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Krisen des Atomzeitalters | APuZ 27/1963 | bpb.de

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APuZ 27/1963 Krisen des Atomzeitalters Artikel 1

Krisen des Atomzeitalters

Ludwig Freund

Naturwissenschaft— Technik — Entfremdung Der Gegenwartsanalyse kann nur in nüchterner Betrachtung und nicht mit den heute in der deutschen Geisteswissenschaft vielfach beliebt gewordenen äußerst abstrakten und kaum begründbaren Formulierungen gedient werden. Völlig unbegründbar, doch manchen Leser mitreißend ist zum Beispiel die forsche Behauptung, daß die Gegenwart an Tiefe und Bedeutung „vielleicht nur mit der Begründung des Staates oder gar dem Engpaß des Neolithikums zu vergleichen ist", daß wir „heute von Bismarck . . . weiter entfernt sind als dieser von Karl dem Großen, von Cäsar, ja von den Pharaonen" 1). Solche Feststellungen sind nichtssagend, nicht nur weil sie aus der heutigen Sicht unbegründbar sind, sondern weil sie den Geschichtsprozeß bagatellisieren.

Die Gegenwart des Menschen ist rational verfolgbar und begreifbar aus der Vergangenheit emporgestiegen. Die Probleme des menschlichen Daseins haben sich im Laufe der Zeit vervielfältigt. Die geistigen, technischen, wirtschaftlichen und politischen Probleme haben sich schließlich in beängstigenden Maßen und in ständig wachsendem Tempo ausgedehnt, verdichtet und intensiviert. Es ist daher schwierig geworden für den einzelnen, sie allesamt zu übersehen oder gar nur zu rubrizieren. Trotzdem stieg jede einzelne Neuerung aus der festen Kultur-und Geschichtsbasis mittelbar wie unmittelbar vorhergegangener Ereignisse, Leistungen und Fehlleistungen hervor, und Bismarcks Reich wie Bismarcks Kriege und Diplomatie sind durchaus klar erkenntlich als Beiträge und Stufen zu unserer gegenwärtigen Problemlage, besonders wenn man das Versagen der auf ihn folgenden, auf seinem Werk basierenden Epoche berücksichtigt.

Noch deutlicher wird die unmittelbare Verbindung unserer heutigen, problemgeladenen Situation mit ganz bestimmten Phasen der Mit freundlicher Genehmigung des Gütersloher Verlagshauses Gerd Mohn werden in dieser Ausgabe

die ersten drei Kapitel aus dem in Kürze erscheinenden Werk „Freiheit und Unfreiheit im Atomzeitalter“ als Vorabdruck veröffentlicht.

Geschichte der letzten Jahrhunderte durch den nüchtern rückwärts gerichteten Blick auf die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik und deren wachsende Macht über die menschliche Gesellschaft. Der Geist der sogenannten Moderne ist vornehmlich von der Wissenschaft geprägt. Genauer müßte man sagen, er ist von der Naturwissenschaft und der von ihr erzeugten Technik bestimmt. Das Studium der Natur ist so alt wie der Mensch, wenn man will, und die Naturwissenschaft geht bis auf die Griechen zurück. Aber erst mit Kopernikus, Brahe, Kepler und Galilei begann die systematische Naturwissenschaft im Abendland, obgleich sie zuvor schon als experimentelle und Erfahrungswissenschaft bei den Arabern eingebürgert war, deren Verdienste als Übersetzer, Vermittler und Fortbildner antiken Wissensgutes nicht immer genügend gewürdigt werden Kopernikus und Kepler betrachteten das Sonnensystem, Him-mel und Erde mit den Mitteln mathematischer Formeln. Gleichzeitig standen sie jedoch dem christlichen Mittelalter noch nahe, denn sie wollten nicht nur die Erfassung von Tatsachen und Gesetzen nach dem Muster arabischer Wissenschaft, sondern suchten in beinahe mystischer Verzückung Regeln der Schönheit und Harmonie für ihr astronomisches Weltbild. Beide also erforschten die Gesetze des Weltraums sowohl in wissenschaftlicher als auch religiöser Absicht. Keplers mystische Naturphilosophie führt bis auf die Pythagoreer und auf Plato zurück, aber sein berühmtes zweites Gesetz planetarischer Bewegungen ist rein mathematisch begründet und damit sehr modern.

Der eigentliche Einschnitt erfolgte mit Galilei. Er gilt als der erste wirklich moderne Naturwissenschaftler. Das Kopernikanische astronomische Weltbild prüft und bestätigt er durch die Zuhilfenahme eines roh gefertigten Fernrohrs, mit dem er die Trabanten des Jupiter entdeckt und beobachtet. Er wirft Gegenstände verschiedenen Gewichts vom schiefen Turm zu Pisa, um ihre Fallgeschwindigkeiten zu mes-sen. In der Kirche beobachtet er das Schwingen eines Leuchters und entdeckt daraufhin das Pendelgesetz, und er wird zum Schöpfer der modernen Kinematik, indem er Bälle auf einer schiefen Ebene rollen läßt. Sehr modern mutet auch die Tatsache seiner Einkerkerung an als Resultat seiner Propagierung wissenschaftlicher Entdeckungen, welche der damaligen, Politik und Geist beherrschenden diktatorischen Macht nicht behagten.

Mit Galilei endet die Verbindung der Physik mit vorgegebenen philosophischen oder religiösen Grundsätzen. Es beginnt das Zeitalter des l'art pour l’art, der Forschung um der Sache willen, und der völligen Spezialisierung der Wissenschaft. Beobachtung, Experiment und strenge mathematische Berechnung traten erst jetzt mit Nachdruck an die Stelle von Spekulation und mystischem Vorurteil oder kirchlichem Dogma.

Was dem einen als wissenschaftlicher Fortschritt begrüßenswert erscheint, ist dem anderen ein Zeichen von Auflösung. Galileis Natur-begriff enthielt den Keim zur materialistischen Welterklärung, zur wissenschaftlichen Selbst-genügsamkeit unter Ablehnung „höherer" Integrationsprinzipien, die dem Leben und Glauben unentbehrlich sind. Die Natur stellte sich ihm als ein in sich geschlossenes System dar, das vom göttlichen und menschlichen Geist unabhängig existiert. Der Kosmos genügt sich selber, das Sonnensystem und die Planeten bedürfen keiner Hilfe von irgendwoher, um sich nach eigenen Gesetzen zu bewegen. Schon bei Galilei wird — man ist versucht zu sagen — der schizoide Charakter der Naturwissenschaft offenbar, der für uns in der Gegenwart geradezu dämonische Qualitäten enthüllt: Möglichst weitreichende Prinzipien der Sachlichkeit, Wertfreiheit, ja, sagen wir getrost die Anerkennung „des überindividuellen oder reinen Ichs", welches das individuelle Ich, dessen Vorurteile, Eigenarten und Besonderheiten ausklammert, soweit und solange der menschliche Geist sich der wissenschaftlichen Erforschung des Objekts widmet, — sie sind die Voraussetzungen für jegliche erfolgreiche wissenschaftliche Betätigung. Aber wenn diese rein auf Sacherkenntnis und Verstand gründende Askese, diese so geforderte und verwirklichte wert-und glaubensneutrale Haltung zur Herrschaft über die menschliche Gesellschaft gelangen, dann stehen schließlich Mensch und Leben vor der Gefahr der seelischen und moralischen Selbstauslösung. Das der wissenschaftlichen Sachlichkeit hingegebene „überindividuelle Ich" ist eben doch nicht das dem Leben genügende, es ausfüllende, das ganze Ich. Die Wissenschaftsgeschichte der letzten drei Jahrhunderte mit ihrem einzigartigen Katalog großartigen Aufstiegs wird in ihrer Verknüpfung mit dem unvergleichlichen, unaufhaltsamen Siegeszug der Technik, der fortschreitenden Unterwerfung des Lebens unter Gesetze und Regeln, die von der Naturwissenschaft und Technik weitgehend bestimmt und bedingt sind, zu einer Mischung von Segen und Fluch. Der Segen erweist sich im wachsenden Wohlstand, im steigenden Komfort, im höheren Lebensniveau zugunsten von immer mehr Menschen in den von der wissenschaftlichen Zivilisation primär befruchteten Gebieten. In diesem Segen liegt schon der Fluch. Es ist nicht nur der Fluch, der in unserer Zeit auf den naturwissenschaftlichen Entdeckungen der atomaren Kernspaltung und -Verschmelzung, der nuklearen Fission und Fusion, ihren militärischen Nutzanwendungen liegt, er begann schon im Galilei und reicht möglicherweise noch viel weiter zurück.

Die seelische oder geistige Verarmung des Menschen, das, was man mit einer viel zu geläufig gewordenen, sehr vieldeutig verwendeten und daher vagen Vokabel „Entfremdung" nennt, beginnt nicht erst mit der Reformation, wie katholische Publizisten meinen, auch nicht mit der modernen Naturwissenschaft, Industrialisierung und Technik, wie einige protestantische Theologen oder, aus anderem Blickfeld, Philosophen und Soziologen seit Hegel es aufgefaßt haben, und schließlich ist sie nicht erst, wie Karl Marx meinte, ein Erzeugnis des bürgerlichen Zeitalters mit seiner besonderen Eigentumsgestaltung, seiner Profitsucht und seinen Ausbeutungen. Ein gewisser beträchtlicher Wahrheitsgehalt liegt allen diesen Aussagen zugrunde. Im Wesentlichen sind es dennoch Teilwahrheiten. In Vorwegnahme späterer Gedankengänge sei kurz angedeutet, daß jegliche einseitige Entwicklung oder Verhinderung menschlicher Qualitäten und Potentialitäten eine innere Verarmung, also Selbstentfremdung des Menschen in einem besonderen Sinne darstellt. Die Knebelung freier Geistes-tätigkeit vor der Reformation, manchmal fortgesetzt in und nach der Reformation, bedeutet diesem Verfasser eine Art von diktierter „Entfremdung" im strengen Sinne des Wortes. Sie mußte Widerstand herausfordern und hat ihn herausgefordert. Die reine Betonung der Verstandesfakultäten in einer wissenschaftlichen Kultur andererseits, die ihre einseitigen Kräfte ganz besonders im Aufklärungs-und im positivistischen Zeitalter zum Schaden und in bewußter Verdrängung der den Menschen angeborenen Glaubens-und Lebensmöglichkeiten entwickeln wollte, hat sich ebenfalls im Endeffekt als ein der menschlichen Selbst-zerstörung nahekommender Beitrag zur Verarmung und Entfremdung des Menschen von sich selbst herausgestellt, wobei man nicht übersehen möge, daß diese vielgepriesene Verstandeskultur des Aufklärungszeitalters und des Positivismus großen Auftrieb empfing durch den bereits damals deutlich gewordenen, äußeren Triumphzug der Naturwissenschaften. Der über die Aufklärungszeit und den Positivismus nicht hinausgelangte britische Zoologe Julian Huxley, der sich mit Vorliebe mit Themen der Sozialwissenschaft und der Geschichtsprognose befaßt, repräsentieft heute in seiner Person den Prototyp dieses durch die reine Verstandeszüchtung dem Wesen des Menschen entfremdeten Wissenschaftlers. Neben nebulösen Plänen über einen Zukunftsmenschen und zu errichtenden Weltstaat ist eine seiner Lieblingsideen die baldige Ablösung aller Religionsformen durch die Wissenschaft. „Alle Religionen werden und müssen verschwinden, um für eine bessere Denkordnung in der Menschheit Platz zu machen", sagte er 1959 in einer von 2000 Naturwissenschaftlern aus allen Ländern besuchten Festveranstaltung der Universität von Chicago. Die Einseitigkeiten und Überspitzungen scheinen zum Wesen des Menschen und fast allen Geschichtsstadien zu gehören.

Die Hybris des wissenschaftlichen Verstandes erreichte aber keineswegs ihren Höhepunkt in der Aufklärung und der ihr folgenden positivistischen Epoche. Karl Marx nahm sein Stichwort von diesen beiden, indem er den gesamten Geschichtsverlauf einschließlich einer dogmatischen und paradox metaphysischen Geschichtsprophetie mit weit größerer Selbstsicherheit als der nicht gerade undogmatische Hegel „wissenschaftlich", doch höchst einseitig und ungenau interpretierte, darauf seinen dialektischen Materialismus als soziologische „Wissenschaft" begründend, eine fatale Geistestat, deren verhängnisvolle Nachwirkungen noch gar nicht abzuschätzen sind. Die Quittung dieser letzteren Entwicklung ist einstweilen sichtbar präsentiert in Gestalt der die Seelen versklavenden und „entfremdenden", den Menschen innerlich wie äußerlich ausbeutenden „Wissenschaftsgläubigkeit" der kommunistischen Pseudoreligion.

Auch dies ist nur ein Teilaspekt des Fluches. Die durch die Wissenschaft erst ermöglichte Erschließung von expansivem Reichtum, von quantitativ geradezu überquellenden Formen von stets neuen Nützlichkeiten, Genüssen und Bequemlichkeiten, das heißt die beständig wachsende Flut von Entdeckungen, Erfindungen, welche dem Leben zugute kommen, ist kein eindeutiger Gewinn. Denn der Besitz dieser Güter erzeugt den Neid, die Mißgunst, das gefährliche Ressentiment bei Klassen und Völkern, die des Besitzes ansichtig werden, von seinem Genuß jedoch weitgehend ausgeschlossen sind. Zu diesen sogenannten „Luxusgütern" der Zivilisation gehören aber auch solche dem abendländischen Menschen schließlich unabdingbar gewordenen Errungenschaften wie Schutz gegen Krankheiten, gegen Alterselend, Invalidität und Arbeitslosen-schicksal. Es ist eine typisch menschliche Eigenschaft, daß die „Armut" erst bewußt wird, wenn sie einen Vergleichsmaßstab erwirbt, mit dem sie ihren eigenen Abstand von Reichtum, Luxus und Genuß unmittelbar ermessen kann. Der Marxismus ist insofern tatsächlich eine fast normale Begleiterscheinung der technisch-industriellen Revolution. Die „enterbte" oder sich enterbt fühlende Klasse des großstädtischen Proletariats ergriff eine ihr im Grunde schwer verständliche Ideologie, von der sie allerdings soviel begriff, daß die ihr anschaulich gegenüberbefindliche, besitzende Schicht ihr „Feind" sei und daß jener ihr durch unmittelbare Anschauung und zusätzliche Agitation bewußt gewordene Abstand zur eigenen Lage, die Unerreichbarkeit der ihr ansichtig gewordenen Lebens-und Luxusgüter, durch gleichmacherische Maßnahmen oder durch Enteignung der Besitzenden ausgelöscht werden müssen.

Dabei ist zu bedenken, daß die Ausbeutung der Arbeitskraft im Entwicklungsstadium der industriellen Epoche überall grausame Wirklichkeit war, aber auch, daß im Zeichen des westlichen Wohlfahrtsstaates von der Un-erreichbarkeit von Lebens-, ja Luxusgütern für den Arbeiterstand, wenigstens in zivilisierten Ländern und in Zeiten der Prosperität, jetzt keine Rede mehr sein kann. Der revolutionäre Elan ist damit gebrochen, seine mögliche Wiederkehr in Zeiten wirtschaftlicher Depression aber gebietet den westlichen Staaten Maßnahmen zur dauernden Ausschaltung dieser gefahrvollen Möglichkeit durch überstaatliche Kooperation, deren tieferer Sinn bei weitem noch nicht von allen Staatslenkern des Westens erfaßt ist. Denn es ist ein wirtschaftlicher Truismus geworden, daß kein industriell entwickeltes und relativ freies Staatswesen, innerhalb seiner Grenzen und auf sich alleine gestellt, die Gesetzmäßigkeiten des wirtschaftlichen Konjunkturablaufs souverän regulieren kann. Wechselseitige Kooperation, das heißt das Gesetz der Interdependenz, ist schon aus diesem Grunde unumgänglich geworden.

Unverhältnismäßig gefahrvoll wirkt daneben noch die Erscheinung, daß den berufsmäßigen Arbeiterführern und -funktionären der Klassenneid oft als sozial wirksames Instrument zur Aufstellung immer neuer Forderungen zur Befriedigung von Luxusbedürfnissen der Arbeiterschaft dient, ohne daß diesen Mehr-forderungen notwendig ein adäquates Maß von Verantwortung am Arbeitsprodukt entspricht.

Im Zeitalter der modernen Nachrichtentechnik und des Liberalismus, in dem Rundfunk, Fernsehen, Pressedienste und Lehren des nationalen Selbstbestimmungsrechts und der demokratischen Gleichheit bis in die Dörfer und Stämme primitiver, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell zurückgebliebener Rassen eindringen und ihnen den Abstand vom Luxus „besitzender Völker" verdeutlichen, regt sich auch hier der revolutionäre Wille, der im tiefsten Grunde nie Gleichheit will, sondern Ablösung, Rache, Vorherrschaft. Die Genügsamkeit mit dem „subsistence level", mit der Existenz unter Bedingungen primitiver Kultur oder der Armut oder — manchmal — lediglich der Entbehrung von „Luxusartikeln", wie nur die durch europäische und amerikanische technische Wissenschaft vermittelten Kenntnisse diese bisher erzeugen konnten — diese Genügsamkeit ist fast überall dahin, und die Welt ist erfaßt von einem Ferment der Unruhe, deren Ausmaß und Endwirkungen nicht abzusehen sind. Die zeitliche Verquikkung mit politischen Ideologien, wie sie vom Nationalismus, aber auch von den kommunistischen Parolen ihre. Grundtöne empfangen, ist ein unendlich erschwerendes Moment, wenn man überlegt, daß hier Völker in Bewegung geraten sind, die noch keine geistig-kulturell oder gar wissenschaftlich hinreichend gereifte Führungsschicht und keinen genügenden Grad von politischer Selbstverantwortung entweder in der Masse der Bevölkerung oder in einer breiten Führungsschicht entwickelt haben, um dem rasanten Tempo wissenschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher und politischer Aufgaben gewachsen zu sein. Trotzdem sind ihnen diese Aufgaben durch die von ihnen leidenschaftlich gewollte, aber in der eigenen Verpflichtung sehr unzureichend begriffene Entwicklung unausweichlich auferlegt.

Die sie ermutigenden, das Abendland gleichzeitig anklagenden und es zu oftmals blinden Anstrengungen der Entwicklungshilfe anspornenden Moralpredigten gewisser westlicher Sozialwissenschaftler erfolgen unbekümmert im Geiste und Stile des unentwegt an die „Vernunft“ appellierenden Aufklärungszeitalters und sind vom Verständnis der wahren Triebkräfte unseres Jahrhunderts so weit entfernt, wie eben das ganze 18. Jahrhundert mit seinen gescheiterten Vernunftparolen von ihm entfernt ist. Der außerhalb jeder vernünftigen Selbstbesinnung sich abspielende Rivalitätsstreit der einander bekämpfenden politischen Ideologien und Systeme treibt eine Entwicklung in rückständigen Ländern voran, deren Endergebnis von den konkurrierenden Machtblöcken nicht erwogen wird.

Diese schwerwiegenden, aus der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft zum großen Teil direkt ableitbaren geistigen und politischen Probleme werden im einzelnen und an ihrem eigenen Ort jeweils auseinandergesetzt werden. Der von der Naturwissenschaft bestimmte Geist der Moderne beginnt — wie gesagt — mit Galilei und seiner Theorie der Mechanik. Die systematische Wissenschaft der Physik wurde dann von Newton begründet, der knapp ein Jahr nach Galileis Tod zur Welt kam. Der prinzipielle Unterschied zwischen diesen beiden modernen Geistern auf der einen, Kopernikus und Kepler auf der anderen Seite ist auffällig. Kopernikus und Kepler waren immer noch von den theologischen Vorbildern bestimmt. Die Mathematik diente ihnen als Hilfsmittel zur Verteidigung und Kräftigung ihrer mystischen Sehnsüchte. Galilei und Newton hatten sich davon gelöst und benutzten die Mathematik als rein wissenschaftliche Grundlegung ihrer Mechanik. Mechanik — das hieß für sie ein kausal erklärbares Weltbild. Ihre zentralen Begriffe waren die der Materie und der Bewegung, die Bewegung ist aufzufassen als eine ursprüngliche und wesentliche Bestimmtheit der Körper. Die Elektrizität war ihnen zwar noch kein Begriff, aber die von ihnen begründete „klassische Mechanik" dauerte rund zwei Jahrhunderte, wenn man die Zeitspanne von Newtons „Principia mathematica" vom Jahre 1687 bis zu Ernst Machs „Die Mechanik in ihrer Entwicklung" vom Jahre 1883 rechnet, mit welcher der allmähliche Übergang zur Relativitätstheorie anhebt.

Newtons „Principia“ bedeuteten für die Moderne etwa, was die Philosophie des Aristoteles für die Antike, die Theologie des Thomas von Aquin für das Mittelalter gewesen sind. Die auf exaktes Wissen und die Kausalerklärung gründende „klassische Physik" und die durch sie gekennzeichnete „moderne Epoche" haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Zenit überschritten. Man spricht jetzt vielerorts von der unsrigen als einer „post-modernen“ Epoche. Das klassische oder „orthodoxe" System der Naturwissenschaft hat viele entscheidende Probleme mit den Mitteln der Mechanik gelöst, aber aus seinem Schoße entsprangen neue Probleme prinzipiell anderer Art, Probleme der Naturwissenschaft, die mit den Methoden der Mechanik nicht mehr zu bewältigen waren, und Probleme des gesellschaftlich-menschlichen Daseins, welche den von Galilei als „sekundär" bezeichneten Gegensatz zwischen Mensch und Sache, Schicksal und Forschung bis zur Grenze eines sichtbar gewordenen Verhängnisses weiteten.

Die Modernität begann mit der gedanklichen Isolierung des Menschen von seiner Welt. Vor dem Eintritt der klassischen Mechanik und Physik fühlte sich der Mensch der Erde verbunden und dem Himmel nahe. Sonne, Mond und Sterne erschienen ihm als ihm selbst verwandt. Mit Franz von Assisi betrachtete er vielleicht die Sonne als seinen Bruder und den Mond als seine Schwester. Die moderne Astronomie, die Newtonschen Gesetze der Himmelsmechanik zerstörten diese mythische Verbundenheit. Der Kosmos war größer und auch wesentlich anders, als man ihn sich vorgestellt hatte. In der Tat schien er nun von Gesetzen beherrscht, die denen einer großen Maschine nicht unähnlich waren.

Die darüber hinausgreifende, sinnvolle Wiedereinordnung des Lebens und des Menschen ins All kann keine Wissenschaft von sich aus leisten, wiewohl die Geisteswissenschaft den Schmerz der Trennung und Gegenüberstellung von Mensch und Welt empfand und die Separierung zu überwinden suchte. Sie tat es unvollkommen mit der Vernunftanbetung und naiven Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärer, den „Postulaten der praktischen Vernunft“ Kants, seiner teleologischen Naturbetrachtung und mit der Idee vom „absoluten Geist" Hegels. Am realistischsten unter diesen war Kant mit seiner fast „post-modern“ anmutenden Idee, daß man bei der Betrachtung des Lebens nicht ohne die Reflexion auf den „Zweck" und also nicht ohne teleologische, metaphysische Fragestellungen auskommen könne. Das Ideal der Wissenschaft bleibe zwar die Kausalerklärung im Rahmen des Erfahrbaren. Man brauche aber den teleologischen Ausblick als eine sinnvolle „regulative Idee“. In der Natur seien vermutlich „geheime Kräfte" angelegt, die ihr gestatten, „sich aus dem Chaos von selber zu einer vollkommenen Weltverfassung auszubilden" Daher habe die „sich selbst durch die Mechanik ihrer Kräfte bestimmende Materie ... eine gewisse Richtigkeit in ihren Folgen"

Die eigentliche Einordnung des Menschen in die kosmische Ordnung, die Wiederherstellung eines Zusammenhangs, den die mechanistische Weltbetrachtung zerstört hatte, ist nur möglich auf dem Wege der Religion oder einer tief wurzelnden Moral mit den Akzenten der Demut vor dem der Wissenschaft unzugänglichen Mysterium oder der vom modernen Snobismus und von exzentrischer Ich-betonung befreiten Kunst. Nur auf einer höheren Ebene der Wissenschaftlichkeit kann die Wissenschaft zur Respektierung und Tolerierung dieser anderen Wege zur Wahrheit gelangen, die ihren eigenen, in der Moderne überspannten Wahrheitsanspruch zugleich eindämmen und ergänzen. Aber auch nur auf einer höheren Ebene der Verantwortung und Reife können Religion, Moral und Kunst ihren Anspruch der Ergänzung der Wissenschaft aufrechterhalten. Sie können es nur, wenn sie erstens die wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse nicht mit den Mitteln der Halb-oder Pseudowissenschaft bekämpfen, sondern diese Erkenntnisse respektieren, ja in ihre Welt-und Lebensauffassung mit einbeziehen. Zweitens können sie ihren Anspruch nur verteidigen, wenn sie selbst Ehrfurcht vor dem Leben bekunden und diese Ehrfurcht nicht bloß als Schein und Vorwand benutzen.

Auf eine diesen geistigen Befund erkennende Weise formuliert Carl Friedrich von Weizsäcker: „In einem erweiterten, säkularisierten Sinne des Wortes möchte ich sagen, daß zwar nicht die Wissenschaft selbst, aber die Rolle, die die Wissenschaft in den Geistern der Menschen ringsum heute spielt, nur verglichen werden kann mit der Rolle, die einst die Religion gespielt hat und die an manchen Stellen die Religion heute noch spielt ... Andrerseits ist die Wissenschaft in einem strengeren Sinne des Wortes überhaupt keine Religion und kann nie eine Religion werden ... Ich meine nicht etwa, daß der Mensch ohne Religion zu leben vermöge; ich meine aber, daß die Wis3) senschaft dieses Vakuum, das der Fortfall der Religion erzeugt, nicht wirklich auszufüllen vermag." Dieser letztere, nicht mißzuverstehende Sachverhalt hat meiner Ansicht nach drei Hauptgründe.

Zunächst einmal ist die Spezialisierung in den Naturwissenschaften und insbesondere in der Physik so groß geworden, daß „Forschungsarbeit nicht mehr von einzelnen Personen, sondern von Teams betrieben wird" Die den einzelnen Wissenschaftlern möglichen und zugänglichen Erkenntnisse und Kenntnisse verengen sich mehr und mehr zu Spezialitäten innerhalb einer Spezialität in einem Fachgebiet. „Die Physik hat sich so ausgedehnt, daß niemand das Ganze mehr übersehen kann." Born zitiert als Beispiel ein im Erscheinen begriffenes Handbuch der Physik, das 54 Bände umfaßt und von dessen gewaltiger, täglich sich vermehrender Stoffmasse jeweils nur ein kleiner Teil dem Fachmann bekannt sein kann. Die Summe dessen, was gefunden wird, „steigt ins Unermeßliche", während das, was der einzelne übersieht und weiß, beständig schrumpft als Teilgebiet eines dauernd sich ausdehnenden Gesamtwissens. Die so revolutionierte Wissenschaft erlaubt keinen leichten Durchbruch zu einer Gesamtschau, zu einem grandiosen, in sich geschlossenen, harmonischen Weltbild, wie es der Religion eigentümlich ist. Es ist nur folgerichtig, daß die kommunistische Ideologie mit ihrer Pseudoreligion des dialektischen Materialismus, welche die hergebrachten Religionsformen durch eine neue, an Wissenschaft und Technik gefesselte Gläubigkeit ersetzen zu können vermeinte, sich in Kampfstellung befindet gegen die durch die Relativitätstheorie und Quantentheorie heraufgeführte Gefährdung ihres vereinfachten Schemas der Welterklärung Es ist aber bemerkenswert, daß die Physiker der Sowjetunion ihre für technische, militärische und wirtschaftliche Entwicklungen unentbehrliche Schlüsselposition zu zähem, oftmals raffiniertem Widerstand ge-gen die Ideologisierung ihres Gebietes ausnutzen

Beim letzteren Vorgang also handelt es sich nicht mehr um die Ersetzung der Religion durch ein wissenschaftliches Weltbild, sondern um die Befreiung der Wissenschaft von der Vormundschaft eines als Religionsersatz fungierenden politischen Dogmas mit einem zu engen Begriff der „modernen" Wissenschaftsgläubigkeit, der in die „post-moderne" Wissenschaft nicht paßt und dessen Verteidigung die politischen Machthaber Rußlands aus Staatsräson an den entscheidenden Wissenschaftsfronten nicht mehr durchgehend und konsequent aufrechterhalten können. Die Sowjetphilosophen als die theoretischen Verfechter eines dialektischen Materialismus, der auf den von Engels konzipierten Wissenschaftstheorien des 19. Jahrhunderts ruht, versuchen daher oft krampfhaft und durch Verallgemeinerungen und Abstraktionen den Theorien und praktischen Resultaten der echten Wissenschaftler eine ihrem überlebten Weltbild entsprechende Deutung zu geben.

Dies wiederum hat bedeutende Proteste der Wissenschaftler zur Folge gehabt Der Kampf zwischen ideologischen Doktrinären und echten Wissenschaftlern ist noch nicht abgeschlossen, da beide Seiten dieser Kontroverse ihre mächtigen Beschützer in den allgewaltigen Parteigremien zu haben scheinen

Dennoch zeigt sich gerade am sowjetischen Beispiel die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, einer zunehmend in kleine und kleinste Teilgebiete sich spaltenden, esoterischen Wissenschaft die Rolle der dem Volksganzen einleuchtenden Religion zuzudiktieren. Der Zwist und der Kompetenzstreit zwischen den eigentlichen Wissenschaftlern und den auf längst überholten Wissenschaftsbegriffen sich berufenden „Philosophen" werden andauern, es sei denn, eine der beiden Seiten würde kapitulieren. Wahrscheinlich werden die „gläubigen" Ideologen-Philosophen die Verlierer sein müssen, sollen die materiellen Machtgrundlagen des Sowjetreiches nicht empfindliche Einbuße erleiden.

Der zweite Hauptgrund, weswegen die Wissenschaft die Rolle der Religion nicht zu spielen, das von ihr hinterlassene Vakuum nicht zu füllen vermag, ist, daß der Glaube an die Güte und den segenspendenden Geist der Technik — das für die Menge heute repräsentativ gewordene Produkt und Symbol der Wissenschaft, dasjenige also, was sie von ihr „zu Gesicht“ bekommt, mit dem die Menge selber hantiert und umgeht — an Überzeugungskraft verloren hat.

v. Weizsäcker betont den Umstand, daß die Technik ein Kind der Wissenschaft ist, es aber nicht notwendig und immer war. So ging zum Beispiel die Dampfmaschine noch im 18. Jahrhundert aus der Welt des Handwerks und des Bergbaues hervor

Dagegen ist die Atomenergie in ihren nfängen und bis in jede Einzelheit hinein von theoretischen Physikern geplant worden. Eine entscheidende Veränderung hatte sich bereits mit der Entwicklung der Elektrotechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen. Dabei handelte es sich, wie Werner Heisenberg hervorhebt, um die Ausnutzung von Naturkrästen, die dem Menschen in seinem unmittelbaren Erfahrungs-und Wissen-bereich kaum bekannt waren, und „daher hat die Elektrotechnik für viele Menschen selbst noch etwas Unheimliches" Dadurch aber rückt nach v. Weizsäcker der Wissenschaftler auch in eine ihm durchaus nicht angepaßte Rolle des Priesters einer säkularen Religion, einer Säkulartheologie, die Geheimnisse und Wunder verwaltet. Eine neue, teils heilsamen, hauptsächlich aber auch potentiell zerstörerischen Zwecken dienende Macht ist aufgestiegen, die über bloße Menchenmacht weit hinauszureichen scheint. Der Mensch, ja alles Leben auf diesem Planeten ist dieser potentiellen Vernichtungsmacht ausgeliefert, wenn sie jemals voll und ungehemmt entfesselt würde.

An sich, möchten wir glauben, ruft dieses Gefühl des Ausgeliefertseins an eine (dem Nichteingeweihten) unbegreifliche und dem Menschen unendlich überlegene, ihn bedrohende Naturkraft die Erinnerung wach an die Grundlagen primitiver Gläubigkeit von Naturvölkern, welche sich hilflos den entfesselten Naturgewalten gegenübersahen, in ihnen Götter und Dämonen vermuteten, ihnen Opfer und Gebete darbrachten. Der heutige Durchschnittsmensch behandelt die Naturwissenschaft zwar als eine Art von Wunderhort, ist aber von jener primitiven Frömmigkeit weit entfernt, weil er weiß, daß es Menschen sind, die diesmal die ungeheuerlichen Naturgewalten kontrollieren, sie entweder im Zaume halten oder entfesseln können. Und er weiß auch sehr genau, daß diejenigen, die v. Weizsäcker die „Priester der säkularen Religion der Technik" nennt, also die Wissenschaftler (für die die „Wunder" in Wirklichkeit nichts als „berechenbare Folgen aus Gesetzen" sind) nicht im Dienste eines Gottes stehen, sondern gelegentlich im Dienste von Menschen, denen der Durchschnittsbürger zwar Opfer, aber normalerweise keine Gebete widmet.

Davon abgesehen, teilt der Durchschnitts-mensch von heute noch jene Eigenschaften oder vielmehr jenes Gemisch von Eigenschaften von Hybris und Unbekümmertheit der eingebildeten Herrschaft über die Natur, die dem 19. Jahrhundert eigentümlich waren, Eigenschaften, deren Berechtigung die „postmodernen" naturwissenschaftlichen Entdeckungen immer mehr in Frage stellen, aber auch Eigenschaften, die dem religiösen Bewußtsein mit seinem Gefühl der Abhängigkeit des Mensehen von höheren Gewalten entgegengesetzt sind. Gewiß ist es durch den Fortschritt der Wissenschaft möglich geworden, bislang unfruchtbare Landstriche zu kultivieren, durch Technik und Industrialisierung den immer mehr wachsenden Volksmassen Möglichkeiten des Lebensunterhalts und der Ernährung zu bieten, den Wohlstand zu fördern, die Lebenserwartung zu erhöhen und dergleichen mehr. Gleichzeitig ist aber gerade bei den für die neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften verantwortlichen Persönlichkeiten ein Gefühl wachsender Ohnmacht gegenüber den in der Natur unaufhebbar verborgenen Kräften und Geheimnissen entstanden. Es scheint, als werden dem forschenden Geist je mehr Geheimnisse er entblößt, um so mehr ihm neue Rätsel offenbar, die nicht wenige dieser Forscher zur Wiederentdeckung des religiösen Geistes trieben

Diese Stimmung und Haltung, die der Ehrfurcht vor dem verborgen bleibenden Mysterium, aber auch der Angst vor dem Kleinmut und der moralischen Inadäquatheit der Menschen in bezug auf die von ihnen geschaffenen technischen Apparate entspringen, hat sich den eigentlichen Technikern der Wissenschaft nicht immer mitgeteilt. Deren Hybris im Hinblick auf die Möglichkeiten der Herrschaft über die Natur scheint in unserem Zeitalter manchmal ins Ungemessene zu steigen. Am sichtbarsten ist dieser der moralischen und religiösen Demut entgegengesetzte Übermut vermutlich bei den Auftraggebern der „Weltraumfahrtingenieure" in Erscheinung getreten. Kein Wunder, daß die religionsfeindlichen Sowjetherrscher diesen Zweig des angewandten Wissens und Könnens mit ganz besonderer Genugtuung und Energie vorwärts getrieben haben.

Das auffällige Moment liegt einerseits in der wachsenden Erkenntnis menschlicher Begrenzung und Unzulänglichkeit, der darin gründenden Furcht vor der Zukunft bei gleichzeitiger demütiger geistiger Waffenstreckung vor dem unbekannten Rest auf Seiten zahlreicher prominenter Naturwissenschaftler — jener ganz neue Ansatz zu einem religiösen Bewußtsein, das durch die Wissenschaft hindurchgegangen ist und dabei doch jenseits der Wissenschaft landet. Andrerseits ist jenes auffällige Moment verköpert in dem nach wie geistig und religiös unbeschwerten Drang der reinen Techniker nach größtmöglicher menschlicher Naturbeherrschung, die sie nun auf das „Weltall" ausdehnen zu können vermeinen. Und es dürfte symbolisch sein, daß einige anti-religiös und rein positivistisch eingestellten Sozialwissenschaftler Amerikas und Westeuropas sich auf diesem Niveau nicht nur mit den Technikern im allgemeinen, sondern möglicherweise mit dem Geist der kommunistischen Natureroberer als solchen eher verständigen können als mit ihren eigenen, bereits der „post-Moderne" angehörenden, im allertiefsten Grunde und irgendwie religiös aufgerüttelten Mitbürgern.

Ebenso bezeichnend für das philosophische Ungenügen einiger anderer dieser Positivisten ist aber auch jene bei dem Philosophen Bertrand Russell am sichtbarsten in Erscheinung tretende Haltung des wütenden und vergeblichen Protestes gegen die Atombewaffnung des eigenen Landes angesichts der nicht bagatellisierbaren atomaren Bedrohung durch den potentiellen militärischen Gegner, wenn man gleichzeitig bedenkt, daß dieser selbe Bertrand Russell es ist, der den philosophisch naiven Hochmut des „Machtbewußtseins" im stolzen Hinweis auf die Errungenschaften der Technik verkörpert. „Es mag sein", rief er einst aus, „daß Gott die Welt schuf, aber nichts hindert uns, sie nach unserem Belieben zu ändern" Die späte Erkenntnis, daß die menschliche Natur die technologische Schöpferkraft des Menschen nicht nur zu seinem Segen lenkt, hat diesen Philosophen anscheinend nicht zu einer demütigeren Haltung bestimmen, sondern nur zu wilderen Protesten anspornen können, in welchen er das Übel nicht in der Kombination von Technik und allgemeiner Menchennatur, sondern sehr einfach in den Fehlleistungen westlicher Staatsmänner sucht

Man sollte sich aber keinen Illusionen darüber hingeben, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen etwa die Wendung zur „post-Moderne"

vollzogen hätte, die mit der abermaligen Revolutionierung der Physik begann. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hängt noch dem Weltbild des Technikers an. Sie wähnen sich immer noch im fraglosen Besitz der Herrschaft über die Natur. Wird sie ihnen nicht tatsächlich und täglich vor Augen geführt durch die „Wunder der Technik", zumindest in den sogenannten zivilisierten, aber zunehmend auch in den in „Entwicklung" begriffenen Ländern? Die so suggerierte „Allmacht"

des Menschen läßt keinen Raum für religiöse Demut und Bescheidenheit, verführt aber zu einer pseudo-religiösen Mystik der naiven Bewunderung technischer und menschlicher Leistungskraft. Sogar die im Unterbewußtsein nagende, allgegenwärtige Furcht vor der Atombombe wird vage und flach ausgeglichen im Geiste dieser Vielen durch das fürchterliche Wissen, daß der Mensch selbst und nicht ein Gott das absolute Verhängnis durch seinen Entschluß auslösen kann.

Wir stehen in der Gegenwart also im Anblick eines ebenso grandiosen wie verwirrenden Schauspiels. Die Naturwissenschaft hat den Kreis geschlossen, der sie vom Aufruhr gegen das vom kirchlichen Dogma auferlegte Weltbild durch das rein wissenschaftlichen Gesetzen folgende Denken und Finden hindurch zu einer neuen, urbaneren, von wissenschaftlichen Einsichten nicht mehr zu erschütternden, völlig freien Ehrfurcht vor dem Mysterium Tremendum hinleitet.

Die Technik als die angewandte, das heißt das „gefundene" und höchst kompliziert gewordene Material verwertende, mit der Tiefenforschung in die natürlichen Zusammen-hänge nicht eigentlich befaßte Wissenschaft hat diesen Kreislauf innerlich nicht mitgemacht. Sie ist daher die Gefahr des neuen Zeitalters geworden. „So wie sich in der Naturwissenschaft jede Einzelfrage der großen Aufgabe unterordnet, die Natur im Ganzen zu verstehen, so dient ... jeder kleinste technische Fortschritt dem allgemeinen Ziel, die materielle Macht des Menschen zu erweitern. Der Wert dieses Zieles wird ebenso wenig in Frage gestellt wie in der Naturwissenschaft der Wert der Naturerkenntnis. Wiederum, wie in dem vorgalileischen Zeitalter und doch aus ganz anderen Gründen und Perspektiven, steht die Naturwissenschaft „nicht mehr als Beschauer vor der Natur, sondern erkennt sich selbst als Teil dieses Wechselspiels zwischen Mensch und Natur. Die wissenschaftliche Methode . . . wird sich der Grenzen bewußt . . . Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein"

nung, daß die Ausbreitung der materiellen und geistigen Macht des Menschen immer ein Fortschritt sei, findet . . . eine, wenn auch erst undeutlich sichtbare Grenze, und die Gefahren werden um so größer, je stärker die Welle des vom Fortschrittsglaubens getragenen Optimismus gegen diese Grenze brandet."

Solche Aussagen von naturwissenschaftlicher Seite erscheinen mir philosophischer und realistischer in ihrem Gehalt als der zunächst grenzenlose Optimismus und ausschließlich auf den Menschen und die-technische Wissenschaft gründende Fortschrittsglaube, dann die sich in wilde Demonstrationen gegen die Bösartigkeit von Einzelmenschen entladende Enttäuschung eines Bertrand Russell über die Fehlleistung seiner übertrieben optimistischen und unrealistischen Lebensphilosophie. Es hat aber den Anschein, daß Martin 'Heideggers Intentionen in diesem Bereich, wenigstens in einer Hinsicht, dem Problem gerecht werden. Wenn ein Anhänger Heideggers „das technische Tun" als den „Akt der Freisetzung der Freiheit des werkschaffenden Menschen" definiert und wenn ein anderer Interpret Heideggers ihn so versteht, daß mit seiner „technischen Weltfrömmigkeit der entfesselte Eros des technischen Schaffens endgültig über die überlieferte metaphysisch-religiöse Sinngebung . . .des Daseins gesiegt habe" daß Heideggers Philosophie wesentlich „gottlos, wenngleich nicht religionslos" sei, so erklären sie damit freilich eine Grundkonzeption Heideggers. Hommes erklärt die Heideggersehe Existentialphilosophie geradezu als „die Religiosierung der vergesellschaftenden Kraft des Technizismus . . . eine neue Theologie" die sich auf die heutige säkularisierte Seelenlage eingestellt habe.

Doch lesen wir, was Heidegger selber in seiner sehr eigenwilligen, dem Leser oft kaum zumutbaren Terminologie zum Problem der Technik zu sagen hat, so eröffnen sich stellenweise sehr wohltuende und großzügige Perspektiven. Nach einigen für den Geschmack dieses Verfassers sehr überflüssigen, den Sachzusammenhang eher verwirrenden als enthüllenden etymologischen Erörterungen, welche den typischen Heideggerschen Irrtum einschließen, daß auf die Sprachgebräuche von Griechen und anderen zurückgehende Stammforschung von Wortgebilden, also das Wort-klärung mit Sacherklärung und Seinsforschung identisch oder wenigstens eng verwandt seien, folgen Absätze, die das „befreiende Wesen der Technik" ihrem Mißverständnis oder Mißbrauch durch den Menschen gegenüberstellen; dabei nähert er sich den Auffassungen Heisenbergs und v. Weizsäckers vom der Technik inhärenten Gefahrenherd. „Das Wesen der Technik beruht im Ge-stell. Sein Walten gehört in das Geschick. Weil dieses den Menschen jeweils auf einen Weg des Entbergens bringt, geht der Mensch . . . immerfort am Rande der Möglichkeit, nur das im Bestellen Entborgene zu verfolgen und zu betreiben und von da her alle Maße zu nehmen. Hierdurch verschließt sich die andere Möglichkeit, » daß der Mensch eher und mehr und stets anfänglicher auf das Wesen des Unverborgenen und seine Unverborgenheit sich einläßt." Hier birgt sich die Gefahr, fährt Heidegger fort, „daß der Mensch sich am Unverborgenen versieht und es mißdeutet. So kann, wo alles Anwesende sich im Lichte des Ursache-Wirkungszusammenhangs darstellt, sogar Gott, für das Vorstellen alles Heilige und Hohe, das Geheimnisvolle seiner Ferne verlieren. Gott kann im Lichte der Kausalität zu einer Ursache, zur causa efficiens herabsinken. Er wird dann sogar innerhalb der Theologie zum Gott der Philosophen, jener nämlich, die das Unverborgene und Verborgene nach der Kausalität des Machens bestimmen, ohne dabei jemals die Wesensherkunft dieser Kausalität zu bedenken."

Und weiter: „Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen." „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist."

Was Heidegger an dieser Stelle sagen will, ist offensichtlich. Der Mensch ist in Gefahr des Mißbrauchs der Technik und der Mißdeutung des Lebens-und Weltbildes, und zwar durch sein Mißverständnis des Wesens der Technik und ihrer Produkte Die Tatsache der Entfremdung des Menschen durch die bis auf die Spitze getriebene Versachlichung seiner Welt ergibt sich als Folge und wird von Heidegger folgendermaßen formuliert: „Sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Be-stand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist — geht der Mensch am äußersten Rande des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll." Und darauf folgt die Anklage gegen die technische Hybris: „Indessen spreizt sich gerade der so bedrohte Mensch in die Gestalt des Herrn der Erde auf. Dadurch macht sich der Anschein breit, alles was begegne, besteht nur, insofern es ein Gemächte des Menschen sei. Dieser Anschein zeitigt einen letzten trügerischen Schein. Nach ihm sieht es so aus, als begegne der Mensch überall nur noch sich selbst."

Von den Abnormitäten des Stils abgesehen, muß gesagt werden, daß die moderne Technik durch den Philosophen, der als der prominente Verteidiger des „Wesens der Technik" und des technischen Zeitalters gilt, aus einigen besonderen Gesichtspunkten eine zweifellos tiefgehende und sachliche Kritik erfahren hat, wie sie objektiver kaum geboten werden kann.

Nichtsdestoweniger sind einige der geistigen Reaktionen zu den von Naturwissenschaft und Technik erzeugten Lebenskomplikationen recht naiv. Der amerikanische Soziologe Lewis Mumford warf den Atomphysikern vor, daß sie das moralische Dilemma, in welches die Erfindung der Atombombe sie versetzt, hätten voraussehen können Das Studium der Theologie hätte sie belehren können über die Möglichkeiten des Mißbrauchs dieses neuen Machtfaktors. Gewisse andere Geister glauben, das Dilemma schlicht losen zu können, indem sie anraten, gewisse Arbeitsgebiete der naturwissenschaftlichen Forschung einfach nicht zu betreten. Wiederum ein anderer empfiehlt aus christlicher Sicht, daß „der betende Naturwissenschaftler", der „liebend experimentiert", der einzige sei, der den richtigen Weg in unserem technischen Zeitalter, welches eine neue Dämonie der Macht geboren hat, zu wandeln verstehe und vorbauen könne, damit die verhängnisvolle, laufende Verbindung von wissenschaftlichen Erfindungen und technischen Vernichtungsinstrumenten aufhöre Zu alledem kann, man nur sagen, daß hier der Naturwissenschaft ein Ethos unterschoben wird, das die Wissenschaft als solche nicht kennt, und daß es keine Möglichkeit gibt, die nicht aus christlicher Liebe oder nicht aus humanistischer Verantwortung Handelnden und Experimentierenden von der Wissenschaft und den Laboratorien fernzuhalten. Von Weizsäcker hat die Unlösbarkeit des Dilemmas erkannt und daraus als Physiker seine eigenen persönlichen Folgerungen des Abschieds vom physikalischen Laboratorium gezogen. Aber mit solchen Entscheidungen, so ehrbar sie sind, hört natürlich das Problem als solches nicht auf. Für den Forscher als Forscher gilt heute strenggenommen nur die Sache und die Sachlichkeit. „Die Liebe" geht über die Bereiche der Wissenschaft hinaus. Das Religiöse steht über, nicht in der Wissenschaft. Gerade dies ist ein Grund, weswegen der Anspruch angloamerikanischer Neopositivisten, alle menschlichen Probleme durch die Wissenschaft lösen zu können, so absurd erscheint. Die „inneren" Entscheidungen von Menschen sind von den wissenschaftlichen Erfindungen und technischen Veranstaltungen so prinzipiell verschieden, die „inneren Werte" folgen so sehr ihren eigenen, schwer definierbaren Gesetzlichkeiten, daß der Versuch einer Koordination beider Seiten in unserer Seinslage geradezu weltfremd erscheinen muß. Die wissenschaftliche Sachlichkeit und Sachgebundenheit hat ganz natürlich ihre ethisch-neutralen Regeln und Folgen. Dies ist ein Befund, gegen den sich in Deutschland das Gewissen der neuen „Wertwissenschaftler" sträubt, aber er ist unerbittlich. Die Wertwissenschaftler können ihn nicht ändern, ohne das gesamte Gefüge der Wissenschaft aus den Angeln zu heben, und dazu reicht ihre Kraft nicht aus.

Jene ethisch-neutralen Regeln der Wissenschaft haben jedenfalls bewirkt, daß die Entdeckungen der beiden Moralisten und Pazifisten Albert Einstein und Robert Oppenheimer von den Politikern, Wirtschaftlern, Technikern und Militärs ebenso benützt worden sind wie die des Chauvinisten Edward Teller. Niemand kann ahnen, wann eine aus rein wissenschaftlich-sachlichem Erkenntnistrieb stammende Erfindung, wann auch nur ein allen praktischen Anwendungsbereichen anfänglich fernliegendes, theoretisches Forschungsprodukt wie die Relativitätstheorie Einsteins ihren Weg in das militärische Kalkül findet. Denn reine Wissenschaft, die sich bemüht, voraussetzungslos zu sein, und die anwendungsfremd ist, ist dennoch die Grun . age aller angewandten Wissenschaften. Und schließlich kann doch überhaupt nur der völlig unpolitische Verstand die einseitige Einstellung von Erfindungen und der Produktion auf technologischem und physikalischem Gebiete anraten, solange eine politisch und moralisch gefährliche Gegenmacht mit Weltrevolutions-, und das heißt immer noch letzten Endes Welteroberungsplänen die Garantie ähnlicher Abstinenz nicht bietet. Die auf diese Weise erwachsenden, schier unermeßlichen Komplikationen moralischer, politischer und militärpolitischer Sachverhalte werden uns weiter unten beschäftigen.

Die die Technik bejahende, „neue Weltfrömmigkeit" hat dennoch ihre Grenzen, wie wir gesehen haben. Neben der von Naturwissenschaft und Technik selbst herbeigeführten, allmählich sich ausbreitenden Desillusionierung gibt es noch einen dritten Hauptgrund, weswegen Wissenschaft und Technik das von der Religion hinterlassene Vakuum nicht auszufüllen vermögen. Und dieser Grund hängt mit dem sehr lapidaren Umstand zusammen, daß die Mehrheit der Menschen heute genauso wie früher zum mythischen, das heißt unkritischen, statt zum systematisch-kritischen Denken neigt. Sie ist dem verbunden, was Karl Jaspers als das in Glaubensinhalten sich bewerkstelligende Hinausgreifen des Menschen über sich selbst bezeichnet hat, „indem er sich seiner im Ganzen des Seins" bewußt werden möchte Muß die Wissenschaft ihm die letzten Antworten versagen, muß die Technik ihn schließlich auch enttäuschen, indem sie den Sinn seines Daseins und seine auf den Fortschritt der Technik gründende Hybris immer offener in Frage stellt, was bleibt dem Menschen dann noch, nachdem der Zweifel an den überlieferten kirchlichen Glaubensformen auch deren Kraft seit langem entscheidend gelähmt hat?

Der Anspruch, den in unserer Zeit so manche Philosophie oder eine Wissenschaft oder die Technik oder der an Sachen vollzogene Arbeitsprozeß erhebt, das „Ganze des Seins“, der Lebenssinn, ein Absolutes und Letztes zu sein, führt schließlich immer wieder zur Ernüchterung und widerlegt sich selbst.

Wo also nimmt der Durchschnittsmensch der Gegenwart seine geistige Orientierung her?

Er kann sie weder von den esoterischen, unter sich uneinigen Vertretern der gegenwärtigen Philosophie und Geisteswissenschaft erwarten noch von den seinem Begriffsvermögen weit vorausgeeilten, überspezialisierten, ihrer eige-nen, rasanten Fortentwicklung mit Furcht und Ungewißheit der Resultate und Folgen gegenüberstehenden Naturforschern, noch von den in der Aura der Dämonie ihrer Macht relativ unbekümmert gebliebenen Technikern. Da al-les andere als sicheres Führungsprinzip versagt, müßten Religion, Wirtschaft oder Politik die Antwort und den Anker hergeben. Uber sie wird noch zu reden sein. Soviel steht aber jetzt schon fest, daß für die Masse der Menschen in den freien Ländern auch diese drei Faktoren nicht ganz zu genügen scheinen.

Das Fazit ist, daß der Durchschnittsmensch im tiefsten Grunde heute ohne sichtbaren geistigmoralischen Halt ist. Und dieses Phänomen ist wohl dasjenige, was man mit dem so vielzitierten, oft fragwürdig verwendeten und etwas abgenutzten Begriff der modernen Entfremdung bezeichnen kann.

Dieser Art von Entfremdung kann nicht dadurch abgeholfen werden, daß man die technische „Sache" zum „Selbstwert" macht und sie damit aus der Stellung des „Mittels" heraushebt. Die gesamte Technik gehört in die Sphäre von „Hilfen und Förderungen", an denen der Mensch nicht um ihrer selbst willen, sondern um des „mit ihrer Hilfe zu Erreichenden willen interessiert ist" Als derartig qualifizierte Gefüge sind die technischen Mit-tel, wie Litt hervorhebt, nicht jedes Wertes bar, sondern sie sind als daseinserhaltende und lebensfördernde Mittel ein „Seinsollendes" Diesen anzuerkennenden „Dienstwert" von sachlichen Erkenntnissen und Leistungen aber nun zu verkennen und die Wissenschaft oder die Technik zu „Eigenwerten" und „Selbstzwecken" erhöhen zu wollen, heißt das Verhältnis des Menschen zur Welt mißverstehen. Vielleicht verbirgt sich hinter diesem spezifischen Mißverständnis, das Geisteswissenschaftlern und Technologen sehr häufig widerfährt, nichts anderes als die alltägliche Erscheinung der Überbewertung des eigenen Tuns und des eigenen Berufs. Jedenfalls wirken die mannigfachen, geradezu zahllosen Versicherungen amerikanischer, britischer und kontinentaler Philosophen und Sozialgelehrter, daß entweder „die Vernunft" oder die Philosophie oder der „Fortschritt der Wissenschaft und Technik" die Religion überflüssig und entbehrlich mache, nicht nur als reichlich überholt im Hinblick auf ähnliche Vorgaben des Aufklärungszeitalters, sondern sie stellen eine gefährliche Form der Absolutsetzung rein menschlicher und daher notwendig wertrelativer Eigenschaften und Veranstaltungen dar.

Aus diesem Gesichtswinkel heraus müssen wir — trotz Litts prinzipiellem Abstand von dieser und jeglicher anderen flachen Denkweise — Litts weitere Bemühungen werten, die darin gipfeln, die wissenschaftliche Sacherkenntnis letzten Endes nun doch aus dem Verhältnis des „Dienstwertes" herauszulösen und in der wissenschaftlichen Aufgabe sogenannten „zweckfreien Erkennens" eine gleichsam paradoxe Zweckerfülltheit zu postulieren, die einen Eigenwert besitze. „Es ist offenbar", daß der Mensch, indem er „die Versachlichung der Welt bis zu jener methodischen Vollendung vortreibt, die sie in Gestalt der Mathematisierung erreicht, ein Werk vollbringt, durch welches er nicht bloß dem Interesse der Erhaltung und Förderung des eigenen Lebens dient, sondern auch eine von der Welt her an ihn ergehende Forderung erfüllt", sagt Litt und „soweit er der Welt so das Ihrige zu geben bedacht ist", fährt er fort, wird auch klar, daß der Mensch „die Sache nicht im Hinblick auf die Dienste, die sie um weiter hinausliegender Zwecke willen tun könnte, sondern um ihrer selbst willen das heißt in der Absicht einer rein theoretisch gemeinten Erschließung, ins Auge faßt."

Mit diesen Worten erfolgt zunächst auf Seiten Litts eine gewisse, wahrscheinlich notwendige Verquickung logischer Gedangengänge. Die „Sachlichkeit", die „Hingabe an die Sache"

als eine für wissenschaftliche Zwecke unerläßliche psychische Einstellung und das diesen Zwecken gleichfalls dienende, einwandfreie, also der reinen Sachkenntnis gewidmete, methodische Verfahren des echten Wissenschaftlers werden mit der „Sacherschließung" als oberstem Zweck verknüpft. Nun steht wahrscheinlich eine jegliche menschliche Arbeit unter irgendeinem höheren oder höchsten, jedenfalls letztlich übergeordneten Zweck. Von einer „Forderung der Welt" an den Menschen zu sprechen, ist dabei fast schon ein metaphysisch anmutender Gedanke. Doch steht, vom Physischen her gesehen, fest, daß das Ideal des Schönen oder das Verlangen nach persönlichem Ausdruck dem Künstler als letzter Zweck vorschwebt, so wie die Wahrheit als höchstes Ziel, von Litt „Sacherschließung" genannt, dem wissenschaftlichen Denken ver-mutlich noch seine endgültigen Normen vorschreibt. Der „Wille zur Sache" ist der „Wille, das eigene Denkvermögen in die methodisch disziplinierte Tätigkeit zu versetzen, als deren Korrelat die zu mathematischer Exaktheit durchgebildete Natur überhaupt erst in Sicht tritt. Was dabei zugunsten der Sache unterdrückt wird, das ist nicht der Mensch, sondern dasjenige im Menschen, dessen Hineinreden die Sache nicht würde zum Vorschein kommen lassen." Das Urteil gegen die betonten „Wertwissenschaftler" unserer Tage könnte kaum bündiger formuliert werden.

Aber nach Litt ist — unseres Erachtens wiederum berechtigterweise — das seine Individualität zugunsten von Sacherkenntnis unterdrückende Individuum zu dieser „denkendtätigen Hingabe an die Sache" imstande, weil es diese Begabung zum „überindividuellen Subjekt" nur besitzt kraft seiner höchst individuellen Gesamtkonstitution. Die Unterdrückung individueller Vorurteile und sonstiger Eigenschaften im Prozeß des Denkens und Forschens kann nur einer Person zugemutet werden, die als Ganzes und das heißt als „zur Individualität ausgeprägte Person" sich der „Disziplin des sachbestimmenden Denkens zu unterwerfen und damit auf Zeit zu entindividualisieren“ vermag Es ist aber auch der Mensch der gleichen Qualifikation, von dem Litt annimmt, daß er, seiner Individualität zurückgegeben, unter den Zwecken, die „das sachbestimmte Denken in Sicht gebracht hat", die einen bejaht und die anderen vereneint Dieser letztere Sprung gelingt dem von der Sache her bestimmten, wissenschaftlichen Menschen nur, wenn er sich von der wertneutralen, in gewisser Weise „ent-menschten" Sphäre löst in den entscheidenden Belangen, die ihn als Menschen oder als mitverantwortliches Mitglied einer konkreten Gemeinschaft angehen. Er tritt unserer Ansicht nach — und ich glaube auch in der Auffassung Litts — damit aus dem Kreis des wissenschaftlichen „Mechanismus“ heraus und entscheidet sich nun für gewisse Werte und lehnt andere ab. Doch mit diesem Entschluß hat die ganze Person über Lebenswerte entschieden, doch nichts ist ausgemacht über die Gestalt der von Litt angedeuteten wissenschaftlichen „Eigenwerte" oder „Selbstzwecke".

Wir wiederholen die sehr wesentliche Feststellung: Der der wertneutralen, sachlichen Forschung hingegebene Wissenschaftler ist genausowenig wie andere Menschen der Verantwortung der konkreten Wertwahl und Entscheidung entbunden, wenn es sich um ihn als Person oder um das Schicksal von Nebenmenschen oder um belangreiche Entscheidungen seiner Gemeinschaft handelt. Hier sind für jeden Menschen aus moralischen, patriotischen oder gesamtmenschlichen Gründen die Grenzen gezogen gegenüber jeglicher Wertindifferenz, folglich auch gegenüber derjenigen des in seinem Berufsleben notwendig und weitgehend wertneutralen Wissenschaftlers. Aber das wissenschaftsimmanente Zweckverhältnis ist damit nicht angesprochen. Wenn man dem von der Wissenschaft angegangenen Sachzusammenhang den Namen „Wirklichkeit" gibt, die auf sie bezogenen wissenschaftlichen Aussagen als entweder wahr oder falsch prädiziert, so ist nur der Schluß möglich, nämlich der, daß die Erfassung der Wirklichkeit — die „Sacherschließung" — durch ein mögliches Maximum wahrer Urteile der Zweck oder die Aufgabe der Wissenschaft ist, ferner daß dieser Zweck als Aufgabe stets unvollendet bleiben muß. Die Gründe für diese Unvollendbarkeit sind in den erkenntnis-theoretischen Werken Litts mehrfach gestreift und mögen im übrigen auch bei anderen Klassikern besonnener erkenntnistheoretischer Analysen nachgelesen werden. Die Wissenschaft als mit den Mitteln der ratio und deren sachlich begrenztem Apparat arbeitendes Gefüge ist nur einer der Wege zum Gesamtzweck der Wahrheitsfindung. Als solcher dient sie dem Zweck und ist sie ein „Dienstwert", aber kein „Selbstzweck" im Sinne Litts, wiewohl der Wissenschaftler sie in seiner persönlichen Funktion, das heißt in seinem im Dienst an ihr auferlegten „Willen zur Sachlichkeit" als seinen besondere Ansprüche stellenden „Berufszweck", niemals aber als endgültigen oder ausschließlichen „Lebenszweck" auffassen darf. Denn auch über sein Leben und seine Lebensinteressen entscheiden schließlich Mächte, die mit der Wissenschaft als solcher nicht notwendig identisch oder auch nur verbunden sind.

Mit anderen Worten, die Wissenschaft kann nicht das ganze Leben und alle Zwecke um-greifen, noch ist sie selber mehr als ein Mittel zur Lebensbewältigung und zum Weltverständnis. Das von Litt übrigens sonst abgelehnte und nicht geteilte Mißverständnis von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Fach-technikern, die die Wissenschaft, einschließlich den angewandten technischen Wissenschaften, zum umfassenden Lebens-oder gar Selbstzweck machen möchten, hat weder der Wissenschaft noch dem Leben einen wirklichen Dienst erwiesen. Im Geisteswissenschaftlichen hat es durch ein Übermaß von Werturteilen die Sachlichkeit getrübt, zum Teil sogar zerstört, im technischen Bereich zur Hybris verführt, nur bei den meisten führenden Naturwissenschaftlern hat diese Illusion endlich aufgehört.

Die Probleme des Lebens in dieser Zeit aber hat jenes Mißverständnis vermehrt statt sie zu vermindern.

Der von den heutigen, bewußten „Wertwissenschaftlern" fast ausnahmslos mißverstandene und verachtete Max Weber unterschied auf subtilste Weise die legitime Erörterung von Werten und Zwecken in der Wissenschaft, einschließlich der technischen Wissenschaften im weitesten Sinne, als a) eine Herausarbeitung der letzten, innerlich „konsequenten" Wertaxiome; b) die Deduktion der „Konsequenzen" für bestimmte wertende Stellungnahmen; c) die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung einer bestimmten, praktisch wertenden Stellungnahme zu einem relevanten Problem haben muß; d) die Feststellung neuer Wertaxiome, deren Folgerungen „sinnhaft oder praktisch" mit den eigenen Postulaten und deren Durchführung kollidieren Dem zweckrationalen Denken räumte er in der Wissenschaft einen ähnlich bestimmten, doch unebenbürtigen Platz ein Dann aber spricht Weber mit besonderer Betonung den Gedanken aus, der für die heutige Zeit nichts an Bedeutung verloren hat: „Hinter der . Handlung'steht: der Mensch. Für ihn kann die Steigerung der subjektiven Rationalität und objektiv-technischen . Richtigkeit" des Handelns als solche über eine gewisse Schwelle hinaus ... als eine Gefährdung wichtiger (zum Beispiel ethisch oder religiös wichtiger) Güter gelten. Die buddhistische (Maximal-) Ethik zum Beispiel, die jede Zweckhandlung schon deshalb, weil sie Zweckhandlung ist, als von der Erlösung abführend verwirft, wird schwerlich jemand von uns teilen. Aber sie zu widerlegen, in dem Sinn wie ein falsches Rechenexempel ... ist schlechthin unmöglich. Auch ohne so extreme Beispiele heranzuziehen aber, ist es leicht einzusehen, daß noch so zweifellos technisch richtige ... Rationalisierungen durch diese ihre Qualität allein noch in keiner Art vor dem Forum der Bewertung legitimiert seien."

Litt hat die Unumgänglichkeit des „Sachwillens"

in Wissenschaft und Technik, die von Max Weber in seiner eigenen Weise herausgestellt war, für unsere Zeit neu und deutlich formuliert. Dabei stellt er Naturwissenschaft, Technik und technisch organisierte Produktion in ein „unlösbares Solidaritätsverhältnis"

Soweit Technik und wirtschaftliche Produktionsordnung aus roh Gegebenem in methodischer Be-und Verarbeitung die „gestaltete Sache" machen, sind sie zu Unrecht in Anklagezustand versetzt worden und „grundsätzlich über alle Anfechtung erhaben". „Allerdings ist hinzuzufügen: sie sind es nur so lange, wie die durch sie entwickelten Formen des Denkens und Handelns sich innerhalb der Grenzen der Sachwelt halten, an der sie sich herangebildet haben. Erliegen sie der Versuchung, diese Grenzen zu überschreiten, so lebt die Anklage mit abgewandelter Begründung wieder auf."

Bei Litt scheinen mir — bei aller Ehrfurcht vor seinen sonstigen Leistungen — nun allerdings diese Gleichungen etwas zu glatt aufzugehen, trotz des im letzten Satz des Zitats ausgesprochenen Vorbehaltes. Als Pädagoge ist Litt ganz natürlich an der Beziehung zwischen dem „Seienden" und dem „Seinsollenden" der menschlichen Verhältnisse interessiert. Die lebendige Spannung zwischen den Polen dieses Begriffspaares wird zwar häufig von ihm hervorgehoben, aber zu problemlos und restlos gelöst. Zwar ist die Dämonie des Schicksals und der jüngsten Geschichte nicht spurlos an ihm vorübergegangen, hat im Gegenteil heroische Haltung und wesentliche Impulse des Denkens hervorgerufen, aber im Grunde sind ihm alle durch Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft erzeugten, äußerst komplexen Probleme bewältigbar durch Reflexion, die richtige Kooperation von Naturwissenschaft, Technik und industrieller Produktion, einer rationalisierten Mittel-Zweck-Relation, die Litt alle-samt als „gigantische Aufgabe“ charakterisiert, aber von ihm vielleicht doch etwas zu abstrakt behandelt werden. Auf diesem Wege kommt er zur Schlußfolgerung der summarischen Bejahung des technischen Zeitalters, die im Effekt der grundsätzlichen amerikanischen Haltung zum technischen Phänomen nicht unähnlich ist, obgleich hinzugefügt werden muß, daß die „dämonische" Seite der Technik gerade in Amerika heute der Überzahl von mit atomwissenschaftlicher Naturerforschung befaßten Gelehrten entschieden bewußt geworden ist. Aber gerade Amerikas pragmatische Grundhaltung und Philosophie, die Litt eigentlich fremd sind, haben die vorbehaltlose Bejahung der modernen Technik begünstigt und diese dort sogar auf den Betrieb und den Inhalt der Sozialwissenschaften ausgedehnt. Es scheint vor allem festzustehen, daß die „MittelZweck-Korrelation" Litts, das schöne Verhältnis von wechselseitigem Zugeordnetsein von Mittel und Zweck in der Technik und die rationelle Feststellbarkeit von Zwecken überhaupt sich im Leben nicht so einfach und unkompliziert ergeben, wie die reine Theorie es hier vorschreibt. Den Widerstreit der Interessen, den Kampf um die „Zwecke", die geradezu metaphysische Frage nach den eigentlichen oder letzten Zwecken — all dies bekommt Litt kaum oder gar nicht in den Griff. Dies ist — bei allem großen Verdienst — seine Schwäche.

Wenn man die folgenschweren Komplikationen von Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft in ihren konkreten Formen und an konkreten Daseinsverhältnissen prüft, dann wird der Unterschied zwischen abstrakter Formel, logischer Glattheit einerseits und verwirrender Problemfülle andrerseits klar. Natürlich stimmt es, daß Naturwissenschaft, Technik und industrielle Produktion miteinander verkoppelt sind, daß die beiden letzteren von der ersten, die letzte abermals von der Technik abhängen. In den reinen Sachbezügen, im Sachwillen sind Naturwissenschaft und Technik sich außerdem einig, wenngleich eben die jeweiligen „Sachen", auf welche die beiden großen Sachgebiete sich konzentrieren, einen verschiedenartigen methodischen Zugriff notwendig machen und darüber hinaus grundsätzlich verschiedene Perspektiven des Weltverständnisses eröffnen. Aus den letzteren haben die Naturwissenschaftler zum großen Teil Konsequenzen gezogen, die den inneren Konflikt zwischen Sache und Person zum Vorschein kommen lassen und eine gewisse „weltanschauliche" Demut erzeugten. Bei den Technologen und den im wirtschaftlichen Produktionsvorgang Beteiligten fast aller Schichten fehlt diese Konsequenz.

Es ergibt sich also, daß die auf den Gebieten der Technologie, Industrie und der sonstigen Wirtschaftszweige eingespannten Personenkreise, soweit sie die Begrenzung der persönlichen Individualität im Sachdenken und in der Sachleistung vollziehen, die „Entindividualisierung", die die sachliche Leistung von ihnen fordert, im allgemeinen schwer überwinden. Es fällt ihnen anscheinend auf Grund ihrer Arbeitsweisen mit den spezifischen „Sachen", mit denen sie beschäftigt sind, schwerer als zahlreichen Vertretern der Naturwissenschaften, von der Befassung mit den materiellen „Sachen" und Konstruktionen hinweg, also von der „Ent-menschung" im weiter oben bezeichneten Sinne befreit, wieder „ganze Personen" zu werden.

Es ist falsch, diesen Tatbestand nur auf die industrielle Arbeiterschaft zu beziehen, wie es seit Marx üblich geworden ist. Der Tatbestand bezieht im Gegenteil alle diejenigen ein, vom Industriearbeiter, Büroangestellten, Techniker, „Chef" bis zum bloßen Techniker der Geistes-und Sozialwissenschaften, die von den „Sachen" und den von ihnen bedingten beruflichen und privaten Verhältnissen nicht loskommen können, um die eigentlichen Lebenswerte und -zwecke als solche, über ihre Berufsspanne und soziale Lage hinaus, zu erkennen und anzuerkennen. Zu häufig im Leben werden „Mittel" zu „Zwecken" ja „Endzwekken" postuliert, was sie nicht sind und nicht sein können, oder der „Berufszweck" wird zur Funktion des „ganzen Lebenszweckes" erhoben, was eine Profanisierung der wichtigen Lebensgehalte zur Folge hat, oder — der endliche Irrtum — die „Sache" beherrscht die „Person", ja ersetzt lebendige persönliche Beziehungen unter den Menschen so vollkommen, daß Ethos zur Phrase oder zur Farce wird. Auch darin gibt es kaum noch Unterschiede zwischen den Berufen im allgemeinen. Es trifft auf die Mehrzahl der Menschen in allen Sparten zu.

Dies ist das Kernproblem, um das es sich hier handelt, das wir schon einmal mit anderen Worten umschrieben haben und das als das eigentliche Entfremdungsproblem unserer Zeit gilt. Es erschwert, wie gleichfalls schon angedeutet, aus diesen sehr konkreten Gründen die Bindung weiter Kreise an religiöse und ethische Werte, erleichtert unter dem Schwergewicht der „Sachlichkeit" und der auf rein materielle „Werte" bezogenen „Sachen" die unbedingte Vorherrschaft materialistischer Gesichtspunkte in öffentlichen und politischen Debatten, im Vergnügen, in der Freizeit und auf allen die breite „Masse" angehenden Lebensbezirken.

Die Technik ist ein Mittel. Sie ist es in noch augenfälligerem Maße, als die Wissenschaft ein Mittel ist. Die letztere ist ein Mittel — und zwar das methodisch klar umgrenzte Mittel — der Erkenntnis, die erstere ist ein Mittel zur Daseinserleichterung. Die Erkenntnis bleibt ewig unfertig oder unvollendet, da die Erreichung des letzten Zieles der wissenschaftlichen Erkenntnis, ihr endgültiger Zweck, niemals gewiß sein kann. Die Daseinserleichterung aber ist meßbar, sie ist das zweckhafte Tun an sichtbaren Stoffen und Kräften im Dienste des Menschen. Hierbei ist der an sich richtige Gedanke von sekundärer Bedeutung, daß die „richtige Anwendung" der komplizierten Erkenntnis der Naturwissenschaft durch den Techniker ja auch eine wissenschaftliche Erkenntnisleistung darstellt.

Das technische Tun (auf allen Gebieten) ist gekennzeichnet als eine von der Frage nach dem Ganzen nicht eigentlich ergriffene Arbeitsweise. Sie fragt nicht nach „Endzwecken", sondern nach „Nutzen" und „praktischen Resultaten". Es ist daher nicht verwunderlich, daß die bloßen „Techniker" auch auf den Gebieten der Sozial-und Geistesdisziplinen einen verengten Horizont des Wesens und der Bestimmung der Wissenschaft eingeführt ha-ben. Sie vertreten eine zu leichte und bequeme Auffassung sowohl von der Wissenschaft als auch vom Leben. Als „Techniker" der Wissenschaft glauben sie irrtümlicherweise, das endliche Ziel der Erkenntnis im Besitz zu haben. Sie verwechseln die dem Menschen ewig verborgene, letzte Wahrheit mit ihren eigenen „Nützlichkeitsformeln" und mit den den mikrokosmischen Augenblickszwecken gewisser Menschheitsteile angepaßten „praktischen Resultaten". Auch ihre Methoden entlehnen sie, wie oft hervorgehoben, der reinen Technik unter Mißachtung des Unterschieds sowohl zwischen Geist und „Material" als auch zwischen den wissenschaftlich unbestimmbaren Zwecken des Makrokosmos und den flüchtigen Zwecken des verhältnismäßig kleinen mensch-lichen „Kosmos".

Richtig sagt Jaspers, daß es eine „verführende Folge der falschen Wissenschaftsausfassung"

sei, daß die Welt im ganzen und im Prinzip erkennbar sei. „Die Meinung entstand, es sei nur die Sache des guten Willens, nunmehr auf Grund der Erkenntnis für die Menschheit die richtige Welteinstellung herzustellen, die einen Dauerzustand von Wohlfahrt und Glück ermöglichte." Dabei sei die übertriebene und unbegründete Vorstellung entstanden, die „Welt im ganzen allein aus dem Verstand in Ordnung" bringen zu können

Jaspers prägt auch das richtige Wort im Blick auf das Abgleiten der Technik von ihrem eigentlichen Sinn. „Wo die Mittelhaftigkeit von Werkzeug und Tun sich verselbständigt, wo unter Vergessen des Endzwecks die Mittel selber zum Zweck werden" und „wo das übungsmäßig Erlernbare, das zum Wesen technischen Tuns gehört, zur sich selbst genießenden Routine wird, wird es statt zur Bereicherung des Lebens vielmehr zur Verarmung des Lebens"

Die innere Verarmung des Lebens und des Menschen, also im Sinne früherer Formulierungen die „Entfremdung des Menschen von sich selbst", ist aber — wie wir wiederholen möchten — kein ausschließlich neuzeitliches, durch Technik und Industrialisierung hervorgerufenes Phänomen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß es nach dem Gefühl des Verfassers schon immer Formen der diktierten oder nichtdiktierten seelischen oder geistigen Verarmung und Entfremdung der Menschen gegeben hat — despotische oder exklusive Glaubensformen oder priesterliche Herrschaften auf der einen, religions-und glaubensfeindliche Verstandeskulturen auf der anderen Seite, überhaupt scheint uns der Ausdruck „Entfremdung" im eigentlichen Sinne unpassend zu sein, und zwar nicht gerade weil er mit besonderer Schärfe vom Ideologen Karl Marx geprägt wurde, wiewohl Hegel, ja Fichte ihn schon verwendet haben. Wir selbst verwenden den Ausdruck lediglich, weil er für den von uns charakterisierten Sachverhalt gebräuchlich geworden ist und folglich in der Sprachkonvention angesiedelt ist.

Im übrigen fragen wir uns: Auf welcher Stufe oder in welchem System ist der Mensch nicht mehr oder noch nicht „er selber“, so daß die Rede von der „Selbstentfremdung des Menschen“ einen Sinn hat? Wann also ist der Mensch nicht „richtig Mensch"? Der Mensch lebt auf wilden, barbarischen, nomadischen und pastoralen Stufen, und er lebt in religiösen und in „aufgeklärten" Phasen der Kultur. Innerhalb dieser beiden letzteren gibt es ostentative Rückfälle in die grausamste Barbarei (Ketzerverfolgungen und Jakobiner-herrschaft). Der Mensch kann geistig, moralisch und wirtschaftlich primitiv sein, und es gibt Menschen solchen Formats auch in den Hochkulturen, nicht nur außerhalb dieser. Der Mensch kann auch Wissenschaft, Technik und ein privat-kapitalistisches System herausbilden. Im letzteren kommen gewisse Ungerechtigkeiten und soziale Störungen vor. Er kann auch ein angeblich kollektivistisch-kapitalistisches oder, „sozialistisches" System errichten, und in ihm kommen möglicherweise noch mehr Ungerechtigkeiten, bestimmt aber ein sehr empfindlicher, sehr beträchtlicher Verlust von Freiheit vor. Ungerechtigkeiten, soziale Leiden, ein gewisser Grad von „Verarmung" der einen oder der anderen, inneren oder äußeren Art ereignen sich neben gewissen, jedesmal typischen und positiven Leistungen und Auszeichnungen auf jeder Stufe und unter fast jedem System. Gewisse liebenswerte, aber auch abstoßende Züge des „einfachen", „natürlichen", „primitiven" Lebens gehen auf höheren Stufen verloren. In einer technisch hoch-entwickelten Gesellschaft wie der unsrigen haben Lärm, Hast, Gedränge und Rücksichtslosigkeit im Verkehr das Idyll und die guten Formen früherer Tage verdrängt. Manche berechtigte Träne wird besonders den letzteren nachgeweint von denen, die noch ein Zipfelchen jener Zeit erhascht haben.

In jeder der oben angedeuteten Phasen oder Systeme aber — ob vorwiegend primitiv, religiös, rational, feudal, privatkapitalistisch oder kollektivistisch — manifestiert sich eine besondere Form des Menschseins. Manchmal ist die Form grausam oder auch übermäßig, „versachlicht", den „geschaffenen Dingen" statt den Menschen dienend, und manchmal ermöglichen und fördern einige Systeme den verfeinerten Geschmack und den sogenannten Aufstieg der Kultur. Das Paradoxe an diesen Verhältnissen ist, daß die scheinbar entgegengesetzten Formen und Eigenschaften des Menschlichen — Primitivität und Verfeinerung, „Versachlichung" und geistige Kultur — fast regelmäßig, wenn auch in zeitweise und jeweils verschiedenen Graden, in derselben Gesellschaft oder gar im identischen System vorkommen bzw. vorkommen können. Auch ist das „kapitalistisch-technische Zeitalter" nicht das einzige, das unter der „Verdinglichung", der „menschlichen Knechtschaft unter den Sachen“, leidet. Diese Erscheinungen gab und gibt es sogar unter Naturvölkern

Der Begriff der Entfremdung setzt demnach strenggenommen voraus, daß man einen wissenschaftlichen, also „objektiven“ Maßstab hätte für das, was der Mensch normalerweise sein müßte, um „richtig" Mensch zu sein. Im Hinblick auf manche Illusionen, die in der Gesamtliteratur über die „Entfremdung" und die „richtige" Gesellschaftsordnung ausgesponnen werden, regt sich der Zweifel, ob jene Autoren wirklich noch von Menschen handeln. Vielmehr scheint es zum Wesen des Menschen zu gehören, daß er sich selbst im Ringen nach Freiheit und im Streben nach „besseren" Formen der inneren und äußeren Erfüllung seines Menschentums immer wieder in Schuld, Unfreiheit, „andere" Formen innerer oder äußerer Verarmung verstrickt. Es gibt auch in dieser Beziehung für die menschlichen Aufgaben anscheinend keine Vollendung, wenigstens nicht in der Form, wie sie in allzu glatten Kalküls über die Menschennatur und die menschliche Gesellschaft zum Ausdruck kommt.

Es scheint für den in Deutschland so zentral behandelten und auf die industriell-technische Arbeitswelt bezogenen Begriff der Entfremdung typisch zu sein, daß er auf die Intellektuellen, die ihn erzeugt haben, überzeugender wirkt als auf die Arbeiter, auf die er gemünzt ist. Dem Menschen wird hier jedesmal ein besonderes Daseinsschema als ihm „natürlich" unterlegt. Nun gibt es eine Reihe verschiedenartiger Entfremdungsbegriffe für jeden Stand: konservative, liberale, sozialistische, religiöse, philosophische, psychologische Versionen desselben Begriffs. Fast jede dieser Abwandlungen des Begriffs betrachtet die jeweils entgegengesetzten als Leerlauf, Katastrophe, Untergangsmotiv. In Wirklichkeit scheint uns der einfache Mensch, ob Bürger oder Arbeiter, größere Wandlungs-und Anpassungsfähigkeiten, auch Stehvermögen zu besitzen, als manche Theorien über ihn ihm zutrauen. Er erscheint auch als toleranter als die Vertreter der mannigfachen, einander oft ausschließenden Theorien der Entfremdung, die seine Daseinsformen zu interpretieren, zu beeinflussen und zu „ändern“ versuchen — wenn sie ihn nur in dieser Hinsicht mit ihren Ideen nicht über Gebühr und un-msachgerecht“

behelligen würden

Um einen andersgearteten Begriff der Entfremdung geht es nebenbei noch beim jeweiligen Übergang, der großen Wende von einer Kulturphase in die andere, etwa vom schweifenden Nomadentum zur Seßhaftigkeit, von der handwerklichen Wirtschaft zum Maschinenzeitalter. Diese Übergänge erfordern jedesmal gewaltige Umstellungen, die nicht glatt gelingen. Ohne anfängliche Erschütterungen, die mit Fehlern der Reorientierung weiter Volkskreise Zusammenhängen, ging das nie. Dieses „cultural lag" wird auch beim Übergang zur Atomwirtschaft und zur Automation nicht fehlen, sobald diese die Arbeitsund Wirtschaftsweisen erst grundsätzlicher und weitgehender verwandelt und auch das Problem der erweiterten Freizeit nachdrücklicher gestellt haben werden, als das bis jetzt der Fall war. Auch hier gibt es jedesmal Entfremdungserscheinungen in einem bestimmten Sinne, nämlich, wie Freyer das ausführte, dem der sozialen Gefahren, der mangelnden Anpassungen, der Opfer und Verluste, aber auch der „Aufgabe, die in einem einzigen Anlauf kaum zu leisten ist" Von diesem eigentümlichen, den epochenhaften Überhängen zugeordneten Entfremdungsbegriff handeln wir im Augenblick noch nicht. Es geht uns hier zunächst um jene sogenannte „Entfremdung", die einen Dauerzustand der durch neuzeitliche Naturwissenschaft, Technik und Maschinenarbeit bedingten „Versachlichung" mensch-lichen Daseins hervorgerufen zu haben scheint. Es sei Endgültig und abschließend hervorgehoben, daß es sich beim „Arbeits" schicksal in der industriell-technischen Welt um den Sonderfall einer inneren Verarmung handelt, die als solche nicht nur den Arbeiter im engeren Sinne des Wortes betrifft, sondern die Mehrheit der Menschen einbezieht. Die Tatsache dieser besonderen Art der Verarmung, die sich in unserem Zeitalter auf die durch die „Versachlichung"

verursachte „Ent-menschung“

des Menschen bezieht, soll nicht bestritten werden. Was wir bestreiten, ist die Richtigkeit der Ideologisierung dieses Sachverhalts, indem man entweder einen besonderen Stand als sein einziges Opfer hervorhebt oder indem man die eine oder die andere Ideologie als Heilmittel empfiehlt für eine Situation, die im Grundsätzlichen viel weiter reicht als die Technisierung des abendländischen Daseins.

Allerdings haben Großbetriebe mindestens seit dem Jahre 1910, von Amerika ausgehend, das Prinzip der „Fließarbeit" und der Arbeitsteilung bis zu einem unerträglichen Punkt vorgetrieben, so daß zu kleine Arbeitseinheiten (wie zum Beispiel das Aufsetzen eines Rades oder das Anziehen einer Schraube als einzige monotone Arbeitsleistung des einzelnen Arbeiters)

zu außerordentlicher Langeweile und Unlust führen mußte Praktisch hatte diese Tendenz Leistungssenkungen zur Folge. Infolgedessen hat eine gewisse Umkehr vom Gedanken einer zu weit getriebenen Arbeitsteilung begonnen. Erwin Krause glaubt konstatieren zu können, daß in Deutschland eine schnelle Entwicklung zur Wiedervereinigung von Teilarbeiten stattfinde während Fried-mann eine längere Zeitspanne für eine entsprechende Reorientierung in den westlichen Ländern voraussieht. Die technizistischen Gesichtspunkte in den Großbetrieben zwingen aber zu der ganz anderen und an späteren Stellen behandelten Frage, ob die Rettung des Selbstbewußtseins und der persönlichen Selbsteinschätzung des Arbeiters nicht grundsätzlich außerhalb seiner eigentlichen Arbeitsfunktion zu suchen ist.

2. Technik — Wirtschaft — Arbeit In diesem Zusammenhang greifen wir zunächst noch einmal und diesmal kritisch auf Heideggers Denken zurück. Aus dem Gesichtswinkel geschichtlichen Werdens der hier in Frage stehenden Phänomene fällt es völlig aus dem Rahmen. Denn erstens ist es wissenschaftsfeindlich, folglich auch unhistorisch. Zweitens sagt es bei aller mysteriös klingenden, terminologischen Vernebelung des Erkenntnisvorganges letzten Endes nichts Wesentliches oder nichts Neues aus in bezug auf die uns hier interessierenden Fragen. Aber als Symtom des verwirrten, von einem eigenartigen mythischen Hang und von intellektueller Willkür zeugenden, Menschen, Sachen und menschliches Erkenntnisvermögen, wenn auch „souverän" interpretierenden Denkens der europäischen Gegenwart verdient es Beachtung, denn es gibt vor, die hochkomplizierte Welt des technischen Menschen und Zeitalters gleichsam mit einer philosophischen Zauberformel wieder in Ordnung zu setzen.

Das „Wesen der Technik" muß nach Heidegger vom falschen „Gebrauch der Technik" unterschieden werden. Im Gegensatz zum letzteren ergibt sich für ihn das „Wesen" der Technik aus dem „Wesen des Unverborgenen" und aus dem „Wesen des Menschen". Dieses Wesen des Menschen und der Dinge ist losgelöst von jeder herkömmlichen Metaphysik und Erkenntnistheorie. Die „Wächterschaft des Sein", die das Wesen des Menschen bestimmt, „starrt nicht auf das Vorhandene". Vielmehr holt sie „alles Seiende aus seiner Vorhandenheit zurück in das Sein", und dadurch stelle sie den „ursprünglichen Bestand des Seienden" wieder her.

In Jakob Hommes’ Interpretation hat Heidegger durch seine Fundamentalontologie die Einheit von Einzelwesen und gesellschaftlichem Ganzen wiederhergestellt. Im Gegensatz dazu können wir uns dem ketzerischen Eindruck nicht entziehen, daß mit Heideggers Philosophie und dem Philosophieren seines Gefolges ein neues Zeitalter der Sophistik im Sinne der „Scheinwissenschaft" angebrochen zu sein scheint. Wenn wir von den brauchbaren und im vorausgehenden Kapitel zitierten Aussagen Heideggers über den Mißbrauch /der Technik absehen, so fragen wir uns vergeblich, was seine rekonstruktiven Bemühungen um das Verständnis des „Wesens" der Technik zur „Einheit" der heute lebenden Einzelwesen mit ihrem gesellschaftlichen Ganzen beitragen können.

Es ist meines Erachtens über die reine Verbalistik hinaus wenig geleistet, wenn Heidegger beispielsweise in seiner Besinnung auf die vier Ursachenbegriffe des Aristoteles auseinandersetzt, daß das, was wir „Ursache" und „die Römer causa nennen", bei den Griechen »tov«, das heißt „das, was ein anderes verschuldet“, heißt, und wenn er dann fortfährt, in typischer Verkomplizierung relativ einfacher Sachverhalte durch eine weitere Serie von eigentümlichen Wortbildungen wie „Entbergen", „Bestand", „bestellt", „ver-an-lassen* usw. das Wesen der Technik eher zu verwirren als zu enthüllen

Um das „Wesen" der Technik in seinem neuen Verständnis klarzumachen, sagt Heidegger: „, Wesen', verbal verstanden, ist das Selbe wie „währen’“; nicht nur bedeutungsmäßig, sondern auch in der lautlichen Wortbildung. Schon Sokrates und Platon denken das Wesen von etwas als das Wesende im Sinne des Währenden." „Alles Wesende währt. Aber ist das Währende nur das Fortwährende? Währt das Wesen der Technik im Sinne des Fortwährens einer Idee, die über allem Technischen schwebt... ? Wie die Technik west, läßt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin sich das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet." Das Wesen der Technik ist also „eine Weise des Entbergens". Sie gehört zum oder vielmehr sie „west in dem Bereich, wo Wahrheit geschieht"

Heidegger pariert den selbsterhobenen Einwand, seine Bestimmung der Technik gelte nur für das griechische Denken, im günstigen Falle für die handwerkliche Technik, treffe jedoch nicht „für die moderne Kraftmaschinentechnik" zu. Denn diese moderne Technik — so sagte man — sei unvergleichbar mit früheren Stufen der Technik, weil sie auf der neuzeitlichen und exakten Naturwissenschaft beruhe. Man bedenke hierbei, daß Heidegger das „gegenständliche Denken" der Wissenschaft als den „Seibstand" der Dinge vernichtend verwirft. Also erklärt Heidegger: „Die Feststellung dieses Wechselverhältnisses zwischen Technik und Physik ist richtig. Aber sie bleibt eine bloß (sic!) historische Feststellung von Tatsachen und sagt nichts von dem, worin dieses WechselVerhältnis gründet." Nach dieser großartigen Heideggerschen Bagatellisierung geschichtlich, somit für uns auch wissenschaftlich erheblicher Tatsachen muß die Frage lauten: Worin gründet das „Wechselverhältnis“ denn?

Wir erfahren es indirekt: Alle Technik ist „Entbergen" oder „Her-vor-bringen". Zu die-sem gehören Zweck und Mittel und das Instrumentale als der Grundzug der Technik

„Das Entbergen, das die moderne Technik durchherrscht, hat den Charakter des Stellens im Sinne der Herausforderung. Sie geschieht dadurch, daß die in der Natur verborgene Energie aufgeschlossen, das Erschlossene umgeformt, das Umgeformte gespeichert, das Gespeicherte wieder verteilt und das Verteilte erneut umgestaltet wird." Dieser völlig un-empirischen, daher unwissenschaftlichen und lebensentfremdeten Weise von Philosophieren fällt nicht auf, daß zum „Wesen des Entbergens" der „in der Natur verborgenen Energie" das „Aufschließen" durch die Naturwissenschaft gehört und daß diese Funktion, die wir als so sehr wesentlich und vom technischen Vorgang grundsätzlich unterschieden herausgearbeitet haben, nicht einfach durch einen Federstrich der Technik zugeschrieben werden kann. Das „wesentliche", „post-moderne" Problem der Technik als einer von der eigentlichen Naturerforschung gebietsmäßig getrennten, deshalb von den die Tiefen des Daseins „entbergenden“ Erkenntnissen neuester Naturwissenschaft nicht unmittelbar ergriffenen, rein „praktischen" Denk-und Arbeitsweise verschwindet folglich in einem Schwall von Vokabeln. „Erschließen, umformen, speichern, verteilen, umschalten", fährt Heidegger fort, „sind Weisen des Entbergens. Dieses läuft jedoch nicht einfach ab. Es verläuft sich auch nicht ins Unbestimmte. Das Entbergen entbirgt ihm selber seine eigenen vielfach verzahnten Bahnen dadurch, daß es sie steuert. Die Steuerung selbst wird ihrerseits überall gesichert. Steuerung und Sicherung werden sogar die Hauptzüge des herausfordernden Entbergens." Ist damit wirklich ein Wesentliches und Neues gesagt, daß man die Kontrollen des methodischen Forschens, Schaffens und Denkens so umschreibt? Mit diesem nicht mit nüchternen Definitionen, sondern mit einer höchst anspruchsvollen Mythologie des Sprechens operierenden Erklären ist weder dem Techniker noch dem Naturwissenschaftler, noch dem vom neuen „Denkstil" geistig noch nicht verdrobenen Philosophen irgendeine wesenhafte Anwort auf ihre zeitbedingten Fragen erteilt

Der auf dem europäischen Festlande heute so verbreiteten Fundamentalontologie als Vorkämpferin eines „technischen Eros", einer neuen „Weltfrömmigkeit", der Religiosierung „der vergesellschaftenden Kraft des Technizismus" muß bei nüchterner Betrachtung doch vielleicht das Zeugnis ausgestellt werden, daß sie das neuzeitliche Wesen der Technik nicht hinreichend registriert hat. Im Hinblick auf die zahlreichen sozialwissenschaftlichen Nachahmer der ontologischen Methode in Deutschland tut die Besinnung not, daß zur lebensnahen und wissenschaftlichen Analyse von Lebens-und Wirklichkeitszusammenhängen, auch bei der Betrachtung der Technik, nicht Worterfindungen und originelle, manchmal sehr fragwürdige Wortsinndeutungen, sondern harte empirische Arbeit, umfassende soziologische Beobachtung, wissenschaftshistorisches Studium in Verbindung in einem unvermeidlichen Rest sehr vorsichtigen „Verstehens" von Sinnzusammenhängen erforderlich sind. Sonst verrennt man sich in jene Kombination von Wirklichkeitsfremdheit und durch bombastischen Wortschatz aufgebauschten Platitüden, die das Entsetzen.des Auslandes sind und die anglo-amerikanische Neigung zu streng scientistischer Haltung als eine Art extremer Reaktion hervorgerufen haben. Dabei liegt geringer Trost und kein Anlaß zur Selbst-rechtfertigung in dem Umstande, daß diese scientistische Haltung ihre naiveren wissenschaftlichen und technischen Mythen erzeugt hat, wie sie gleichfalls an zahlreichen Beispielen zitiert wurden. Dies bedeutet lediglich, daß beide entgegengesetzte Richtungen sich in extremen Bahnen zu bewegen scheinen. Da die gesamte bisherige Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie — von Elementen des aristotelischen, platonischen und Kierkegaardschen Denkens abgesehen — von Heidegger pauschal verurteilt wird, glauben wir Ursache zu haben, uns schützend und vertei-digend vor diese Wissenschaftstradition stellen zu sollen. Bei all ihren schon behandelten Schwächen und den noch zur Erörterung kommenden Fährnissen erscheinen die Bewahrung der wissenschaftlichen Tradition und die organische Weiterführung der Erkenntnisse ihrer großen Geister uns wichtiger als die Originalitätshascherei, die immer wieder ab ovo beginnt und so tut, als gelte es, jeden Tag in dieser Generation die Welt neu zu schaffen, und als brauche man von dem schon Bestehenden und Gesagten keine Kenntnis zu nehmen. Die Technik als angewandte Wissenschaft und als Mittel zur Daseinserleichterung hat ihre besonderen Lebensprobleme geschaffen, in-dem sie neben der Daseinserleichterung immer immensere Gefahren fürs Leben hervorrief. „Das durch Technik bezwungene Leben", schreibt Jaspers, „bringt die Voraussetzung der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, die im Entscheidenden an freie Geistigkeit gebunden ist, zum Erlöschen. Es ist jetzt schon sichtbar ein gewaltiger Unterschied zwischen den großen Erfindern und Unternehmern im 19. Jahrhundert und dem heutigen organisierten, immer anonymer werdenden Vorantreiben. Die ... Verwehrung der Öffentlichkeit bei kriegswichtigen Forschungen und Erfindungen könnte ein Symptom des Endes [der technischen Erfindungen] sein, zumal bei dem unabsehbaren Umfang des Kreises der davon betroffenen Forschung."

Das Urteil der Philosophen scheint geteilt zu sein zwischen einem Fortschrittsglauben, der von dem Ineinander von Naturerkenntnis und Technik nur Glück erwartet, und dumpfer Resignation, die im Prozeß der Mechanisierung und Automatisierung die „Verwandlung des Menschen in einen Teil der Maschine" erblickt. Auch kann der technische Mechanismus im Urteil fast aller Sachkenner die Maßen der Menschen weit wirkungsvoller beherrschen als je zuvor. „Zum Beispiel schlägt die ursprüngliche Befreiung der Geister durch Allgegenwart der Nachrichten um in die Beherrschung aller durch kontrollierte Nachrichten."

Jasper setzt sich dennoch in einer umfangreichen Anmerkung mit den dramatisch überspitzten Argumenten der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger auseinander. Ernst Jünger entwarf die „Gestalt des Arbeiters" des „künftigen Herrn der Erde", der „jenseits von Humanität und Barbarei, von Individuum und Masse" steht, Friedrich Georg Jünger ein trostloses Bild der Technik, in welchem der Technik alle Schuld des Lebens aufgebürdet wird. Beide Autoren urteilen nach Jaspers aus einer „ästhetischen Haltung, die aus der Lust an dem geistigen Produkt lebt" und an dem „eigentlich nichts wahr" ist, das aber „verführend auf der Ebene des bodenlos Modernen" ist

Tatsächlich berührt Jaspers hier unwillkürlich eine weitere Folge des technischen Zeitalters und seines arbeitstechnischen Prinzips: die Flucht der Ästheten aus der Wirklichkeit und aus einer Gegenwart, die sie hassen, weil deren Seelenlosigkeit, aber auch die Exaktheit der Leistung, welche die moderne Wissenschaft, Technik und die Arbeit innerhalb der durch die Technik bestimmten Domäne vorschreiben, ihrem Lebensstil und geistigen Rhythmus nicht entsprechen. Aus diesem Grunde begegnen wir in der Gegenwart, das heißt in einem durch Wissenschaft, Technik und Wirtschaft durchrationalisierten, versachlichten, von exakten Leistungen abhängigen Daseins, zahlreichen ästhetisierenden Gestalten innerhalb und außerhalb der Universitäten mit einem feuilletonistischen Flair. Aber die Besonnenheit fehlt ihnen. Sie haben, wie Jaspers es im Zusammenhang der Kitik jener beiden Autoren ausdrückt, „das methodische Denken verlassen", sie haben „das Grundwissen oder das lebenwährende Suchen" preisgegeben. Diese Forderungen, möchten wir meinen, die auch und mit besonderem Nachdruck zum wissenschaftlichen und technischen Zeitalter gehören, sind zu allen Zeiten von den Mythosbeseelten und den Ästheten verachtet worden. Der Umstand, daß es sie heute noch in solch großer Zahl gibt (wir können und möchten sie nicht alle nennen) und daß sie großen Anklang finden, bestätigt eigentlich unser Urteil, daß das mythische, das heißt das nichtkritische, nichtwissenschaftliche, nichttechnische Denken, trotz aller Klagen über die „Versachlichung" des gegenwärtigen Daseins, paradoxerweise immer noch das vorherrschende Denken ist. Natürlich zeichnet sich dieses Denken der „populären" Schriftsteller dabei nur selten durch jenes „Schriftstellertum ersten Ranges“ aus, das Jaspers mit Recht Ernst Jünger zugesteht. Allerdings scheint uns nun andererseits das Wesen der Technik auch nicht so bestimmbar, daß man sie als Mittel auffaßt, das „an sich weder gut noch böse" ist. Es sei „dem Menschen" aufgegeben, dieses Mittel unter solche Bedingungen zu stellen, daß es ihm dient Es ist ja nicht so, daß die Technik, wie Jaspers meint, „als selbständiges Wesen eine leere Macht" ist Im Gegenteil, im Zustand ihres Triumphes über die eigentlichen Lebenszwecke kann sie „den Menschen" so unter sich beugen, daß er ihr willenlos ausgeliefert ist, und es hat sich als ihr Wesen herausgestellt, daß sie, einmal entfesselt, die Tendenz hat, als Objektiviertes und vom Menschen Geschaffenes so auf das menschliche Subjekt zurückzuwirken, daß sie nun ihrerseits den Menschen versklavt. Die philosophischen Appelle an „die Vernunft", die Jaspers immer sichtbarer ins Zentrum seiner Lösungen gerückt hat, wirken demgegenüber — bei aller Hochachtung vor der ungewöhnlichen Kraft seines analytischen Geistes — lebensfern und platonisch

Zu dieser Erkenntnis bedarf es zunächst noch nicht der Auseinandersetzung mit dem furchtbaren, um die Atombombe entstandenen Fragenkomplex. Zur Kennzeichnung der Problematik des Zeitalters genügt an dieser Stelle zunächst die Entwicklung der um die moderne Wirtschaft und den modernen Arbeitsprozeß gruppierten, wesentlichen Sachverhalte.

Es bedarf kaum des Beweises, daß die im Vergleich zu früheren Zeiten beträchtlich angestiegene Bevölkerungszahl der Industrieländer ohne das Vorhandensein des technisch-industriellen Apparats entweder nicht physisch erhalten oder wenigstens nicht auf dem Gesundheiss-und Wohlstandsniveau gehalten werden könnte, auf dem sie sich heute befindet. Dabei sehen wir in diesem Zusammenhang von den übervölkerungs-und Armutsverhältnissen gewisser unterentwickelter Länder ab, müssen aber darauf hinweisen, daß sie den obigen Satz als trauriges negatives Beispiel bestätigen. Da die Bevölkerungszahl Deutschlands von etwa 16 Millionen um das Jahr 1600 auf 56 Millionen bis zum Jahr 1900 stieg, sich dann bis 1910 auf 65 Millionen steigerte, ergibt sich, daß auf einem gegebenen, sich gleichbleibenden Flächenraum ein Vielfaches dieser Bevölkerung Ernährung und Beschäftigung fand.

Ohne die Entwicklung einer hochdifferenzierten Technik und Industrie wäre dies nicht möglich gewesen, wobei die alte Zirkelfrage uns hier nicht berührt, ob Technik und Industrie ihrerseits nicht auch die Bevölkerungsvermehrung verursacht haben. Dies ist wahrscheinlich, obgleich die Bevölkerungsexplosion in bislang nicht-hochindustrialisierten Ländern wie Java, Indien und China den Satz zu widerlegen scheint.

Zwar ist die Maschine unter anderem ein arbeitsparendes Produktionsmittel. Auf die Dauer aber schaffen die verbesserten Instrumente neue Arbeitsgelegenheiten. So hat die Einführung der Dampfmaschinen und der Eisenbahnen unvergleichlich mehr Menschen Arbeit gegeben als aus ihren Berufen verdrängt. Die Maschinenbau-und elektrotechnischen Industrien, das Automobil, das Flugzeug und die allerneuesten elektronischen und automatischen Apparate und die Reaktoren der nuklearen Technik haben ganz neue Heere von produktiven Arbeitskräften geschaffen. Ob es sich um industrialisierte Länder mit reichen Bodenschätzen oder um solche mit geringem natürlichen, aber technisch und industriell fundiertem Reichtum handelt, der in diesem letzteren Falle durch einen wohlorganisierten Außenhandel und Verkehr zu Import-und Exportzwecken ergänzt und gestützt sein muß, um lebensfähig zu bleiben — in keiner dieser beiden Alternativen würde die Bevölkerung als Ganzes ein Leben in relativem Wohlstand und innerem Frieden führenkönnen, wenn der technische-industrielle Apparat versagt. In den Vereinigten Staaten versorgen weniger als 15 Millionen Farmer und ihre Arbeitskräfte eine Bevölkerung von über 180 Millionen und beträchtliche Teile des Auslandes mit den Früchten ihrer überreichen landwirtschaftlichen Produktion. Auch dies ist möglich geworden durch die hochgradige technische Rationalisierung der Agrarwirtschaft.

Die Ethnologen berichten über die technischen Künste der sogenannten Naturvölker, durch die sie ihre Nahrungs-, Kleidungs-und Wohnbedürfnisse, nicht selten auch ihre Freude am Zierat befriedigen. Sie sind dabei auf das angewiesen, was ihnen die Natur in ihrer unmittelbaren Umwelt oder der Handel liefert. Die sogenannten entwickelten Völker haben sich immer weiter von dem entfernt, was die Natur ihnen mehr oder weniger unmittelbar darbietet. Durch immer kompliziertere technische Prozesse, die schließlich zu esoterischen Wissenschaften wurden, fabrizieren sie Stoffe und konstruieren sie Anlagen, Bauten und Verkehrsmittel, deren Herkunft aus Rohmaterialien, wie die Natur sie dem Menschen lieferte, nur nach langjähriger Schulung und manchmal nur auf Grund höchster Fachkenntnis erkennbar bleibt.

Der Mensch als werkzeugschaffendes Wesen hat Wunder vollbracht. Die Menschen, die sich zu Beginn des industriellen Zeitalters zum Sturm gegen die arbeitsparenden Maschinen sammelten, lernten schließlich, daß die Maschine Arbeitsplätze schuf. Aus den angeführten Gesichtswinkeln nun ist augenscheinlich, daß der Mensch es nicht mehr in der Hand hat, die Maschine abzuschaffen. Noch kann er, je mehr in unserer Zeit der Druck der unterentwickelten Völker und die Bevölkerungsvermehrung zunehmen, den Stand der Technik „einfrieren", das heißt aus Furcht vor dem Frankenstein-Monster, das in der Technik lebt, ihren weiteren Fortschritt künstlich stoppen. Diese Problematik haben wir bereits in einem anderen Zusammenhang gestreift. Wissenschaft und Technik können den Lauf der Erfindungen nicht willkürlich abbrechen. Das wirtschaftliche Lebens-und Expansionsprinzip der modernen Gesellschaft ist tatsächlich von ihnen abhängig geworden. Im Jahre 1932 schrieb noch ein führender Wirtschaftswissenschaftler, daß es keinen Grund gäbe, „der zur Annahme berechtigt, daß es uns gelingen wird, ähnliche ökonomische Wirkungen durch weitere Fortschritte zu erzielen, wie wir sie in den letzten hundert Jahren erzielt haben". Ein altes Walzwerk im Handlangerbetrieb der siebziger Jahre erforderte 23 Mann, ein Menschenalter später brauchte dasselbe Walzwerk mit Hebemaschinen höchstens 7 Mann. „Ein weiter Abstieg in der Rationalisierung des Arbeitsprozesses ist in gleicher Dimension für die Zukunft überhaupt kaum denkbar." 13 Jahre nach der Veröffentlichung dieses Satzes begann das Atomzeitalter mit seinen Begleiterscheinungen der neuesten Elektronentechnik und der sogenannten Automation. Es macht vergangene und auch gegenwärtige Voraussagen über die künftige Gestaltung der Rationalisierung von Industrie und Gesellschaft sehr fragwürdig.

Soviel aber steht fest: Der Trend ist nicht aufzuhalten. Der Mensch, „der Herr über die Naturkräfte" und der Schöpfer der Maschine, ist in fast unberechenbarem Ausmaß ihr Sklave geworden, denn er kann seine Abhängigkeit von ihrem wirtschaftlichen Nutzen nicht auslöschen, ohne seine eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Insofern ist Arnold Gehlens Erklärung der Bestimmungsgründe der Technik aus der quasi-biologischen Struktur des Menschen grundsätzlich ebenso zutreffend wie der Satz, daß der technische Geist sich jetzt „als die progressive Bewußtseinsform dieses Zeitalters mit der Unwiderstehlichkeit eines Verhängnisses" ausbreite

Mit einer pauschalen Verurteilung des Zeitgeistes und der dem Zeitgeist immanenten Inflation der Wünsche ist aber keine Lösung angedeutet, ebensowenig mit der Aufforderung zur „Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich" Nach Gehlen hat die Industriekultur einen Institutionsverfall eingeleitet, der um so fataler ist, als die Institutionen dem Menschen eine Verhaltenssicherheit gewährten. Wir möchten lieber sagen, daß dieser verallgemeinernde Gedanke auf Deutschland konkret zutrifft, wenn man statt „Institutionen" Tradition und Legitimität sagt. Der Gedanke, daß Institutionen früher etwas geleistet haben, was heute nur noch von eigenständigen Individuen mit Kulturbewußtsein vollbracht werden kann, und der abschließende Satz Gehlens: „Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall" überschätzen die unge18) minderten Leistungen und Funktionen der Institutionen im Industriezeitalter.

Was sich gewandelt hat, ist weder die Funktionsweise der Institutionen noch das ungeheurer Variationen fähige Wesen des Menschen; ein Mensch ist niemals eine Institution, ganz besonders nicht „in einem Fall", es sei denn im humorvollen Sinne des amerikanischen Komödianten, der angesichts seiner Langlebigkeit und Beharrlichkeit von sich behauptet: „Ich bin kein Mensch, sondern eine Institution."

Eine Institution ist ein komplexes gesellschaftliches Beziehungssystem mit materiellen Kriterien, daher ein ausgesprochenes Mittel zum Zweck. Ihr Hauptdaseinszweck besteht in der Befriedigung entweder fundamentaler oder komplizierter menschlicher Bedürfnisse und Interessen. Ihre äußeren Beziehungen, Tätigkeiten, Organe, materiellen Hilfsmittel gruppieren sich jeweils entweder um einen Zweck oder eine Idee, die hinwiederum entweder politisch-materieller, wirtschaftlicher oder auch geistiger, moralischer, kulturpolitischer Art sein können. Der Staat, die Wirtschaftsunternehmen, Universitäten, Schulen, Kirchen und deren jeweilige Verwaltung und Organisation sind Institutionen. Parteien, Interessenverbände, Gewerkschaften ebenfalls. Ihre Zwecke und Ideen sind oft grundverschieden voneinander, sie reagieren aber allesamt auf gegebene Zeitverhältnisse, genauso wie die Menschen, oftmals ganz unabhängig von den Institutionen, das tun. „Die Institutionen" unserer Zeit sind nicht „verfallen", sie haben sich auf manchen Gebieten vervielfacht, einige von ihnen sind abgetreten, wurden von anderen ersetzt, deren Zwecke den wechselnden Bedürfnissen und Interessen der Zeit mehr entsprachen. Die gesamten Aufgaben der Zeit sind komplizierter geworden sowohl für einzelne als auch für die Institutionen. Verallgemeinerungen und vorschnelle theoretische Formulierungen dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Was den Menschen und Institutionen heute aber einige Probleme besonderer Art auferlegt, das ist eben der aus der technischen Industrie ganz natürlich hervorgestiegene, eigentümliche Zyklus von Bedürfnisbefriedigungen und Bedürfnissteigerungen. In diktatorischen Systemen kann der Zyklus „gesperrt" werden. In der Demokratie nimmt er in unserem Zeitalter derartig bedrohliche Formen und Ausmaße an, daß es manchmal und manchen zur Verzweiflung an der staatlichen Institution der Demokratie getrieben hat. Die Inflation der Wünsche auf materiellem Gebiet hat gerade die im Wirtschaftlichen Tätigen erfaßt.

Aber nur bei einer Schicht hat sie ein beständig revolutionäres Kolorit angenommen in dem Sinne eines unaufhörlich drohenden umstürzlerischen oder zerstörerischen Potentials:

bei dem von Berufsfunktionären und einigen Intellektuellen geführten Arbeiterstand.

Das Verhältnis der Arbeiterschaft zum Staat und zur Gesellschaft war von Anfang an das Grundproblem des Industriestaates. Der demokratische und soziale Wohlfahrtsstaat hat — soweit und solange er die materiellen Wünsche der Arbeiterschaft erfüllen kann — das Problem auf menschlichere Weise beantwortet als der totalitäre Staat mit seinem Zwang, seinen Vorwänden und seinen Lügen. Aber gelöst hat er das Problem nicht. Hierzu wäre ein bejahendes Verhältnis der Arbeiter zum Staat auch dann gefordert, wenn die materiellen Hilfsquellen des Staatswesens oder der Wirtschaft oder beider einmal zwangsläufig dünner fließen und wenn gewisse materielle Opfer und Einschränkungen von allen Gliedern des Volksganzen (von Kriegszeiten ganz abgesehen) erwartet werden. Der Kern des Problems besteht also in der Frage nach einer nicht nur von ausschließlich materiellen Befriedigungen abhängigen positiven Haltung zu Staat und Gesellschaft. Dieser Problemkern hängt eng mit pädagogischen Problemen, mit den psychischen Bedingungen der Arbeitslust, der Auffassung von der Arbeits-und Berufspflicht, der bald dringender werdenden Problematik der Freizeitgestaltung, dem Ethos der Gewerkschaftsführung, aber auch dem Ethos der Betriebsleitung und dem von ihr wenigstens teilweise immer noch abhängigen sogenannten „Betriebsklima" zusammen.

Vor allem aber ist der vornehmlich materialistisch gerichtete Befriedigungsdrang der Arbeiterschaft eine Nebenfolge der allgemeinen, hauptsächlich materiell-ökonomisch fundierten Geistesorientierung der gesamten Gesellschaft in der modernen westlichen Demokratie sowie des wirtschaftlichen Prinzips des „geringsten Mittels". Beides sind Phänomene unseres heutigen, vornehmlich vom Wirtschaftlich-Technischen beherrschten Kulturstils, und zwar meinen wir einen Begriff des Wirtschaftlichen, dessen Arbeitsprinzip auf der zum Extrem gesteigerten technischen Versachlichung beruht. Sie hat zweifellos auch dazu geführt, die menschlichen Beziehungen zwischen den Produktionspartnern weithin zu „entmenschlichen" und zu „ent-individualisieren". Und hierin liegen aller Wahrscheinlichkeit nach die Gründe für die Mehrzahl der in einer entwickelten Industriegesellschaft so häufig auftretenden neurotischen Störungen und Psychosen. Denn irgendwie gehört das menschliche Für und Beieinander zum normalen Leben und zum Gefühl der persönlichen Sicherheit. Keine unpersönliche Verbandsorganisation kann diese erzeugen. Dennoch legen sich wenige Menschen von dieser Sachlage Rechenschaft ab.

Ob eine Bevölkerung sich im Industriezeitalter vollbeschäftigt und auf relativem wirtschaftlichen Wohlstandsniveau erhält, das hängt nach Mackenroth von der Art des technischen Fortschritts und von der konkreten geschichtlichen Situation ab. Technik an sich bedeutet durchaus nicht immer und notwendig, daß die Arbeiterbevölkerung, die durch einen technischen Fortschritt freigesetzt wird, auf lange Sicht wieder im Arbeitsprozeß absorbiert werde. Es gibt arbeitsparenden und kapitalsparenden technischen Fortschritt. Nur wenn starke Kapitalneubildungen den technischen Fortschritt begleiten, so wird ein Bevölkerungsvakuum statt einer Bevölkerungsfreisetzung erzeugt. Daneben aber gibt es Produktivitätssteigerungen „rein aus dem Organisatorischen heraus". Wir sind heute also ebenso von einem richtig funktionierenden „sozialorganisatorischen Apparat" abhängig wie vom Funktionieren der technischen Leistungen und des Kapitalmarktes. Die Möglichkeit gehobener Produktivität liegt in allen dreien begründet, aber auch ebenso die Möglichkeit gewaltiger Rückschläge und Katastrophen

Von hier aus könnte man Betrachtungen darüber anstellen, wie sehr entweder die Kenntnis oder die Selbstverantwortung bei einzelnen Gewerkschaftsführern mangelt, sofern sie laufend Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen fordern und insofern diese ohne Rücksicht auf die auch für das Wohlergehen der Arbeiterschaft unbedingt notwendige Kapitalbildung erfolgen. Die gleiche Bewertung verdienen Störungen des wirtschaftlichen Systems durch entsprechende Forderungen, sowohl von Wirtschaft als auch Gewerkschaft, insofern sie ohne Rücksicht zum Beispiel auf organisatorische Maßnahmen der Regierung zur Stützung oder Festigung der Währung oder zur Regelung des Kreditwesens erhoben und sofern diese Forderungen mit Drohungen und anderen Druckmitteln durchgesetzt werden. Im Hinblick darauf, daß zahlreiche deut-21) sehe Gewerkschaftler seit dem zweiten Weltkrieg die amerikanischen Gewerkschaftsmethoden an Ort und Stelle studiert haben (wie ja überhaupt der amerikanische Missionsglaube und der deutsche Lern-und Reform-wille nach dem Kriege zusammenwirkten, um den Einfluß amerikanischer Modelle auf allen möglichen Gebieten, manchmal mit erfreulichem, manchmal mit schädlichem Ergebnis, zu verbreiten) und einige von ihnen gewisse Aspekte dieser Methoden zunehmend anwenden, sei gesagt, daß die Rohstoffarmut Deutschlands die Bundesrepublik in einem unvergleichlich höheren Maße als Amerika von einer gut funktionierenden Organisation der Wirtschaft abhängig macht. Diese Organisation erstreckt sich, privatwirtschaftlich gesehen, auf einen möglichst rationellen Betrieb und auf einen erfolgreichen Außenhandel, ohne die eine darbende Überschußbevölkerung ohne sinnvolle Arbeitsmöglichkeit und — gerade dies im besonderen Gegensatz zu Amerika — ohne ökonomische Kraftreserven sich im rohstoffarmen Lande sehr schnell ausbreiten würde. Vom Staat her gesehen, besteht die rationelle Organisation in einer klugen und vorsichtigen Währungs-und Kreditpolitik, die Kapital und Arbeit schützt. Die relative Solvenz und Solidität des Staatshaushalts der Bundesrepublik (abgesehen vom übertriebenen, aber schwer überwindbaren Föderalismus) sticht ab von der finanziellen Verschwendung, Großzügigkeit und Generosität, die der amerikanische Staat sich leisten kann. Würden sie von der Bundesrepublik in disproportionalen Maßen und Grenzen nachgeahmt, so könnte dies für ihre gesamte Wirtschaft katastrophale Folgen haben. Sie darf sich auch durch den Druck einzelner Gewerkschaften und des Auslandes nicht vom Wege der Solidität abbringen lassen. Auch kann sie ohne Gegenwehr durch gesetzliche Vorschriften die Selbstherrlichkeit von Wirtschaftsführern nicht dulden, wie sie zum Beispiel im Verhalten des Vorstandes des Volkswagenwerkes im April 1962 zum Ausdruck kam. Böse Beispiele an prominenter Stelle wirken immer wie ein Signal zu allgemeiner Verantwortungslosigkeit. Mißbrauch der Freiheit, auch der wirtschaftlichen, untergräbt die Demokratie. Die Auffassung einer Tageszeitung (FAZ vom 3. Mai 1962), daß die Preispolitik eines Unternehmens in einer kritischen Schlüsselstellung die Regierung nichts anginge, gehört grundsätzlich ins 19. Jahrhundert, nicht in diese Zeit.

Organisation im obigen Sinne ist also nichts weiter als geplante Ordnung. Da menschliche Pläne und Ordnungen aber von subjektiven Urteilen und Wertungen abhängig sind, Meinungen, insbesondere aber Interessen in der durch ewig unfertig bleibende wissenschaftliche Erkenntnisse, durch technische Fortschritte, politische, moralische und wirtschaftliche Interessengegensätze geprägten, modernen Gesellschaft bunt durcheinander wirbeln, so bleiben organisatorische Maßnahmen im obigen Sinne dennoch Gegenstand der politischen Debatte, sehr häufig einer unabgeschlossenen, höchstens durch den unerbittlichen Gang der Geschichte manchmal beendeten Debatte. Der Mensch, nebenbei bemerkt, ist in aller Ordnung, ob geplant oder nicht geplant, organisiert oder nichtorganisiert, nicht viel mehr als ein Objekt. Das was Freyer das „sekundäre System" nennt, „nimmt" den Menschen, wobei der. Plan immerhin „seinen Selbsterhaltungstrieb, seinen Willen, gebotene Chancen auszunutzen", sein Streben, sich zu verbessern, aber auch „die Faulheit" der meisten (dies ist Freyers, meines Erachtens zu starker Ausdruck), den Hang zum Wohlleben und „die elementaren Bindungen an Weib und Kind" in den Entwurf der modernen sozialen Ordnungen mit einbezieht

Dies ist eine Seite des Problems. Eine andere ist, daß der Industrialisierungsprozeß, der in Westeuropa bei verschiedenen Staaten in verschiedenen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, in Rußland jetzt seinem Höhepunkt zusteuert, in den unterentwickelten Ländern noch am Anfang steht oder noch gar nicht begonnen hat, in verschiedenen Phasen seiner Entwicklung auch ganz verschiedene Ansprüche an Technik, Kapital und Arbeitseinsatz stellt. Dies ist ein im Blick auf die sogenannten Entwicklungsländer mit ihrem oft ungestümen, ungezügelten und primitiven Begehren nach allen Gütern der Zivilisation, und zwar oftmals ohne den dazugehörigen Willen zu eigenen disziplinierten Leistungen und anfänglichen Opfern, gar nicht wichtig genug einzuschätzender Gedanke. In der ersten Phase der Industrialisierung eines Landes muß der technische Fortschritt sich notwendig auf die Kapitalinvestierung in Produktionsgütern, das heißt industriellen Anlagen, und die Infrastruktur, zum Beispiel Verbesserung der Verkehrseinrichtungen, konzentrieren. Das im Lande investierte Kapital kommt also zuvörderst und im wesentlichen nicht dei Hebung des Konsumstandes der Bevölkerung zugute. Im Gegenteil werden in dieser Beziehung oftmals Opfer verlangt. Es gereicht zum Beispiel den deutschen Gewerkschaften und den deutschen Arbeitern zum Ruhme, daß sie während der Wiederaufbauperiode nach 1945 dieses wirtschaftliche Gesetz berücksichtigt haben und zu diesem Opfer mehr als manche anderen Bevölkerungsschichten bereit waren.

In der Sowjetunion ermöglichte die Rechtlosmachung der Arbeiterschaft während der industriellen Expansionsperiode der 20er, 30er, 40er und Anfang der 50er Jahre denselben (aber nicht-freiwilligen) Verzicht, in Rotchina spielt sich jetzt ein ähnlicher Vorgang wie seinerzeit in der Sowjetunion ab. In anderen geschichtlichen Phasen und Ländern ging es nicht ohne Zwang, Krawalle oder soziale Verbitterung ab. Man denke hierbei an die Sozialistengesetze Bismarcks und die damals wachsende Radikalisierung der deutschen Arbeiterschaft als Folgeerscheinung oder an die sporadischen und blutigen Arbeiteraufstände in den Vereinigten Staaten während der 80er und 90er Jahre. Die bange Frage ist, ob afrikanische, lateinamerikanische und einige asiatische Völker mit ihrem dem industriellen Tempo in keiner Weise entsprechenden Arbeits-und Lebensstil und unter dem zusätzlichen Einfluß von ehrgeizigen Demagogen wie Nasser, Nkrumah, Toure, Castro und anderen eine Geduldspanne aufbringen werden, die den aufreizenden Parolen der Kommunisten und der demagogischen Geschäftemacher unter ihren eigenen Führergestalten standhält.

Während dieser Periode ist möglicherweise auch ein Arbeitslosenkontingent vorhanden, da die primäre industrielle Expansion ihre potentielle Grenze noch nicht erreicht hat. Erst wenn die Grundbedürfnisse eines industriellen Aufbaus erfüllt sind, können im allgemeinen die Bedürfnisse eines differenzierten Lebens-und Konsumbedarfs berücksichtigt werden. Mit einem fühlbareren Gleichgewicht von Produktions-und Konsumgütern ist dann auch eine ausgewogenere Beschäftigungslage möglich, dies jedoch immer nur bei den Völkern mit entweder natürlichem Reichtum und Bildungsniveau oder mit Kapital —, das heißt Sparsinn in Verbindung mit einem verbreiteten und ausgeprägten wirtschaftlichen Organisationstalent. Nicht einmal in allen europäischen Industrieländern sind diese Voraussetzungen in genügendem Maße vorhanden, um eine der Bevölkerungszahl entsprechende Wirtschaftsund Beschäftigungsbasis zu gewährleisten. Radikalisierungs-und Auswanderungstendenzen sind die Folgen. Bei den sogenannten Entwicklungsländern setzt das gesamte Vorhaben eine von außen kommende beträchtliche Investierung voraus, da die betroffenen Völker selber sie nicht zu leisten imstande sind. Man soll sich keinen Illusionen darüber hingeben, daß diese Investierungen in nicht wenigen Fällen bedeutende Risiken einschließen, über die am geeigneten Ort noch zu handeln sein wird. Das Gewähren des notwendig substantiellen Kapitalstocks von Seiten westlicher Länder ist dann im weitaus höheren Maße eine moralische und politische als eine gesunde wirtschaftliche Aufgabe. Diese Dinge muß der Sozialwissenschaftler auseinanderhalten, und man darf ihn nicht dieser seiner objektiven Verpflichtung wegen als Person verdächtigen. Im eigentlichen aber kommen die Dinge, um die es hier geht, selten zur Ruhe. Es handelt sich um die beim vollentwickelten Industrialisierungsstande gleichwohl nicht zur Auflösung kommende Spannung zwischen Konsumstand und Konsumnorm, die der verstorbene Soziologe Gerhard Mackenroth in Anlehnung an den Amerikaner Thorstein Veblen wiederum vorbildlich erklärt hat. Zur Erklärung von Geburtenanstieg und Geburtenrückgang geht Mackenroth nicht vom Konsumstand aus, sondern von dem eigenartigen Spannungsverhältnis, das bei gewissen Bevölkerungsgruppen zwischen Konsumstand und Konsumnorm besteht. Als Konsumnorm gilt derjenige „gedachte Konsumstand, den der einzelne für sich und seine Familie aus seiner sozialen Eingliederung heraus für nicht unterschreitbar hält" Unabhängig vom objektiven Konsumstand entwickelt sich eine von den sozialen Gruppen, denen die einzelnen zugehören, bestimmte subjektive Konsumnorm. Diese Norm geht in ihre Lebensplanung oder in die Forderungen ein, die sie jeweilig ans Leben oder an die Gesellschaft stellen. „Living up with the Joneses" ist der amerikanische Fachausdruck für das soziale Klischee, das vorschreibt, daß man ein Haus in einer teuren Vorstadt oder einem teuren Stadtteil, Mitgliedschaft in einem Country Club, ein luxuriöses Auto, womöglich noch ein zweites oder gar drittes für die Familienmitglieder, einen großen Fernsehapparat u. ä. hat, um in einem bestimmten gesellschaftlichen Kreise „mit An-stand" verkehren zu können. Amerikanische Arbeiter und mittlere Angestellte besitzen lie-ber ein mit allem Komfort ausgestattetes Auto, einen Fernsehapparat und andere „gadgets" als eine gut eingerichtete Wohnung, die sie sich für dasselbe Geld leicht leisten könnten. Sehr häufig stürzen sich beide soziale Klassen in Schulden, weil die von ihnen als standesgemäß oder als unabdingbar erachtete Konsumnorm und der die Grenzen ihrer Verhältnisse kennzeichnende Konsumstand zu weit auseinanderklaffen. Der amerikanische College-Professor oder Künstler, der im Vergleich zu manchen Arbeiterschichten sehr bescheiden lebt und relativ geringe Ansprüche an materielle Bedürfnisse und „Normen" stellt, solange er und seine Kinder ihre subjektiven Bildungsansprüche erfüllen können, wird ob seines Verzichts auf Teilnahme am tollen Wirbel des „Mehr-und-mehr-Habens-und -Genießens" von den beiden, vorher bezeichneten Gruppen als eine Art abnormes, fast „unamerikanisches" Kuriosum bewertet.

Der politische Druck der amerikanischen Gewerkschaften und die relative materielle Bescheidenheit der intellektuellen Schicht zeitigen oftmals bizarre Formen in bezug auf das Differential der Einkommensverhältnisse. Ein Lehrer an höheren und Volksschulen in Chicago hatte im Jahre 1959 schließlich ein Monatsgehalt erreicht, das zwischen 350 und 550 Dollar lag. In seinem Arbeitspensum ist er zeitlich und sachlich ständig überfordert. Der Schuldiener an seiner Anstalt aber bezog im gleichen Jahre ein Monatsgehalt von 900 Dollar. Dabei sind seine Stundenzahl und sein Arbeitspensum streng begrenzt, und für Extraleistungen stellt er Hilfskräfte an, deren Lohneinstufung nicht oder, kaum niedriger ist als seine eigene. Der Schuldiener, im Gegensatz zum Lehrer, übt sein Amt ohne besondere Vorbildung aus, aber sein Beruf ist in Chicago durch seine Mitgliedschaft in einer politisch sehr einflußreichen Gewerkschaft gestützt und geschützt. Hier ist ein Punkt erreicht, wo die ursprünglich segensreiche oder nützliche Funktion der Gewerkschaften in Willkür und Unvernunft ausartet. Im übrigen ist das geschilderte Beispiel kein Einzelfall Sobald bei einem Großteil der Bevölkerung die Konsumnorm ständig über den Konsumstand hinausschießt, entstehen soziale Schwierigkeiten.

In einigen westlichen Ländern ist der Konsumstand während des 19. Jahrhunderts beständig gestiegen, in Amerika, Kanada, England, Deutschland und in anderen Demokratien des Westens wurde der Konsumstand des Arbeiterstandes gleichfalls dauernd gehoben, wenn man von Kriegszuständen und damit zusammenhängenden oder darauf folgenden Wirtschaftskrisen absehen will. Dabei ist die Konsumnorm fast gewohnheitsmäßig über den Konsumstand hinausgestiegen, hat mit anderen Worten eine Inflation der Wünsche angekurbelt. Thorstein Veblen spricht von einer ständigen Spannung zwischen Konsumnorm und Konsumstand „trotz aller materiellen Steigerung des Wohlstandsniveaus". Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung, daß der wirtschaftliche Fortschritt der Arbeiterschaft in den meisten Industriestaaten des Westens zwar im Widerspruch zur marxistischen Verelendungstheorie steht, dieser selbe Fortschritt nichtsdestoweniger keine emotionale. Beruhigung der Beziehungen der industriellen Arbeiterschaft zum Management bewirkte. Lauterbach betrachtet deswegen mit Recht die Anziehungskraft kommunistischer und nichtkommunistischer totalitärer Agitation für die Arbeiterschaft als einen beständigen, akuten oder latenten, Gefahrenherd

Die Frage, inwiefern dieser bedrohliche Zyklus durch einen Funktionärsapparat in den Gewerkschaften, der seine Existenzberechtigung beweisen will, hie und da künstlich genährt wird, sei zunächst zurückgestellt. Wichtig aber ist, daß in einem Zeitalter oder in einem Milieu, in dem — wenigstens für die meisten der in der Wirtschaft beschäftigten Menschen — kaum andere Werte als die materiellen noch als erstrebenswert gelten, die Expansion des Begehrens schwerlich eine Grenze findet. Es gibt gelegentlich Anzeichen, daß der bundesdeutsche Arbeiter mit seinem materiellen Los zeitweilig zufrieden ist Aber das, was Veblen das „conspicuous consumption of valuable goods" der Besitzenden, die augenfällige Demonstration von Luxus nannte, kann in vielen Ländern und auch im Bundesgebiet auf die Dauer seine aufreizende Wirkung nicht verfehlen. Wie im vorigen Kapitel auseinandergesetzt, ist Armut häufig ein relativer Be-griff, der dem „weniger Besitzenden" erst beim Anblick des „im Überfluß Habenden und Genießenden"

seinen Abstand von den von ihm bislang nicht erworbenen Gütern bewußt werden läßt. Den Mann, der seine Lebensgrundlagen in der Sicherheit geistiger oder gar echter religiöser und moralischer Besitztümer hat, rührt dieser Abstand wenig. Auf Menschen ohne wirklichen religiösen, geistigen oder moralischen Halt — und diese werden überall und immer zahlreicher — wirkt er nicht selten wie ein Stachel oder eine Peitsche, immer aber erzeugt er ihren Neid.

Dabei wird immer weniger danach gefragt, ob das überlegene Eigentum durch Fleiß und Verdienst ehrlich erworben wurde oder ob es auf unehrliche Weise zustande kam. Man denkt auch gar nicht daran, von einem gewissen Punkt an etwa erhöhte oder bessere Arbeitsleistungen mit erhöhten Lohneinkünften zu verbinden. Diese solide wirtschaftliche Regel haben die Gewerkschaften als eine ernst zu nehmende Verhandlungsbasis endgültig zerstört.

Sie haben dadurch das tatsächliche Unrecht früherer Ausbeutungen des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber ausgewogen durch das neue Unrecht an der Gesellschaft, die regelmäßig die Kosten für den Wettlauf nach dem Mammon durch die sogenannten Wirtschaftspartner zu tragen hat.

Im übrigen handelt es sich hier um die Manifestationsweisen gemeinmenschlicher Charakteranlagen. Sie sind nicht nur in den wirtschaftlich unterlegenen Klassen und bei ihren berufsmäßigen Funktionärstypen und intellektuellen Wortführern verbreitet. Sie finden sich auch nicht selten in Unternehmerkreisen und bei den von ihnen abhängigen Reklame-und Propagandafachleuten. Auch dort wird manchmal nicht gefragt, ob der'erfolgreiche Konkurrent im freien Wettbewerb der Güter größere Erfindungsgabe, Tüchtigkeit und Fleiß an den Tag legt, wenn er seine Überlegenheit beweist. Nicht anders als Arbeiter und Gewerkschaften regagieren auch diese Kreise oftmals auf die Manifestation überlegener Leistungen auf selten ihrer Wirtschaftskontrahenten mit der häufig unbegründeten Verdächtigung von deren Geschäftsmethoden. Um auf die Funktion des Arbeiters in der industrialisierten Wirtschaft zurückzukommen: Es hat nicht den Anschein, daß das hochdramatisierte Thema von der Selbstentfremdung des an der Maschine beschäftigten Menschen die Gefühle und Motivationen des Arbeiters adäquat spiegelt im Sinne eines tragischen Sonderschicksals, das nur für dieses Zeitalter und diese Menschenklasse gilt. Daß seine wirklichen Motivationen durch die Entfremdungstheorien nur mittelbar und ungenau erfaßt werden, haben wir schon ausgeführt. Der Reiz hoher Löhne im Vergleich zum Handwerker-stand und zum landwirtschaftlichen Arbeiter, die gemäß jenen Theorien von den Entfremdungstendenzen nicht getroffen werden, das heißt der Antrieb der Konsumnorm, zieht immer mehr Arbeitskräfte aus diesen angeblich befriedigenden Berufen in den „entmenschenden" industriellen Arbeitsberuf. Die Zahl der land-und forstwirtschaftlichen Erwerbstätigen der Bundesrepublik hat sich in einem einzigen Jahre (1960) um 225 000 verringert, deren Mehrheit in die Industrie abzog. Die einzige mögliche Erklärung dafür ist die Jagd nach dem Geld, erhöhtem Konsumstand, der Wille, „gebotene Chancen auszunutzen", die auf dem Lande und im Handwerk nicht zu verwirklichen sind. Dafür opfert man gerne das Stückchen Romantik oder geistiger Selbständigkeit und tauscht dafür die Monotonie des industriellen Arbeitsprozesses ein, aber auch den größeren Spielraum für Freizeit und Güter-konsum. Daneben spielt die sogenannte Tragödie der Entfremdung eine augenscheinlich sehr untergeordnete, wenn überhaupt ein bewußte Rolle bei der Mehrzahl dieser Menschen. 3. Friedliche Atomtechnik — Automation— neue Sozialkrise?

Die Diskussion über die friedliche Anwendung der Atomtechnik wird beständig überschattet durch das Für und Wider, die fortwährende Debatte um die „Atombombe". Immerhin hat es in Amerika und England schon einige längere und erbitterte Streiks wegen der „friedlichen" Einführung automatischer, das heißt mit der Atomtechnik wenigstens mittelbar verbundener Produktionsmethoden gegeben. Arbeiterproteste sind die üblichen oder häufigen Erscheinungen, die aus vorher geschilderten Gründen die Übergangs-und Aufbauperioden der „ersten industriellen Revolution" begleitet haben. In der „zweiten industriellen Revolution", wie man die gesteigerte Einführung automatischer Verfahren bezeichnet hat, werden sie dort nicht fehlen, wo sich eine Freisetzung von Bevölkerungsteilen, also Zustände von Arbeitslosigkeit für menschliche Arbeitskräfte während Ubergangsstadien der Entwicklung oder ganz allgemein als Folgen ergeben. Die Sowjetunion, Rotchina, aber auch gegenwärtig die Bundesrepublik sind in der relativ glücklichen Lage von Ländern, die bis auf weiteres einen kontinuierlichen Mangel an geeigneten Arbeitskräften für ihre Aufgaben aufweisen und in dieser Richtung durch die industrielle Automation vorläufig nicht gefährdet erscheinen. Außerdem wird China vor der systematischen Einführung von „Automation" erst die Probleme eines überstürzten industriellen Aufbaus zu bewältigen haben, und die Bundesrepublik geht vorerst im Vergleich zu England und ganz besonders Amerika in relativ gemächlichem Tempo auf die Einrichtungen der Automation zu. Weitgehend haben sie bisher in der Bundesrepublik nur Eingang gefunden, wo der akute Mangel an menschlicher Arbeitskraft ihre Einführung geradezu erzwang. In einigen anderen hochindustrialisierten Ländern wird die Automatisierung mit ihren zunächst arbeitsparenden Wirkungen soziale Probleme hervorrufen und an die zentrale Planung des Übergangs schwerwiegende Anforderungen zu stellen haben, bis diese 'Phase technischer Umstellung so weit gediehen ist, daß die Investitionen neue Arbeiterheere absorbieren können, aber auch die Anpassungen an die neuen Arbeitsfunktionen, welch die neuartigen Instrumente dem Arbeiter auferlegen, vollzogen sind. Schließlich wird die zu erwartende wesentliche Produktionssteigerung die Gesellschaft vor die Frage stellen, ob erhöhte Rendite nicht auch proportional erhöhte Lohnstufen und daneben eine nicht unansehnlich erweiterte Freizeitspanne für den einzelnen Beschäftigten ermöglichen, ja notwendig machen.

Wenn in diesem Zusammenhang von Notwendigkeit gesprochen wird, so nur in dem Sinne, daß sich der moderne demokratische Industriestaat aus Gründen sozialpolitischer Dialektik kein Arbeitslosenheer mehr leisten kann. Auch die Gründe hierfür hängen mit dem oben skizzierten und durch geschichtliche Erfahrungen demonstrierten Phänomen leicht schwankender Loyalität der modernen, von wirtschaftlichen Befriedigungen abhängigen und vom Ökonomismus als Weltanschauung beeinflußten Massen zu irgendeiner bestehenden Gesellschaftsordnung zusammen. Die höchstgesteigerte wirtschaftliche Produktion kann schließlich überall einen gewissen Punkt der Sättigung in der Nachfrage nach Arbeit erreichen, dem Bevölkerungsfreisetzungen fol-gen, es sei denn, daß eine neue Organisation des Arbeitspensums eine Verteilung vornimmt, die bei zufriedenstellender Lohnregulierung für alle gleichzeitig verkürzte Arbeitszeiten und eine Beschäftigungsrotation für alle schafft, soweit dies möglich ist. Wenn die künftige Entwicklung nicht durch rauhe Ereignisse wie Krieg oder Revolution unterbrochen wird, so liegen die unmittelbar vorausgegangenen Erwägungen von Möglichkeiten und Notwendigkeiten wahrscheinlich nicht im Bereiche der Utopie, wenngleich ein Übermaß an apodiktischen Urteilen, wie es bei derartigen auf die Zukunft gerichteten Spekulationen leider häufig vorkommt, nach bestem Vermögen vermieden werden muß.

Die Aufklärung der Arbeiterschaft ist in Amerika und England genügend fortgeschritten, so daß es sich bei den Streiks in diesen Ländern nicht um eine grundsätzliche Ablehnung der Automation durch die Arbeiterschaft, sondern um Mitspracherecht bei der Anschaffung der Instrumente und um Schutz gegen gesundheitliche und soziale Schäden handelt — keine unbilligen Forderungen Trotzdem rangiert die Furcht vor der Ausbreitung und den Auswirkungen der Automation an zahlreichen Orten und in manchen Bevölkerungsgruppen dicht hinter der Furcht vor einem Atomkrieg. Nichtsdestoweniger erobern sich die friedliche Atomtechnik und die Automation ihren Rang aus denselben Gesetzen und Notwendigkeiten, welche die Tatsachen der Unausweichlichkeit der Technisierung des menschlichen Daseins und der Unaufhaltsamkeit weiterer technischer Fortschritte bisher begründet haben.

Der erste Band des Berichts über die Genfer Atomkonferenz vom Sommer 1955 und ergänzende Berichte, die Ausschüsse der Vereinten Nationen beigesteuert haben, schätzen, daß sich ein Fehlbedarf an von-der Weltwirtschaft benötigten und verwertbaren Energiequellen, schon jetzt sehr fühlbar, fortschreitend erweitern wird. Die fortwährende Ausdehnung industrieller Anlagen auf bisher „unterentwikkelte" Gebiete, das unaufhörliche Anwachsen wirtschaftlicher Bedürfnisse in den „entwickel1) ten" Ländern stellen steigende Anforderungen an die konventionellen Energiequellen wie Kohle, Petroleum, Wasserkraft usw. Im Vergleich zum Petroleum und vor allem zur Kohle spielt die Wasserkraft als Energiequelle eine sehr untergeordnete Rolle. Die beiden ersteren gehören aber zu den „unersetzbaren Stoffen", das heißt, sie können nur „abgebaut, aber nicht angebaut" werden. Zwar ist der Zeitpunkt der Erschöpfung der Kohlen-und Erzlager und der Petroleumquellen so weit entfernt, daß man ihn kaum schon in die wirtschaftliche Kalkulation einzubeziehen braucht. Eine Rolle spielt aber die Preisfrage bei der Ausdehnung der wirtschaftlichen Bedürfnisse. Man ist sich einig darüber, daß die Energielücke, von der oben die Rede war, auf die Dauer allein von der Atomenergie geschlossen werden kann. Doch ist Atomenergie zur Zeit noch beträchtlich teurer als die konventionellen Energiequellen.

„Aber die Verhältnisse entwickeln sich weiter, und zwar entwickeln sie sich . . . entschieden zugunsten der Rentabilität der Atomenergie.

Auf der einen Seite wird die Kohle teurer, auf der anderen Seite wird es sicher möglich werden, die Atomenergie immer billiger zu produzieren, je mehr Erfahrungen man in dieser Technik gemacht hat."

Dieses Gesetz der Verbilligung neuer technischer Verfahrensweisen auf längere Sicht und auf Grund wachsender Erfahrung ist eine überaus wichtige Regel, die bei der Betrachtung der gesamten um friedliche und militärische Atomtechnik entstandenen Fragen nicht aus dem Auge verloren werden darf. Versuche in England und Amerika haben ergeben, daß die Kosten für die Herstellung von Elektrizität pro Kilowattstunde für ein großes Industriewerk in kurzer Frist nicht höher sein werden als für ein konventionelles Elektrizitätswerk Im Zusammenhang unserer vorläufigen Erwägungen interessiert auch der der Wirtschaftswissenschaft bekannte Gedanke, daß der Transport von Kohle sehr teuer, der von Elektrizität über große Strecken unmöglich ist. Das Heranholen von Kohle über sehr weite Strecken in den für kohlearme, aber mit den Weltmächten wetteifernde Länder erforderlichen Mengen darf man gleichfalls als unmöglich bezeichnen An diesem Unve'rmögen scheiterten die Weltmachtsansprüche Japans und Italiens, deren Industriemacht im Entscheidungsfalle und im Vergleich zu derjenigen der USA einfach nicht galt. Dagegen ist der Transport der geringen Uranmengen zur Atomenergieerzeugung selbst für verkehrsund industriearme Länder kein Problem.

Ein weiterer und bekannter Grund für die Notwendigkeit der Entwicklung der friedlichen Atomtechnik ist das gleichsam unaufhaltsame Anwachsen der Erdbevölkerung, die ohne intensive Bodenbewirtschaftung, dazu benötigte technische Mittel, Industrialisierung und neu erschlossene Ernergiequellen nicht am Leben erhalten werden kann. Nach Edward Teller wird die Kernenergie „es ermöglichen, die stetige Ausbreitung der industriellen Revolution aufrechtzuerhalten. Es wird möglich sein, die gesamte Energie, die wir brauchen, zu mäßigen Kosten zu erzeugen" und diese Energie überall auf dem Globus zu einem leidlich gleichmäßigen Preis zu liefern. „Je größer der Bedarf an Kraft, um so mehr muß man sich beeilen, diesen Bedarf mit Hilfe von Kernreaktoren zu befriedigen."

Die automatische Produktionsweise, die auf lange Sicht den hierzu nötigen Umfang der industriellen und landwirtschaftlichen Erzeugnisse sicherstellen kann, ist fast gleichzeitig mit der Atomtechnik entstanden. Elektronische Beobachtungsanlagen, automatische Flugsteuerung, die Einführung automatischer Methoden in den Atomwerken zur Ausschaltung der die Menschen gefährdenden Strahlungswirkungen, elektronische Ausrüstungen zum Abschuß und zur Lenkung von Fern-und Mittelstreckenraketen und ähnliche Vorkehrungen liefen ne-ben den eigentlichen Atomspaltungsforschungen her. Für kriegerische und für friedliche Zwecke erscheinen beide Forschungsgebiete heute unlöslich gekoppelt.

Es gibt aber in der Ansicht fast aller mit den friedlichen Zwecken der Atomtechnik beschäftigten Fachleute einen weiteren Zusammenhang von Atomtechnik und Automation, der ungeheuer fruchtbar und verheißungsvoll ist, und der tatsächlich das Versprechen in sich trägt, die meisten der die Menschheit bedrängenden Probleme der Überbevölkerung und Nahrungsmittelknappheit in weiten geographischen Räumen zu überwinden, wenn die politischen Störungskräfte innerhalb und außerhalb dieser Räume die friedvollen Entwicklungstendenzen nicht hindern. Die Tatsache, daß die Anwendung der Atomkraft zur Energieerzeugung unabhängig ist von der Nähe von Kohlelagern, Petroleumquellen oder Wasserkraft und auch von großangelegten und verzweigten Transportwegen, ermöglicht die Industrialisierung von Gebieten, in denen bisher alle Voraussetzungen für eine wirksame industrielle Entwicklung fehlten. Aus diesem Grunde bekunden „einige Entwicklungsländer wie Brasilien, Indien und Puerto Rico, in denen die Strompreise von den hohen Transportkosten bestimmt werden, schon jetzt ein erhebliches wirtschaftliches Interesse für Kernkraftanlagen" Gleichzeitig hebt die Automatisierung wenigstens im Übergangsstadium das Erfordernis gelernter Arbeitskräfte auf, die es in jenen Gebieten in den für den herkömmlichen Prozeß der Industrialisierung notwendigen Menschen nicht gibt. „Auf diese Weise sind zum erstenmal realisierbare Voraussetzungen für die gleichartige technische Entwicklung auf der ganzen Welt gegeben." Dieser letzte Satz klingt zwar nach ferner Zukunftsmusik und läßt allerlei menschliche, demographische, politische und wirtschaftliche Erwägungen, auf die wir hingedeutet haben und die uns noch weiter beschäftigen werden, außer Betracht, doch kann die theoretische Möglichkeit nicht bestritten werden. Sie ist als solche nicht einmal eine sehr entfernte Möglichkeit. Die Erschließung von Wüstengebieten für landwirtschaftliche Zwecke, die Entsalzung des Meerwassers und seine Verwendung zur Fruchtbarmachung solcher Gebiete, Klima-und Wetterkontrolle usw. sind alles Möglichkeiten, deren Verwirklichung von den Sachkennern als gar nicht so fernliegend angenommen werden. Auch kann angesicht des intensiven internationalen Wettbewerbs die Feststellung nicht angezweifelt werden, daß führende Industrienationen aus reiner wirtschaftlicher Selbsterhaltung sich dem Wettlauf um die friedliche Anwendung der Atomtechnik und der Automation nicht fernhalten können. Die Besorgnis, daß das im Vergleich zu anderen Industriemächten langsame Tempo der Bundesrepublik sie in diesen Beziehungen bereits ins Hintertreffen geraten ließ, erscheint nicht als ganz unbegründet Bei der „Automation." handelt es sich um die Kombination von drei Merkmalen: fließender Produktionsprozeß, Rückmeldetechnik und Kalkulatorentechnik. Eine besondere Eigenart der Automation ist, daß sie Arbeiten maschinell ausführt, die bisher nur von Menschen geleistet werden konnten, in diesem Falle aber nicht nur die Übernahme menschlicher Muskelkraft durch die Maschine, sondern auch die Ersetzung von komplizierten Gehirnfunktionen durch elektronische Geräte „So entsteht eine Tendenz, die . direkte'Arbeit aus den Werkstätten und den Büros zu verdrängen, das heißt den Weg zur automatischen Fabrik und zum automatischen Büro zu bahnen." Begreiflicherweise werden die Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft als revolutionär empfunden: drastische Ersparnisse an Arbeitskräften, ein nahezu fehlerfreies Produkt, Sparsamkeit beim Verbrauch von Rohstoffen, erhöhte Unfallsicherheit, geringere Raumbedürfnisse und weitgehende Unabhängigkeit von Facharbeitern Auf der anderen Seite ergibt sich eine sehr starke vermehrte Nachfrage nach speziell ausgebildeten Fachkräften zur Herstellung, technischen Kontrolle und für Reparaturarbeiten an den komplizierten Maschinen. Diese Fachkräfte werden als eine Art „Automationshierarchie" beschrieben.

Außerdem sind die Herstellung allermodernster Kriegsgeräte in der geforderten Menge und Präzision sowie ihre Bedienung ohne die automatischen Prozesse nicht mehr durchführbar. Pollock und andere weisen mit Recht darauf hin, daß die elektronischen Kalkulatoren nicht nur in der Großindustrie und im Großhandel, sondern auch in der militärischen Logistik und im Staatshaushalt der großen Mächte eine heute unentbehrliche Rolle spielen. Infolgedessen bemüht man sich in Amerika, England und in der Sowjetunion um die „Intensivierung der Ausbildung neuer Fachkräfte", damit die Knappheit an Experten für den Entwurf, Bau und die Handhabung der neuen Apparaturen überwunden werde.

Der gesamte Problemkreis über die wirtschaftlichen, sozialen und sozialökonomischen Auswirkungen der Automation ist noch stark in der Sphäre der Spekulation verankert. Es ist ein Sonderthema für Experten, obgleich anscheinend zahlreiche Nichtexperten das Wort ergriffen haben, um — wie das in den Demokraticn leider Brauch geworden ist — mit ihren voreiligen Theorien die sachgemäße öffentliche Diskussion zu verwirren. Die Überlegungen von Friedrich Pollock scheinen uns immer noch zu den objektivsten, klarsten und nüchternsten aus diesem Themenkreis zu zählen. Die meisten seiner vorsichtigen, auf die unmittelbare Gegenwart bezogenen Voraussagen scheinen sich überdies inzwischen bestätigt zu haben. Infolgedessen werden un-sere kurzen Erörterungen sich hauptsächlich auf seine Darstellungen stützen, soweit es sich hier um fachliche Informationen handelt

Die Grenzen der Anwendung der Automation sind — wie es scheint — in zahlreichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln und Vorträgen mißverständlich erklärt worden. Man brauche nicht beunruhigt zu sein, heißt es da häufig, weil in Amerika beispielsweise die Zahl der von der neuen Technik betroffenen Arbeitnehmer für die nächsten 20 Jahre nur etwa 8 % der Gesamtheit der Beschäftigten ausmachen werde Dabei handele es sich um eine so geringfügige Ziffer, daß ihre Verwendung in anderen Stellen des Arbeitsmarktes keine Schwierigkeiten bereite. Diese Berechnung geht auf Untersuchungen zurück, deren Ergebnisse schon zur Zeit ihrer Veröffentlichung überholt waren. Spätere Berechnungen nannten 25 bis 30 °/o der Beschäftigten als eine für absehbare Zeit feststehende Obergrenze. In Wirklichkeit kann niemand diese Grenze mit irgendeinem Anspruch auf Gewißheit angeben, denn es werden beständig „neue und bisher unerwartete Anwendungsgebiete der Automation bekannt" Sie reichen von der Produktion von Rohstoffen bzw. Ersatzstof-fen dauerhaften und nicht dauerhaften Gütern, Ernergieerzeugnissen, Verkehrswesen, Nachrichtenwesen, Dienstleistungen aller Art für Büro und Lagerarbeiten, welche von automatischen Geräten übernommen werden, bis zu „automatischen Lehrern" Außerdem spielen sie eine Rolle in der öffentlichen Verwaltung, Forschung und „nahezu allen Sparten des Heereswesens". Pollock zitiert die von den Sachverständigen allgemein vertretene Ansicht, daß es „keine von Menschen verrichtete repetitive Arbeit gibt, die nicht automatisch besser und billiger ausgeführt werden kann — sofern man für das Produkt genügend Absatz findet und die eingesparten Arbeitskräfte nicht etwa aus außerwirtschaftlichen Gründen weiter beschäftigt werden sollen".

Allerdings: Vollautomatische Fabriken gibt es nicht und wird es wahrscheinlich nie geben. Denn ohne menschliche Arbeitskräfte für die Überwachung, Instandhaltung und das Eingreifen in Notfällen wird man nicht auskommen. Unabhängig von Pollock aber gilt vermutlich auch in der Zukunft das Wort, daß „die Großen" jedesmal „den Kleinen" neue Chancen bieten. Das mag für die Masse der betroffenen Arbeiterschaft in Übergangszeiten nicht zutreffen, aber es stimmt beim Industrialisierungsprozeß regelmäßig auf lange Sicht. Die industrielle Massenproduktion machte neue Einzelberufe notwendig und beschäftigte dadurch auch neue Arbeitskräfte außerhalb der eigentlichen Produktion. Beispiele hierfür sind Autoreparaturwerkstätten, Tankstellen und alle anderen sogenannten Komplementärfunktionen. Die Möglichkeit einer dauernden Freisetzung von größeren Arbeiterzahlen bei einer unvoraussehbaren Expansion der Automatisierung, wenn diese schließlich sogar weitgehend solche Komplementärfunktionen erfassen sollte, kann allerdings nicht widerlegt werden, ist aber keine Gewißheit. Wir werden dieser theoretischen Möglichkeit immerhin unsere Aufmerksamkeit schenken müssen.

Pollock führt einige Argumente für und wider die wirtschaftsstabilisierenden Möglichkeiten der Automation an. Die Automation soll sich danach stabilisierend auswirken, da sie angeblich die Schwankungen in der Beschäftigungslage, somit die Nachfrage nach Konsumgütern und auch den Bedarf an Produktionsmitteln im Gleichgewicht hält. Automatisierte Betriebe würden eine sinkende Nachfrage nicht unmittelbar durch Entlassungen auszugleichen suchen, sondern durch eine Senkung der Preise und „weitere Rationalisierungsmaßnahmen". Die Entlassung des besonders geschulten Personals würde sich als unzweckmäßig erweisen, und eine Schließung der Betriebe würde sich im Hinblick auf die sehr hohen fixen Kosten verbieten. Außerdem begleitet eine-Planung auf lange Sicht die Einführung der automatischen Prozesse. Eine Unterbrechung der Prozesse wäre gleichbedeutend mit der Paralysierung eines langfristigen, auf Rentabilität abzielenden Planes. Nach Ausführungen amerikanischer Wirtschaftsführer vom Jahre 1955 vor dem Subcommittee des US-Kongresses, das mit Fragen wirtschaftlicher Stabilisierung befaßt ist, werden die Bestellungen für die automatische Ausstattung großer Betriebe auf die jährlichen Absatzschwankungen keine Rücksicht nehmen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß die Automation sich „in zunehmendem Maße als allgemeiner Stabilisator" in der amerikanischen Wirtschaft bewähren wird

Wie so häufig bei den optimistischen, auf vergangene draufgängerische Wirtschaftsleistungen und -erfolge gründenden Aussagen und Prognosen von Amerikanern, muß der unbefangene Beobachter der neuen technischen Entwicklung sich doch fragen, wie sehr der Wunsch als der Vater des Gedankens hier eine Unlogik verschuldet hat. Denn daß Störungen automatischer Prozesse einen vorgefaßten Plan umwerfen würden, bedeutet ja nicht, daß sie sich nicht ereignen können. Sehr richtig weist Pollock bereits im Jahre 1956 auf die Gefahr solcher Störungen hin, und inzwischen ist es in den USA zu bedeutenden Wirtschaftsverlusten gekommen, nicht zuletzt deshalb, weil automatisierte amerikanische Großbetriebe ihre Produktion auf etwas längere Sicht falsch geplant, dabei zuviel Vertrauen in leblose Statistiken bewiesen haben und folglich ihre Produktionskapazität auf Grund tatsächlich auftauchender Marktschwankungen nicht voll ausnutzen konnten. Die Starrheit der automatischen Produktionsweise verlangt wenigstens vorläufig noch zu ihrer Rentabilität die Auswertung ihrer kostspieligen Einrichtungen in einem Maße, das den konventionellen Betrieben nicht so eignet. Dieser Umstand aber bedingt gleichzeitig eine möglicherweise krisenverschärfende Tendenz, denn die einstweilige Notwendigkeit, automatische Werke ohne Rücksicht auf Konjunkturschwankungen herzustellen und in Betrieb zu halten, stärkt die den Industrieländern innewohnende Neigung zur „Schaffung von Uberkapazitäten". Also tritt nach Pollock jetzt das alte Problem der Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichts zwischen der unaufhaltsam wachsenden Produktivität und der zahlungsfähigen Nachfrage in verschärfter Form auf. Wir halten es für möglich, daß es sich bei diesem letzteren von Pollock geschilderten Problem um eine Kinder-oder Übergangskrankheit der gesamten Entwicklung handelt, die zeitbedingt und daher heilbar ist. Denn die Erfahrungen lehren, daß kostspielige neue technische Einrichtungen und Verfahrensweisen sich auf die Dauer nicht nur verbilligen, sondern auch fortschreitend rationalisierbar gestalten lassen. Doch müssen wir zugeben, daß diese These genau wie ihr Gegenteil in bezug auf diesen ganzen Fragenkomplex noch großenteils in der Sphäre des Hypothetischen schwebt.

Als mehr oder weniger konstitutiv und sehr wichtig aber erscheint uns der andere, von Pollock und zahlreichen anderen Fachleuten erwähnte Gefahrenpunkt. Die Gewerkschaften werden einen möglichst hohen Anteil an der gewachsenen Produktivität in Gestalt höherer Löhne fordern. Persönlich scheint mir dabei viel davon abzuhängen, ob diese Forderungen vor oder nach Beginn der eigentlichen Rentabilitätsperiode, also vor oder nach der zum Aufbau und Übergang benötigten „Karenzzeit" erfolgen. Erfolgen sie vorher, so bestätigen sie das Argument der Unternehmer, daß dadurch Preissenkungen erschwert und ein erheblicher Teil der für die Finanzierung der notwendigen Investitionen erforderlichen Automationsgewinne einem Zweck zugeführt werden müßten, der die Berechnungen des Aufbaus und Übergangs erschwert oder gar paralysiert. Es ist auch zweifellos richtig, daß ein subjektiver Antrieb zur Beschleunigung des Automatisierungsvorganges in einigen Ländern die Aussicht war und ist, den fortwährend und geradezu „automatisch" steigenden Lohnforderungen und Streikdrohungen der Gewerkschaften auszuweichen. Die Gewerkschaftspolitik darf also als ein sehr bedeutsamer Faktor bei der Erzeugung des neuen Arbeitsproblems gelten und als solcher nicht unberücksichtigt bleiben.

Hierdurch aber bahnt sich — gleichgültig ob mit oder ohne Verschulden der Gewerkschaften — eine soziale Notlage an, die über die Verantwortung der unmittelbar Beteiligten hinausreicht. Der Staat kann nicht untätig zusehen, wenn die Agierenden in diesem Drama, nur durch das jeweilige Selbstinteresse bestimmt, ihre Kämpfe austragen und ihre weiteren Pläne verfolgen. Eine mögliche Radikalisierung der Massen durch Verlust ihrer Arbeitsfunktion und des Bewußtseins ihrer sozialen Nützlichkeit, ja Daseinsberechtigung zwingt den demokratischen Staat zur Aufgabe seiner Passivität und zur entschiedenen Beteiligung an den Planungen der Automation, wobei nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Gewerkschaften — soweit sie in der demokratisch organisierten Gesellschaft nicht bereits zu mächtig geworden sind — sich Plänen im Interesse des Gesamtwohls und zur Rettung gegen die Gefahr totalitärer Diktatur (die heute überall sehr schnell zur akuten Drohung werden kann) einfügen müssen.

Damit aber auch stellt sich — wie wir es sehen — das ganze zwingende Problem der staatlichen Planungsmöglichkeit in einem demokratischen System, dessen politische Amtsträger und Wortführer ihre führenden Funktionen nicht immer und notwendig auf Grund irgendwelcher nachgewiesenen Fähigkeiten zur überparteilichen und sachlichen Planung erworben haben. (Daß demgegenüber totalitäre Ordnungen zwar zentral, daher gefährlich, aber nicht sachlich oder überparteilich und nicht notwendig im Interesse der Gesamtheit planen, dürfte für Nichtparteigänger totalitärer Regimes heutzutage eine Binsen-wahrheit darstellen.) Daneben steht die-Frage, wieweit die selbstsüchtigen Interessen im Volk, die im Zustand größerer politischer Freiheit sich ungeniert entfalten, sachliche Entscheidungen im Interesse des Gesamtwohls sabotieren werden, so daß selbst bei günstigster Konstellation der Planungsintelligenz staatlicher Stellen ein Abrücken derselben von den Prinzipien freiheitlicher Demokratie mittelbar erzwungen wird. Diese von den allgemeinen Schwächen menschlichen Charakters zeugenden, von Intellektuellen häufig und allzu bequem übergangenen, die Demokratie ganz elementar erschwerenden Probleme werden uns nie verlassen. Wir werden sie an ihrem geeigneten Ort sehr eingehend erörtern müssen. Schon hier sei aber zur Vermeidung gegenwärtig gebräuchlicher Verdächtigungsformeln gesagt, daß wir kein menschlich befriedigenderes politisches System als die Demokratie kennen, wobei wir nur den den Renaissance-und Aufklärungsnaturen unserer Zeit fremden und unverdaulichen Satz hinzufügen müssen, daß innerhalb der meisten heutigen Demokratien nur wenige Menschen den besonderen moralischen und intellektuellen Anforderungen und Verantwortungen eines politisch freien Systems zu entsprechen scheinen.

Doch wenden wir uns wieder unserem Sonderthema zu. Pollocks Einschätzung der spezifisch sozialökonomischen Auswirkungen der Automation erscheint uns im ganzen als zu pessimistisch und zeitgebunden. Auf der einen Seite gibt er zu, daß gänzlich neue Beschäftigungsmöglichkeiten durch die elektronische Industrie und andere Zweige automatischer Dienst-und Arbeitsleistung erschlossen worden sind. Auf der anderen Seite erwartet er für die Zukunft eine sehr beträchtliche, ja möglicherweise verhängnisvolle Ausbreitung technologischer Massenarbeitslosigkeit. Es ist, wie schon gesagt, ein gewagtes Unternehmen, über solch neue kommende Dinge gewißheitsbetonte Urteile abzugeben. Technische Neuerungen großen Stils schließen jedesmal soziale oder politische Gefahren, aber auch die Notwendigkeit, schließlich wohl auch die Fähigkeit zu neuen Anpassungen ein. Diese Fähigkeit zu neuen Anpassungen ist auch diesmal nicht unproblematisch. Ihre Problemhaftigkeit soll aber auch nicht übertrieben werden.

Selbst in der deutschen sozialwissenschaftlichen Literatur hat der von William F. Ogburn wirklichkeitsgemäß formulierte, aber von Nachzüglern trivialisierte Gedanke vom „culture lag" eine manchmal unsachgemäße Auslegung erfahren. Einige deutsche Sozialgelehrte beten den amerikanischen Vereinfachern der Idee nach, die Problematik unseres Zeitalters bestehe darin, daß „der ungeheure Nachholbedarf in der Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse an den bereits erreichten Stand der technischen Entwicklung" nicht befriedigt wurde. „Cultural lag" bedeutet ihnen, daß die gesellschaftlichen Institutionen und das gesellschaftliche Denken „hinter dem Stand der technischen Entwicklung" zurückgeblieben sind Manchmal drückt man den Sachverhalt anspruchvoller aus, indem man beispielsweise von der „Asynchronisierbarkeit des Menschen mit seiner Produktionswelt" spricht Es ist auch anzuerkennen, daß Lutz, der die Idee anscheinend aus zweiter Hand, nämlich von H. E. Barnes, empfing Zweifel an den Folgerungen von Barnes äußert, daß der heutigen Welt „Sozialerfinder“ nötiger seien als technische Erfinder.

Gegenüber diesem typisch amerikanischen Gedanken von der „manageability" aller Probleme („man muß nur etwas erfinden, den richtigen Trick anwenden") und dem damit eng verwandten Gedanken, daß der Impuls zu technischen Erfindungen einfach abgestoppt werden könne, möchten wir hervorheben, daß undiktierte menschliche Anpassungen an neue gesellschaftliche Situationen sich nur langsam, widerstrebend, manchmal nur nach Überwindung bewußten Widerstandes seitens organisierter Interessen verwirklichen lassen. Diese Verzögerungen dürfen aber nicht überdramatisiert werden, und dem Entdecker der gesellschaftlichen Regel vom „cultural lag", Ogburn, lag auch jede übertriebene Anwendung des Prinzips fern.

Das „cultural lag" ist'nicht — wie fast sämtliche anglo-amerikanischen, aber auch zahlreiche andere Sozialwissenschaftler annehmen — primär verantwortlich für das Versagen der Geistes-und Sozialwissenschaften. Die Grundidee Ogburns war, daß Veränderungen in der materiellen zivilisatorisch-technischen oder ökonomischen Sphäre einer gegebenen Gesellschaft gleichfalls Veränderungen in der „nichtmateriellen" Kultursphäre auslösen. Insbesondere aber die „adaptiven" Reflexionen, das heißt die Möglichkeiten der planmäßigen Auswertung und Dienstbarmachung „materieller“ Neuerungen, „hinken nach", sind „spät". Das „objektive Gesamtinteresse" der Gesellschaft leidet unter diesen Verspätungserscheinungen. So war zum Beispiel die innere Anpassung der Gesellschaft an das industrielle Zeitalter zu langsam. Es dauerte zu lange, bis die Notwendigkeit der den neuen materiellen Einrichtungen angepaßten sozialen Einrichtungen (Arbeiterschutz und -wohlfahrt) konzipiert wurde, noch länger, bis diese letzteren realisiert wurden. Dieser Idee des „cultural lag“ immanent, und später von Soziologen häufig übertrieben und mißbraucht, ist der Gedanke, daß das geistige, das gesamte sogenannte „innere" Milieu Schwierigkeiten hat, mit veränderten materiellen Umweltverhältnissen Schritt zu halten.

Ganz besonders verbreitet ist als eine Abart dieser Theorie die Auffassung, daß die Gesamtproblematik unseres Zeitalters sich darin erschöpfe, daß Naturwissenschaften und Technik den Sozialwissenschaften weit vorausgeeilt seien und daß die Aufgabe der letzteren einfach darin bestehe, den Unterschied der Distanz auszugleichen. Politiker, Journalisten, aber auch zahlreiche Soziologen, Politikwissenschaftler, Pädagogen und Philosophen wiederholen diesen Refrain, der seit der Erfindung der Atombombe an Lautstärke zugenommen hat. Das Verhängnis unseres Zeitalters ist demnach nicht so sehr die Technik, die sich in der Zügellosigkeit ihrer Entwicklung dem Punkt genähert hat, wo sie die Zukunft der Menschheit bedroht, sondern die Unfähigkeit der Sozialwissenschaften, mit dem „Fortschritt" der technischen Zivilisation Schritt zu halten. Zwei heute führende amerikanische Pädagogen erklären zum Beispiel, daß der,, einzige Grund" für das Versagen der Versuche zur Vermeidung von internationalen Spannungen und Kriegen der Mangel an richtigen Forschungsmethoden und -resultaten sei und daß es höchste Zeit werde für die Bereitstellung „neuen geistigen Rüstzeugs" auf den Gebieten der Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Und dann folgt der in seiner Widersprüchlichkeit und Naivität fast erschütternde logische Schluß, daß dieses Rüstzeug „durch dieselben wissenschaftlichen Mittel bereitgestellt werden müsse, welche die neuen äußeren Umweltbedingungen" also das Risiko des Untergangs, schufen.

Die Problematik und Eigenart des Geistes im Unterschied zu den Naturgegenständen sind hier nicht begriffen und ebensowenig die prinzipielle Ungleichheit der Forschungsmittel und -möglichkeiten auf naturwissenschaftlichtechnischem einerseits und geisteswissenschaftlichem Gebiet andererseits. Uns will im Gegenteil scheinen, daß umgekehrt die Ideen sehr häufig den äußeren Umweltbedingungen vorausgeeilt sind, zum Beispiel in bezug auf die Einigung Europas nach dem ersten Weltkrieg, als sich zeigte, daß die materiellen und wirtschaftlichen Einrichtungen sich ohne sehr sichtbaren, fühlbaren, konkreten und äußerlichen Druck — wie er nach dem zweiten Weltkrieg gegeben war — nicht bewegen und den schon damals erkennbaren Notwendigkeiten und entsprechend vorausgeeilten Ideen anpassen ließen. Seit Jahrhunderten liegen die Dinge ähnlich auf dem Gebiet der christlichen Ethik. Was vermag der Geist, vor allem die Ethik denn überhaupt von den technischen oder ökonomischen Sphären, die jenen „vorausgeeilt"

sein sollen, zu lernen? Sollen und dürfen sie sich ihnen überhaupt anpassen oder ihnen bedingungslos „folgen"? Ist die Kluft oder Spannung zwischen ihnen und der vermaterialisierten Welt um uns nicht im günstigen Falle noch die einzige Rettung? Wir glauben, daß nur ein durch und durch materialistisches Zeitalter und eine philosophisch belanglose Wissenschaft jene andere Alternative stellen konnte.

Es erscheint uns demgemäß als eine unsachgemäße Behauptung, daß die Gesellschaft „die erste industrielle Revolution in keiner Weise verkraftet hat" Der natürlicherweise mit Verspätung in Erscheinung getretene demokratische Sozialstaat hat diese erste industrielle Revolution soweit „verkraftet" wie überhaupt vor ihr — und wahrscheinlich auch nach ihr — irgendeine menschliche Organisation und Gesellschaft in der Lage war bzw.sein wird, menschliche Probleme zu bewältigen.

Dies soll heißen, daß nach den Ausführungen der unmittelbar vorausgegangenen Kapitel die moralischen, vor allem aber die wirtschaftlichen Ansprüche von Menschen nur mit Mühe oder überhaupt nicht so vollständig befriedigt werden können, daß man entweder von einer statischen oder einer „erfüllten" Gesellschaft sprechen kann — bestimmt nicht, solange es sich um eine politisch, wirtschaftlich oder geistig lebendige, also definitionsgemäß in Bewegung befindliche Gesellschaft handelt. Infolgedessen ist es richtig, von einer dynamischen Gesellschaft zu sprechen, die ihren Ruhepunkt erst erreicht, nicht wenn sie „gesättigt" ist, sondern wenn sie politisch, wirtschaftlich und geistig geknebelt oder gar tot ist. Dies wiederum bedeutet mit logischer Folgerichtigkeit, daß die Probleme nicht stillstehen, sondern sich jagen. Darüber sollte es keinen Grund zur Klage geben, wie deutsche Soziologen der Gegenwart sie oft buchstäblich händeringend, ihre amerikanischen Kollegen sie in der Verbindung mit der beneidenswert optimistischen Gewißheit endgültiger Lösungs23) Vorschläge zum Vortrag bringen. Die sich jagenden Probleme sind normale Erscheinungen der fortgeschrittenen Kulturexistenz. Sie bergen den immer wieder sich erneuernden Auftrag an die kulturtragenden, daher nicht nur genießenden, sondern auch bewußt strebenden und leidenden Generationen, ihrer Probleme Herr zu werden. Aber jedes gemeisterte Problem bleibt nicht gemeistert und bleibt vor allem nicht das Problem. Diese lapidare Weisheit ist so wahr wie der Satz, daß es keine statische Kulturgesellschaft gibt. Das kommunistische Dogma mit seiner entgegengesetzten These, die durch die tatsächliche Entwicklung in kommunistisch beherrschten Ländern ständig Lügen gestraft wird, sollte gleichfalls niemanden darüber hinwegtäuschen, daß nur sinnlose Gewalt oder der „Tod" der kulturzeugenden Spannungen den Satz zu widerlegen geeignet erscheinen.

Im übrigen bleibt einer der grundlegenden Aufträge an die zivilisierte Gesellschaft, die Spannung zwischen den technisch-ökonomischen Interessen auf der einen Seite, ihren moralischen Aufgaben auf der anderen nicht zu bagatellisieren. Die Kluft zwischen den materiellen und den geistig-moralischen Werten muß unter allen Umständen bewußt bleiben. Die oft gedankenlos geforderten „Anpassungen" der Gesellschaft und „des gesellschafliehen Denkens" an den Stand der technischen Entwicklung arten zu leicht in eine Kapitulation vor dem materialistisch-utilitaristischen Geist der technischen und Wirtschaftskräfte aus, wie wir diesen Geist in den beiden vorangehenden Kapiteln zu kennzeichnen versucht haben. Wir fragen erneut: Was vermag der eigentliche Geist (als Bewahrer nichtmaterieller Kulturgüter), was vermag vor allem die Ethik denn überhaupt von den technischen oder ökonomischen Entwicklungen, die jenen „vorausgeeilt" sein sollen, zu lernen? Etwa das Prinzip des kleinsten Mittels, das Sparprinzip, das Prinzip der Nützlichkeit und Macht? Im Gegenteil, die Spannung zwischen den geistig-moralischen (die absoluten Werte und den Nebenmenschen als Selbstzweck und nicht als Mittel achtenden) Bereichen und den ökonomisch-technischen Sphären liefert einen notwendigen und sehr fruchtbaren Beitrag zur Verwirklichung und Vitalisierung des Kultur-dramas und der Kulturexistenz. Die technisch-ökonomische Entwicklung ist irreversibel, wie wir sehr wohl eingesehen haben. Die Berechtigung ihres Lebensprinzips kann nicht bestritten werden. Vollständige „Anpassungen" an dasselbe durch den Geist aber bedeutet keine reife Entscheidung, sondern die Aufhebung der Spannung durch die Verneinung des „anderen", zum mindesten ebenso berechtigten Prinzips und damit das Ende einer durch Spannungen lebendig erhaltenen Kultur. Die zu oft im Pathos der Phrasen geführte Diskussion droht, die Rolle der Technik, einschließlich der Atomtechnik, als eines Mittels zu entstellen und vor der der Technik innewohnenden Tendenz der Erniedrigung des geistigen Geschmacks und der Entgeistigung des Daseins kampflos die Waffen zu strecken. Man soll sich durch die wachsende Kompliziertheit der Aufgaben nicht überwältigen lassen, und man soll vor allen Dingen den Unterschied zwischen Lebens-und Kulturzwecken auf der einen, den bloßen Mitteln auf der anderen Seite niemals verwischen.

Von Wichtigkeit ist also, daß man zunächst den vorher gekennzeichneten Unterschied zwischen der prinzipiellen Geisteshaltung des „post-modernen" Naturwissenschaftlers und der des Technikers nicht aus den Augen verliert. Nicht vom Naturwissenschaftler, der nach dem durch Galilei und Newton herbeigeführten Bruch zwischen Mensch und Sache, nach der gedanklichen Isolierung des Menschen von seiner Welt, auf Grund seiner eigenen Forschungsresultate und deren Folgen heute wieder nach dem von der mechanistischen Weltbetrachtung zerstörten Zusammenhang sucht — nicht vom menschlich demütig gewordenen, echten Naturforscher droht die primäre Gefahr, so sehr er in sie auch mittelbar verstrickt ist. In erster Linie stammt sie als eine die geistigen und moralischen Kräfte neutralisierende Tendenz aus dem ungehinderten Anwendungstempo der naturwissenschaftlichen Entdeckungen durch die Technik und der nach wie vor ungehemmten Betonung reiner „Sachherrschaft" durch diese. Mit ihr verkoppelt ist der unbesonnene Fortschrittswahn der Politiker, Wirtschaftler und Militärs, soweit deren Denken von den rein materiellen Anwendungsmöglichkeiten der technischen Disziplinen fasziniert ist. Die fatale Konkurrenz der politischen Mächte auf internationaler Ebene kennzeichnet dabei die Unausweichlichkeit der Betonung der materiellen Machtinstrumente. Unentrinnbar gehört zu diesen heute die wirtschaftliche Automation und die Atomtechnik. Die immer weitere Ausdehnung der wirtschaftlichen Möglichkeiten auch für sogenannte friedliche Zwecke — die für kriegerische Zwecke schnell verwandelt werden können — zwingt die eine Seite zu stets neuen technischen Anstrengungen, nachdem die andere Seite ihr vorausgeeilt zu sein scheint. Dies ist der Kern des gegenwärtigen internationalen Dilemmas auf diesem Gebiet.

In diesem Wettbewerb der materiellen Kräfte sind die geistig-moralischen Kräfte stets in Gefahr, zurückgedrängt oder gar überwältigt zu werden. Es ist aber genauso zweck-und sinnlos, die in diesem Zustande wirksamen, unvermeidlichen Elemente der Tragik zu verkleinern, wie es falsch ist, ihre Bedeutung zu übertreiben. Es gibt heute so wenig wie je, möglicherweise noch weniger als in früheren Krisenzeiten, glatte Lösungen für eine höchst > komplizierte Situation und daraus zu folgernde Aufgaben für die Gesellschaft. Nur in der verdünnten Atmosphäre der Ratio bewältigen einige Denker sehr leicht, was für die beteiligten Elemente der Gesellschaft oft höchst schwierige irrationale Entscheidungen voraussetzt. Die ewige Spannung, das Gleichgewicht zwischen gegensätzlichen Polen und nicht die glatte Lösung sind das dem Menschen in unserer Kulturanlage mögliche Optimum. Wir werden sehen, aus welchen erkennbaren Gesetzlichkeiten geschichtlicher und geistiger Faktoren diese Beschränkung folgt, sofern man sie nicht aus der metaphysischen Perspektive des ewigen Abstandes des Menschen von Gott ablesen will oder abzulesen vermag.

Sofern der einseitige Sieg der materiellen und technischen Kräfte über das ganze Leben noch nicht garantiert ist, kann man den Umstand nur den noch lebendigen Widerstandskräften aus dem geistig-moralischen Bereich zuschreiben. Da materielle Macht den kommunistischen Gewaltherrschern alles bedeutet, die Ideologie nur eine tückische Handhabe, ein Instrument zur geistigen Lenkung der Masse ist, wird der selbständige geistige und moralische Impuls in ihrem Herrschaftsraum so weit wie irgend möglich abgedrosselt. Im vom Kommunismus heraufbeschworenen Existenzkampf der politischen Systeme wird dann der nicht-kommunistischen Gesellschaft das Beharren auf freien moralischen Grundsätzen erschwert, insofern diese dem besinnungslosen, person-und geistgefährdenden Streben nach technischen Machtmitteln und der Überbetonung materieller Werte Zügel anlegen möchte.

Das von den Sowjets vorgelegte Tempo materiell-technischen „Fortschritts", die offene, damit verbundene Drohung an den „Westen", ihn nicht nur zu überrunden, sondern — mit welchen Mitteln auch immer — zu besiegen und danach die gesamte Menschheit der kommunistischen Herrschaft zu unterwerfen, läßt bei den Ungeduldigen und geistig Insensitiven immer wieder die Frage auftauchen, ob der Westen sich moralische Grundsätze und selbständige geistige Individuen überhaupt leisten kann.

Zwei Gedanken müssen im Zusammenhang dieses Einwandes deutlich gemacht werden.

Der erste bezieht sich auf die im sowjetrussischen Machtbereich gewachsenen und schon klar erkennbaren Spannungen, die sich natur-notwendig und auf lange Sicht in jedem sich monolithisch gebärdenden, aber nach „Fortschritt" drängenden System anbahnen. Dieser Gedanke ist Trost und Warnung zugleich.

Trost insofern, als er den auf die Dauer unabtötbaren Impuls nach geistiger Selbständigkeit der Geistigen in einer dynamischen Gesellschaft beweist. Er ist Warnung insofern, als die geforderte Gleichschaltung des Geistes im sogenannten freien Westen als praktische „Anpassung" an den von der komunistischen Seite aufgezwungenen Streit die bestehenden Unterschiede aufheben, die geistige und moralische Frontstellung gegen den Kommunismus, welche die primär überzeugende und sinnvolle ist, zur Absurdität stempeln würde.

Der zweite Gedanke aber ist der entscheidende im speziellen Rahmen dieses Kapitels. Er ist auf eine eigenartige Weise mit dem ersten Gedanken verknüpft. Das der abendländischen Kulturtradition eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Macht und Ethos, technisch-materiellem Fortschritt und geistig-moralischer Besinnung zwingt zur Berücksichtigung des Schicksals des Einzelwesens in einer technisierten Welt. Die weiter oben angedeuteten Erfordernisse der Planung bei der Entwicklung der Automation sind dem Staat und der Gesellschaft primär aus moralischen Gründen gestellt. Eine Gesellschaft, die diese Gefühle als irrelevant behandelt, hat das Hauptkriterium ihrer moralischen Daseinsberechtigung im Vergleich zur angeblich andersartigen kommunistischen eingebüßt.

Wir haben die Möglichkeit erkannt, daß eine fortschreitende Automation schließlich einen Punkt der Produktion überschreitet, wo selbst nach theoretisch voller Befriedigung der Investierungsbedürfnisse alle verfügbaren Arbeitskräfte noch sinnvoll eingesetzt werden können. Die Gefahr eines fortwährenden Zustandes der Überproduktion und eines mörderischen internationalen Konkurrenzkampfes kann nur bei sorgfältigster, durchgreifender internationaler Organisation, die einen langwährenden, womöglich dauernden Friedenszustand voraussetzt, vermieden werden. Die Gefahr der chronischen Arbeitslosigkeit weiter Bevölkerungsschichten erfordert die gleiche intensive Planung.

Wären die geistige Einsicht und das moralische Gewissen in unserem Kulturkreis nicht mehr wach, so wäre es wahrscheinlich leichter, das durch die Automation in möglicherweise drohende, doch vorläufig noch theoretische Nähe gerückte Massenarbeitslosenproblem auf die utilitaristische Weise zu lösen. Es würde einstweilen beiseite geschoben und, nachdem es dann akut wird, lediglich unter Druck be-und verhandelt werden. Die geistig und moralisch wirklich gewissenhaften Elemente eines Volkes sind zwar immer und überall in der Minderheit (nur der geistig Arglose mag sich darüber Illusionen hingeben), aber in Fällen, wo es um das Wohlergehen einer beträchtlichen Bevölkerungszahl geht, können sie des Bündnisses mit starken und vorwiegend utilitär veranlagten Geistern versichert sein. Bei der hier in Rede stehenden Situation sind es die Wortführer aller Interessentenorganisationen der Arbeiterschaft und die jeweilige politische Opposition, die sich als wirksame Bündnis-partner erweisen werden. Dies soll nicht heißen, daß geistige und moralische Sensibilität nur bei den relativ Unbeteiligten und nicht auch im Lager der unmittelbar Betroffenen zu Hause sei. Es kann sogar behauptet werden, daß der moralische Skrupel und die opportunistische Gesinnung in unserer abendländischen Kultursituation eine seltsame Legierung durchgemacht haben, die es unmöglich macht, bei irgendwelchen Klassen, Ständen, Konfessionen und einzelnen mit Sicherheit den ausschließlichen Effekt der einen und die völlige Abwesenheit der jeweilig anderen dieser Motivationen zu konstatieren. Doch erliegt die ziemlich allgemein zu beobachtende Regel wohl kaum einem ernsthaften Zweifel, daß die meisten Menschen — und dabei gibt es keine Begrenzung auf irgendwelche Nationen, Klassen, Berufe oder Konfessionen — die quasi-automatische Selbsttäuschung begehen, ihr staats-, konfessions-oder klassengebundenes Eigeninteresse mit der Stimme der Vernunft oder der irdischen oder gar göttlichen Gerechtigkeit zu verwechseln. Dieser . Umstand erklärt, warum die wirkliche Stimme der Vernunft und Moral in den Bezirken der Politik relativ unwirksam bleibt, solange sie sich nicht mit sehr greifbaren, konkreten und auf Nutzerwägungen angelegten Interessen verbindet. Denn das Beharrungsvermögen jeweils entgegengesetzter Interessen ist regelmäßig so groß und irrational, daß es nur selten auf den Vernunfts-oder moralischen Appell alleine reagiert. Die Geschichte ist so übervoll von Beispielen für diese Regel, daß illustrierende Hinweise sich wohl erübrigen.

Andrerseits setzen sich aber seltsamerweise in unserem Kulturkreis soziale Bestrebungen selten durch, erringen jedenfalls nicht die Zustimmung der Mehrheit des Volkes, wenn nur Interessenvertretungen und nicht auch echte moralische Prinzipien mit ihnen sichtbar oder hörbarihren Ausdruck finden. Diese merkwürdige Erscheinung folgt augenscheinlich aus der oben angedeuteten, später begründeten Verschlungenheit der verschiedenartigsten Motivationen im westlichen Kulturkreis. Sie hat den Anlaß zu zahlreichen Mißdeutungen der wahren Motive und Gesinnungen dieses Kulturkreises gegeben, denn selbst die grausamsten Diktatoren, die aus ihm hervorgingen, haben sich der moralischen, besser pseudomoralischen Begründungen für ihre unmenschlichen Akte bis zum Überdruß bedient. Für unser Teilproblem ist jedenfalls die Erkenntnis wichtig, daß die „sachgerechte" Kombination von moralischem Appell und Interessen-politik möglicherweise in der Lage ist, das sozialökonomische Problem politisch einigermaßen in Ordnung zu bringen. Dabei kann nur die Hoffnung ausgesprochen werden, daß die für die Bewältigung dieses Teilproblems unentbehrlichen Interessentengruppen sich selbst den eigentlichen Vernunft-und Moral-erwägungen nicht zu weitgehend verschließen und daß ihre Wortführer das Problem der Arbeitnehmerschaft nicht zum einzigen Problem der Wirtschaft und Gesellschaft übersteigern, wie dies ja leider bei einigen von ihnen in der Vergangenheit gelegentlich geschehen ist. Wir haben bemerkt, wie das Arbeitnehmer-thema als Teilproblem sich organisch der Gesamtproblematik des technischen Zivilisationsprozesses und seiner unausweichlichen Komplikationen einfügt. Es wird weder dem Arbeiter noch der Gesellschaft auf die Dauer damit gedient sein, daß die Führer gewisser mächtiger Gewerkschaftsblöcke und ihnen nahe-stehender Parteien ihre Funktion darin erschöpft sehen, daß sie in monotoner Reihenfolge beständig wachsende materielle Ansprüche auf Kosten der übrigen Gesellschaft erheben, die. Inflation der aufs rein Materielle gerichteten Wünsche immer toller vorantreiben ohne irgendeinen ausgleichenden Gedanken an die eigene Verantwortung und die Verpflichtung für das Ganze. Ähnliches gilt gewiß auch für nicht wenige Wirtschaftsführer. Es kommt jetzt aber angesichts der durch die Automation sich langsam anbahnenden, in der Bundesrepublik vorläufig noch nicht akuten Sozialkrise, welche die Grundlagen der Arbeiterexistenz bedrohen kann, darauf an, mit allerseits gutem Willen an die Aufgaben der Planung auf lange Sicht heranzutreten, und kein verantwortungsvoller Partner darf hierbei versagen.

Dabei darf die inhärente Schwierigkeit spontaner menschlicher Verständigung und wechselseitiger Anteilnahme auf Seiten der Wirtschaftspartner auf keinen Fall unterschätzt werden. Erinnern wir uns der früher ausführlich begründeten Sachlage der grundsätzlichen Hindernisse, die der „Vermenschlichung" von Beziehungen im technologisch-wirtschaftlichen Raum im Wege stehen. Die durch die neuen Erkenntnisse und Weltverhältnisse herbeigeführte Wendung zur weltanschaulichen Demut bei der Mehrzahl heutiger prominenter Natur-wissenschaftler fehlt noch bei den meisten Technologen und den meisten im wirtschaftlichen Produktionsvorgang Beteiligten. Es fällt, wie wir gesehen haben, diesen Personenkreisen besonders schwer, von ihrem Befaßtsein mit den materiellen „Sachen" loszukommen und, von der dadurch bedingten „Entmenschung" und „Entindividualisierung" befreit, wieder „ganze Personen" zu werden, so wie der Sachverhalt in einem früheren Kapitel charakterisiert worden ist. Es bedarf der umfassenden und möglichst objektiven Aufklärungsarbeit, um dem zweifellos vorhandenen guten Willen die Wege zu ebnen und ihn gegen einige enggeistige und übermäßig dogmatisch gebundene Führungskräfte sich durchsetzen zu lassen.

Die allergrößte Gefahr für den Fortbestand einer (mehr oder weniger) freiheitlichen Demokratie droht aus der Entwicklung der Automation zur vorherrschenden Produktionsweise, insofern sie „kein Gebiet des öffentlichen und wenige des privaten Lebens unberührt lassen wird" und insofern die dadurch bedingten Probleme nicht rechtzeitig in Angriff genommen werden. Die Probleme, die noch vor kurzer Zeit die Geister intensiv beschäftigten, spielen jetzt kaum eine Rolle mehr. Welchen Zweck sollte es angesichts der Unerbittlichkeit des Werdegangs auch haben, wenn man heute noch im Stile Hegels nostalgische Betrachtungen darüber anstellt, daß die Maschine die echte Arbeit tötet oder wenn man im Stile Jaspers darüber klagt, daß die meisten Arbeiter nur primitive Handgriffe zu machen haben, ohne eine Ahnung von den Naturvorgängen zu haben, welche die Maschinen antreiben, oder daß die „leibliche Geschicklichkeit", die das Handwerk noch forderte, heute weitgehend ersetzt ist durch eine unbegriffene Nutzung und Bedienung von Apparaten, durch welche „die Natur vom Menschen betrogen wurde"?

Es handelt sich heute um ganz andere Probleme. über jene ist die Geschichte einfach hinweggeschritten und hat sie banalisiert, das heißt, sie sind Gelehrtenprobleme und -Sentimentalitäten, aber keine aktuellen Lebens-probleme mehr So bedauerlich die Entwicklung unter mancherlei Gesichtspunkten ist, sie ist dennoch unabänderlich. Heute geht es darum, Wege zur Verkürzung der Arbeitszeit und gleichzeitig Arbeitsplätze für alle zu planen. Es geht darum, eine relativ kleine „Automationshierarchie" zu schaffen, welche die komplizierten technischen Aufgaben der Herstellung, Instandhaltung und Überwachung der Apparate meistern kann. Daneben wird es eine breite Schicht von leicht auswechselbaren Personen geben, deren Arbeitsfunktionen unendlich erleichtert worden sind und deren Freizeitspanne zunehmen wird.

Das vordringliche Problem unter diesen allen scheint das der Ausfüllung der Freizeitspanne zu sein. In der deutschen Öffentlichkeit wird dieses Problem vorläufig leider nicht ernst genug genommen, weil die deutsche Lage aus den eingangs bezeichneten Gründen sich von derjenigen anderer Länder, deren Automatisierung entweder weiter vorgeschritten oder deren Arbeitsnachfrage gesättigt ist, noch unterscheidet. Dadurch entsteht die gefährliche Möglichkeit, daß die rechtzeitige Planung in der Bundesrepublik überhaupt versäumt wird. Zuständige Fachtheoretiker sorgen sich bereits über die mögliche „Veränderung des Menschentyps" unter den Auswirkungen der größeren Freizeit im Zusammenhang mit der „Notwendigkeit einer durchschnittlich besseren Bildung". Tatsächlich stellen sich in dieser Hinsicht einige sehr tiefgreifende Fragen. Die Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Verlängerung der Schulzeit ist angesichts des heute bereits vorliegenden Mangels an qualifiziertem Lehrpersonal dabei noch das brennendste, aber in.der politischen. Öffentlichkeit am wenigsten diskutierte Problem. Im übrigen darf die Bildungsarbeit nicht auf das eigentliche Schulalter beschränkt bleiben. Im Gedanken an die in Aussicht stehende Überflutung mit kommunistischer Propaganda, im Gedanken aber auch an die rein negativen und destruktiven Möglichkeiten der Freizeitnutzung durch jüngere und mittlere Altersschichten des Arbeiterstandes, erschrickt man vor den Konsequenzen. Werden kommunistische Propaganda, Schundliteratur, die unglaublich geistlähmende Sensationspresse — die einzige Literatur bleiben, welche die Urteilskraft des „freien Arbeiters der Bundesrepublik" in Anspruch nimmt? Wie wird er die Freizeit ausnutzen, solange oder insofern er nicht liest? Im Hinblick auf den durch die erhöhte Produktion in Aussicht gestellten höheren Konsumstand der Arbeiterschaft erhebt sich ferner die Frage, wie sie diesen nutzen wird. Wird ihre Überzahl der Verführung der Reklamefachleute nur um so leichter erliegen oder auch der eigenen Versuchung nachgeben, ihre höheren Einkünfte zu vergeuden in nutzlosem Tand, einem Übermaß von sinnlichem und kommerzialisiertem Vergnügen, das in vernünftigen Grenzen zu genießen immerhin zum Vorrecht der Jugend gehört?

Dies sind nur einige der sinngemäßen und nicht unangemessenen Fragen. In einem weiteren Zusammenhang werden wir sie im II. Teil des bald erscheinenden Buches behandeln. An dieser Stelle seien daher nur einige prinzipielle Bemerkungen erlaubt.

Das Problem des Arbeiters in unserer Gesellschaft ist durchaus kein bloß wirtschaftliches Problem. Hätten die Gewerkschaften und sozialistischen Parteien nicht wesentlich zur Pervertierung des Themas beigetragen und hätten vorausgegangene wirtschaftliche Ausbeutungen des Arbeiters durch Unternehmer den sozialistischen Bewegungen und den Gewerkschaften die materialistische Vereinfachung des Themas nicht zu leicht gemacht, so hätte die Gesellschaft wahrscheinlich, wenngleich auch nur unter Druck, längst eingesehen, daß neben der selbstverständlich sehr wichtigen Aufgabe der wirtschaftlichen. Sicherung der Arbeiterexistenz das Problem der Erziehung des Arbeiters zum bewußten und bejahenden Mitglied seiner Gesellschaft steht. Zu dieser Erziehungsaufgabe gehört die wenigstens elementare Hebung des geistigen Geschmacks, es gehört auch dazu die Anbahnung eines elementaren Verständnisses für die Komplikationen des gegenwärtigen Daseins.

Aber es gehört schließlich auch dazu die Berücksichtigung der Tatsache, daß der Mensch zwar ein soziales Wesen, aber nicht nur ein soziales Wesen ist. Er will auch als einzelner verstanden und geachtet werden. Technik, Wirtschaft, Politik — ihnen allen wohnt die Tendenz inne, „den Menschen" als Mittel zu nutzen, ihn als Massenwesen zu behandeln, somit ihn in größeren oder geringeren Maßen zu kollektivisieren. Nur wo Geist oder Moral oder im günstigsten Falle beide eine starke Wirkung ausüben, kann der unvermeidlich in der Masse stehende und in ihr fungierende Mensch auch noch eine zweite Zone autonomen Eigenlebens haben, in der er seine persönlichen Anliegen, seine intimen Aufgaben und Wünsche verwirklicht. Daß diese Funktion mitsamt dem Bedürfnis und dem Willen zur Personalität ihm erhalten bleibe, ja veredelt werde, darin sollten die Schulen, die Lehrer und die führenden Persönlichkeiten in einer Demokratie ihre vornehmste Aufgabe erblicken. Diese Aufgabe wird wesentlich erfüllt, indem man an den Kulturbedürfnissen und den Notwendigkeiten geistiger Bildung des Arbeiterstandes nicht achtlos vorbeigeht. Für diese Zwecke insgesamt genügt nicht das den Kontinentaleuropäern gelegentlich zur Nachahmung empfohlene amerikanische Schulmodell. Es genügt nicht wegen seiner oftmals übertriebenen, die geistig-moralischen Selbstwerte trivialisierenden Rücksichten auf die Triebhaftigkeit der Jugend und es genügt nicht, weil der Begriff der gleichsam spiele rischen „Anpassung" an die Gesellschaft, der der amerikanischen Pädagogik eigentümlich ist, ohne eigentlichen Sinn für die dramatischen Spannungsinhalte und inneren Konflikte eines fortgeschrittenen Kulturdaseins ist.

Zwar wechselt jener Begriff gelegentlich seine Zielsetzungen und Perspektiven, aber die pragmatische Grundhaltung der amerikanischen Pädagogik ist ihrer jeweiligen Zielsetzung jedesmal zu fraglos sicher, und ihre dogmatische Bejahung und Förderung eines stolzen Patriotismus ist seit Jahren nun schon eine zwar beneidenswerte, aber für kontinentaleuropäische Zwecke der Volkserziehung nicht mehr so leicht nachvollziehbare Möglichkeit.

Dafür ist die Skepsis eine durch das Bewußtsein von historischen Irrtümern, Klassenunterschieden, Konflikten und Unzulänglichkeiten hier zu festgewurzelte Größe geworden, obwohl nicht feststeht, ob dies so bleiben wird.

Ein Anpassung anderer Aspekt der an die moderne Gesellschaft im amerikanischen Verständnis ist die Belehrung in technischen Künsten wie Autofahren, häuslichen Handfertigkeiten, überhaupt im Sinne der „Do it yourself" -Praxis. Der Europäer hat demgegenüber noch das Gefühl, daß die Schulzeit nützlicher und fruchtbringender mit Stoffen ausgefüllt sein sollte, die das geistige Verständnis für die Umwelt wecken, und daß jene „Künste"

ohne die Inanspruchnahme der ohnehin knappen Schulzeit und Lehrkräfte ebensogut anderswo erlernt werden können. Diese Feststellungen bedeuten keine Abwertung nach der einen oder anderen Seite hin. Es soll damit nur der eigentlich selbstverständliche Gedanke ausgesprochen werden, daß, was für eine geschichtlich bisher und vergleichsweise unschuldige und behütete Nation möglich ist, nicht auch als Möglichkeit für andere Nationen mit völlig anderen geschichtlichen und psychologischen Reaktionsbasen angesprochen werden darf.

Die kontinentaleuropäische Auffassung von Pädagogik, vornehmlich Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz, der Beneluxstaaten, eignet sich zu einer Übertragung der Erklärung von Kulturproblemen auf den Volksschulunterricht, wobei natürlich eine gewisse Niveausenkung, also Popularisierung des Stoffes voraus-zusetzen ist. Kein phrasenreicher, heute mehr denn je Spott und Kritik herausfordernder Hurrapatriotismus soll gepflegt werdep. Aber neben den Geschichtsunterricht gehört eine durch die Pädagogischen Hochschulen in der Bundesrepublik heute geförderte kritische Analyse der modernen Kulturgesellschaft. Der angehende Volksschullehrer kann und soll dort Elemente von Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft er-und verarbeiten. Eine der Aufgaben des Volksschullehrers ist es dann, diese Kenntnisse seinen Schülern so zu vermitteln, daß sie einen Begriff von den Komplikationen und geistigen Anpassungserfordernissen in der eigenen Kulturgesellschaft bekommen. Das Ergebnis wird eine größere Immunisierung gegenüber dem Phrasenschwall von Demagogen und intellektuellen Schwätzern sein. Eine der Bedingungen ist allerdings, daß die Politikwissenschaft als eines der unentbehrlich gewordenen Fächer nicht ausschließlich, wie das an einigen deutschen Universitäten der Fall geworden ist, einerseits eine Replica deskriptiver Geschichtswissenschaft darstellt, andrerseits nichts anderes ist die schon von Bluntschli, v. Holtzendorff, Jellinek, v. Mohl betriebene alte juristische Staatslehre Sie muß auch den dynamischen Stoff der Politik und nicht nur die mehr oder weniger „fertigen" Inhalte oder Phasen gewisser anderer Fachgebiete behandeln. Um lebendiger Inhalt für Menschen zu sein, die nicht Fachgelehrte werden, sondern Geist und Leben ihrer Gesellschaft im Strom des aktiven Geschehens und Erlebens begreifen lernen sollen, braucht nicht immer nur Geschichte wiederholt zu werden (wiewohl ihre elementare Kenntnis dabei notwendig ist und eine farblose „gemeinschaftskundliche" Diskussion niemals an die Stelle ernsthaften Geschichtsunterrichts treten sollte) und braucht nicht ausschließlich Staats-und Verfassungsrecht gepaukt zu werden. Aber es ist notwendig, daß der Schüler etwas erfahre vom Irrtum und Wahrheit der politischen Ideen, vom Wesen der Partei-und Interessenpolitik, von Gestaltung und Probleme der öffentlichen Meinungsbildung, von demokratischer Lebensart in Unterscheidung vom bloßen Verfassungsrecht, vom Unterschied der politischen Systeme, der Schwierigkeiten internationaler und übernationaler Politik.

Wenn daneben dann noch einige sozialphilosophische Einsichten etwa der oben beschriebenen Art, kultursoziologische und ähnliche Kenntnisse in den notwendig konkreten Formen nahegebracht oder nur fühlbar gemacht werden können, so ist wohl das mögliche Optimum erreicht. Da außerdem aber der Schüler noch die Grundkenntnisse der konventionellen Unterrichtsfächer nach wie vor zu erwerben hat und die Geistes-und Sozialfächer ohnehin erst in den oberen Klassen aller Schularten sinnvoll begonnen werden können, so ergeben sich von selbst die Notwendigkeiten der Verlängerung der Schulzeit auch für die Volksschulen und der Übertragung oder Fortsetzung jener Unterrichtsfächer auch in die Berufsschulzeit. Immerhin soll man aber in bezug auf die sich hier erschließenden Möglichkeiten keine Illusionen haben. Bei weitem nicht alle Mitglieder des Arbeiterstandes werden sich als bildungsfähig, andere wiederum zwar als bildungsfähig, aber nicht als bildungwillig erweisen. Gerade den Bildungswillen sollte man nicht überschätzen, nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei breiten bürgerlichen Schichten, von denen getrost gesagt werden kann, daß sie nach Verlassen der Schulbank kein gutes Buch mehr in die Hand genommen haben. Auf diese Schichten — ob Arbeiter oder Bürger — kommt es aber nicht an, denn sie sind es gewöhnlich nicht, die innerhalb von Demokratien verantwortliche oder führende Rollen im öffentlichen Leben übernehmen. Sie werden immer, im Guten oder im Bösen, die passive „Gefolgschaft" sein. Sie sind die wahre träge „Masse", die „Zone der Indifferenz". Auf die anderen kommt es an, auf die, welche sich „interessieren" und „interessieren lassen". Bisherige Experimente, über die der Verfasser sich persönlich in der Bundesrepublik unterrichtet hat, haben einen zwar etwas schwankenden, aber durchweg imponierenden Prozentsatz von freiwilligen Teilnehmern, von „Interessierten", an Fortbildungskursen in Geschichte, „Gegenwartskunde", Geographie und ähnlichen Fächern ergeben.

Als Gegengewicht gegen die stets mögliche sinnlose oder gar sinnwidrige Ausfüllung der größeren Freizeitspanne im Zeitalter der Automation, aber auch zur Fortsetzung einer sinnvollen, doch stets unfertigen Auseinandersetzung mit den Problemen der Gesellschaft darf das Interesse an der Gesellschaftsdebatte auch nach der Schulzeit nicht erlahmen. Auch deshalb nicht, damit der besser gebildete Typus des neuen Arbeiters sich nicht länger als abseitsstehend und ausgeschlossen empfindet. Den Volkshochschulen, Betrieben, Gewerkschaften entstehen hier ganz neue Aufgaben, sofern sie sich ihnen im eigenen Interesse wie im Interesse der Gesellschaft gewachsen zeigen wollen. Filme, Vorträge, Bibliotheken, Diskussionsgemeinschaften, ja Kunstausstellungen und Konzertveranstaltungen bieten sich als Mittel an. Sport-und Spielplätze in einem bisher nur hie und da konzipierten, gorßzügigen Stil müßten außerdem von der Öffentlichkeit oder in gemeinsamem Einvernehmen von Betrieben und Gewerkschaften eingerichtet werden. Dies alles sind Aufwendungen und Aufgaben, die nicht in die nach engen Nützlichkeitsformeln und nach dem Prinzip des kleinsten Mittels verfahrenden Handlungsweisen wirtschaftlicher Organisationen passen, also von Unternehmen und Verbänden, die sich nach dem Rational-oder Sparprinzip richten, nicht ohne weiteres übernommen zu werden pflegen. Im Grunde und auf lange Sicht aber „sparen" alle — Gesellschaft, Betriebe und Gewerkschaften —, wenn sie das Gebot einer möglichst freien Gesellschaft befolgen werden, das Notwendige zu tun, wenn sie schon nicht das menschlich und moralisch Selbstverständliche tun wollen, um Sozial-krisen mit unabsehbaren Folgen zu vermeiden. Im übrigen wird der Verzicht auf Eintrittsgelder für kostspielige Veranstaltungen sich vermutlich nicht einmal als notwendig erweisen, wenn der Lohn-und Lebensstandard dem Arbeiter diese Ausgaben erlaubt. Zahlreiche Beobachtungen deuten darauf hin, daß der Arbeiter im allgemeinen Teilnahme an Kultur-veranstaltungen nicht aus Prinzip, Sparsamkeit oder Mangel an Interesse vermeidet, sondern weil er sich fremd und abseitsstehend in einer vorwiegend bürgerlichen Gesellschaftsatmosphäre fühlt. Dieses Hemmnis entfällt unter Bedingungen der anderen Art. Die Veranstaltungen müssen zu ihm in seiner ihm heimisch gewordenen Umwelt gebracht werden. Zu ihr gehören die Gewerkschaft, die Belegschaft oder Kollegenschaft des Betriebs, unter Umständen die Volkshochschule und die Gemeinde.

Der Einwand, daß erhöhte Bildung den Arbeiter nur unlustig mache zur Erfüllung seiner Arbeitsfunktion, gilt nicht, weil sich in fast jedem Beruf gebildete Menschen finden, die von ihren Berufspflichten nicht voll ausgefüllt werden und gerade deswegen außerhalb ihres Berufes ihre Bildungsbedürfnisse befriedigen müssen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, daß der Arbeiter auf die gleiche Bedingung anders reagieren wird als die Angehörigen anderer Berufe. Jedoch gibt es zwei Grundbedingungen für ein mögliches Auflehnen gegen die Beschränkungen von subjektiv als inadäquat empfundenen Berufs-pflichten. Die eine Grundbedingung ist das Vorhandensein einer wahrhaft schöpferischen Begabung, die vergeblich unter den Einengungen des Berufs nach Ausdruck und Anerkennung ringt. Solche Naturen und Bedingungen sind sicherlich selten beim Arbeiterstand, wie überhaupt irgendwo, und stellen normalerweise auf Grund ihrer geringen Zahl kein relevantes Problem sozialpolitischer Art dar. Die andere Bedingung resultiert aus einem fehlerhaften Bildungsprozeß, durch den anstelle möglichst objektiv dargestellter Bildungsgüter ein völlig einseitiges, ideologisch gefährlich vereinfachtes Weltbild vermittelt worden ist. Ein solcher Bildungsfehler ist meistens die Folge unzureichend gebildeter Lehrer und Vorbilder. Es gibt sie, solange es an Universitäten und Hochschulen einige stark ideologisch — subjektiv verankerte Inhaber von Lehrstühlen der Politik, Sozial-und Geisteswissenschaften gibt, die ihre eigenen einflußreichen „Schulen" begründet haben. Daß es dies gibt, ist ein Leistungsfehler der Gesellschaft, und aus den Folgen darf man dann nicht apriorische Befürchtungen allgemeiner Art ableiten, die einen besonderen anderen Stand belasten.

Hauptanliegen ist, daß bei einer ziellos gewordenen Masse mit dem Verlust ihrer vollausgefüllten Arbeitsfunktion (der in diesem Falle nicht ausgehandelt, sondern durch die Entwicklung erzwungen wäre) das Bewußtsein sozialer Nutzlosigkeit entstehen kann, aber nicht aufkommen darf. In dieser Beziehung gibt es auch noch andere Vorschläge, die meines Erachtens die obigen nicht ausschließen, sondern sie ergänzen können, soweit es sich bei dieser zweiten Gruppe um realisierbare Projekte handelt. Einer „Situation gewachsen sein", heißt mit Freyer, daß man „sich zuerst auf ihre Ebene begeben und sich mit ihr einlassen (muß), sonst begegnet man ihr nicht einmal, sondern geht an ihr vorbei" Dies ist — so sollte man meinen — die selbstverständliche wissenschaftliche Ausgangsbasis, um sich mit einer Situation auseinanderzusetzen. Uber den gelegentlich hervorbrechenden bewußten Utopismus und Wertsubjektivismus gewisser anderer Soziologen, die dagegen in temperamentvoller Weise das Ausgehen von einem „Status quo" als „unbefriedigend“ und als „realistisch" angreifen und demgegenüber den „Mut zur Utopie" fordern ist meiner Meinung nach vom Standpunkt guter wissenschaftsmethodologischer Tradition keine Debatte möglich. Impressionismus, mythischer Morphologismus und messianisches Prophetentum mögen an ihrem richtigen Ort, etwa in Religion oder Kunst, ihre Bedeutung haben, sie gehören aber doch wohl nicht in die Wissenschaft, wenigstens nicht in eine von der Herrschaft eines engen Theologiebegriffs befreite Wissenschaft, wobei zu beachten ist, daß in der Gegenwart die echte Theologie sehr oft von einer säkularen Theologie verdrängt worden ist.

Bezeichnenderweise aber sind es gerade dem neuen und großzügigen christlichen Realismus nahestehende Theologen und christliche Laien, die oftmals in kluger Voraussicht und aus moralischem Antrieb äußerst diskussionswürdige und realistische Vorschläge unterbreitet haben.

Richtig erinnert Wolfgang Schweitzer daran, welchen Schwierigkeiten gerade der Theologe bei diesem Bestreben begegnet, „die Arbeit heute weltlich zu verstehen" In primitiven Kulturen soll der Mensch einen gewaltigen Schauder empfunden haben, als er wagte, die Erde mit dem Pflug aufzubrechen und dadurch womöglich die Erdgottheiten zu verstimmen. Auf diese Weise wurde die Arbeit mit besänftigenden Gebeten und Zeremonien verbunden. Je technischer aber die Arbeit wurde, desto mehr vergrößerte sich das Gefühl von der Autonomie des Menschen und der Arbeit. Der Christ habe sich dennoch davor zu hüten, den „Geist der Technik zum Sündenbock für unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten" zu machen. Der christliche Glaube gedeihe nicht erst da, „wo man die Schwierigkeiten der Gegenwart in pessimistischer Weise für unüberwindbar hält" Aus dieser realistischen Haltung heraus versuchen einige Theologen eine Neubegründung des Eigentumsbegriffs, wobei sie von der Utopie „einer pefekten Eigentumsordnung, die allen das gleiche gäbe, und überhaupt einer perfekten Gesellschaftsordnung", die es in dieser für das Böse anfälligen Welt nicht geben kann, abrücken Andererseits könne es bei dem sozialethischen Appell an den einzelnen Eigentümer nicht mehr sein Bewenden haben. Wendland bedenkt die Schwierigkeiten, die nun daraus erwachsen, daß es in der evangelischen Sozialethik kein ewige Gültigkeit beanspruchendes Ordnungssystem gibt Die Weltkirchenkonferenz von Amsterdam im Jahre 1948 konnte sich daher in der Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln nicht klar entscheiden, und auch spätere Debatten sind nicht über die Erklärung hinausgekommen, daß „das Eigentum den Erfordernissen der Gerechtigkeit gemäß erhalten, eingeschränkt oder verteilt werden" muß Im Gegensatz zur katholischen Soziallehre mit ihren autoritativen Bestimmungen bleibt die Auslegung des evangelischen Gerechtigkeitsbegriffs dabei in teils subjektiven philosophischen, teils theologischen Deduktionen stecken, so daß eine Einigung schwer zu erzielen ist.

Wendland versucht nun, den gordischen Knoten zu durchhauen, indem er, was als Schwäche erscheint, auf der anderen Seite als „die unglaubliche Stärke und Elastizität der evangelischen Sozialethik" auffaßt, die sie befähigen, dem geschichtlichen Charakter vorausgegebener Institutionen und Realitäten zu entsprechen. In diesem Sinne möchte er „sehr viel schärfer, als unsere Väter und Vorväter das getan haben", zwischen verschiedenen Stufen des Eigentums differenzieren Die darauf folgenden Untersuchungen Wendlands erscheinen uns als fruchtbar im Hinblick jedenfalls ans einen Teilaspekt der sozialen Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der industriellen Automation auftauchen werden bzw. können. Er unterscheidet vier Stufen des Eigentums: 1. das personale Gebrauchs-und Verbrauchseigentum („dazu gehört auch das Eigenheim"); 2. das personale Eigentum an Produktionsmitteln „jenes kleinen und mittleren Ausmaßes, bei dem . . . auch eine ganz bestimmte, sehr straff angespannte persönliche Verantwortung für das Eigentum lebendig ist"; 3. Großeigentum an Produktionsmitteln; 4. öffentliches Eigentum. Gleichzeitig ist Wendland sich im klaren darüber, daß — wie wir selber hervorgehoben haben — das Wirtschaftsproblem, somit also auch die Eigentumsordnung, nicht den einzigen oder den Hauptschlüssel zur Öffnung „sämtlicher Problemschlösser der Gesellschaftsordnung" liefert. Innerhalb dieser Beschränkung muß dann allerdings gesagt werden, daß die beiden ersten von Wendland charakterisierten Stufen des Eigentums diejenigen sind, auf welche die Diskussion sich in Zukunft, nicht nur in der Moral-und Sozialtheologie, sondern in der gesamten Öffentlichkeit mehr als bisher zu konzentrieren haben wird. Unserer Ansicht nach lassen sich nicht Eigenheime für jeden Arbeiter oder auch nur Bürger schaffen. Sehr viele unter ihnen sind nicht einmal das, was man „eigentumswillig" nennt. Aber „das Festhalten an der personalen Verantwortlichkeitsbeziehung", wo der Wille dazu vorhanden ist, ermöglicht eine gewisse Befriedigung sozialer Spannungen. Dies bezieht sich auf die erste Stufe Wendlands.

Bei der zweiten Stufe erhebt sich die Frage, „ob aus der Arbeit nach dem Maßstab der sozialen Gerechtigkeit ein zwar nicht absoluter, wohl aber ein relativer Anspruch auf Miteigentum an Produktionsmitteln ableitet oder nicht abgeleitet werden kann". Dabei muß betont werden, „daß eine bloße Umlagerung der Eigentumsrechte und -funktionen und der Verfügungsgewalt auf andere gesellschaftliche Gruppen — etwa die durch die Gewerkschaften repräsentierte Gruppe — vermutlich an der Grundstruktur unserer Gesellschaft außerordentlich wenig ändern würde". Ebenso aber ist „auch eine Rückverwandlung unserer Gesellschaft in eine (sozusagen altbürgerliche) Gesellschaft von unabhängigen Einzeleigentümern von Produktiveigentum unmöglich. Daran zu glauben, hieße einer Rückwärts-Illusion verfallen

Wendland hält jedoch den Gedanken „begrenzter Formen von Korporativeigentum" im Sinne des genossenschaftlichen „Gemein-Eigentums" für ein bedeutsames Gegengewicht gegen einseitig individualistische oder kollektivistische Lösungen des Eigentumsproblems. Die " consumers'cooperatives" in England und Schweden sind meines Erachtens Beispiele solcher erfolgreichen, genossenschaftlich organisierten Produktions-und Eigentumsbildungen. Der gelegentlich gigantische Maßstab ihres Erfolges war aber mitbedingt durch den günstigen zeitlichen Ansatz im vorigen Jahrhundert, der sich für andere Länder jetzt nicht mehr nachholen läßt. Außerdem ist jener gigantische Erfölg auch die Ursache, daß von „angespannter persönlicher Verantwortung für das Eigentum" bei den Mitgliedern nur selten noch die Rede ist. Dafür aber haben in England die Gewerkschaften und die Arbeiterpartei, also institutionalisierte Gruppen, sich sehr stark als Förderer-und Steuerungsgruppen eingeschaltet. Die gewaltigen Mitgliederzahlen, ungeheu37) ren Vermögen und Zweigtätigkeiten gerade der englischen " cooperatives" lassen übrigens keinen Vergleich mit den deutschen Konsumgenossenschaften zu

Seit langem wird von anderen Seiten die Frage besonders verbilligter Aktien zur Ermöglichung der Herausbildung einer größeren Klasse von Kleinaktionären nach amerikanischem Muster diskutiert. Mit gewissem Recht wird darauf hingewiesen, daß der Teilhaber am produzierenden Vermögen am Risiko dann ebenso beteiligt sein muß wie am Gewinn und am betrieblichen Wertzuwachs Hinter diesem Hinweis steht unausgesprochen der Zweifel, daß die Arbeiterschicht ohne Enttäuschung und Widerstand, vielleicht sogar ohne offenen Protest, gewillt sein wird, eventuelle Verluste ebenso in Kauf zu nehmen, wie andere Klassen das bisher mit mehr oder weniger Gewöhnung an das Eigentumsprinzip und die Schwankungen des Kapitalmarktes vermochten. Diese Gefahr besteht theoretisch. Aus ihr könnte die Notwendigkeit der Aufklärung derjenigen Elemente aus dem Arbeiterstand über die besonderen Gesetze des Wirtschaftslebens abgeleitet werden, die — natürlich freiwillig — die Chancen und Risiken der Produktionsbeteiligung durch jenes Medium auf sich nehmen wollen. Jene Befürchtung hat sich jedenfalls in Amerika, „dem klassischen Lande der Kleinaktionäre" nicht bestätigt. Als bloße „Geschenke" ohne Risiko könnten Aktien freilich die Wirkung haben, daß diese Begünstigung einer Klasse „das Vertrauen anderer Gruppen in die Gerechtigkeit" staatliche untergraben würde Davon darf auch im Interesse der Erziehung zum Eigentum keine Rede sein.

Vorschläge einer genuin anderen Art kommen aus Kreisen der Industrie und des Handwerks oder diesen nahestehenden Autoren. Wir beziehen uns hier ganz besonders auf die sehr konstruktiven Vorschläge zur Besserung des Betriebsklimas durch die entsprechende Ausbildung der Personalaufsichtskräfte und der Berufsausbilder in den Betrieben selber

Aber auch hierbei sollte der leicht verwischbare Unterschied beachtet werden zwischen humaner, taktvoller Behandlung, sachlicher Unterrichtung auf der einen Seite und den die unerbittlichen Tatsachen der Versachlichung des industriellen Arbeitsprozesses ungerechtfertigterweise verniedlichenden Tendenzen auf der anderen. Der disziplinierte Sachbezug und der „Wille zur Sache" gehören in unserer Zivilisation nun einmal unvermeidlich neben die beständige Ermahnung und den Willen zur Menschlichkeit.

Es gibt nach allem also eine Reihe sehr ernsthafter Situationen und Probleme, die sich aller Voraussicht nach herausentwickeln werden. Patentlösungen gibt es für kein einziges von ihnen. Mit „Utopien" an sie herantreten, hieße sie nur verschleiern und verschlimmern. Es gibt aber Lösungsmöglichkeiten innerhalb der Grenzen des vernünftigerweise zu Erwartenden, das heißt innerhalb der Grenzen allgemein-menschlicher Kräfte und Unvollkommenheiten. Diese Möglichkeiten, soweit sie sich heute überhaupt schon anvisieren lassen, glaubten wir, wie unvollkommen auch immer, analysieren und zur Debatte stellen zu dürfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Albert Mirgeler: Gerhard Ritter. Neue Politische Literatur 1960. S. 954.

  2. Vgl. Sigrid Hunke: Allahs Sonne über dem Abendland; Unser arabisches Erbe. Stuttgart 1960.

  3. Allgemeine Naturgeschichte oder Theorie des Himmels. In: Kant, Sämtliche Werke. Hg. von K. Vorländer. Bd. VII. S. 6.

  4. Ebd. S. 11.

  5. C. F. v. Weizsäcker: Atomenergie und Atomzeitalter. Frankfurt a. M. 1957. S. 51.

  6. Max Born: Die Physik in der Problematik unseres Zeitalters. In: Wo stehen wir heute? Gütersloh 1960. S. 226.

  7. Ebd. S. 224

  8. Vgl. hierzu u. a. David Jorawsky: Soviet Scientists and the Great Break. — Gustav Wetter: Ideology and Science in the Soviet Union. In: Deadalus 1960. S. 562 ff., 581 ff., bes. 583— 590.

  9. Vgl. v. a. G. Wetter, a. a. O.

  10. Wetter, a. a. O. S. 598— 602.

  11. Ebd. S. 601 f.

  12. v. Weizsäcker, a. a. O. S. 52.

  13. Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik. In: Die Künste im technischen Zeitalter. München 1954. S. 54.

  14. A. a. O., S. 53.

  15. Vgl. z. B. v. Weizsäcker, a. a. O., S. 162 ff.

  16. The Scientific Outlook. New York 1931. S. 151.

  17. Hannoversche Allg. Ztg., 20 Februar 1961: „Lord Russell führte Tausende auf die Straße.“ Einige Wochen später verstieg er sich zu der Bemerkung, daß der amerikanische Präsident Kennedy und der britische Premierminister Macmillan „noch viel verruchter als Hitler" seien, weil sie die Existenz der Atomwaffen in ihre Kalkulation einbeziehen (upi-Meldung vom 16. April 1961). Wie immer, verfehlen derartig simple Äußerungen berühmter Männer ihren Eindruck nicht auf Intellektuelle und Massen innerhalb unserer Demokratien.

  18. Werner Heisenberg, a. a. O., S. 56.

  19. Ebd. S. 67.

  20. Ebd. S. 67 f.

  21. Rudolf Berlinger: Das Werk der Freiheit, Zur Philosophie von Geschichte, Kunst und Technik. Frankfurt a. M. 1959. S. 118.

  22. Jakob Hommes: Krise der Freiheit, Hegel — Marx — Heidegger. Regensburg 1958. S. 16.

  23. Ebd. S. 19.

  24. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. In: Die Künste im technischen Zeitalter. München 1954. S. 96.

  25. Das soll heißen: nur einer unter den vier Ursachenbegriffen des Aristoteles.

  26. Heidegger, a. a. O., S. 96 f.

  27. Ebd S. 99.

  28. Ebd S. 108.

  29. Die in Heideggers Schriften „Platons Lehre von der Wahrheit", „Holzwege" und anderswo mit den Mitteln reiner Verbalphilosophie, Wortsinnverschiebungen, Wort-, statt Wirklichkeitsbedeutungen bis zum Extrem arbeitenden Gleichsetzungen von „gegenständlichem Denken", „bloßem Machtstreben“ und „Technik" als unterschieden von der „Eksistenz" des Menschen, die mit seiner „Subjektivität" nichts zu tun habe, können wir freilich von unserem Standpunkt als wissenschaftliche Aussagen über die Wirklichkeit nicht werten. Die mit anderen Argumenten erfolgende Verteidigung des „Wesens der Technik" aus dem Begriff der „Wachsamkeit für das wesend kommende Geschick des Seins", die auch das „Wesen des Menschen" umreißt, erscheint uns undiskutierbar, und nicht nur aus dem Grunde, weil Heidegger die gegenständliche Ausrichtung des wissenschaftlichen Denkens verachtet. „Dinge", auch die technischen, sind ihm „Seibstand", auch Gegenstand der Wissenschaft. Die Wissenschaft habe durch ihre Betrachtungsweise die „Dinge als Dinge vernichtet". Damit hört jede Möglichkeit der Debatte auf, auch der Verständigung. Außerdem muß der Verstoß gegen Sprach-und Begriffskonvention der Gesellschaft irgendwo ein Ende haben, um noch als normal tragbar zu gelten.

  30. A. a O S. 97 f.

  31. Lewis Mumford: Anticipations and Social Adjustments in Science. Bulletin of Atomics Scientists, February 1954.

  32. Cornelis Johannes Dippel: Christliche Existenz in der modernen wissenschaftlichen und technischen Welt.. Zeitschrift f. evangelische Ethik 1958. S. 129 ff., bes. S. 139 f.

  33. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. München 1949 und 1952. S. 22.

  34. Theodor Litt: Technisches Denken und menschliche Bildung. Heidelberg 1957. S. 44.

  35. Ebd. S. 44 f.

  36. Ebd. S. 45.

  37. Von Litt hervorgehoben.

  38. A. a. O. S. 65 f.

  39. Ebd. S. 36.

  40. Ebd. S. 88.

  41. Ebd.

  42. Max Weber: „Der Sinn der . Weltfreiheit'...". In: Soziologie — Weltgeschichtliche Analysen — Politik. Stuttgart 1956. S. 275 ff.

  43. über einige Kategorien der verstehenden Soziologie. A. a. O. S. 106, 112, 114 ff.

  44. Der Sinn der „Wertfreiheit" . . . A. a. O. S. 298. Bei diesem Zitat ist zu bedenken, das „Zweck" in Unterscheidung von „Wert" (der ihm immer in Beziehung zu einer „Kulturbedeutung" erscheint) für den Pragmatisten Max Weber die „Vorstellung eines Erfolges ist, welche Ursache einer Handlung wird" (Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. A. a. O. S. 226).

  45. Theodor Litt: Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt. Bonn 1955. S. 83 ff.

  46. Ebd. S. 89.

  47. Ebd. S. 74— 77, 96 f.

  48. „Material" ist zu verstehen als die vom Geist für die praktischen Zwecke des Menschen verwandelten Naturgegenstände. Dieses „Material" des Technikers und Wirtschaftsmenschen kann nicht verwechselt werden mit den wesenhaft andersartigen Gegenständen der Geistesdisziplinen.

  49. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. S. 125.

  50. Ebd. S. 133 f.

  51. Vgl. z. B. W. E. Mühlmann: Vorkapitalistische Klassengesellschaften. Zeitschrift f. Ethnologie 1956. S. 22— 37.

  52. Ausgezeichnet ist die entsprechende Formulierung Freyers, der einmal sagte, der Mensch von heute sei auf den modernen Typus der Arbeit eingestellt, „und es wäre eine ganz falsche Sentimentalität zu glauben, daß er sonderlich darunter litte. Man will genau wissen, was verlangt wird, im übrigen freilich ungeschoren sein. Die These des jungen Wilhelm von Humboldt: eine Tätigkeit sei überhaupt nur menschenwürdig, wenn sie es gestatte und sogar verlange, möglichst viel vom eigenen Wesen in sie zu legen, wird dann geradezu als veraltert empfunden" (Hans Freyer: Die Idee der Freiheit im technischen Zeitalter. In: Freiheit der Persönlichkeit. Stuttgart 1958. S. 62).

  53. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955. S. 222.

  54. Vgl. z. B. Georges Friedmann: Zukunft der Arbeit. Köln 1953. S. 189— 210.

  55. Erwin Krause: Industriepädagogik. Berlin, Köln und Frankfurt a. M. 1961. S. 25 f.

  56. Jakob Hommes: Krise der Freiheit. S. 16, 19, 53, 263 u. ö.

  57. Vgl. u. a. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik. A. a. O. S. 70— 108.

  58. Ebd. S. 102.

  59. Ebd. S. 103.

  60. Ebd. S. 81.

  61. Ebd.

  62. Ebd. S. 79. Es kommt Heidegger hierbei lediglich darauf an, daß die „neuzeitliche Physik als experimentelle auf technische Apparaturen" angewiesen ist (ebd. S. 81). Ergo: die „exakte Naturwissenschaft" wird von der Technik einfach „verwendet" (ebd S. 82). Das schien ihm ihre Berufung zu sein Von der neuesten Wendung der Naturwissenschaft und ihrer buchstäblichen Entdeckung neuer Dimensionen, ihrem selbständigen und über die Gestelle der Technik und die „Exaktheit" weit hinausweisenden Erkenntnisgewicht nimmt er keine Kenntnis.

  63. Ebd. S. 84

  64. Nach der Niederschrift dieses Kapitels kommt mir die erregende und bewegende Absage eines Schülers Heideggers an seinen Meister vor Augen, die, erschütternd als Dokument inneren Kampfes und endlicher Befreiung, eine von dritter Seite nicht zu überbietende Distanzierung von Heideggers Wortpathos darstellt (vgl. Wilhelm Kamlah: Martin Heidegger und die Technik. Deutsche Universitätszeitung 1954/11. S. 10 ff.). Von der positivistischen Nuancierung Kamlahs im Schluß des „offenen Briefes" (ebd. S. 13) muß ich mich freilich distanzieren

  65. Karl Jaspers, a. a. O., S. 157.

  66. Ebd. S. 159.

  67. Ernst Jünger: Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt. Hamburg 1932.

  68. Friedrich Georg Jünger: über die Perfektion der Technik. Frankfurt a. M. 1946.

  69. Jaspers, a. a. O., S. 344 f.

  70. Ebd. S. 161.

  71. Bbd.

  72. Das gleiche Urteil gilt auch für die Ausführungen, die einen etwas zu pedantischen Trennungsstrich ziehen zwischen dem „Mißbrauch" und „Gebrauch" der technischen Errungenschaften. „Der Gebrauch des Radios zur Übermittlung von Wissen und Kunst, auch zur Ausspannung, wird zum Mißbrauch am Badestrand, in der Stille des Waldes, in der Einsamkeit des Gebirges, weil er die fort-liegenden, für den Menschen höheren Werte zerstört ... Wenn ein Mensch mit einem knatternden Motorrennboot auf einem kleinen See (aus welchem Grunde tut er es eigentlich?) die Ruhe von Hunderten am Ufer stört — sind diese nicht in der Lage, dem Einhalt zu gebieten?" (Walther Gerlach: Ortsbestimmung der Technik. Deutsche Universitätszeitung 1955/21. S. 8). Die Antwort auf die eingeklammerte erste Frage ist, daß der „Mensch das tut", ganz einfach weil er ein Kind des technischen Zeitalters ist und diese Art Sport und Rücksichtslosigkeit gedankenlos ausübt und von den meisten passiv Beteiligten ebenso gedankenlos ertragen wird. Die Antwort auf die zweite Frage ist, daß die wenigen Mitglieder der empfindsamen geistigen Elite, denen das nicht paßt, einen ewigen und von der Mehrzahl der heutigen Menschen meist unbegriffenen Kampf führen müßten gegen das, was gemäß ihren Maßstäben groben Unfug bedeutet, daß sie aber nach allen Regeln der Demokratie ihre Maßstäbe des Verhaltens und Bewertens nicht gegen die Mehrzahl durchdrücken können. Gerlachs „pädagogische Maßnahmen" scheinen geringen Erfolg zu versprechen gegenüber einem elementaren neuen Stil-und Lebensgefühl.

  73. Adolf Weber: Allgemeine Volkswirtschaftslehre. Bd. 2. München u. Leipzig 1932. S. 19 Noch krasser formuliert bei anderen, z. B. bei Ferdinand Fried: Das Ende des Kapitalismus. Jena 1931. S. 21 ff.

  74. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter, Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Hamburg 1957. S. 30.

  75. Ebd. S. 81.

  76. Gerhard Mackenroth: Die sozialen und kulturellen Folgen der großen Bevölkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts. In: Synthetische Antropologie. Hg. von v. Wiese und Specht 1950. S. 167 f.

  77. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955. S. 83 f.

  78. Mackenroth, a. a. O. S. 171. Vgl. auch ders.: Bevölkerungslehre. Berlin 1953.

  79. Nadi einem upi-Bericht vom 28. April 1961 erhielten einige Schlosser auf der Raketenabschußbasis Vandenberg 520 Dollar in der Woche. Das sind 40 Dollar mehr, als der amerikanische Verteidigungsminister in derselben Zeit verdient. Sämtliche 90 Rohrleger in Vandenberg verdienten in der Woche im Durchschnitt „beträchtlich mehr" als die gut-bezahlten Offiziere der amerikanischen Luftwaffe. Ein Vorarbeiter übertraf das Gehalt des Luftwaffenministers und zwei Aufzug-Mechaniker und einige Warenhausangestellte „konnten mehr Geld nach Hause bringen als ein Oberst der Armee". Ein Vergleich der Löhne von Arbeitern mit den Gehältern wissenschaftlicher Fachleute an derartigen Projekten spottet der Beschreibung.

  80. Vgl. z. B. Albert Lauterbach: Mensch — Motive — Geld. Stuttgart 1957. Kap. 4.

  81. Das Allensbacher Institut für Demoskopie hat im März 1961 festgesteli ., daß zwei Drittel der westdeutschen Bevölkerung zufrieden wäre, wenn die „eigene" wirtschaftliche Lage „in den nächsten zehn Jahren genauso bleiben wird, wie sie fetzt ist“.

  82. Thorstein Veblen: The Theorie of the Leisure Class. New York 1922. Kap. IV.

  83. Die wilden, von kommunistischen Drahtziehern inszenierten Streiks der letzten Jahre in England wollen wir in diesem Zusammenhang außer Betracht lassen. Sie betreffen das Sonderthema dieses Kapitels nicht, sind aber in anderem Zusammenhang sehr bemerkenswert.

  84. C. F. v. Weizsäcker: Atomenergie und Atomzeitalter. Frankfurt a. M. 1957. S. 131.

  85. Looking Ahead. National Planning Assn. Washington, D. C., Juni 1956. Der oben geschilderte Zustand kann nach neuesten Berichten als erreicht gelten.

  86. F. H. Simonds und Brooks Emeny: The Great Powers in World Politics. New York 1939. S. 54.

  87. Edward Teller und Albert Latter: Ausblick in das Kernzeitalter. Frankfurt a. M. 1959. S. 147.

  88. Johannes P. Lieberwirth in: Hannoversche Allg. Ztg. vom 29. /30. April 1961. S. 51.

  89. Friedrich Pollock: Sozialökonomische Auswirkungen der Automation und der Atomtechnik. Politische Studien 1957. S. 4. Ebenso Edward Teller und Albert Latter, a. a. O.

  90. Lieberwirth, a. a. O. Gleichfalls Kurt K. Doberer: Sinn und Zukunft der Automation. Frankfurt a. M. 1958. S. 182.

  91. Pollock, a. a. O. S. 5 f.

  92. Ebd. S. 6.

  93. Ebd.

  94. A. a. O.; ders.: Automation; Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und sozialen Folgen. Frankfurt a. M. 1956.

  95. Nach E. Krause (Industriepädagogik. Berlin, Köln u. Frankfurt a. M. 1961. S. 23) gibt es weit mehr als 18 000 Schriften über die Automation. Unter ihnen sind neben Teilen von Krauses eigener Schrift noch besonders hervorzuheben: Georges Friedmann: Zukunft der Arbeit. Köln 1953. — Jean Fourastie: Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. Köln-Deutz 1954.

  96. Ein Beamter des Zweigamtes des Internationalen Arbeitsamtes in Bonn spricht in Vorträgen des Jahres 1961 sogar noch von nur „ 0, 5 Prozent aller Beschäftigten", die man in anderen Berufen unterbringen müsse.

  97. Pollock, a. a. O. S. 8. Ähnlich Kurt K. Doberer: Sinn und Zukunft der Automation. Frankfurt a. M. 1958. S. 181: „So mancher kann hier dem Drang nach dem offensichtlich Verlangten nicht widerstehen und gibt Zahlen, die . . ., weil aus zu vielen Unbekannten errechnet, . . . nicht bestehen können."

  98. Teller und Latter, a. a. O. S. 148: „Man ist dabei, für die meisten Substanzen Ersatzstoffe zu finden. Das wird zu einer größeren wirtschaftlichen Unabhängigkeit beitragen.“

  99. Vgl. Horst P. Kraft: Der automatische Lehrer. FAZ vom 30. September 1961. Hierbei handelt es sich um eine seit 1960 ausbreitende Entwicklung in Amerika, die versuchsweise zunächst die Lehrgebiete wie Psychologie, Musik, Logistik und Mathematik erfaßt.

  100. Congress of the United States, 84th Congress: Automation and Technological Change, Hearings before the Subcommittee on Economic Stabilization of the Joint Committee on the Economic Report. Washington, D. C. 1955. Zit. von Pollock: Sozialökonomische Auswirkungen. S. 9 f.

  101. Social Change. New York 1922. S. 200-265.

  102. Hans Lutz: Die technische Entwicklung und die Sicherheit des Menschen. Zeitschrift f. evangelische Ethik 1960. S. 342.

  103. Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1956. S. 7 ff.

  104. Vgl. Lutz, a. a. O. Anm. 4.

  105. Carter V. Good und Douglas E. Scates: Methods of Research. New York 1945. S. 26 f.

  106. Lutz, a. a. O. S. 342.

  107. Pollock: Sozialökonomische Auswirkungen. S. 14.

  108. Neben vielen anderen Autoren scheint mir auch der verdienstvolle französische arbeitswissenschaftliche Analytiker Georges Friedmann diesen unerbittlichen Entwicklungen zuviel theoretischen Raum und menschlich begreifliches Bedauern zu widmen (vgl.sein: Zukunft der Arbeit. Köln 1953). Die Kluft zwischen Theorie und Praxis wird sichtbar, wenn er im IV. Teil, S. 263 ff., immer wieder Beispiele von Industriearbeitern anführt, die mit ihren Arbeitsfunktionen zufrieden sind, während er als Gelehrter diese Tatsache nicht verwinden kann.

  109. Der deutsche Schulunterricht und die verwaltungsjuristische Protektion von Eltern-und Schülerrecht haben bereits zuviel von der amerikanischen pädagogischen Tendenz der Sentimentalisierung jugendlicher Freiheit auf Kosten des Bewußtseins von Pflichten übernommen. Die wadisende Kulturlosigkeit von Teilen der Jugend ist die unerbittliche Folge, die in Amerika teils groteske, teils kriminelle Formen angenommen hat. Auch in der Bundesrepublik kann man Beispiele erleben, die am Wert dieser Art von „Freiheit" manchmal zweifeln lassen. Ich kenne zum Beispiel den Fall eines betrügerischen Studenten an einer Pädagogischen Hochschule, der gegen den einmütigen Einspruch des Dozentenkollegiums verwaltungsgerichtlich seine Anstellung als Lehrer und Erzieher der Jugend erzwang.

  110. Von ihr behauptete Tönnies, daß sie nach allen Seiten die politischen Disziplinen lehre, ohne in ihre Tiefen einzudringen (F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 6. u. 7. Ausl. Leipzig 1926. S. 4).

  111. H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. S. 234.

  112. Zum Beispiel Alexander Rüstow: Die weltpolitische Dringlichkeit einer durchgreifenden Erziehungsrefonn. In: Die geistige und politische Freiheit in der Massendemokratie. Stuttgart 1960. S. 91.

  113. Wolfgang Schweitzer: Freiheit zum Leben. Stuttgart u. Gelnhausen 1959. S. 146.

  114. Ebd. S. 147.

  115. Heinz-Dietrich Wendland: Eigentum und Gesellschaftsordnung im Lichte der evangelischen Sozial-lehre. In: Eigentum und Eigentümer in unserer Gesellschaftsordnung. Köln u. Opladen 1960. S. 151.

  116. Ebd. S. 155.

  117. Vgl. Schweitzer a. a. O. S. 168.

  118. Wendland, a. a. O. S. 155 f.

  119. Ebd. S. 159.

  120. Vgl. u. a. Charles Gide: Consumers'Cooperative Societies. New York 1922. — J. P. Warbasse: Cooperative Democracy. New York 1927. — Marquis W. Childs: Sweden — The Middle Way. New York 1936.

  121. Vgl. Sonntagsblatt vom 9. April 1961. S. 32.

  122. Ebd.

  123. Vgl. u. a. Erwin Krause: Industriepädagogik. Berlin, Köln u. Frankfurt a. M. 1961. S. 149-176. — Karl Abraham: Der Betrieb als Erziehungsfaktor. Köln 1953. — Georges Friedmann. Zukunft der Arbeit. Köln 1953. S. 244 ff., 284 ff.

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Ludwig Freund, Dr. phil., geb. 22. Mai 1898 in Mülheim/Ruhr. 1934 nach den USA emigriert. 1937— 1947 o. Professor für Soziologie und Politikwissenschaft am Ripon College (Wisconsin); 1947 o. Professor für Politikwissenschaft an der Roosevelt-Universität, Chicago (1963 em.); seit 1959 zu Forschungsarbeiten in Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: „Am Ende der Philosophie", „Motive der amerikanischen Außenpolitik“, „Politik und Ethik".