischen Weltanschauung zusammengeleimt worden waren.

Aber es genügt freilich nicht, darauf hinzuweisen, daß es wohl viele Besitzer, doch wenig Leser dieser Bücher gab. Das Problem liegt tiefer. Im Nationalsozialismus trafen ältere ideologische Strömungen zusammen mit der Empörung über den vermeintlich ungerechten Ausgang des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen, für die von Anfang an die Weimarer Demokratie verantwortlich gemacht wurde. In der Tat: der Sturz aus den übersteigerten hohen Erwartungen der Kriegszeit in die Enttäuschungen und Krisen einer besiegten Nation kann allein die Fehlreaktion von 1918 und 1933 nicht verständlich machen.

Es zeigte sich vielmehr, daß hier nun Gedanken bereit lagen und nur ergriffen zu werden brauchten, die fast alles Weitere und Spätere schon enthielten: Diktatur und terroristische Gewaltphilosophie, Rassenhaß und Kriegsverherrlichung, Erziehung zu Intoleranz und Mißbrauch der Wissenschaft.

Gewiß: das waren Erscheinungen, die in mancherlei Form auch in anderen Ländern aufgetreten waren, seit der Siegeszug des modernen Nationalismus in radikalen Ideologien seinen Ausdruck fand: antisemitische und imperialistische Lehren sind im Europa des 19. Jahr- allenthalben aufgelebt. Sie waren keine deutschen Erfindungen, keine einfache Konsequenz der deutschen Geschichte, wie das jüngst etwa William Shirer in seinem weit-verbreiteten Buch über das „Dritte Reich" behauptet hat Namen wie Gobineau und Chamberlain, Sorel und Mussolini weisen auf die überdeutschen, gemeineuropäischen Grundlagen der antidemokratischen Bewegung hin.

Aber freilich: es war auch nicht einfach unglücklicher Zufall, der sie bei uns zum furchtbarsten Triumph geführt hat. In seiner Bilanz der deutschen Katastrophe (1946) hat Friedrich Meinecke diesen tieferen Ursachen nachgespürt. Er schrieb damals:

„Man mag nun immer wieder einwenden, daß machtstaatliches und machiavellistisches Denken nicht auf Deutschland beschränkt war, daß es bei uns vielleicht nur offener gepredigt, aber nicht stärker geübt wurde. Das wird in vollem Umfange zutreffen — aber eben die Offenheit und Nacktheit, die prinzipielle Schärfe und Bewußtheit, die Freude an rücksichtslosen Konsequenzen, die Neigung, etwas zunächst doch Praktisches zu etwas Weltanschaulichem zu erheben — das war das spezifisch Deutsche dabei und zugleich das für die Zukunft Bedenkliche, wenn diese zunächst nur theoretisch sich aussprechenden Gedanken einmal zu Waffen der Herrschenden wurden". Eben dies geschah in dem Augenblick, da die vermeintliche Geborgenheit einer autoritären Staatsordnung verloren, der 1848 abgebrochene Wille zu demokratischer Selbstverwirklichung erneut gefordert wurde. Diese Wiederanknüpfung ist nicht gelungen; als stärker erwies sich die Gewöhnung an den Obrigkeitsstaat, der den Bürgern die Verantwortung abgenommen hatte, und die Verführungskraft einer nationalistischen Machtphilosophie, die inzwischen tief in Bürgertum, Schule und Universität vorgedrungen war. Die Konsequenz war jene doppelt unpolitische Haltung, die Rudolf Smend schon 1928 scharf kritisiert hat ein Schwanken zwischen Staatsenthaltung und Machtanbetung gerade auch in der geistigen Schicht, eine Anbetung des politisehen Faustrechts — eben das, was der von den Nationalsozialisten so mißbrauchte Friedrich Nietzsche einst als „die Extirpation des deutschen Geistes durch das deutsche Reich"

beklagt hatte Der freiheitliche Aufschwung des Geistes-und Universitätslebens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der sich in Widerstand und Rebellion erprobt und — mit dem Höhepunkt der berühmten „Göttinger Sieben"

(1837) — besonders Professoren, Schriftsteller, Studentenbünde ergriffen hatte, hat der Erfolgs-und Machtdoktrin des „Zweiten Reiches", dem hektischen und imperialen Nachholbedürfnis der „verspäteten Nation" Platz gemacht

Aber für das Scheitern von 1918 wurden nun nicht diese übersteigerten Ansprüche und Bestrebungen verantwortlich gemacht. Es verstärkte sich vielmehr weithin gerade die Meinung, daß man ihnen nicht hart, nicht konsequent, nicht geschlossen genug gefolgt sei. Die Dolchstoßlegende, Ausdruck dieser tiefen Selbsttäuschung, ging in das Schlagwortarsenal der Studentenverbindungen, der akademischen Reden, der Reichsgründungsfeiern ein, die dem Loyalitätsanspruch der Weimarer Republik geradezu entgegengesetzt wurden. Das Staatsbewußtsein blieb gestört; nur als unglückliches Zwischenspiel betrachteten allzu viele Bürger — aus anderen Gründen ja auch die Kommunisten — die Republik, nur als Übergang zu einer erfolgreicheren Verwirklichung der verlorenen Großmachtstellung. Dies war der Grund, weshalb barbarische Unter-strömungen der Vorweltkriegszeit, voran Antisemitismus und Terrorismus, erst jetzt so recht politische Bedeutung gewannen. Auf dem Rücken der deutsch-nationalen Restaurationsbewegung entfaltete sich eine revolutionäre Diktaturpropaganda, für die sich wachsende Teile des Bürgertums, der Intelligenz und der Jugend begeisterten. Parolen wie Hans Freyers „Revolution von rechts" Oswald Spenglers „barbarischer Cäsarismus" galten vielen als die Vision einer größeren deutschen Zukunft. Lange vor dem Durchbruch zur Massenbewegung hat der Nationalsozialismus als radikalste Spielart deshalb in der aktionsfreudigen Studentenschaft und im Bündnis mit vielen Stuhunderts funden Früh kam es zu Hetz-und Boykottaktionen gegen republikanische und jüdische Dozenten. Und die Terrorisierung und Gleichschaltung der Universitäten ist 1933 durch die Demonstrationen und Denunziationen der Studentenschaft wesentlich beschleunigt worden. Sie haben der Drangsalierung und Zwangsentfernung der mißliebigen Lehrer und Kommilitonen von unten nachgeholfen, so weit die Verfolgung von oben ihrer noch bedurfte und nicht auch Neid und Ehrgeiz das Gewünschte besorgten

Die lange angebahnte chronische Krise in Bil-dung und Universität ging nun in eine akute Krise über. Noch 1932 hatte Ernst Robert Curtius in seinem Buch „Deutscher Geist in Gefahr" die Ursachen warnend genannt es war die Tragödie der Trennung von Geist und Politik, von klassisch-humanistischer Bildung und machtbeflissener Realpolitik. Nun wurde sie in einer Pseudo-Synthese gewaltsam aufgehoben. Aber um den Preis der Anpassung des Geistes an die Macht, die damit glaubte, ihre eigene Kultur „schaffen" zu können.

Freilich: die Riesenzahl der Vertriebenen und Gemaßregelten schon in diesen ersten Mona-ten des Hitler-Regimes zeigt auch, welche Widerstände doch noch überwunden werden mußten, um die Universität dem totalitären Anspruch einer einseitig politisierten Wissenschaft und Lehre gefügig zu machen. Und dies, obwohl fast alles für das neue Regime arbeitete — die innenpolitischen Scheinerfolge wie dann auch die nachgiebige Haltung des Auslandes gegenüber Hitlers Ansprüchen. Rücksichtslose Verfolgung und Überwachung, Sippenhaft und Konzentrationslager, seit Kriegsbeginn das Odium des Landesverrats bedrohten jede Gegenregung. Das bedeutete den schweren Konflikt mit einem konventionellen Patriotismus, zu dem weder Generäle noch Gelehrte gerüstet waren. Auch ausländische Historiker haben deshalb das Ausmaß der Opposition in Deutschland eher erstaunlich genannt so unrühmlich die Kapitulation von 1933 auf allen Gebieten und in allen Lagern auch war.

III.

Wir sind damit bei der zweiten Frage angelangt. Widerstand gegen diese Kasernierung und Verdrängung des Geistes — wie konnte er sich unter den neuen Umständen seit 1933 regen und bewähren? Es schien nicht viel zu bleiben, nur die notdürftige Bewahrung und Abschirmung objektiver Forschung, die Taktik des Ausweichens in der Lehre. Das galt besonders für die geistes-und sozialwissenschaftlichen Provinzen. Mit der furchtbaren Eindeutigkeit des totalitären Staates schien hier nun die Entscheidung zwischen Wissenschaft und Parteilichkeit, zwischen dem Prinzip der Selbstverantwortlichkeit freier Forschung und dem Dogmatismus einer verbindlich gesetzten, zutiefst anti-wissenschaftlichen Weltanschauung gefordert. Lapidar hat z. B.der neue nationalsozialistische Kultusminister Bayerns (Hans Schlemm) sogleich den Münchner Professoren erklärt: „Von jetzt ab kommt es für Sie nicht darauf an feststellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinne der nationalsozialistischen Revolution ist."

Die äußeren Folgen des schweren Aderlasses und der umfassenden Reglementierung der Universität wurden rasch sichtbar: Lehrkörper und Studentenzahlen schrumpften erheblich zusammen, Einschüchterung und Zensur verminderten die Möglichkeiten geistigen Austausches und einer steten Selbstkontrolle der Forschung durch freie Kritik. Auch wo es kaum möglich schien, in den Naturwissenschaften, wurde die Herrschaft einer deutsch-arischen Physik oder Mathematik zum Leitbild erhoben, von der rassistischen Verfälschung der Biologie und medizinischer Disziplinen nicht zu sprechen. Es war ein Prozeß der Selbstverstümmelung wissenschaftlichen Geistes, der zwar von oben kommandiert, von manchem angesehenen Gelehrten aber auch eifrig gefördert wurde. Denken wir nur an die „deutsche Physik" des Nobelpreisträgers Philipp Lenard, der schon bei der Ermordung Rathenaus triumphierend die schwarz-weiß-rote Fahne gehißt hatte und nun seinen Fachkampf gegen Einstein auf der Ebene des Rassismus führte, ja, schließlich sogar jede Erwähnung mißliebiger Fachgenossen im wissenschaftlichen Schrifttum bekämpfte, so wie er in seinen Vorlesungen verfemte Namen allenfalls noch vom Assistenten an die Tafel schreiben ließ

So schien der zuversichtliche Glaube an die befreiende Funktion und Wirkung der Wissenschaft, der seit der Aufklärung einen Siegeszug durch das Abendland angetreten hatte, in der Kapitulation vor dem „Dritten Reich" aufs grausamste widerlegt. Das bis heute noch ungeschriebene Buch über Bildung und Intelligenz im NS-System wird eine traurige Bilanz enthalten. Hitler selbst hat nie einen Zweifel gelassen an seiner tiefen Abneigung gegen die Wissenschaft, die Intellektuellen, die Juristen, sofern sie sich nicht als willige Handlanger brauchen ließen.

Aber freilich: gerade darin liegt nun zugleich die Kehrseite. Das problematische Verhältnis von Wissenschaft und Politik hat das nationalsozialistische Regime doch nie voll in seinem Sinne zu wenden vermocht. Daß zwar die äußere Unterwerfung, nicht aber die innere Gleichschaltung gelang, erklärt das permanente Mißtrauen der Machthaber gegen alles, was sie mit dem — in ihrem Munde — Schimpfwort „Intelligenz" verbanden. Denn sie mußten erkennen, daß man wohl das institutionelle Gefüge, nicht aber das Denken selbst der totalen Kontrolle unterwerfen konnte. Auch 40 000 Gestapobeamte und ein Heer von Spitzeln, auch Zwang und Verführung konnten nicht hindern, daß unter dem Schleier der Gleichschaltung der Wille zur Wahrheit und Objektivität stark blieb, auch wenn es viele Beispiele des sacrificium intellectus, der Anbiederung, der Kapitulation der Universität als Selbstverwaltungsorgan gab.

Wir wissen von erstaunlichen Zeugnissen der Unabhängigkeit im Denken, Forschen und Lehren, wir wissen von zäher Bewahrung und Opfer in allen Bereichen. Das alte Wort: „qui tacet consentire videtur" traf unter diesen Bedingungen nicht zu. Schweigen bedeutete oft schon Widerstand, weil überall Mitmachen, Mitreden gefordert war. Gewiß setzte sich das Regime über solch beredtes Schweigen hinweg. Aber die militanten Vorkämpfer einer linientreuen Wissenschaft und Universität blieben stets eine kleine, freilich gefürchtete Minderheit; auch das Gros der Mitläufer beschränkte sich bald ernüchtert auf die notwendigsten Konzessionen, wobei die vielumstrittene Parole galt, man müsse sich im Amte hal-ten, um Schlimmeres zu verhüten. Andere vermochten auch dieser Teilanpassung zu entgehen und sich ganz auf entlegene Gegenstände und Themen zurückzuziehen oder sogar im indirekten Verfahren der Camouflage das Regime zu kritisieren, indem sie etwa historische Parallelen, Diktaturen, Despotien, Freiheitskämpfer beziehungsvoll behandelten

Die Bedingungen waren von Fall zu Fall verschieden, die Möglichkeiten sind nicht auf eine einfache Formel zu bringen, wie uns die Anschauung auch der kommunistischen Gegenwart lehren sollte. Bis zum Ende hören wir die beredte Klage der Parteifunktionäre über den fortdauernden Einfluß des jüdischen und nichtnationalsozialistischen Geistes auf die akademische Jugend, über die geringen Fortschritte bei der Einführung des Rassegedankens, über die an Sabotage grenzende Diskrepanz von (äußerem)

Postulat und tatsächlichem Inhalt in zahllosen wissenschaftlichen Publikationen, über unausrottbaren „Kosmopolitismus" und Objektivismus, der sich hinter komplizierten Formulierungen verberge. Schon im August 1934 rügte eine nationalsozialistische Zeitung („Der Stürmer"): „Ein stetes Gemecker und Geflüster herrscht auf den Gängen der Universitäten. Eine Erscheinung macht sich stark bemerkbar: das Lesen von ausländischen Zeitungen. Mindestens 60 °/o, wahrscheinlich noch mehr, opponieren." Und in Hamburg beklagte sich der Reichsstatthalter (Kaufmann) in einer Rede am 23. Mai 1935, „nicht 10 °/o der studentischen Jugend arbeite aktiv mit" Ein gutes Viertel der Studenten immerhin hat sich dem NS-Studentenbund entzogen, auch wenn dies Studium und berufliche Laufbahn ernstlich gefährdete. Das Verhängnisvolle war nur, daß dieser passive Widerstand, diese „Nichtgleichschaltung" (Rothfels) sich in hoffungsloser Zersplitterung und Isolierung vollzog. Mißtrauen und Überwachung sorgten dafür, daß ein Austausch von Gedanken fast nur noch im indirekten Verfahren der getarnten Sprache oder in der Sphäre der Konspiration möglich war. Der un-aufhaltsame Prozeß der Spezialisierung und Aufspaltung hatte Wissenschaft und Universität ganz besonders verwundbar gemacht gegenüber dem Eingriff übergreifender politischer und weltanschaulicher Gewalten. Auch die Orientierung an überstaatlichen Werten moralischer oder religiöser Art, wie sie im humanistischen oder im kirchlichen Widerstand sich manifestiert hat, bleibt eine defensive, partielle Antwort auf die politische Bedrohung der Wissenschaft im totalen Staat. Was fehlte, war ein allgemeineres Bewußtsein von dem Ort und der Bedeutung der Teildisziplinen innerhalb der Gesellschaft, war politische Bildung als Teil einer Allgemeinbildung, die nicht nur formal, sondern sachlich hinreichend fundiert war, um dem Dilemma der Spezialisierung zu begegnen und zu kritischem Urteil zu befähigen. Daß man im Leben ein guter Fachmann sein, aber als Staatsbürger versagen kann, war die Erfahrung dieser Zeit. Es ist die helfende, präventive Funktion einer politischen Bildung, der Radikalisierung wie dem Quietismus gleichermaßen entgegen zu wirken und die Spannung zwischen wissenschaftlicher und politischer Welt zu mildern, ohne die eine der anderen zu unterwerfen. Der Nationalsozialismus konnte in diese Lücke mit seiner eigenen Konzeption von politischer Erziehung einbrechen, die nun freilich einseitiges Diktat, nicht mehr vielseitige Orientierung in der politisch-sozialen Welt war.

Ein Grundproblem der Wissenschaft in der modernen Welt ist hier aufgebrochen. Abgeschlossen und spezialisiert, möglichst distanziert von dem Getriebe des Tages, widerstrebt sie dem Kontakt mit den aktuellen Dingen.

Zugleich aber kann sie sich, von lebendigen Menschen getragen, den vielfältigen Verflechtungen mit dieser Welt doch nicht entziehen.

Und vor allem: sie bedarf eines Raumes der Freiheit, der Kritik, auch der Zwecklosigkeit, wenn sie gedeihen soll. Politische Mitverantwortung und notfalls Widerstand im politischen Raum wird ihr deshalb besonders schwer, aber um ihrer eigenen Lebensgrundlagen willen unumgänglich, wenn der Pluralismus der Meinungen, die Freiheit der Forschung und Verkündung durch das Diktat einer absolut gesetzten Ordnung bedroht ist. Und war das nicht der Fall, wenn das Grundprinzip wissenschaftlicher Arbeit, das «audiatur et altera pars“, aus dem öffentlichen Leben verbannt war? Das bedeutete eine Spannung, einen Konflikt, der Tag für Tag von neuem ausgetragen werden mußte. Doppelt mutig war der vereinzelte Protest, aber in Mißtrauen und Furcht isoliert, ungefährlich deshalb für das Regime vollzog sich diese Auseinandersetzung, wo gemeinsame Stellungnahme geboten war: denn alle waren doch bedroht, unbeschadet ihrer politischen Sympathien. Nur so wäre das Regime zu treffen gewesen, das ihrer Mitarbeit mangels eigener Fachleute bedurfte: ähnlich wie es in Bürokratie und Verwaltung die alte Beamtenschaft brauchte, die durch die Scheintrennung von Partei und Staat beruhigt, getäuscht, gelähmt wurde, nachdem einmal die entschiedenen Gegner isoliert und beseitigt waren. Es ging vor allem darum, einen Anfang zu machen und jenen Teufelskreis zu durchbrechen, in dem, wie dann auch das erste Flugblatt der Gruppe Scholl klagt, „jeder wartet bis der andere anfängt", und so alle schuldig werden

An diesem Punkt steht das Zeugnis von München. Die Aufrufe der „Weißen Rose“ haben seit 1942 in klarer, entschiedener Sprache die Lähmung durchbrochen, in die die Universität und geistiges Leben in Deutschland nach dem Versagen von 1933 und zehn Jahren Despotie geraten waren. Hier war der tiefen Problematik deutscher Wissenschaftsauffassung und den furchtbaren Konsequenzen nationalsozialistischer Kulturpolitik wieder die Grundwahrheit entgegengehalten, die wohl in vielen tapferen Einzelbekundungen, aber nie in so schlüssigem Appell die Verwirrung und Resignation der Geister zu überwinden suchte. Es war die einfache Wahrheit, daß nicht die politische Universität, wie sie 1933 selbst Denker wie Heidegger und Freyer im nationalsozialistischen Geiste gefordert hatten sondern nur die Universität von politisch verantwortlichen Bürgern auch dem Geist wahrer Wissenschaft und Erziehung entsprechen könne. Die Grundwahrheit also, daß alle Wissenschaft die eine Entscheidung voraussetze: die Freiheit des Fragens und Forschens gegenüber der Wirklichkeit, und die Bereitschaft, ihre Ergebnisse der freien nachprüfenden Kritik zu unterwerfen. Nur dies, nicht die weltanschauliche Option soll ihren Wahrheitsbegriff bestimmen.

Dazu trifft die zweite Verpflichtung, die Kurt Huber seinem mutigen Schlußwort vor dem Volksgerichtshof vorangestellt hat — die Ver-pflichtung, dieser Einsicht als Staatsbürger und Wissenschaftler auch Ausdruck und Wirkung zu verleihen: „Als deutscher Staatsbürger, als deutscher Hochschullehrer und als politischer Mensch erachte ich es als Recht nicht nur, sondern als sittliche Pflicht, an der Gestaltung der deutschen Geschicke mitzuarbeiten, offenkundige Schäden aufzudecken und zu bekämpfen ...“ Immer wieder gipfelten die Flugblätter in der Aufforderung an die Kommilitonen und Lehrer, endlich den Weg vom Wis-sen zum Widerstand zu gehen: „Verbergt nicht Eure Feigheit unter dem Mantel der Klugheit.“ Unter den Verhältnissen des totalen Staates hieß dies: passiver Wider-stand „auf allen wissenschaftlichen und geistigen Gebieten, die für eine Fortführung des gegenwärtigen Krieges tätig sind — sei es in Universitäten, Hochschulen, Laboratorien, Forschungsanstalten, technischen Büros. Sabotage in allen Veranstaltungen kultureller Art, die das . Ansehen'der Faschisten im Volke heben könnten. Sabotage in allen Zweigen der bildenden Künste, die nur im geringsten im Zusammenhänge mit dem Nationalsozialismus stehen und ihm dienen. Sabotage in allem Schrifttum, allen Zeitungen, die im Solde der . Regierung'stehen, für ihre Ideen, für die Verbreitung der braunen Lüge kämpfen."

IV.

Wer waren diese Menschen, die unter größter persönlicher Gefahr auf solchem Wege das Terrorregime zu bekämpfen suchten — nicht auf dem Wege der Gewalt, sondern des passiven Widerstandes durch rückhaltlose Aufklärung, Entschleierung und im Glauben an die aufrüttelnde Wirkung der Wahrheit und des moralischen Appells? Waren es Idealisten, blind für die harten Realitäten der politischen Machtverhältnisse, wie manche gemeint ha-ben? Gewiß nicht! Was sie wollten, was sie als ihren Beitrag und den einzigen Weg aus dem Übel betrachteten, das war die Überwindung der Gleichgültigkeit und Feigheit, die sich hinter hunderterlei Ausreden verschanzte und doch die eigentliche Ursache der Kata-strophe war, 1933 wie jetzt. In diesem Sinne schrieben sie in ein anderes Flugblatt: „Obgleich wir wissen, daß die nationalsozialistische Macht militärisch gebrochen werden muß, suchen wir eine Erneuerung des schwer verwundeten Geistes von innen her zu erreichen.

Dieser Wiedergeburt muß aber die klare Erkenntnis aller Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat, und ein rücksichtsloser Kampf gegen Hitler und seine allzu vielen Helfershelfer . . . vorausgehen."

Auch hier also die Mahnung, den Schritt von der Einsicht in die Verwerflichkeit und die Verbrechen des Regimes, die an vielen furchtbaren Beispielen aufgedeckt werden, zu Widerstand und indirekter Aktion zu tun: das ist der Kern aller Aufrufe der „Weißen Rose". Moralische, religiöse und wissenschaftlich-humanistische Überzeugungen verschiedenster Herkunft vereinigen sich zu dem Grundgedanken, daß die Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens, das Fundament des gerechten Staates im Vertrauen von Mensch zu Mensch, in der Freiheit der Meinung und der Kritik liege. Nicht die bloße Ordnung, der man sich um der eigenen Ruhe und Sicherheit willen unterwerfe, nicht eine formale Legalität, auf die man sich ja 1933 und später zur eigenen Beruhigung berufen hatte, könnten einen Verzicht des verantwortlich denkenden Menschen auf jene Prinzipien rechtfertigen. Mit den Worten Hubers vor dem Volksgerichtshof:

„Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Dann nämlich, wenn sie zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzung aufzutreten. Ein Staat, der jegliche freie Meinungsäußerung unterbindet und jede, aber auch jede sittlich berechtigte Kritik, jeden Verbesserungsvorschlag als . Vorbereitung zum Hochverrat'unter die fruchtbarsten Strafen stellt, bricht ein ungeschriebenes Recht, das im sogenannten . gesunden Volksempfinden'noch immer lebendig war und lebendig bleiben muß."

Kurt Huber, zuletzt der Inspirator der Gruppe, hatte nach den Schuljahren am Stuttgarter Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in München studiert; er war dort nach Promotion und Habilitation 1926 a. o. Professor geworden, wobei seine vielseitige, tiefgründige Begabung auf natur-wie geisteswissenschaftlichem Gebiet und besonders auch in der Musik in der eigentümlichen Verbindung verschiedener Fä-eher in ihren Grenzgebieten hervortrat — die freilich auch an einer Universität nicht leicht unterzubringen waren. Früh kam es zu ersten Konflikten mit dem NS-Regime. Dem körperlich schwer Behinderten erklärte der Hochschulreferent im Stil der Zeit: „Wir können nur Professoren brauchen, die auch Offiziere sein können." Die Anschauung des Systems und die Nachrichten von den Greueltaten, denen sich allzu viele Kollegen verschlossen, führten ihn zu der wachsenden Einsicht, daß etwas geschehen müsse. Erbittert fragte er immer wieder in diesen Jahren bis 1942, ob es denn gar keine Männer mehr in Deutschland gebe, ob man es noch länger verantworten könne, als Lehrer vor seine Schüler zu treten, ohne ein Zeugnis der Verantwortung und der Mannhaftigkeit abzulegen

In dieser Situation nun traf er mit jenen Studenten um die Geschwister Scholl zusammen, die von anderen persönlichen Voraussetzungen her im Frühjahr 1942 die Möglichkeiten eines Widerstandes erörterten: ein Kreis zumeist von Medizinern, die damals ja am ehesten (in Etappen) zum Studium zugelassen wurden, da das Kriegsregime ihrer bedurfte. Auf ihren Buden oder im Elternhaus des Arztsohnes Alexander Schmorell, oft nun aber auch nach Hubers beziehungsreichen Vorlesungen über Leibniz tauschten sie ihre leidenschaftliche Kritik aus: an den leeren Phrasen und der Zwangspropaganda, am rohen Stumpfsinn der NS-Ideologie, an den Rechtsverletzungen und Massenverfolgungen des Regimes, an der Unterdrückung geistiger und religiöser Freiheit. „Unsere Aufgabe wird es sein", hat Kurt Huber in einem dieser Gespräche erklärt, „die Wahrheit so deutlich und hörbar als möglich hinauszurufen in die deutsche Nacht. Wir müssen versuchen, den Funken des Widerstandes, der in Millionen ehrlicher deutscher Her-zen glimmt, anzufachen, damit er hell und mutig lodert. Die einzelnen, die vereinsamt und isoliert gegen Hitler stehen, müssen spüren, daß eine große Zahl Gleichgesinnter mit ihnen ist. Darüber hinaus müssen wir versuchen, diejenigen Deutschen, die sich noch nicht klar geworden sind über die dunklen Absichten unseres Regimes, aufzuklären und auch in ihnen den Entschluß zu Widerstand und aufrechter Abwehr zu wecken. Vielleicht gelingt es in letzter Stunde, die Tyrannis abzuschütteln und den wunderbaren Augenblick zu nützen, um gemeinsam mit den anderen 32

Völkern Europas eine neue, menschlichere Welt aufzubauen."

Mit Flugblättern hatten die Studenten damals schon nach allen Seiten, bis nach Berlin und Wien zu wirken gesucht. Eine weitere Unterbrechung des Studiums zur „Frontbewährung“ während der Semesterferien in Rußland vertiefte die Anschauung des Unrechts und schärfte den Gedanken: wenn in diesem Krieg schon das Leben riskiert werden sollte, warum nicht gegen die Ungerechtigkeit, die zum Him-mel schrie. Und so verstärkten sie seit Herbst 1942 systematisch ihre Aktionen. Sie trugen nun nach Inhalt und Diktion den Stempel der geistigen Mitwirkung Kurt Hubers.

Vor allem war es nun die Überzeugung, daß die deutsche Lage endlich reif sei zu entschlossenem Widerstand gegen den Terror, gegen das offenkundig sinnlose Hinschlachten der Jugend. An der Münchner Universität war nach neuen Übergriffen der Partei gerade jetzt weithin Empörung spürbar geworden — der Gauleiter war bei einer rüden Rede ausgezischt worden —, und die propagandistische Verdrehung der Katastrophe von Stalingrad traf den Wahrheits-und Wirklichkeitssinn der Freunde zutiefst. So riefen sie nun, stärker als je zuvor, zum Widerstand und zur Umkehr auf. Den Höhepunkt setzte das letzte Flugblatt, am 9. Februar 1943 geschrieben, am 18. verbreitet: „Der Tag der Abrechnung ist gekommen. Der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannei, die unser Volk jemals erduldet hat". Und weiter: „In einem Staat rücksichtslosester Knebelung freier Meinungsäußerung sind wir ausgewachsen. HJ, SS und SA haben uns in den frühesten Bildungsjähren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. . Weltanschauliche Schulung'hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Eine Führerauslese, wie sie teuflischer und bornierter zugleich nicht gedacht werden kann, zieht ihre zukünftigen Parteibonzen auf Ordensburgen zu gottlosen, schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben heran, heran zur blinden, stupiden Führergefolgschaft. Wir Arbeiter des Geistes wären gerade recht, dieser neuen , Herrenschicht'den Knüppel zu machen."

Aber nun glaubt der Aufruf die Zeichen der Empörung ringsum zu sehen: „Das ist ein An-34 fang zur Erkämpfung unserer Selbstbestimmung, ohne die geistige Werte nicht geschaffen werden können.“ Es folgt der Aufruf zum Vorlesungsstreik, zum Kampf für die Freiheit, dieses «herrliche deutsche Wort", das die Tyrannen „bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht" haben — bis zu diesem letzten „furchtbaren Blutbad", „das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich noch anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet." Deutlicher denn je waren hier die Ausgangspunkte und die Motive dieses Widerstandes erkennbar. Aber auch der weitere Hintergrund der Empörung kommt darin zum Ausdruck: es ist zugleich die Lebensgeschichte dieser am Ende des 1. Weltkrieges geborenen Generation. Die Geschwister Scholl waren in der behüteten Atmosphäre eines schwäbischen Bürgermeisterhauses, zuletzt in Ulm, ausgewachsen. Sie hatten sich im jugendlichen Idealismus zunächst, trotz der wachen Kritik des Vaters, den großen Worten des „Dritten Reiches" aufgeschlossen: Kameradschaft und Volksgemeinschaft, Heimatliebe und Vaterland, Hitlerjugend und Fahrtenleben. Diese Jugend glaubte sich ernstgenommen, mitbeteiligt und eingegliedert in einen großen Aufbruch der Nation, dessen wahren Charakter sie nicht durchschauen konnte; das Unerfreuliche galt als Übergangserscheinung. Aber dann stießen sie auf Verbote von geliebten Büchern wie Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit", die sie nachdenklich machten; Hans Scholl kam ernüchtert vom Drill und Uniformgepränge eines Nürnberger Parteitages zurück, zu dem er als einer von tausenden Fahnenträgern der HJ abgeordnet worden war. Erste Zusammenstöße folgten, noch ganz unpolitisch scheinbar, aber Zeichen der Unvereinbarkeit dieser Herrschaftsordnung mit dem Willen zu freier Entfaltung des eigenen Lebens und Denkens. Nun hörten sie von Verfolgung und Konzentrationslagern, nun begannen sie daran zu zweifeln, daß der „Führer" davon nichts wisse, wie die Beschwichtiger sagten, und nun fanden sie zu einer der vielen Gruppen, der illegal fortlebenden Jugendbewegung, die der HJ noch widerstrebten. Wachsende Kritik und Abenteuergeist verbanden sich hier im Erlebnis einer eigenen, verschwiegenen Gemeinschaft, abseits dem Lärm der gleichgeschalteten Organisationen, bis auch sie den Verhaftungswellen zum Opfer fiel

Dann Studium in München und Kriegsdienst in Frankreich, in Lazaretten, mit all der Zwiespältigkeit eines solchen Doppellebens. Mehr denn je wird der Druck auf Leben und Den-ken empfunden, und in diese Situation fällt nun die Lektüre der großen Widerstandspredigten des Münsteraner Bischofs Graf von Galen, die hektographiert in den Briefkästen auftauchten. Hans Scholl empfing sie mit dem Ruf: „Endlich hat einer den Mut zu sprechen."

Und hier nun, im Frühjahr 1942, denkt er daran, einen Vervielfältigungsapparat zu eigener Aufklärungstätigkeit zu beschaffen.

Zu der Begegnung mit dem Regime, dem Krieg, den Zweifeln ringsum kommt die Lektüre anti-ker und christlicher Staatsdenker und Dichter, kommt die persönliche Begegnung mit Männern wie dem Religionsphilosophen Theodor Haecker und dem Begründer der Zeitschrift „Hochland" Karl Muth, Gelehrten und Schriftstellern von ungebrochener Kraft, kommt vor allem der Kontakt mit gleichgesinnten Studenten: mit dem lebendigen, phantasievollen Arztsohn Alexander Schmorell, mit dem feinsinnigen Christoph Probst, Sohn eines Privatgelehrten und als einziger der Studenten verheiratet mit zwei, bald drei kleinen Kindern, mit dem schweigsamen, bedächtig-zuverlässigen Willi Graf, der, aus der katholischen Jugendbewegung stammend, philosophischen und theologischen Fragen besonders aufgeschlossen war und zu ihnen stieß auch Sophie Scholl, als sie nach Arbeits-und Kriegshilfsdienst endlich im Frühjahr 1942 ihr Studium beginnen konnte.

Inge Scholl, die überlebende Schwester und Frau Clara Huber haben uns in ergreifenden Büchern die Atmosphäre, das Leben, die geistige und sittliche Intensität des Freundeskreises geschildert, der rasch weitere Anhänger gewann und nun nach außen zu sprechen und zu wirken begann. Er stützte sich nicht auf politische Schulung oder gekonnte Untergrundorganisation, sondern nur, und um so kühner, auf den unerschütterlichen Glauben an die Würde und Freiheit des Menschen, die es nur anzurufen, nur aus der Verstrickung zu lösen gelte.

In vier großen Folgen, zuletzt mit vielen tau-send Blättern, gingen die Aufrufe hinaus. Ihnen beigegeben waren besonders wirkungsvolle Zitate großer Denker und Dichter, die für sich selbst sprachen. So etwa Schiller mit den Worten über die Gesetzgebung des Lykurg und Solon: „Der Staat selbst ist niemals Zweck, er ist nur wichtig als eine Bedingung, unter welcher der Zweck der Menschheit erfüllt werden kann, und dieser Zweck der Menschheit ist kein anderer, als Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung. Hindert eine Staatsverfassung . . . die Fortschreitung des Geistes, so ist sie verwerflich und schädlich, sie mag übrigens noch so durchdacht und in ihrer Art noch so vollkommen sein." Goethe, Novalis, Laotse, Aristoteles über die Tyrannis, die Bibel werden zu Kronzeugen der Flugblätter.

Mancher mag die Unzulänglichkeit der technischen Vorbereitungen bemängeln, mancher auch nach den Erfahrungen des 20. Juli und der vergeblichen Widerstandstaten seither den Optimismus kritisieren, mit dem der Appell an die Mitbürger glaubte, dem totalitären System begegnen zu können. Aber das Vertrauen in die Macht eines geistigen Widerstandes bedeutete doch etwas anderes; nicht nur der praktische Erfolg galt, sondern das moralische Zeugnis war der letzte Maßstab. So hat es dann auch der General von Tresckow vor der Tat des 20. Juli in seiner letzten Botschaft an Stauffenberg gemeint: „Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat So hat es auch schon 1942 religiös gefaßt Dietrich Bonhoeffer ausgedrückt: „Unsere Handlungsweise ist ein Akt der Buße.“ * Und so wollen die Proteste und die Opferbereitschaft der Münchner Freunde, wie sie bekannten, „etwas von der Schuld abtragen, die Deutschland vor Gott und der Welt auf sich geladen hatte" „Worauf warten wir eigentlich?" so hatten sie sich schon in ihren ersten Diskussionen gefragt. „Bis eines Tages der Krieg zu Ende ist und alle Völker auf uns deuten und sagen, wir haben eine solche Regierung widerstandslos ertragen?"

In den Gestapoverhören, von denen uns erschütternde Einzelheiten überliefert sind trat dies Motiv zum letzten Mal rein und stark hervor: in der selbst die Funktionäre des Regimes erstaunenden Bereitschaft, „alle . Schuld', alles, alles auf sich zu nehmen, um die anderen zu entlasten ... Es war wie ein großer Wettkampf um das Leben der Freunde". Noch in seinem letzten Wort bat Hans Scholl für Christoph Probst, dessen Frau im Wochenbett lag; Freisler unterbrach ihn: „Wenn Sie für sich selbst nichts vorzubringen haben, schweigen Sie gefälligst." Wir wissen auch, was Hans Scholl nach der Verhandlung dem jüngeren Bruder noch sagte: „Bleib stark — keine Zugeständnisse!" Vor dem letzten Gang schrieb er das Goethewort an die weiße Wand seiner Zelle: „Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten." Aber darüber stand die Bereitschaft, für die Zukunft der Freiheit in Deutschland das Opfer zu bringen, wie es Sophie Scholl noch auf die Rückseite ihrer Anklageschrift geschrieben hat, und wie es dann Kurt Huber vor dem Gericht bekannte: „Ich habe mich im Sinne von Kants kategorischem Imperativ gefragt, was geschehe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Dann würden Ordnung, Sicherheit, Vertrauen in unser Staatswesen, in unser politisches Leben zurückkehren ... Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, zu gegenseitigem Vertrauen von Mensch zu Mensch, das ist nicht illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität." Huber hatte noch die Kraft, dem tobenden Freisler auf seine Beschimpfungen mit dem Wort entgegenzutreten: „Sie sollten sich schämen . . . I' Und so konnte er, der bis zuletzt noch unermüdlich in der Gefängniszelle an seiner Leibnizbiographie arbeitete, den Tod die . Reinschrift" seines Lebens nennen.

V.

Hier knüpfen wir an, wenn wir heute auf jenes Geschehen und die weiteren politischen und geistigen Zusammenhänge zurückblicken, in denen das äußere Scheitern, aber auch das weiterwirkende Vermächtnis des deutschen Widerstandes gegen Unrecht und Ungeist begründet ist. In einem der letzten Flugblätter standen die Sätze: . Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habtl Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist . . . Trennt Euch rechtzeitig von allem, was mit dem Nationalsozialismus zusammenhängt! Nachher wird ein schreckliches, aber gerechtes Gericht kommen . . Und Huber selbst hatte in seinem letzten Wort gehofft, daß die geistigen Kräfte, die sein Handeln rechtfertigten, „rechtzeitig aus meinem eigenen Volk sich entbinden mögen." Ein an-dermal, so haben wir schon gehört, war der Hoffnung auf eine geistige Wiedergeburt als unabdingbare Voraussetzung, die „klare Erkenntnis aller Schuld, die das deutsche Volk auf sich geladen hat", vorangestellt worden. Das letzte Flugblatt endlich gipfelte in den Worten: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet." Es ist in vielem anders gekommen. Ein rechtzeitiger Aufstand ist mißglückt, von der Mehrheit wohl auch nicht gewollt worden. Bis heute kann man allenthalben die Stimmen derer hören, die meinen, am Nationalsozialismus sei doch auch vieles Gute gewesen. Die Lähmung der totalen Niederlage ist in einer neuen weltpolitischen Konstellation rascher als erwartet aufgehoben, das äußere Leben normalisiert, ja, das politische Gewicht der Deutschen wieder unerwartet gesteigert worden. Aber naben die wirklich unrecht gehabt, die eine tiefergehende Besinnung und Wand-lung erwartet, gefordert haben? Wie steht es um die innere Wahrhaftigkeit, um die Bereit schäft zur Realisierung unseres Bekenntnisses zum freiheitlichen Rechtsstaat? Berichten nicht Beobachtungen und Umfragen immer wieder von einer weitverbreiteten Gleichgültigkeit, von der Diskrepanz, die auch im Raum der Universität zwischen geistiger Betätigung und politischem Bewußtsein, zwischen speziellem Wissen und kritischem Mitdenken an den öffentlichen Angelegenheiten besteht oder sich von neuem auftut? Und doch gehört gerade das stete, kritische Durchdenken der Voraussetzungen zu den Lebensbedingungen freier Wissenschaft überhaupt. — Die „Leidensgeschichte des zivilen Geistes"

in Deutschland ist auf weite Strecken auch eine Leidensgeschichte der Universität und der wissenschaftlichen Wahrheitsverantwortung gewesen. Immer dann war auch die Bereitschaft verkümmert, die privaten und öffentlichen Konsequenzen des Wissens, der Einsicht zu ziehen und auch zu tragen. War dies einmal so weithin versäumt wie 1933, dann blieb nur der einzelne, der wie Kurt Huber zutiefst verlassen vor dem unumschränkten Machthaber stehend, jene Verpflichtung wahrnahm, als er bekannte: „Sie haben mir den Rang und die Rechte des Professors und den . summa cum laude'erarbeiteten Doktorhut genommen und mich dem niedrigsten Verbrecher gleichgestellt.

Die innere Würde des Hochschullehrers, des offenen, mutigen Bekenners seiner Weltund Staatsanschauung kann mir kein Hochverratsverfahren rauben . .

Wohl sind bei uns heute Forschung und Verkündung weitgehend frei, auch wenn die Grenzen dieser Freiheit im Zeichen des Ost-West-Konflikts und kontroverser Verratsbegriffe umstritten sind. Es gibt erfreuliche Zeichen einer nüchternen Selbstbesinnung und eines wacheren Sinnes gerade auch an den Universitäten. Aber nach der einseitigen Politisierung der NS-Zeit (und dann des Ulbricht-Regimes), die in Wahrheit rigorose Entpolitisierung, bloßen Zwang zum Mitmachen bedeutet, ist doch weithin die Neigung stark geblieben, sich den politischen Dingen mißtrauisch zu entziehen und auf das eigene Fortkommen zu konzentrieren. Hierher gehört aber auch z. B. das traditionelle, ja, neu verstärkte Mißtrauen gegen die politisch engagierten „Intellektuellen", das einst ein Mann wie Goebbels — selbst Intellektueller — mit so großem Erfolg und mit so verführerisch-einleuchtender Diktion mobilisieren konnte Ist dies nicht die Kehrseite eines gedankenlosen Mitmachens, einer gewiß natürlichen, bequemen Indifferenz und eines Tabudenkens, das wieder die kritische Funktion des Wissens versäumt? Und ist schließlich nicht auch die Strukturkrise der Universität geblieben, die schon zur Wehrlosigkeit von 1933 beigetragen hat: „die Krise aus dem Verlust der alten Universalität und aus dem Zwiespalt von Körperschaft und Staatsanstalt, von Fachschule und Bildungsanstalt" die nach der überall „versäumten Reform" verschärft fortbesteht.

Ein positives Staatsbewußtsein wird in vielen Festreden unserer Tage gefordert. Nun: Es bedarf nicht nur des freien Raums zur Entfaltung divergierender Gedanken und Meinungen, sondern es steht und fällt mit der Überwindung einer Tradition, die der Staatsräson den Vorrang vor Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit einräumt. Der freien Stimme der Geistes-und Sozialwissenschaften kommt hier eine wichtige Aufgabe der Aufklärung und Wachsamkeit zu. Aber dies beschränkt sich nicht auf die Disziplinen, die sich gleichsam ex officio mit der Gestaltung des öffentlichen Lebens beschäftigen. Am Beispiel der Mediziner, Naturwissenschaftler, Philosophen von München und der vielen anderen Träger des Widerstandes aus Intelligenz und Universität sehen wir, wie auch die anderen Zweige der Wissenschaft in Forschung und Lehre ihren Zugang und ihre existenznotwendige Beziehung zu den öffentlichen Angelegenheiten haben. Der Anspruch, zu den Gebildeten zu gehören, hat nur einen Sinn, wenn er die Verpflichtung zum Schutz und zur Verteidigung der menschlichen Bildung in einem freien Gemeinwesen einschließt. In diesem Sinn sind wir alle Wächter unserer res publica.

Das Bekenntnis zum deutschen Widerstand gegen Hitler ist ein Prüfstein dieses Staats

Bewußtseins. Seine Problematik war unvergleichbar größer als die der Resistance in anderen Ländern, weil er als Verrat diffamierter Widerstand gegen den eigenen Staat, die eigene Obrigkeit sein mußte, weil er nicht national glorifizierter Aufstand gegen fremde Bedrücker sein konnte, sondern vielmehr dem eigenen Land die militärische Niederlage wünschen mußte, um ihm die Freiheit wiederzugeben. Daraus ergeben sich freilich eine Reihe von Problemen, die aufs tiefste in das Wesen des modernen Staates rühren. Die Grenzen seiner Gehorsamsforderung gegenüber dem Bürger und die Gefährlichkeit seines Machtanspruchs werden hier besonders deutlich. Es wäre schon ein unabschätzbares Verdienst der Widerstandsbewegung, obgleich, nein, gerade weil sie scheiterte, wenn sie uns die Augen geöffnet hätte für diese Problematik und für die Verantwortung, die wir alle tragen, wenn es um das richtige Verhältnis von Freiheit gegenüber der politischen Obrigkeit geht. Gerade der Bürger in Deutschland, das mit seiner vielfach gebrochenen demokratischen Tradition noch immer besonders gefährdet erscheint, braucht ein klares Bewußtsein von den Grenzen des Staates, von der unaufhebbaren Bedeutung der menschlichen Grundrechte, von der Notwendigkeit eines Schutzes der politischen Minderheit, von der wichtigen Funktion einer politischen Opposition, also der Verwerflichkeit des Einparteienstaates, ein Bewußtsein endlich von der Unabdingbarkeit einer für alle Bürger verbindlich gesicherten rechtsstaatlichen Ordnung und Toleranz. Dafür kann das Beispiel und das Schicksal der Widerstandsbewegung Vermächtnis, Verpflichtung und Mahnung sein — ein Geschenk geradezu, wie es uns größer und auch zeitgerechter in unserer problematischen nationalen Geschichte wohl noch nie zuteil geworden ist.

Die Erforschung und Darstellung dieser Oppositionsbewegung hat gewiß den Schleier der Hitlerschen Schmähpropaganda längst zerrissen. Doch ist die Beurteilung und die persönliche Stellungnahme noch immer weithin umstritten. Erst kürzlich hat ein irreführender Abdruck der Verhörprotokolle der Gestapo weite Verbreitung gefunden, der nichts anderes als die Diffamierung des Widerstandes bezweckt. Noch immer und wieder sucht uns eine rechtsradikale Publizistik von erheblichem Ausmaß zur selbstgefälligen Apologetik zu verführen. — Aber hat nicht derselbe Hitler, der feierlich den Eid auf die Weimarer Verfas15 sung leistete, ein Drittel der verfassungsmäßig vom deutschen Volk gewählten Vertreter töten, verjagen, verhaften lassen? Konnte ein Eid auf diesen Eidbrecher heilig sein? Der unrechtmäßige und zutiefst verbrecherische Charakter der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung muß immer vor Augen bleiben, wenn man über die Berechtigung einer Widerstandsbewegung diskutiert, die schließlich bis zum Verrat und zum Mordversuch am Staatsoberhaupt fortgeschritten ist, wenn auch unter schwersten inneren Bedenken. Deshalb bleibt es aber auch geboten, daß wir uns stets des deutschen Versagens von 1933 bewußt sind; es hat sich gezeigt, daß nach einem solchen Eklat die wirksamen Oppositionsmöglichkeiten sehr gering werden. Wenn aber auch die Träger der Bildung anders schon hervortreten als den früh -den Charakter des Unrechtsstaates zu erkennen und nicht nur vereinzelt zu dieser Einsicht zu stehen bereit sind, dann gilt auch das Argument nicht mehr einfach, man sei einem solchen System eben ausgeliefert. Dann gilt vielmehr der Satz des ersten Flugblattes der »Weißen Rose": »Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es er-57) trägt!" Dies ist die Antwort auf die noch immer weitverbreiteten Einwände gegen den Widerstand, mögen sie nun aus ernsthaften Gewissensskrupeln oder aus schwer überwindbaren Ressentiments stammen, oder auch einfach aus Bequemlichkeit — denn immer wieder scheint Gehorchenkönnen und Sichberufen auf einen Befehl bequemer als freie, verantwortliche und zugleich gefährdende Entscheidung aus dem Gewissen. In der Gedenkrede, mit der Karl Vossler 1946 die Ehrentafel in der Münchener Universität eingeweiht hat, ist gesagt worden, was dies für Wissenschaft und Universität bedeutet: „Vergessen wir es nicht! Freiheit und Echtheit der Wissenschaft ist keine Einrichtung und kein Vorrecht, das man ererbt oder durch die heute so vielbegehrte Immatrikulation erwirbt und das sich etwa durch den Opfertod heldenmütiger Märtyrer für die Zukunft sichern läßt. Niemals! Wir selbst müssen, jeder, mit persönlichem Einsatz, jedesmal neu diese Freiheit erkämpfen, hüten und verteidigen. Dazu soll der Gedanke, wie unsere sieben Kameraden hier ihre Feuerprobe bestanden haben, uns immer ermutigen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Inge Scholl, Die weiße Rose, Frankfurt/M. 1955, S. 151 ff.

  2. Clara Huber (Hrsg.), Kurt Huber zum Gedächtnis, Regensburg 1947, S. 30; vgl. auch Walter A.

  3. Wiedergabe des Urteils gegen die süddeutsche Gruppe bei Huber, a a O., S 32 ft ; vgl ferner Günther Weissenborn (Hrsg ), Der lautlose Aufstand, Hamburg 1953, S 94 ff., S 267 ff (mit der Begründung Freislers); K H Jahnke (Hrsg ), Niemals vergessen, Berlin 1959, S. 196 ff., S. 214 ff. Zusammenfassend Der 18 Februar, Umriß einer deutschen Widerstandsbewegung, in; Die Gegenwart 1, Nr 20/2 (2U 30 Okt 1946). S 9 ff; Hans Rothfels, die deutsche Opposition gegen Hitler, Frankfurt/M., 1958, S. 16 f., 38 ff., 131 ff., 179 ff.

  4. Scholl, a a O., S 104 ff.

  5. Die Gegenwart, a. a. O., S. 13.

  6. Huber, a. a. O., S. 20 f.

  7. Bekenntnis und Verpflichtung, Stuttgart 1955, S. 21

  8. Scholl, a a. O., S 149 f.

  9. Vgl K D Bracher, Anfänge der deutschen Widerstandsbewegung, in: Festschrift für H Herzfeld, Berlin 1958, S 375 ff

  10. Am ausführlichsten bei Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954; vgl. auch K. D. Bracher, La tragedie du 20 juillet 1944, in: Revue d’histoire de la deuxime guerre mondiale 9, 36 (1959), S. 45 ff.; ferner die umfassende Bibliographie von G. Stadtmüller, in: Die Vollmacht des Gewissens, Neuaufl. München 1962.

  11. The Rise and Fall of the Third Reich, New York 1960, deutsch Köln 1961. Aus der umfangreichen Literatur sei hervorgehoben: Hans Kohn, The Mind of Germany, deutsch Düsseldorf 1962.

  12. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946, S. 28.

  13. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München-Leipzig 1928, S. 3.

  14. Vgl. F. W Foerster in: E. J. Gumbel, Freie Wissenschaft, Straßburg 1938, S 85 ff.

  15. Dazu Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Stuttgart 1959

  16. So Freyers gleichnamige Schrift von 1931.

  17. Vgl. Wolfgang Zorn, Die politische Entwicklung des deutschen Studententums, in: Festschrift für U. Noack, Göttingen 1961, S. 296 ff; K. D. Bracher. Die Auflösung der Weimarer Republik, 3. Ausl. 1960, S. 146 ff. Größere Einzeluntersuchungen sind im Gang.

  18. Dazu vorläufig K. D. Bracher, W. Sauer, G. Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, 2. Ausl. Köln-Opladen 1962, S. 317 ff., S. 565 ff. mit der Literatur.

  19. E. R. Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, 1932; dazu auch Eugen Kogon, Die deutsche Revolution, in: Frankfurter Hefte 1/4, S. 17 ff.

  20. So jetzt K. Epstein, Germans against Hitler, in: Modern Age, Winter 1962/63, S. 87 ff.

  21. K. D. Erdmann, Die Zeit der Weltkriege (in B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte IV), Stuttgart 1959, S. 212.

  22. Gumbel, a. a. O., S. 248 ff.; vgl. die Dokumentation bei L. Poliakov, J. Wulf, Das Dritte Reich und seine Denker, Berlin 1959; Edward Y. Hartshorne, The German Universities and National Socialism, Cambridge (Mass.) 1937.

  23. Darüber Rothfels, a. a. O., S. 42 ff.; vgl. Rudolf Pechei, Zwischen den Zeilen, Aufsätze 1932— 1942, 1949; Deutscher Widerstand, Erlenbach-Zürich 1947, S. 284 ff. Zur allgemeinen Problematik auch die Erfahrungsberichte des Kunsthistorikers A. E. Brinckmann, Geist im Wandel, Hamburg 1946.

  24. Vgl. Weissenborn, a. a. O., S. 94.

  25. Scholl, a. a. O., S. 119.

  26. Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Breslau 1934, S. 22 ff.; Hans Freyer, Das politische Semester, Ein Vorschlag zur Universitätsreform, Jena 1933, S. 33; weitere Zeugnisse und Literatur bei Poliakov-Wulf, a. a. O., sowie Bracher, Machtergreifung, a. a. O., S. 261 ff.

  27. Huber, a. a. O., S. 25 ff. (nach Hubers Notizen im Gefängnis).

  28. Scholl, a. a. O., S. 134 ff.

  29. a. a. O., S. 145.

  30. Huber, a. a. O., S. 26.

  31. Vor allem auch in der internationalen Volksliedforschung, zeitweilig in enger Zusammenarbeit mit Carl Orff; vgl. auch dessen Erinnerung in: Huber, a. a. O., S. 166 ff. sowie die Darstellungen a. a. O., S. 44 ff., 65 ff., 87 ff., 98 ff., 112 ff.

  32. a. a. O., S. 15.

  33. a. a. O., S. 16.

  34. Scholl, a. a. O., S. 65 f.

  35. a. a. O., S. 151 ff.

  36. Es handelte sich um die hündisch-oppositionelle „Jungenschaft": vgl, die zahlreichen Zeugnisse und den Versuch einer historisch-politischen Einordnung bei Arno Klönne, Gegen den Strom, Bericht über den Jugendwiderstand im Dritten Reich, Hannover (1957), S. 47 ff.; ferner die (ungedr.) Diss. von Michael Jovy, Jugendbewegung und Nationalsozialismus, Köln 1952, und für einen Teilbereich Manfred Priepke, Die evangelische Jugend im Dritten Reich 1933— 1936, Hannover 1960, S. 126 ff.

  37. Scholl, a. a. O., S. 32 ff.

  38. Auch Graf war bereits 1938 als 17jähriger Student der Universität Bonn einmal verhaftet worden: vgl. Ricarda Huch, Willi Graf, in: Die Wandlung 3/1 (Jan. 1948), abgedr. in: Willi Graf, Gedenkblätter zum 15. Jahrestag seiner Hinrichtung (hrsg. Landeszentrale für Heimatdienst Saarbrücken 1958), S. 8; Klönne, a. a. O., S. 68, 178.

  39. Scholl, a. a. O., S. 120 ff.

  40. Fabian von Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, Zürich 1946, S. 133.

  41. Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften Hrsg. Eberhard Bethge, Bd. I, München 1958, S. 395; vgl. auch Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), S. 364 ff.

  42. Scholl, a. a. aO.

  43. a. a. O., S. 54 ff.

  44. a. a. O., S. 93 ff.

  45. Huber, a. a. O., S. 25 f.

  46. Die Gegenwart, a. a. O., S. 13.

  47. Karl Vossler, Gedenkrede für die Opfer an der Universität München, München 1947, S. 14.

  48. Scholl, a. a. O., S. 148 f.

  49. Huber, a. a. O., S. 27.

  50. Scholl, a. a. O., S. 154.

  51. Dazu besonders aufschlußreich: Habermas, Friedeburg, Oehler, Weitz, Student und Politik, Neuwied 1961 (am Beispiel einer Befragung von Studenten der Universität Frankfurt/M.).

  52. So Karl Buchheim, Leidensgeschichte des zivilen Geistes — oder die Demokratie in Deutschland, München 1951.

  53. Huber, a. a. O , S. 27.

  54. Vgl. Goebbels'Rede vor der Universität Heidelberg (13. 7. 1936): „. . . nur wer aufbauend verantwortlich mitarbeitet, [hat] ein Recht zur Diskussion und Kritik" (nach Brinckmann, a. a. O., S. 127 f.).

  55. So schon Frankfurter Hefte 1/1 (April 1946), S. 8; vgl. aus der uferlosen Literatur neuestens Ralf Dahrendorf, Starre und Offenheit der deutschen Universität: die Chancen der Reform, in: Europäisches Archiv für Soziologie 3 (1962), S. 263 ff.

  56. O. H. v. d. Gablentz, Die versäumte Reform, Köln-Opladen 1960, S. 14 ff.; 98 ff. u. a.

  57. Vgl. Walter Hammer, Hohes Haus in Henkers Hand, Frankfurt/M. 1956.

  58. Vossler, a. a. O., S. 20 f.

  59. Scholl, a. a. O., S. 119.

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