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Europäische Humanität als politische Formkraft | APuZ 26/1963 | bpb.de

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APuZ 26/1963 Europäische Humanität als politische Formkraft Artikel 1

Europäische Humanität als politische Formkraft

Gerhard Möbus

In dieser Ausgabe wird die überarbeitete Fassung eines Vortrages veröffentlicht, der auf der Arbeitstagung der Bundeszentrale und der Landeszentralen für politische Bildung am 25. April 1963 in Mainz gehalten worden ist.

Das Thema „Europäische Humanität als politische Formkraft" ist ein Thema, gegen das sich von vornherein manche Einwände erheben werden. Man hat zum Beispiel gesagt: Was heißt denn europäische Humaniät? Die einen bestritten, daß es eine europäische Humaniät gebe; sie sagten: Es gibt eine allgemeine Menschlichkeit, sie hat aber Europa nicht für sich in irgend einem besonderen Sinne zu beanspruchen. Es wurde auch behauptet, Humanität und Politik seien die reinsten Gegensätze und schlössen sich grundsätzlich aus. Wäre das tatsächlich der Fall, dann enthielte das Thema in sich einen geistigen Widerspruch, der im letzten unaufhebbar ist.

Anderseits ist aber festzuhalten: wir stehen vor der Aufgabe, die Frage zu beantworten, wie eigentlich die Grundeinstellung der Menschen, vor allem der jungen Menschen, zur bestehenden politischen Ordnung mit Motiven ausgestattet werden soll, aus denen heraus die Ansprüche und Anforderungen, die diese politische Ordnung, wie jede politische Ordnung, stellt, nicht nur Ansprüche und Anforderungen sind, die ein Zwangserlebnis hervorrufen, sondern innere Zustimmung finden. Die Frage ist dann, wenn man solche Motive sucht, ob das Motive sein können, wie wir sie etwa aus der letzten Vergangenheit kennen. Es ist aufschlußreich, daß gerade diejenigen, die nachdrücklich bestreiten, es gäbe Motive aus dem Bereich dessen, was hier europäische Humanität genannt wird, für ein politisches Engagement, selber nicht selten den Rückgriff machen auf Motive, die sehr nationalistisch klingen, -oder sogar auf Motive, die — zumal wenn sie sich etwa auf einen Bereich wie den Wehrdienst beziehen — zurückgehen bis auf den Nullpunkt, daß man meint, es reiche aus, für die positive Einstellung zu dieser Forderung der politischen Ordnung etwa die . Wert-moral eines Eliteverbandes'zu entwickeln. Es sei nur erinnert an die Empfehlung, als idealtypisches Modell dafür die französische Fremdenlegion zu nehmen. Daß diese Empfehlung in Deutschland allen Ernstes geäußert worden ist, ist beachtlich und zugleich bedenklich. Allerdings hat inzwischen die , Wertmoral dieses Eliteverbandes’ ihr wahres Gesicht gezeigt; und man wird sich wahrscheinlich hüten, sie den Deutschen noch einmal für ihre Wehr-politik zu empfehlen.

Faßt man die gesamtpolitische Situation, in der wir stehen, als Aufgabe ins Auge, zu der eine geistige Einstellung zu gewinnen ist — vor allem die weltweite Ost-West-Auseinandersetzung —, dann ist unter allen, die ernsthaft um diese Dinge bemüht sind, darin Überein-stimmung, daß es in dieser Auseinandersetzung mit einem einfachen Antikommunismus oder Antisowjetismus nicht getan ist; daß man vielmehr, will man den Ost-West-Konflikt in seinem letzten Ernst erfassen, in den Bereich eines Spannungsverhältnisses von übernationalem Charakter kommt. Es ist daher einleuchtend, daß, wer dieser Auseinandersetzung geistig und politisch gewachsen sein will, für die eigene Position übernationale Motive haben muß. Das ist eine Aufgabe, die im Feld der politischen Bildung und der politischen Bewußtseinsbildung liegt, und ihr zu dienen, ist die Absicht dieses Versuchs.

Die zentrale These dieser Ausführungen lautet: Die freiheitlich-rechtsstaatliche Lebensordnung, die wir als politische Ordnung haben, ist in ihrer Entstehung geschichtlich und geistig nicht loszulösen von bestimmten Gedanken über den Menschen und das Menschsein. Damit wird behauptet, daß das politische Instrumentarium, von dem wir wie selbstverständlich in einer politischen Ordnung wie der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch machen, sich nicht von selber versteht, sondern daß es geschicht-Ausführlicher Quellen-und Literaturhinweis zur Thematik findet sich in der soeben erschienenen Schrift des Verfassers: Europäische Humanität als politische Formkraft, Osnabrück (A. Fromm Verlag); sowie in: Die politischen Theorien im Zeitalter der absoluten Monarchie bis zur Französischen Revolution, Köln u. Opladen 1961 (Westdeutscher Verlag) lieh und geistig in seinem Ursprung zurückzuführen ist auf ein bestimmtes Denken, das im Handeln seinen Niederschlag gefunden hat. Also das Risiko besteht, daß dieses Handeln, als Gebrauchmachen vom konstitutionellen und institutioneilen Instrumentarium der politischen Ordnung, sich zu weit von seinem geistigen Ursprung entfernt und dadurch ein gedankenloses Handeln wird; in dem Sinne, wie wenn etwa gesagt wird, der Osten habe eine geistige Grundlage, eine Ideologie, wir aber seien geistig ratlos, weil wir kein ideelles Fundament hätten. In Wahrheit ist es so, daß wir nicht ratlos zu sein brauchten, sondern daß die Tatsache der ideellen Fundierung unserer politischen Ordnung und der Zusammenhang unseres politischen Instrumentariums mit bestimmten Grundgedanken vom Menschen und vom Menschsein zu wenig hell im Bewußtsein stehen. Daher ist es ein vornehmes Ziel der politischen Bildung und der politischen Bewußtseinsbildung, daß sie über die Formen-und Funktionslehre der parlamentarischen Demokratie und ihres Gegenteils, der Diktatur, hinaus die Einsicht fördern in den Zusammenhang der freiheitlich-rechtsstaatlichen politischen Ordnung mit ihren ideellen Fundament, auf dem sie geschichtlich und geistig ruht.

Es leuchtet ein, daß dieses Ziel nur gesetzt und gesehen werden kann von dem Punkte an, wo ein gewisser Reifezustand im Verhältnis des Menschen zum Menschen, zu seiner Lebensordnung und zu der Frage, welche Lebensform und Lebensführung gewollt wird, erreicht ist. Das ist der Zustand des Menschen, der bewußt Anspruch erhebt, wenn auch vielleicht in der einfachsten Form, auf ein gewisses Maß von Mündigkeit seiner Lebensform und Lebensführung. Dieses Bemühen gehört daher vor allem als ein Teilstück zur modernen Erwachsenenbildung. Um anzudeuten, in welchem Felde der Zusammenhang liegt, von dem die Rede ist, seien einige Schwerpunkte der Entwicklung dieses Denkens und des damit zusammenhängenden Handelns herausgehoben; nicht mit dem Anspruch, das Thema zu erschöpfen, sondern in der Absicht, auf einiges hinzuweisen, das geeignet erscheint, das Thema einleuchtend zu machen und für es Zustimmung zu finden.

Es ist ein einzigartiges Charakteristikum der europäischen Geschichte, daß sehr früh, nämlich mit dem Beginn des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, in einem kleinen Teil Europas eine politische Form entwickelt worden ist, die im Unterschied zu dem, was um sie herum und durch Jahrhunderte späterhin die politische Praxis war, dadurch gekennzeichnet ist, daß die rechtlich Vollzugehörigen zu dieser politischen Ordnung die Teilnahme an der Regierung, der Gesetzgebung und Rechtsprechung erhielten. Dieser in der gesamten Weltgeschichte einzigartige Vorgang hat sich ereignet in der athenischen Demokratie, die ihre Vollendung um die Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts durch Perikies gefunden hat. Es ist kein Zufall, daß in dieser politischen Ordnung — und nirgendwo sonst — zugleich eine geistige Auseinandersetzung einsetzte, die um die Frage ging: wie verhält sich das notwendig zum Politischen gehörende Macht-haben zum Anspruch auf ein Menschsein, das von diesem Machthaben nicht angetastet werden darf. Bei der Grundfrage, die damit aufkommt, geht es im letzten darum, wie die Macht, ohne die nicht auszukommen ist, in ein Verhältnis gesetzt werden soll zum Mensch-sein als Maßstab.

Das ist eine Frage, die zumeist angesehen wird als ein Teilstück der griechischen Philosophie oder der griechischen Geistesgeschichte im allgemeinen. Das aber ist unzutreffend;

denn es gibt im selben Griechenland vieles andere als das, was im attischen Athen entsteht in dieser ersten europäischen Demokratie. Es gibt im übrigen Griechenland vieles andere an Gedanken und Vorstellungen vom Politischen, dem die Herausforderung zu einer geistigen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Macht und Mensch-sein durchaus fernliegt.

Eben das aber ist die Grundfrage, auf die als Antwort dann im Endergebnis ein politisches Instrumentarium, konstitutionell und institutionell, entsteht, wie es in der freiheitlich-rechtsstaatlichen politischen Ordnung heute vorliegt. Denn diese politische Ordnung ist ihrem Wesen nach dadurch gekennzeichnet, daß sie auf dem geistigen Grundriß einer Entscheidung darüber beruht, welche Funktion das Politische in der Gesamtgesellschaft haben soll. Die Gesellschaftsform, in der wir heute leben, ist nicht zuletzt dadurch bestimmt, daß ihr eine politische Ordnung freiheitlich-rechtsstaatlichen Charakters entspricht; das heißt: Eine politische Ordnung, in der diese Entscheidung so getroffen ist, daß das Politische grundsätzlich bejaht wird, aber bejaht im Sinne eines relativen Primats. Das Politische hat den Primat für bestimmte Bereiche und unter bestimmten Umständen; sonst ist es jedoch mit der Verpflichtung versehen, die in den Verfassungen, die einen Grundrechts-katalog haben zum Gesetz erhoben ist, sich selbst herauszuhalten aus weiten Bereichen des Menschseins als individueller und sozialer privater Existenz; ja es ist gehalten, dieses Nicht-antasten-dürfen mit den ihm eigenen Mitteln der Macht zu schützen und zu sanktionieren. Dieser relative Primat des Politischen ist das Ergebnis einer jahrtausendelangen Auseinandersetzung über die Grundfrage, wie verhalten sich Macht und Menschsein zueinander. Der freiheitliche Rechtsstaat verwirklicht als eine Form politischer Ordnung diese Formel eines relativen Primats des Politischen. Das Wesen des Totalitären, ob es auf einem nationalistischen Mythos oder auf einer kollektivistischen Ideologie beruht, ist dadurch gekennzeichnet, daß auf Grund seiner Mythologie oder seiner Ideologie der absolute Primat des Politischen beansprucht wird. Allen anderen Lebensbereichen des Menschseins wird Wert nur zugestanden je nach ihrem Nutzwert für das Politische und als Anerkennung um des Nutzwerts für das Politische willen. Es ist daher außer Frage, daß Bereiche des Lebens, wie etwa die Kunst, die Wissenschaft, der Sport, auch im totalitären Staat hoch eingeschätzt und honoriert sein können; aber das geschieht nicht, weil diesen Bereichen des Menschseins Eigenwert und Eigenrecht zugesprochen wird, sondern um des jeweiligen Nutzwerts für das Politische willen. Infolgedessen wird auch vom Politischen her der Zeitpunkt bestimmt, zu dem dieser Nutzwert zugestanden wird.

Das will also sagen, es werden in dieser Sache zwei ausgesprochen gegensätzliche, die Realität des Politischen in einer entscheidenden Weise bestimmende Entscheidungen getroffen: Die eine besaß zwar die Macht des Politischen und die Macht am Politischen, unterstellt sie jedoch bestimmten Bedingungen und läßt eine unbedingte Unterwerfung des Menschen unter das Politische unter keinen Umständen zu; die andere setzt, mit welcher Begründung auch immer, das Politische absolut. Der Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung liegt — das ist für den Blick auf das, was ideell und politisch auszutragen war in der europäischen Geschichte, nicht nebensächlich — wiederum im Feld Athens und Attikas, und zwar in der Tragödie, die aus Anlaß und im Zusammenhang mit bestimmten Staatsfeiertagen dieser politischen Ordnung entstanden ist. Man hat die dramatische Dichtungsgattung der Tragödie gemeinhin griechisch genannt. Es gibt sie jedoch nur in Athen; und es gibt sie als das, was sie ist und ihrem Wesen nach darstellt nur im Zusammenhang mit dieser politischen Ordnung und sonst nirgends in der damaligen Welt. Was als ein geistiger Grund-strom durch diese Dichtungsgattung hindurchgeht, und zwar im tragischen Aspekt, das ist eben diese geistige Auseinandersetzung um die Grundfrage des Verhältnisses von Macht und Menschsein.

Ruft man sich nur in die Erinnerung, was sich bei Aischylos in der „Orestie" oder in großen Tragödien, wie den „Schutzflehenden" und dem „Prometheus" abspielt, oder vergegenwärtigen wir uns die „Antigone" des Sophokles oder die „Troerinnen“ und die „Medea" des Euripides, dann ist festzustellen, daß es immer wieder um die Tatsache geht, daß in dieser politischen Ordnung der ersten europäischen Demokratie den Menschen ein Menschsein aus eigener Entscheidung zugestanden ist; etwas, das es bis dahin in dieser Weise in der Welt nicht gegeben hat. Dieses Menschsein aus eigener Entscheidung — das stellen vor allem die „Orestie" und der „Prometheus" dar — muß losgelöst werden von seiner Eingebundenheit in eine magisch-rituell-kultische Welt. Das Politische, in seiner sakralisierten Form eingebaut und fundiert im Religiös-Kultischen und Rituell-Magischen, ist eine Grenze, die durchbrochen werden muß, um ein Mensch-sein aus eigener Entscheidung wirksam werden zu lassen.

Es ist eine der eindrucksvollsten Szenen — sie hält den Vergleich aus mit den großen Szenen der Tragiker —, wenn Herodot im ersten Buch seines Geschichtswerkes schildert, wie ein Statthalter im Dienste des Perserkönigs einen Aufstand versucht, dann flüchten muß und als politischer Flüchtling in einer kleinen jonischen Stadt an der Küste von Kleinasien erscheint und Asyl sucht. Die Bürgerschaft dieser Stadt steht nun vor der Tatsache, daß da ein politischer Flüchtling ist, der, auf der Flucht vor dem Großkönig, Asyl im Tempel gesucht hat. Hinter ihm steht drohend das persische Großreich. Die Machtverhältnisse sind ohne Vergleich, und das Risiko ist nicht abzumessen, wenn diesem politischen Flüchtling Asyl gewährt wird. Die Bürgerschaft tritt zusammen und entschließt sich, eine Gottesgesandtschaft zum Tempel des Apollon von Didyma zu schikken. Die Gesandtschaft kommt dorthin und fragt: Sollen wir den Flüchtling den Persern ausliefern? Das Orakel antwortet: Ja, liefert ihn aus. Die Gesandtschaft kommt zurück und ein einziger Mann in der Bürgerschaft, Arisiodikos, zweifelt die Antwort an. Ihm kommt der Bescheid'bedenklich vor. Er meint, es könne nicht sein, daß der Gott so entschieden habe, und es müßte wohl von der Gesandtschaft, etwa aus Rücksicht auf die politische Situation, die Unwahrheit gesagt werden. Daraufhin entschließt man sich, eine zweite Gesandtschaft zum Apollontempel zu entsenden. Aristodikos wird zu ihrem Führer bestellt; er stellt dieselbe Frage, und die Antwort lautet: Ja, liefert den Flüchtling aus. Doch noch immer gibt sich Aristodikos nicht zufrieden und vollzieht eine seelisch in der Nähe der dramatischen Tragödie liegende symbolische Geste. In den Tempelmauern sind Vogelnester. Er geht hin und fängt an, diese Vogelnester zu zerstören. Auf einmal spricht eine Stimme aus dem Allerheiligsten des Tempels: Was tust du, Frevler?

Und Aristodikos antwortet: Ich tue das, was du geraten hast, mit dem Flüchtling zu tun.

Ich zerstöre das Gehäuse deiner Schutzflehenden. Damit ist der griechische Ausdruck gebraucht, der ein großer Titel der griechischen Tragödie ist: die „Schutzflehenden", und dem eine Grundgestalt dieser Tragödie entspricht, von der noch die Rede sein soll. Dann antwortete der Gott Apollon auf den Einwand, er habe das doch selbst geraten: „Ja, das heiße ich euch, damit ihr Menschen ohne Gottesfurcht schneller zugrunde geht und ihr mir nicht mehr kommt, um euch wegen der Auslieferung eines Flüchtlings Auskunft beim Orakel zu holen."

Damit ist für unsere Überlegungen ein Gedanke voll im Blick, den Herodot auch an anderer Stelle unterstrichen hat und der in der Tragödie des Aischylos „Die Schutzflehenden" die Zentralszene bestimmt. Da ist im Grunde dieselbe Szene auf der Bühne des Dramas dargestellt, daß nämlich eine Gruppe von Flüchtlingen, die Töchter des Danaos und Nachkommen der Jo, die Danaiden, um Asyl bitten. Es ist dieselbe Situation wie bei Herodot, und es ist dargestellt, wie sich der Herrscher dieser Stadt unter höchstem politischen Risiko dazu entschließt, den Flüchtlingen Schutz zu geben.

Die Erzählung Herodots macht sichtbar, wie in Athen in dieser Zeit ein Apollon-Orakel ausgelegt wird und ausgelegt werden muß. Das ist der entscheidende Punkt, und es ist deutlich gemacht, daß für das Politische zu dem Satz des Delphischen Apollon „Erkenne dich selbst" hinzuzufügen ist ein „Entscheide dich selbst" Das ist auch der Grundgedanke, der durch die attische Tragödie geht. Wer ein mündiges Menschsein aus eigener Entscheidung will, muß einen Preis zahlen. Eben das ist in der attischen Tragödie und bei Herodot dargestellt. Es ist der Preis zu zahlen, daß die Entscheidung in menschlicher Mündigkeit es ausschließt, ein Orakel aufzusuchen und sich Auskunft zu holen, was zu tun ist, wenn Gefahr droht. Jeder muß sich selbst entscheiden, auf eigene Gefahr hin.

Eben dadurch entsteht der große, in der Tragödie immer wieder dargestellte Konflikt:

Einerseits muß, ohne Rücksicht auf das Risiko, der Entschluß auf Leben und Tod gefaßt werden. Zugleich erhebt sich damit jedoch ein anderes politisches Problem, in dem sich nicht die außen-, sondern die innenpolitische Seite dieses Konflikts spiegelt. Auch dieses politische Problem hat die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Menschsein zur Ursache. Denn:

soll die politische Ordnung das geben, was ihr als Aufgabe wesentlich zugehört, nämlich Schutz, dann muß sie Macht haben. Wenn sie aber Macht hat, dann hat sie jedem einzelnen in der Gesamtgesellschaft gegenüber Übermacht; so daß sich in jeder politischen Ordnung in einem unlösbaren Verhältnis der Spannung und des Widerspruchs zueinander verhalten: Übermacht des Politischen und Eigenmacht des einzelnen, wenn er mündiger Mensch sein soll und sein will.

Eben das ist der Konflikt, gesehen auf den Menschen und das Menschsein hin, in der „Antigone" des Sophokles, wo ja die politische Situation die ist, daß Korinth durch den Bürgerkrieg zerrissen ist und diese Zerrissenheit mitten durch die Bürgerschaft bis in die einzelnen Familien hinein geht. So die Familie des Ödipus, wo der eine Sohn gegen die bestehende politische Ordnung und der andere für sie kämpft. Was das Handeln des Herrschers der Stadt, Kreon, ausdrückt, ist der Wille, die politische Ordnung, für die er sich verantwortlich sieht, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Machtmitteln durchzusetzen, ohne Rücksicht auch auf die dagegenstehenden mitmenschlichen Beziehungen und Rücksichten innerhalb der eigenen Familie. Dadurch wird der Konflikt ausgelöst: der Bruder, der gegen Theben gekämpft hat, fällt, und Antigone, seine Schwester, hält sich an das Gebot Kreons als des Repräsentanten der politischen Ordnung, der, um ein Exempel gegen die Staatsfeinde zu statuieren, angeordnet hat, daß der Tote unbestattet bleiben soll. Sie vollzieht die symbolische Geste der Bestattung, indem sie Erde auf seinen Leichnam streut. Dagegen wendet sich die Argumentation des Kreon in dieser Sache, mit der er das Vorgehen gegen Antigone rechtfertigt: Das Schlimmste im Staat sei Anarchie, das Notwendigste die Ordnung. Er wolle die Ordnung durchsetzen gegen die Anarchie, die tief hineingreift in das zerrissene Theben. Er müsse sich daher so verhalten, wie er es tue. Dem gegenübergestellt ist die Äußerung der Antigone, mit der sie einwendet, daß die politische Ordnung nicht die Ordnung des Zeus ist und daß es für jeden Menschen eine Grundordnung gibt, die hervorgeht aus einem ungeschriebenen Gesetz, einem ungeschriebenen Gesetz, dem sie sich unterwirft: liebend, nicht hassend.

Die Entscheidung des Sophokles — der ja selbst im perikleischen Athen, so als Schatzmeister des Attischen Seebundes, eine politische Rolle gespielt hat —, die er als Dichter in dieser Sache fällt, wird voll sichtbar in der letzten Begegnung zwischen dem Seher Teiresias und Kreon. Die Entscheidung wird so getroffen, daß Kreon sich seinerseits noch einmal darauf beruft, sein Wille sei durchzusetzen als Gebot und Gesetz der politischen Ordnung und ihm Teiresias das Wort entgegenschleudert, das in der attisch-athenischen Antike und von da an in der europäischen politischen Tradition als die schwerste Schmähung gilt und politisch die Achtung des Machthabers bedeutet, das Wort „Tyrann". Das Drama endet mit dem Untergang der ganzen Familie des Kreon.

Wir finden in diesem Geschehen also den Konflikt mit höchster Bewußtheit dargestellt, daß die politische Ordnung — wie man im späteren Sprachgebrauch sagen würde — ihre Räson hat und daß, wer sie verantwortet und durchsetzt, in die Zwangslage kommt, daß seine Macht, die Übermacht ist, in die Gefahr des Mißbrauchs gerät, weil das Menschsein ihr gegenüber sich als Ohnmacht des einzelnen und zugleich als Eigenmacht des mündigen Menschen darstellt; so in der Gestalt der Antigone und in der Gestalt der Schutzsuchenden, wie sie bei Aischylos und Euripides erscheinen. Die Tragiker appellieren ans Politische, das seinem Wesen nach Macht ist, die Schutz gibt als Übermacht, wenn es sich dem mündigen Menschsein unterordnet.

Wurde vorhin gesagt, daß zur politischen Geschichte wie zur Geistesgeschichte Europas ein Zusammenwirken von Denken und Handeln gehört, das auf eine eigene Weise dem Wort von der „europäischen Humanität" zugeordnet werden kann, dann meinte das zuerst die Tatsache, daß zugleich mit dem Aufkommen der ersten politischen Ordnung, die sich in Europa im eigentlichen Sinn des Wortes eine Demokratie nennen konnte, diese politische Ordnung durch Dichter und Denker geistig ins Bewußtsein ihrer Bürger gehoben worden ist. Die Tragiker, Herodot und nach ihm Thukydides, haben dargestellt, was den Menschen an Gefährdung von der Macht her droht, und zwar denen, die sie ausüben, wie denen, denen gegenüber sie ausgeübt wird. Das bewirkt, daß von Anfang an für das Politische gleichsam zwei Pole gesetzt sind. Wo Macht und Menschsein ins Spiel kommen, wird auf der einen Seite das Werthaben des Menschen und des Menschseins in sich selber ohne Rücksicht aufs Politische in den Blick gerückt; auf der anderen Seite betont, daß dieses Mensch-sein selbst gefährdet ist in sich und des Schutzes bedarf, also angewiesen ist auf das Politische. Dieses Politische ist Macht und ist Schutz und damit etwas Großes, etwas Humanes; es ist aber in sich selber wiederum zugleich Gefährdung, da Macht Übermacht ist, in der die Gefahr des Mißbrauchs liegt. Das ist der große Gedanke, der ein Kernstück dieses Denkens vom Politischen ausmacht, daß das Politische weder radikal verneint, noch absolut bejaht wird, sondern in eine Rangordnung gestellt ist, die ihm Grenzen zieht.

Man kann sagen, daß das Tragische in diesem Sinne verstanden und dem Politischen zugeordnet, in Menschengestalt vor uns steht in der Person des Sokrates. In der „Apologie" und im „Kriton" des Platon wird zum erstenmal von dieser tragischen Situation des Sokrates gesprochen. Da geht es nicht mehr um eine Gestalt der Dichtung,, sondern um eine historische Person, die dadurch charakterisiert ist. daß Sokrates gleichsam von sich sagen kann: Ich habe für Athen und Attika, wenn es das gefordert hat, mein Leben im Krieg eingesetzt. Ich habe da auf meinem Posten gestanden, ohne ihn zu verlassen, auch wenn es lebensgefährlich war. Und — so fügt er hinzu — ich muß doch, wenn ich daheim bin, auf dieselbe Weise meinen Mann stehen. Wie sollte ich mich nicht weigern, als zwei Regierungen — einmal ein aristokratisches Regiment, nämlich nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges, als Athen die Demokratie verlor und eine Aristokratie von den Spartanern errichtet wurde, und ein anderes Mal unter der späteren demokratischen Regierung — an mich das Ansuchen stellten, einen Mann aus dem Ausland herbeizuholen, der, auf das Vertrauen zu mir hin nach Athen zurückkommend, dann abgeurteilt werden sollte. Ich mußte dazu, obwohl es ein großes politisches Risiko war, Nein sagen. Das ist das Entscheidende in der Aussage des Sokrates, dieses Ja und Nein zum Politischen, vollzogen aus eigener Entscheidung.

Es ist für den Menschen von heute, in einer Welt voll von Flüchtlingen, nicht schwer einzusehen, was für eine Entscheidung Sokrates getroffen hat, als sein Freund Kriton zu ihm kam und sagte: Du kannst fliehen, wir haben dir die Wege geebnet, gehe ins Ausland. Doch Sokrates flieht nicht, sondern es folgt der berühmte Dialog aus dem Gedanken: Wenn ich dächte, es kämen jetzt die Gesetze und das Gemeinwesen, und sie sagten zu mir: Sokrates, 70 Jahre hast du hier gelebt und nichts gegen uns eingewendet, jetzt aber willst du gehen? . . . Das ist die tragische Szene einer inneren Auseinandersetzung, in der ein Mensch über sich selbst und sein individuelles Interesse hinausgeht und durch sein Ja und Nein zum Politischen eine große exemplarische Situation schafft. So zu handeln, ist nicht Sache jedes Menschen, sondern eine heroische Aktion, die sich dann ereignet, wenn ein Mensch den Satz des Sokrates ausspricht und sich auf sich selbst anwendet: Es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun.

Damit ist das Menschsein der Maßstab für das politische Handeln geworden in einer politischen Situation, in der es zur letzten Entscheidung kommt, in der ein Mensch sein Leben nicht mehr achtet. Das Ende des Sokrates ist gleich dem Ende der an der Macht Scheiternden in der attischen Tragödie. Es ist ein Scheitern, dessen Größe sich darin anzeigt, daß es nicht Resignation und Pessimismus hervorruft, sondern sichtbar ’ macht, daß dort, wo der Einzelne als mündiger Mensch in den Konflikt mit dem Politischen kommt, es nicht sinnlos ist zu scheitern, sondern Sinnerfüllung des Menschseins ist, zur eigenen Entscheidung mit dem Mut und der Bereitschaft zum Ja und Nein zu stehen.

Das ist die große Linie eines Denkens, das sich hier nur andeuten läßt. Dieses Denken mußte erlöschen mit dem Ende der Staatsform, der politischen Ordnung, der es zugehört; also mit dem Entstehen der hellenistischen Groß-reiche, mit denen ein anderes Denken heraufkommt. Aber es ist sehr bedeutsam, daß dieses große Denken in einer Grundfrage der Auseinandersetzung des Menschseins mit dem Politischen lebendig geblieben ist. Bezeichnend dafür ist, daß am Beginn des 3. nachchristlichen Jahrhunderts ein Kaiser wie Mark Aurel in den Notizen seines „Weges zu sich selbst" den Gedanken äußert: Vaterland (Patris) und politische Ordnung (Polis) sei ihm Rom, insofern er ein Antonine sei, er also einer römischen Familie zugehört. Ihm sei aber, insofern er ein Mensch sei, seine Welt der Kosmos. Damit ist noch einmal die Unterscheidung von Macht und Menschsein in einer präzisen Formulierung getroffen, nachdem das athenisch-attische Denken in der stoischen Philosophie in eine Welt-philosophie übergegangen ist. Wenn der Kaiser sagt, er sei in den Pflichten und Rechten, die er habe, ein Römer, aber im anderen Mensch, der dem Kosmos zugeordnet ist, so fügt er hinzu, das komme daher, daß er seiner Natur nach ein Logikos sei, ein Wesen also, zu dem der Logos, das Geistige, gehört. Das erste ordnet der Gesellschaft und ihren Pflichten zu, so der politischen Ordnung; das zweite ordnet dem Bereich des Geistigen zu, dem Gehören in eine Weltordnung, die mehr ist als die politische Ordnung; nicht nur größer ist als sie, sondern die auch das Menschsein in einem anderen Sinn erfaßt.

An dieser Stelle unseres Gedankenganges erhebt sich die Frage, wie dieses Denken vom Menschen und über das Verhältnis von Macht und Menschsein hat politisch wirksam werden können, nachdem die politische Ordnung der athenischen Demokratie, der es geschichtlich und geistig zugehörte, als selbständiger Staat aufgehört hatte zu bestehen. Denn zur Wirkung ins Politische hinein genügt ja die geistige Wiederkunft der Philosophie und Literatur der Griechen im Rom der Republik und der Kaiserzeit, wie etwa in der später von Italien ausgehenden Renaissance der Antike überhaupt, noch nicht.

Um diese Frage zu beantworten, bedarf es des Blicks auf einen Tatbestand, der geschichtlich auf eine vielfache Weise mit dem bisher Dargestellten verknüpft ist.

War es ein Grundgedanke des athenischen politischen Denkens und Philosophierens, daß die Politik Machthaben voraussetzt und daß Machthaben und Menschsein unlösbar einander zugeordnet sind, dann ist damit eine Scheidung von zwei Welten vorgenommen, wie die angeführte Äußerung des Kaisers Mark Aurel es in eine klassische Formulierung faßte. Es ist für die europäische Geschichte von einer nicht abzuschätzenden Bedeutung, daß eine andere Unterscheidung Ereignis wurde und das Verhältnis von Macht und Menschsein zu bedenken gab, die in ihrer Wirkung jene antike übertraf und an einer bestimmten Stelle der geschichtlichen Entwicklung Europas sich mit ihr zusammen aus-sprechen und anwenden ließ. Das ist der Eintritt der christlichen Lehre in die Welt, hier in die europäische Welt, und mit ihr der Unterscheidung der zwei Reiche: „Gebt dem Cäsar, was des Cäsar ist —, und Gott, was Gottes ist." Der Satz sagt zwar nicht im einzelnen, was Gott und dem Cäsar zu geben ist; er gibt aber auf, diese Unterscheidung zu treffen. Hinzu kommt der andere Satz, der neben dem ersten zu den viel zitierten Worten der frühen Christenheit gehört, wenn die Christen nach einer politischen Formel für ihr Verhältnis zum römischen Weltreich suchten: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". Ausgerüstet mit diesen beiden Sätzen, hat der Christ im Grunde genommen, wenn er sie grundsätzlich bejaht, eines gewiß: die Scheidung der . zwei Reiche'. Und damit auf eine Weise das Jasagen zum Politischen im „Gebt dem Cäsar, was des Cäsar ist"; zugleich jedoch das Neinsagen, wenn dessen Grenze überschritten wird, im „Gebt Gott, was Gottes ist". Diese Scheidung begründete eine Rangordnung der Lebenswerte und Lebensbereiche und setzt das Verhältnis des Christen zur Politik in innere Beziehung zur vorchristlichen Entscheidung, wie sie die „Antigone" des Sophokles oder der Entschluß des Sokrates bekunden, lieber Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun.

Diese Entscheidung bewirkt, um den Begriff wieder aufzunehmen, von neuem, daß das Politische keinen absoluten Primat mehr zu beanspruchen hat. Das Politische kann im Zeichen dieser beiden Unterscheidungen, der vorchristlichen wie der christlichen, nur relativen Primat haben, also in bestimmten Bereichen und unter bestimmten Umständen. Da Machthaben, wie wir sahen, Übermacht haben heißt, rückt das Politische von neuem ins Zeichen des Konflikts, in den Aspekt des Tragischen — menschlich gesprochen. Die geschichtliche Entwicklung Europas ist durch das Denken über das Politische von diesen Grundpositionen her in eine Richtung gelenkt worden, die das Gesicht dieses Kontinents unverwechselbar geprägt hat.

Entscheidend ist — und damit nähern wir uns dem zentralen Punkt, der zu betrachten ist — nun die Frage, welche Möglichkeiten es gab, von der prinzipiellen Position dieser vor-christlichen und christlichen Unterscheidung her zu sprechen und zugleich wirksam zu werden in der Realität des Politischen. Im Spät-mittelalter und in der Renaissance war ein Charakteristikum in der Sprechweise der Humanisten, daß sie in der Diktion, die sie von den Griechen und Römern gelernt hatten, ausdrückten, was sie als Christen dachten über den Menschen. Die Frage, wie ein Prinzip der Philosophie oder der Theologie, das aufgestellt ist, Strukturprinzip des Politischen werden kann, hängt mit dieser geistesgeschichtlichen Tatsache zusammen. Auf diesen Zusammenhang ist daher einzugehen; denn das ist eine These dieser Abhandlung, daß die bisher skizzierten Grundprinzipien über das Verhältnis von Macht und Menschsein von einem bestimmten Zeitpunkte an in der europäischen Geschichte zum Strukturprinzip des Politischen geworden sind.

Dieser große Vorgang hat natürlich mehr als eine Ursache. Eine hebt sich jedoch heraus, und sie soll uns in diesem Gedankengang den Zugang eröffnen, um in diese Entwicklung einen Augenblick hineinzusehen. Diese Ursache ist ein Satz der christlichen Anthropologie, der bewirkt, daß in seinem Sinne das Mensch-sein Eigenwert und Eigenrecht erlangt und dem Politischen in einer Rangordnung so zugeordnet ist, daß der Anspruch des Politischen immer nur ein bedingter sein kann. Es ist eine der christlichen Grundformeln, die im frühen Christentum und in der Väterzeit gilt und bis hinein in die Konfessionskämpfe des 16. Jahrhunderts unangetastet geblieben ist, nämlich die Aussage des Schöpfungsberichtes, Genesis I, 26-28, wo über den Menschen vom Alten Testament her gesagt ist, daß Gott den Menschen geschaffen hat sich zum Bild und Gleichnis. Genesis I, 27 verbindet diese Aussage mit einem Herrschaftsauftrag über alles, was in der Welt neben dem Menschen an Geschaffenem da ist.

Diese Sätze des Schöpfungsberichts, Genesis I, 26-28, sind eine Grundformel der christlichen Anthropologie der Väterzeit, des Mittelalters und der Reformation. Calvin denkt vom Menschen nicht anders als etwa Athanasius von Alexandrien in der Zeit Konstantins, daß nämlich in dieser Aussage dem Menschsein ein Rang zugesprochen ist, mit dem es in der Welt sonst nichts Vergleichbares gibt. Die berühmteste Formulierung dieser Rangstellung des Menschen, die Geschichte gemacht hat in Europa, ist die des Thomas von Aquin von der Dignitas hominis, der Menschenwürde, die beruht auf der Gottesebenbildlichkeit, Imaginitas; also auf einem Menschsein, das gottgegeben ist. Und dieses gottgegebene Mensch-sein, das ist das Entscheidende an dieser Grundformel, ist seinem Auftrag und seinem Wesen nach ein Herrsein. Denn Gott hat den Menschen geschaffen sich zum Bild und Gleichnis, und er hat ihm den Herrschaftsauftrag über die Welt gegeben.

Wie verträgt sich diese Lehre vom Herrsein des Menschen mit der Realität des Politischen, ist zu fragen. Denn die Welt als geschichtliche Wirklichkeit, in der die Christen der Väter-zeit und des Hochmittelalters standen, war ja bestimmt von mächtigen Herrschaftsverhältnissen. Mehr noch: es setzte sich seit dem konstantinischen Kaisertum und der Ausübung der Herrschaft durch Christen der Gedanke von der Imago Dei dergestalt durch, daß die Herrschergestalt als Ebenbild Gottes verstanden wird. Diese Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit steht in der Tradition des antiken Kaisertums. Dem Träger der Herrschaftsfunktion wird eine Analogie zum göttlichen Welten-herrscher zugesprochen. Die Symbole und Insignien, die der Herrscher trägt, etwa die Erdkugel und der Himmelsmantel, sind als die Vergegenwärtigung der Tatsache zu verstehen, daß die menschliche Gestalt der Herrschaftsausübung erscheint als eine vornehme und eigentliche Widerspiegelung der Gottes-herrschaft in der Welt. Das ist ein Nachwirken des antik-stoischen Denkens, das bei Konstantin übergeht in christliches Herrschaftsdenken und in Europa wirksam geblieben ist bis hinein in das Gottesgnadentum des 19. Jahrhunderts. Das Ausüben der Herrschaft ist sakral motiviert und legitimiert durch den Begriff und die Symbole der Imago Dei. Wird also gedacht vom Satz her, daß Gott den Menschen sich zum Bild und Gleichnis geschaffen hat, und Menschsein demnach Herr-sein ist, so erhebt sich die große Frage, wie sich dieses Denken verträgt mit der Wirklichkeit der Geschichte. Es ist sehr eindrucksvoll zu sehen, wie Augustinus es im Zeichen dieses Widerspruchs unternommen hat, Theologie und Politik zueinander ins Verhältnis zu setzen. Im 19. Buch seines „Gottesstaates" macht er den Versuch, an grundsätzlich Genesis I, 26— 28, und damit an der Würde des Menschen festzuhalten, anderseits aber sieht er die Realität des Politischen vor sich voll von ausgeprägten Herrschaftsverhältnissen. Für diesen Widerspruch findet er eine Formel, indem er unterscheidet: Das eine ist gottgegeben; nämlich das Menschsein als ein freies Herr-sein. Das andere ist menschenverschuldet; nämlich die politische Ordnung, in der der Mensch, anstatt freier Herr zu sein, Knecht in Unfreiheit ist. Augustinus sucht zudem diese Schwierigkeit zu überwinden durch eine innere Umdeutung vom Christlichen her Dieser Versuch gipfelt in dem Paradox, daß der Unfreie frei sein kann durch die innere Zustimmung zur Unfreiheit um Gottes willen. Augustinus denkt paulinisch in seiner berühmten Formel von der libera servitus, der freien Unfreiheit.

Wer diesen Standpunkt wählt und von ihm her im Sinne der „freien Unfreiheit" denkt, für den folgt daraus als beinahe selbstverständlich, was seitdem bei denen, die auf den Spuren dieser Theologie gehen, wenn sie vom Politischen sprechen, nicht selten als politische Konsequenz erscheint, nämlich eine grundsätzliche Abwertung des Politischen. Wenn er von der Welt des Politischen spricht, gebraucht Augustinus nicht zufällig Ausdrücke, wie etwa den Begriff der peregrinatio oder den der captivitas. Doch das sind Lebensformen, in denen der Mensch entweder nicht auf sich gestellt ist oder unterwegs ist auf etwas hin, das das Eigentliche ist; während der Zustand, in dem er sich befindet, auf eine bestimmte Weise als durchaus vorläufig gekennzeichnet ist.

Die Qualität des Politischen ist gerückt in einen eschatologischen Aspekt. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen verträgt sich dann die Aussage von Genesis I, 26-28 über das gottgegebene Menschsein als freies Herrsein mit einem Herrschaftsverhältnis, das auf selbstverschuldeter, Gottes Gerechtigkeit sichtbar machender Unfreiheit in dieser Welt beruht. Gott hat den Menschen als freien Herrn der Welt geschaffen; der Mensch hat durch seine eigene Schuld dafür die Unfreiheit eingetauscht.

Damit ist eine Fülle von politischen Problemen aufgeworfen; Augustinus hat sie überbrückt vor allem durch eine Analogie der Familie, als patriarchalischer Großfamilie, zur politischen Ordnung, indem er beide definiert als Gemeinschaft durch Befehlen und Gehorchen.

Allerdings ist damit die Tatsache, daß es im Politischen als Herrschaftsverhältnis ganz andere Grundelemente der Ordnung gibt als etwa auch in einer patriarchalischen Großfamilie alten Stils, aus dem Blick gerückt. Entscheidend ist nun, daß dieses Denken zurücktritt und die von ihm her verstandene Formel von der Imago Dei in der europäischen Geschichte und Geistesgeschichte von der Gestalt des Herrschers als Kaiser oder König übergeht auf das Menschsein jedes einzelnen Menschen. Wie kommt es zu dieser Wandlung, ist zu fragen.

Es ist eine veränderte epochale Atmosphäre, in die eintretend der Gedanke vom Mensch-sein als freiem Herrsein in neuem Lichte erscheint und aus einem antropologischen Prinzip zum politischen Postulat wird. Diese Ver-änderung der Atmosphäre ist am besten dort zu erkennen, wo sie den Menschen in Europa ins Bewußtsein tritt. Das ereignet sich um 1600, wie die erste technische Utopie in Europa, das Neue Atlantis" (Nova Atlantis) des Francis Bacon zeigt. Francis Bacon, der Zeitgenosse Shakespeares, beschreibt darin, wie auf einer Südsee-Insel eine wissenschaftliche Forschungsgeseilschaft am Werk ist. Sie arbeitet in unterirdischen Laboratorien an chemischen und physikalischen Experimenten. Verfügt dazu über eine Spionage, die sich zur Aufgabe macht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der übrigen Welt zu sammeln und auszuwerten. In dieser technischen Utopie ist das Flugzeug und das Unterseeboot erfunden. Die Denkweise, die hinter dieser Forschungsarbeit steht, drückt sich in dem Satz aus, Ziel sei: terminorum imperii humani prolatio ad omne possibile, also die Ausdehnung der Herrschaft des Menschen an die Grenzen des Möglichen. Als die Quelle dieser Herrschaft über die Welt wird an anderer Stelle das Wissen genannt: tantum possumus, quantum scimus. Das läßt sich übersetzen als: Wissen ist Macht.

Sucht man einen markanten Punkt, um den Beginn der Neuzeit geistig zu bestimmen, dann ist er hier gegeben, wo das denkende Erforschen der Welt die Herrschaft über die Welt zum Ziel erhält. Von nun an gesellt sich in Europa zum Denken die Frage nach dem Nutzen des Denkens im Dienste oder als Mittel der Weltbemächtigung durch den Menschen. Wir selbst sind Zeugen, wie dieses Denken die Weltherrschaft des Menschen auf ungeahnte Weise ausdehnt und sich doch nicht an den Grenzen des Möglichen sieht. Sinn und Ziel des Denkens wäre, von den großen Denkern des Mittelalters und der Antike niemals dergestalt bestimmt worden. Es ist von diesem Wissen mit Recht gesagt worden, daß es nicht nur ein Wirkwissen ist, das auf Anwendung zielt, sondern daß es zugleich seinem Wesen nach Machtwissen ist.

Vergegenwärtigt man sich diesen Zusammenhang, dann erscheint es nicht mehr zufällig, daß der erste systematische Theoretiker des absoluten Staates in Europa, Thomas Hobbes, das Modell des absoluten Staates dargestellt hat unter dem Bild der Maschine. Der Staat als die . Maschine der Maschinen'erscheint ihm als die größte Leistung des menschlichen Denkens, und er schrickt nicht davor zurück, sie mit der Weltschöpfung Gottes in Analogie zu sehen und vom Staat als einem Gott auf Erden (deus mortalis) zu sprechen. Dieses Denken mutet an wie eine Übertragung des Macht-wissens der Technik bei Bacon auf die Politik. Da zum Politischen aber die Macht als Übermacht gehört, erhebt sich damit aufs neue die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Menschsein. Für Thomas Hobbes liegt die Antwort auf diese Frage in der unbedingten Unterwerfung der Menschen unter die Macht des Staates. Aus dieser Unterwerfung geht für ihn allein die Sicherheit hervor, die den Menschen die Lebensangst überwinden läßt, die an ihnen zehrt wie der Adler, der dem Prometheus Tag um Tag die Leber zerhackt. Der Staat braucht unbedingte Machtausübung, um diese Sicherheit zu geben, und er wird deshalb selbst letzter Maßstab dessen, was in ihm Rechtens ist. Freiheit ist für Hobbes nicht Freiheit des einzelnen Staatsbürgers, sondern die Freiheit des souveränen Staates. Das Titelbild der Erstausgabe des . Leviathan'von 1651 stellt sinnbildlich den Staat als einen gekrönten Übermenschen dar, dessen Glieder aus kleinen Menschen gebildet sind. Hinzugefügt ist das Motto: Es gibt keine Macht auf Erden, der seinen vergleichbar. Hobbes stand mit diesem Machtdenken nicht allein; mit ihm stimmten die politischen Theoretiker und Praktiker überein, die sich an den politischen Maximen des Machiavelli orientierten. Das bedeutet vor allem, daß Vorstellungen in Geltung waren, die darauf hinausliefen, wie zwischen den einzelnen Menschen (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) so zwischen den Staaten (es herrscht der Kampf aller gegen alle) ein Grundverhältnis der naturhaften Feindschaft anzunehmen. Danach steht unaufhörlich Macht gegen Macht, und das innerstaatliche wie das zwischenstaatliche Verhältnis wird verstanden als ein Herrschafts-und Unterwerfungsverhältnis.

Nimmt man hinzu, daß diese Wendung hin zum Machtwissen und Machtdenken sich vollzog zugleich mit dem Aufstieg des souveränen Territorialstaats und der absoluten Monarchie in Europa, dann lag nichts näher als der Gedanke, daß Technik und Politik in dieser neuzeitlichen Ausformung Machtmittel werden zur unbedingten Unterwerfung des Menschen. Nicht daß in ihnen selbst diese Entwicklung etwa zwangsläufig angelegt wäre. Sie haben vielmehr selbst etwas an sich von der Unentschiedenheit aller Werkzeuge, die von den Menschen entwickelt worden sind in der Absicht, die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern und sich die Welt zu unterwerfen. In ihnen liegt Chance und Risiko auf eine Weise bereit, wie es am besten jener Gedankengang des Aristoteles im ersten Buch der . Politik'erschließt, wo er sich mit der Frage auseinander-setzt, ob die Sklaverei, dieser Zustand unbedingter Unterwerfung der Menschen unter den Willen ihrer Herren in der Antike, von Natur aus gegeben sei oder in der Geschichte entstanden ist. Ist die Sklaverei geschichtlich bedingt, dann ist sie aufhebbar. Aristoteles stellt für ihre Aufhebung eine Bedingung, die nämlich, es müßten sich dann die Weberschiffchen von selbst bewegen. Wie wenig Aussicht diese Bedingung für ihn hat, in der Menschen-welt erfüllt zu werden, deutet Aristoteles an, wenn er darauf hinweist, Hephaistos, also ein Gott, habe diese Bedingung erfüllt mit der Herstellung von Automaten.

Was für Aristoteles Mythos und für Francis Bacon Utopie war, ist inzwischen Wirklichkeit geworden. Ein Ergebnis des neuzeitlichen Wirkwissens ist die Erfindung der Maschinen und Automaten. Mit ihnen ist wie selbstverständlich eine große Zahl von Abhängigkeitsverhältnissen hinfällig geworden. Die Menschen von heute verfügen, als verstünde sich das von selbst, auf eine Weise über Raum und Zeit, wie sich das die . großen Herren'der Antike und des Mittelalters nicht einmal hätten träumen lassen. Es bedarf des Menschen nicht mehr, der in den Zustand eines Werkzeugs in Menschengestalt verwandelt wird, also des Sklaven.

Dieses neuzeitliche Wirkwissen, hier in seiner Anwendung als Technik, befähigt also nicht nur zur Weltbemächtigung, sondern auch zur Menschenbefreiung. Das ist die große Chance, die in ihm liegt und die damit in die Hand der Menschen der Neuzeit gelegt worden ist. Doch dieser Chance entspricht ein Risiko; denn dasselbe Wirkwissen läßt sich wie zur Weltbemächtigung auch zur Menschenbemächtigung in den Dienst nehmen. Das neuzeitliche Wirkwissen ist also auch Machtwissen dem Menschen gegenüber. Erinnern wir uns nur daran, welchen Gebrauch etwa das neuzeitliche Wissen, dessen Inhalt seelische Gesetzmäßigkeiten sind, als Technik der . Menschen-behandlung'zuläßt. Dieselben Erkenntnisse der Psychologie des Unbewußten lassen sich anwenden in der Diagnose und Therapie zur Heilung seelischer und leiblicher Erkrankungen, wie sie dazu dienen können, als . geheime Verführer" angewendet, den Menschen politisch und kommerziell durch Propaganda und Reklame auszunützen und irrezuführen. Wie von ihnen Gebrauch gemacht wird, ist nicht in ihnen selbst begründet, sondern hängt ab vom Denken der Menschen, dio sich ihrer bedienen. Hängt im letzten ab von der Antwort auf die Frage, was halten die Menschen, in deren Hand die Anwendung dieses Wirk-und Machtwissens ist, dem Menschen gegenüber für zumutbar. Anders gesagt, es hängt davon ab, wie sie die Frage beantworten, was ihnen der Mensch wert ist.

Was lag also näher, als daß sich in Europa am Beginn der Neuzeit das technische und politische Wirk-und Machtwissen das Ziel setzte, ihm von den Mächtigen das Ziel gesetzt wurde, sich die Menschen durch Technik und Politik so zu unterwerfen, wie es uns technische und politische Utopien der Gegenwart grauenvoll geschildert haben. Die geschichtliche Entwicklung Europas hat diese Richtung jedoch nicht genommen, sondern sie ist trotz dem Gefälle auf sie hin und obwohl schwere Widerstände zu überwinden waren, in eine Richtung gegangen, die hier in den Begriff der europäischen Humanität gefaßt ist.

Eine Hauptursache dafür liegt in der Wirkung, die geschichtlich vom Gedanken der Würde des Menschen, den Gott begabt hat mit einem Menschsein, das freies Herrsein ist, nachweisbar ausgegangen ist. Es ist nicht zu-viel gesagt, wenn wir behaupten, daß ohne den Gedanken von der Würde des Menschen, der nichts auf Erden vergleichbar ist, in Europa weder das Völkerrecht, wie wir es kennen, noch der freiheitliche Rechtsstaat entstanden wäre. Um das sichtbar zu machen, sei auf einiges wenige hingewiesen: Am Beginn der Neuzeit, zusammenfallend in seiner Wirkung mit dem vorhin skizzierten neuzeitlichen Wirk-und Machtwissen, steht die Entdeckung der Neuen Welt. Sie erschließt den Europäern eine weite Welt zur Herrschaft, und sie wirft zugleich bis dahin nicht gekannte politische Probleme auf. Zu ihnen gehört die Tatsache, daß eine Welt von Nichtchristen in den europäischen und christlichen Erdkreis einzuordnen ist. Alles wirkte darauf hin, diese neue Ordnung zu verstehen und zu verwirklichen als ein Herrschaftsverhältnis mit dem Willen zur unbedingten Unterwerfung der Bewohner der neuentdeckten Erdteile.

Der Mißbrauch der Macht als Übermacht, der nichts Schranken zu setzen vermag, bestimmte weiterhin das Besitzergreifen von der neuentdeckten Welt. Aber es blieb nicht ohne Widerspruch, und dieser Widerspruch ist es gewesen, aus dem geistig und geschichtlich ein neues Völkerrecht hervorgewachsen ist. Zeugnis dafür sind die Vorlesungen, die Franciscus de Victoria, ein Ordensbruder des Las Casas, im Jahre 1539 an der Universität Salamanca gehalten hat. In ihnen wird weder dem Papst noch dem Kaiser ein unbedingtes Herrschaftsrecht über die Neue Welt zugestanden. Es wird auch der Anspruch abgewiesen, den Spaniern und Portugiesen stehe etwa als Christen ein Recht auf die Unterwerfung der Menschen in diesen Gebieten zu. Ausdrücklich wird auf die Aussage des Schöpfungsberichts hingewiesen, der jedem Menschen, als geschaffen zum Bild und Gleichnis Gottes, ein freies Herr-sein zuspricht. Dazu wird das geistige Erbe des griechischen und römischen Denkens vom Menschen mit dem Hinweis gefügt: der Mensch ist dem Menschen nicht ein Wolf, sondern ein Mensch. Daraus wird geschlossen, daß zwischen den Menschen ein seinshaftes Grundverhältnis der Verwandtschaft besteht, das auch auf das Verhältnis der Völker zueinander zu übertragen ist. Auf dem Grundgedanken, daß das Menschsein, wie Gott es geschaffen hat, ein freies Herrsein ist, erhebt sich damit ein Rechtsdenken, das dem Machtwillen Grenzen setzt. Franz Suarez und Hugo Grotius haben dieses Rechtsdenken weiterentwickelt. Wenn von diesem Rechtsdenken her gegen die widerstrebendenTendenzen des neuzeitlichen Macht-wissens und Machtwillens das Verhältnis der Völker und Staaten ins Zeichen des Rechts gerückt worden ist, dann haben wir das im letzten der Tatsache zu danken, daß in Europa der Gedanke vom freien Herrsein des Menschen zum politischen Postulat geworden ist.

Derselbe Vorgang hat sich innerhalb der Staaten Europas abgespielt. Niemand hätte sich zu Beginn der Neuzeit, im Zeichen der aufsteigenden souveränen Territorialstaaten mit ihrer Staatsform der absoluten Monarchie, eine politische Ordnung als geschichtliche Wirklichkeit zu erhoffen vermocht, wie sie uns in der Gestalt des freiheitlichen Rechtsstaates vor Augen steht. Und es ist einer der erregendsten politischen Prozesse, den die Weltgeschichte überhaupt kennt, wie diese Form der politischen Ordnung Gestalt angenommen und sich gegen den Anspruch des Machtstaates durchgesetzt hat.

Wie sich das Entscheidende geistig ereignet hat, dafür ist ein bedeutendes Beispiel das Werk Richard Hookers (1554-1600) Of The Laws Of Ecclesiastical Polity. Er ist anglikanischer Theologe und sucht in dem Streit zwischen Anglikanern und Kalvinisten in England über eine neue Kirchenordnung Klarheit über die Grundfragen einer Gesellschaftsordnung zu schaffen. Dabei legt auch er als letzten Grund der politischen Ordnung die Aussage, daß Gott den Menschen geschaffen hat sich zum Bild und Gleichnis. Er nennt den Menschen wegen seiner Gottesebenbildlichkeit das vornehmste Wesen in der Welt, das allem andern gegenüber eine Welt für sich selbst sei. Hooker sieht das Zusammenleben der Menschen in einer politischen Ordnung als die Form an, in der sie ihre seinshafte Menschenwürde, dignity of man, verwirklichen. Doch führt ihn der Gedanke, daß die Würde des Menschen Norm des Politischen ist, zugleich zur Formulierung eines politischen Prinzips. Rechts-mäßige Herrschaft (lawfull power) hat zur Voraussetzung die Zustimmung der Regierten zur Regierung. Er faßt diesen Gedanken in den Satz: „Will ein Herrscher oder Machthaber, welcher Art auch immer auf Erden, seine Macht ausüben, ohne daß er sie unmittelbar und persönlich von Gott erhalten hat oder sie durch Vollmacht ableitet zuerst aus der Zustimmung der Personen, denen er Gesetze auferlegt, dann ist das nicht besser als reine Gewaltherrschaft (mere tyranny). Hooker bejaht das Bestehen politischer Ordnungen als eine Ausdrucksform des Menschseins; aber er unterstellt sie zugleich dem Maßstab des Mensch-seins, dem er eine unvergleichliche Würde zuschreibt, die entspringt aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Die Legitimität einer politischen Ordnung, vor allem auch als Herrschaftsverhältnis, beruht auf der Anerkennung der Menschenwürde als politischer Norm. Ihren Ausdruck hat diese Anerkennung im grundsätzlichen Vorbehalt, daß die Regierung steht auf der Zustimmung der Regierten.

Hooker war kein Revolutionär, der etwa hin-gearbeitet hätte auf die Beseitigung der absoluten Monarchie zugunsten einer Republik. Er läßt auch die stillschweigende Anerkennung einer dynastischen Regierungsform als Zustimmung der Regierten zur Regierung gelten und Rechtmäßigkeit begründen. Anders steht es damit bei John Milton (1608-1674), der vor allem in seinen politischen Schriften nach der Hinrichtung Karls I. die Gedanken Hookers ins Revolutionäre wendet. Auch er geht dabei aus davon, daß Gott den Menschen geschaffen hat sich zum Bild und Gleichnis und ihm damit allen anderen Lebewesen gegenüber das Vorrecht verliehen hat, dazusein zum Herrschen und nicht zum Gehorchen. Menschsein ist auch für Milton freies Herr-sein. Rechtmäßige Machtausübung geht daher für ihn nur hervor aus dem ausdrücklichen Auftrag des Volkes. Da die Könige und Regierungen ihre Herrschaft im Auftrag der Beherrschten ausüben, zieht er die politische Konsequenz: das Volk ist berechtigt, eine Regierung abzuberufen, wenn es dazu willens ist, aus dem Recht freigeborener Menschen heraus, nicht nur oder erst dann, wenn eine Regierung tyrannisch wird.

Milton hat damit, das steht außer Zweifel, die volle Konsequenz aus dem zum politischen Prinzip erhobenen Gedanken vom Menschsein als freies Herrsein und der darauf beruhenden einzigartigen Würde des Menschen gezogen. Es ist bezeichnend, daß bei ihm zugleich das Nachdenken beginnt darüber, welches politische Instrumentarium zu entwickeln und anzuwenden sei, um den Vollzug des freien Herr-seins in der Zustimmung der Regierten zur Regierung politisch zu garantieren. Damit setzt das Bemühen ein, der politischen Ordnung die Form zu geben, in der das Machthaben bejaht, aber die Gefahr des Mißbrauchs der Macht als Übermacht gebannt wird. Wir kennen die wichtigsten Mittel, die in dieser Absicht in Gebrauch genommen worden sind; so vor allem: die Trennung der Gewalten, ihre Teilung und Befristung. Dazu der Zwang, öffentlich Rechenschaft abzulegen und der Kritik unterworfen zu werden, wie die Möglichkeit, der Exekutive und Legislative gegenüber unabhängige Gerichte anzurufen. Nicht zuletzt: ein allgemeines Wahlrecht.

Zusammengenommen: der freiheitliche Rechtsstaat hat seine geistige und sittliche Grundlage im ideellen Fundament der europäischen Humanität. Das politische Instrumentarium seiner Formen und Funktionen hat seinen Ursprung in einem politischen Postulat, das hervorgeht aus einem Denken vom Menschen und vom Menschsein. Wir sollten das nicht vergessen, -denn nur zu leicht geht bei zu großer Befangenheit in einem Inventarisieren des Konstitutionellen und Institutioneilen der Blick für die humane Perspektive verloren, die das Wesen des freiheitlichen Rechtsstaates ausmacht. Die Gefahr ist dann, daß der Grundgedanke des freiheitlichen Rechtsstaates, die Würde des Menschen, zu einer leeren Redensart wird, weil der geistige Zusammenhang zwischen ihr und dem politischen Instrumentarium, das ihr dienen will, nicht mehr gesehen wird.

Die Gefahr ist auch, daß damit jenes Verhältnis der Wertschätzung verlorengeht, dessen gerade eine politische Ordnung bedarf, die ihrer Herkunft und ihrem Wesen nach zum Ziel hat, das politische Prinzip der Zustimmung der Regierten zur Regierung zu realisieren, und zwar nicht als ein Jasagen ohne Vorbehalt, sondern als ein Ja und Nein, in dem sich der sachliche Sinn für den Wertzuwachs, den eine politische Ordnung erbringt, verbindet mit der Vorsicht, zu der die Tatsache zwingt, daß zur politischen Ordnung Macht gehört, die Übermacht ist. Das Verhältnis der Wertschätzung, das zu begründen und zu festigen die vornehmste Aufgabe der politischen Bildung und der politischen Bewußtseinsbildung im freiheitlichen Rechtsstaat ist, setzt jedoch ein Mindestmaß an Verständnis dafür voraus, daß das Politische überhaupt seinem Wesen nach, eben weil es Macht ist, den Mut und die Bereitschaft zum Ja und Nein verlangt und voraussetzt. Es setzt dazu ein Mindestmaß an Verständnis dafür voraus, daß die Formen und Funktionen des freiheitlichen Rechtsstaates nicht allein an der Räson des Politischen zu messen sind, sondern im letzten an dem humanen Postulat, das sie ins Politische transformieren: Menschsein als freies Herrsein. Gewiß, die Tendenz dieser Form des Politischen, sich in den Maßen des Menschlichen zu halten, dem Eingeständnis des Provisorischen, Imperfekten und Defekten alles Menschlichen offen zu bleiben, daher den Ausgleich im Kompromiß und mit der Opposition zu bejahen und anzustreben, läßt die Wertschätzung nicht zum politischen Enthusiasmus werden. Aber auch darin spricht sich die Tatsache aus, daß der freiheitliche Rechtsstaat um der Würde des Menschen willen den absoluten Primat des Politischen verneint, wie immer er sich verkleidet.

Wer den Zugriff des totalen Staates so erlebt hat wie das deutsche Volk, sollte eigentlich ein Gefühl der dankbaren Verantwortung einer politischen Ordnung gegenüber haben, die soviel Eigenraum und Eigenrecht schafft und sichert für ein freies Menschsein, zu dem auch der wachsame Vorbehalt dem Politischen selbst gegenüber gehört. Geht uns diese politische Ordnung verloren, und sie ist verlierbar wie alles geschichtlich Gewordene, dann tut sich vor dem, der Anspruch erheben will auf ein Menschsein, das freies Herrsein ist, der sich bekennt zur Menschenwürde im Sinne der europäischen Humanität, wie von ihr hier die Rede war, der Abgrund auf, in den ihn die Macht als Übermacht hinabstößt und das Politische tritt wieder in den Aspekt des Tragischen und Heroischen. Geschichtliches Geschehen, das davon zeugt und sich vor unseren Augen ereignet hat, politische Manifestation des Tragischen und Heroischen in diesem Sinne, sind der 20. Juli 1944 und 17. Juni 1953.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gerhard Möbus, Dr. phil., o. Universitätsprofessor, Ordinarius für wissenschaftliche Politik an der Universität Mainz, geb. 19. März 1912.