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Die innere Bedrohung der westlichen Kultur | APuZ 23/1963 | bpb.de

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APuZ 23/1963 Artikel 1 Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost Die innere Bedrohung der westlichen Kultur

Die innere Bedrohung der westlichen Kultur

Wilhelm Röpke

Wenn wir uns mit der inneren Bedrohung unserer westlichen Kultur beschäftigen, so erweist es sich bei näherer Betrachtung in einem bestimmten Sinne als unsere Aufgabe, zwei Dinge zu tun, die gleichzeitig und ohne scheinbare Widersprüche zu unternehmen nicht einfach ist.

Einerseits nämlich haben wir das kräftigste Ja zu dieser unserer Kultur auszusprechen und uns in dieser Hinsicht vor jedem Defaitismus oder gar Masochismus zu hüten. Andererseits aber dürfen wir nicht verschweigen, ja wir haben sogar hervorzuheben, daß, was sie am meisten bedroht, aus ihr selber kommt, wenn nicht von ihrem wahren und unersetzbaren Gehalt, so doch von bestimmten Entwicklungen, die sich in ihr abzeichnen, möglicherweise sogar von solchen, zu denen sie von jeher eine gewisse Anlage gehabt, auf alle Fälle von Tendenzen, die sich, gerade vom Standpunkt des Wertsystems unserer Kultur aus, nur kennzeichnen lassen als Entartungen, Verfallserscheinungen, Verfälschungen, Irrwege, kurzum als Symptome einer echten und schweren Krise unserer Kultur.

Die Kulturkrise unserer Zeit ist daher auch die eigentliche Schicksalsfrage der westlichen Kultur. Seit mehr als einem Jahrhundert wird ihre Existenz, ihre Schwere und ihre Drohung erörtert und immer klarer bestimmt. Im Grunde ist sie es, die das eigentliche Thema dieser Betrachtungen ist. Aber da es sich natürlich um ein außerordentlich weites Feld handelt, so kann ich keinen höheren Ehrgeiz haben als den, einige Aspekte dieser Kultur-krise in ein helleres Licht zu rücken. Dabei ist mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu beginnen.

Zum ersten ist auf die Möglichkeit eines Widerspruchs zurückzukommen, von der die Rede war, und alles zu tun, um ihn zu vermeiden. Wenn wir von einer „inneren Bedrohung" sprechen, so ist es klar, daß damit eine Kritik unserer Kultur ausgesprochen wird. Es scheint ja: wenn wir bedroht sind, so liegt das an uns selber. Es ist eine Mahnung an uns selber, eine Verurteilung von diesem oder von jenem, für daß wir selber verantwortlich sind. Alles gut und recht.

Aber eine solche Kulturkritik kann unter Umständen selber zu einer Kulturbedrohung führen, und zwar zu einer der allerernstesten.

Dann nämlich, wenn sie das Vertrauen in die ungebrochene Kraft unserer Kultur angreift und möglicherweise zerstört, wenn sie zu Pessimismus und Fatalismus führt und den eigentlichen Krankheitsprozeß nur noch verschlimmert: den der geistig-moralischen Zersetzung und Auflösung, der Boden-und Wurzellosigkeit, der Haltlosigkeit, des Relativismus und schließlichen Nihilismus.

Nichts schlimmer als das. Aber leider mündet ein großer Teil der heutigen Kulturkritik in diesen selbstzerstörerischen Kulturpessimismus und Kulturdestruktionismus. Wenn heute von vielen Seiten ein bestimmter Kulturpessimismus getadelt wird, so ist daran in der Tat viel Wahres und Berechtigtes, so weit nämlich, wie das Bewußtsein von der Gefahr so hinaufgetrieben und so allbeherrschend gemacht wird, daß es selber zu einer schweren Gefahr wird. Davor haben wir uns aufs entschiedenste zu hüten. Es ist im Gegenteil aufs klarste auszusprechen, daß die größte „innere Bedrohung" von einer Verkennung unseres kulturellen Erbes und seiner Werte stammt, davon, daß sie nicht genügend erkannt, bejaht und zum Gegenstand eines wahrhaften Bekenntnisses gemacht werden, davon, daß die Kontinuität der kulturellen Überlieferung unterbrochen ist, davon daß Untreue zum überkommenen um sich greift, davon, daß die Kulturkritik auf die Grundlagen der Kultur selber ausgedehnt wird.

Wenn wir diesmal das so oft mißbrauchte Wort von der „Dekadenz" mit Recht verwenden, so meinen wir im Grunde dies: den Bruch mit der Kontinuität, mit dem Bewährten und zu Bewahrenden, die Zersetzung der Grundlagen, die Grenzen-und Respektlosigkeit in der Ausdehnung der Kritik und zerrender Diskussion, die Abstumpfung der moralischen Reaktion und die Verwirrung der Maßstäbe des Wahren, Guten und Schönen wie des Unwahren, des Häßlichen und des Bösen. Dann ist die Kulturkritik zum Kulturmasochismus entartet, der uns auch gegen die „äußere Bedrohung"

lähmt und wehrlos macht.

Daraus — und damit kommen wir zum zweiten Punkt — ergibt sich, daß, wenn wir einen solchen destruktiven Kulturpessimismus ablehnen, wir zwar einen falschen Pessimismus verwerfen, aber ebensosehr haben wir uns vor einem falschen Kulturoptimismus zu hüten.

Wir stehen also auch hier fortgesetzt an einer doppelten Front: gegen einen müden, lähmenden und die Kulturkrise nur noch steigernden Kulturpessimismus, gegen hysterische Aufgeregtheit und eitle Phraseologie „zorniger junger Männer“, gegen Determinismus und Nihilismus, gegen kulturelle Kapitulationsbereitschaft — aber andererseits gegen einen trügerischen, oberflächlichen und unweisen Optimismus derjenigen, die taub gegen alle Alarmsignale sind, stumpf gegen den Vormarsch des Bösen, gar voll satanischen Hohns für die Warner und Mahner, für die Bewahrer und Hüter des von uns anvertrauten Erbes. So wird denn die ganze Schwere unserer Aufgabe deutlich, der Aufgabe nämlich, das schmale Gelände zwischen falschem Pessimismus und falschem Optimismus zu behaupten und genau nach beiden Seiten hin die nicht zu überschreitenden Grenzen zu erkennen. Nun ist es wichtig, zu sehen, daß dieser falsche Optimismus nicht nur falsch in dem Sinne ist, daß er einfach ununterrichtet ist, von wohlmeinender Biederkeit bis zur verhängnisvollen Blindheit. Vielmehr enthält er — und das ist das besonders Gefährliche — zumeist auch ein höchst virulentes ideologisches Element, das mindestens so sehr zur „inneren Bedrohung" unserer Kultur beiträgt wie der falsche Kulturpessimismus. Es bildet sogar, wie noch zu zeigen sein wird, eine wichtige Verbindung zu der „äußeren Bedrohung" durch den Kommunismus. Wie gegen den falschen Pessimismus, so sind auch gegen den falschen Optimismus die kräftigsten Worte angebracht. Wenn wir den heutigen geistig-moralischen, politischen und gesellschaftlichen Zustand der Menschheit beschreiben wollen, so können wir die Ausdrücke kaum stark und die Farbe kaum dunkel genug wählen. In den Mittelpunkt tritt dabei der Zerfall des unsere Kultur tragenden Wertsystems, der ein geistig moralisches Vakuum hinterläßt, das einstweilen bestenfalls mit dem Stroh eines nackt materiellen Reiz-und Genußkultes oder ähnlichem Füllmaterial gestopft wird, schlimmstenfalls aber mit den „Sozialreligionen“, deren gefährlichste nunmehr auf die Eroberung der Welt ausgeht.

Was uns erschüttert, das ist das nicht mehr zu betäubende Bewußtsein, daß gerade in diesem Augenblick, da der moralische Kompaß der Menschheit richtungslos schwankt und die Sterne der geistigen Orientierung nach und nach erloschen sind, die allein ihrem Gesetz des mathematisch-pyhsikalischen Fortschritts folgende Wissenschaft den Triumph errungen hat, mit ihren Mitteln zwar nicht das Leben herzustellen, aber es zu zerstören und dem Erdball den Untergang zu bereiten. Von nun an ist die Menschheit dazu verurteilt, jeden Tag mit der Eventualität ihrer Vernichtung durch die von ihr selbst wissenschaftlich entfesselten, aber moralisch nicht mehr gebändigten Zerstörungskräfte rechnen zu müssen.

Aber ungleich früheren Zeitaltern, die ein von Gott verhängtes Weitende herbeigekommen glaubten, flüchtet die heutige Menschheit nur um so mehr in Gottlosigkeit, betäubende Betriebsamkeit und schamlose Kapitulation vor dem Bösen, das ihre Angst vor dem Untergang ausbeutet.

Das alles würde genügen, um den Optimismus der über uns „Kulturkritiker" spottenden Zeitgenossen nicht nur als unbegründet, sondern geradezu als eine erschütternde Parodie zu entlarven. Es erübrigt sich vollends, sich mit einem solchen blinden Optimismus auseinanderzusetzen, wenn wir hinzunehmen, daß jenem geistig-moralischen Verfall alle jene Erscheinungen der gesellschaftlich-politischen Zerstörung entsprechen, die wir meinen, wenn wir von „Vermassung" und „moderner Massengesellschaft" sprechen.

Nun ist es — und das ist der letzte Punkt — längst klar, daß die innere Bedrohung unserer Kultur weit schlimmer ist als die äußere, die im wesentlichen ihren Ursprung im kommunistischen Imperialismus und seinem pseudo-religiösen Missionsfanatismus hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß im Laufe der Geschichte Selbstmord immer die gewöhnliche Todesart eines Kultursystems gewesen ist. Auf diesem selben Wege der Selbstauslöschung durch unsere eigene Schwäche befinden wir uns seit langem, und bisher scheinen wir auf diesem Todesmarsch nicht innehalten zu wollen. Entscheidend für den Triumphzug des Kommunismus — wie vordem in kleinerem Maßstab für denjenigen des Nationalsozialismus — ist weniger seine Stärke als unsere eigene Schwäche, sind nicht seine Panzer, Divisionen und Raketen, sondern unser mangelnder Wille zur Selbstbehauptung, unsere grenzenlose Verwirrung und Konfusion, kurzum all das, was wir unter dem Stichwort der „inneren Bedrohung" zusammenfassen können.

Aber — und damit treten wir in eine eingehendere Erörterung dieser allgemeinen Punkte ein — der Kommunismus ist ja nicht eine äußere Bedrohung wie die Germanen des Altertums oder die Mongolen des Mittelalters. Er bedeutet nicht den Einbruch kulturfremder Barbaren, sondern eine vulkanische Kraft, hervorgewachsen aus einer Ideologie und aus einer Gesellschaftsform, die Produkte unserer eigenen Kultur sind. Es ist eine extreme Form der Entartung, eine radikal abzulehnende Antwort auf Probleme und Entwicklungstendenzen unserer eigenen Kultur. Selbst der chinesische Kommunismus ist ein „occidentalisme bestialise" (J. Monnerot), vorstellbar ohne Laotse und Konfuzius, aber unvorstellbar ohne die Gedanken eines schwäbischen Professors namens Hegel, eines Rechtsanwalts-sohnes aus Trier namens Karl Marx, eines Fabrikanten aus Barmen namens Friedrich Engels, eines Genfer Uhrmachersohnes namens Rousseau und eines Professors an der Pariser Ecole Polytechnique namens Auguste Comte. Es gibt eine innere Affinität des Kommunismus mit gewissen Vorstufen seiner Ideologie, von denen noch zu sprechen sein wird, weil hier in der Tat eine der ernstesten Bedrohungen unserer Kultur zu erkennen ist, eine solche nämlich, die den Willen zur Selbstbehauptung und die Tapferkeit im Widerstand gegen den Kommunismus immer wieder lähmt. Zuvor aber haben wir zu betonen: der Kommunismus ist aus derselben Krise der Kultur und der Gesellschaft emporgestiegen, die die gesamte westliche Kultur heimsucht. Dabei hat er neben vielem anderen auch das mit dem Nationalsozialismus gemein, daß er sich als eine Überwindung dieser Kultur-und Gesellschaftskrise ausgibt und dafür niederdrückend viel Gehör gerade bei solchen findet, die diese Krise erkennen und sie überwinden möchten, ohne zu merken, daß der Kommunismus — wie früher der Nationalsozialismus — in Wahrheit Verfall, Krise, Dekadenz und Auflösung auf die Spitze treibt. Das ist die geradezu diabolische Doppelrolle des Totalitarismus, daß er gewisse begreifliche und positiv zu wertende Reaktionen auf jene Krise skrupellos für eine äußerste Steigerung dieser Krise ausbeutet.

Welches aber ist der Zusammenhang zwischen dem Kommunismus und der modernen Industriegesellschaft? Er ist dreifacher Art.

Zum ersten bezeichnet der Kommunismus wie der Totalitarismus schlechthin den äußersten Endpunkt jenes Zerfalls der Gesellschaft, den wir als „Vermassung" bezeichnen. Je mehr sich die Gesellschaft in eine strukturlose Massengesellschaft auflöst und die mannigfachen Formen natürlicher Gemeinschaft mit ihren Bindungskräften verliert, um so mehr greift der mechanische Zusammenhalt durch den Zwang des Staates um sich, der als Polizei-, Militär-, Wohlfahrts-und Lenkungsstaat immer mächtiger wird und den Bereich der Freiheit immer mehr einengt. Der Kommunismus (als die heute allein in Betracht kommende Form des Totalitarismus) ist die Endstation dieses Weges.

Zum zweiten wird der Kommunismus (wie früher der Nationalsozialismus) durch die Kultur-und Gesellschaftskrise unserer Zeit insofern verursacht, als er geistig-moralisch ein Gift ist, das sich aus der Zersetzung des überkommenen Wert-und Ideensystems entwickelt. In diesem Sinne ist es wahr, daß er weniger leere Mägen als leere Seelen voraussetzt, und es ist die Kulturkrise des Westens, die für diese Leerpumpung der Seelen kräftig gesorgt hat und kräftig weiter sorgt.

Diese Verbindung zwischen Totalitarismus (Kommunismus.) und Gesellscha’tskrise wird nun drittens noch deutlicher, wenn wir alles hinzunehmen, was heute Menschen in zunehmendem Maße das Gefühl der Ausstoßung aus Geborgenheit gibt. Dem suchen als die Sensibelsten zuerst die Dichter und bildenden Künstler in jener stammelnden Art Ausdruck zu geben, der wir in der sogenannten modernen Kunst begegnen, während es von den breiten Massen nur erst dumpf als eine unbestimmte Ursache des Unbehagens, der Unerfülltheit, des schwindenden Lebenssinnes aus der bergenden ,, Mutter Natur"; die zunehmende Nomadenhaftigkeit des Daseins; das Erfrieren numinoser Ehrfurcht und religiöser Bindung in der Eiseskälte einer technisch-wissenschaftlich-industriellen Stadtwelt; die fortschreitende Lösung solcher geistig heimatlosen und sozial wurzellosen Nomaden sogar von der Gemeinschaft mit den Dingen, die wir Eigentum nennen; ihre gleichzeitige Trennung von der geschichtlichen Kontinuität, die sie nicht nur im Raume, sondern auch in der Zeit entwurzelt und ihr sowohl die Verbindung mit der Vergangenheit und bewahrungswürdiger Tradition wie auch den orientierenden Blick auf die Zukunft raubt und ihre Exisxenz historisch sinnlos zu machen scheint, all dies noch dazu in einem Augenblick, da mit dem Vorstoß des Menschen in das Weltall das Gefühl der Bodenlosigkeit, das doch bisher in unserer Haftung an die Erde noch eine Grenze fand, um sich greift — was anderes kann man von alledem erwarten, als daß die Zeichen einer buchstäblichen allgemeinen Verrücktheit, wie sie bereits ein J. Huizinga vorJahrzehnten gesehen hatte, sich erschreckend mehren? Wenn schon der Nationalsozialismus in diesem Klima üppig gedeihen konnte, wie können wir hoffen, vor anderen Formen eines nihilistischen Destruktionismus gesichert zu sein? Doch verlieren wir niemals den wichtigsten Punkt aus den Augen: der Totalitarismus (Kommunismus) ist geistig-moralisch ein Gift, das sich aus der Kultur-und Gesellschaftskrise unserer Zeit entwickelt hat. In dieser aber befinden wir uns alle, mit ihr hat jeder von uns seine Not, und daher sind wir auch alle bedroht. Wenn es, wie der Titel eines Buches von Max Picard lautet, „Hitler in uns" gibt, so gewiß oder vielleicht noch mehr einen „Lenin in uns". Hier liegt denn auch der eigentliche Herd der Gefahr, die unserer Kultur von innen droht. Aber es ist nicht einfach, ihre verwickelte Natur in wenigen klaren Worten zu erfassen. Trotzdem soll in folgendem ein Versuch gewagt werden, mit allen Vorbehalten, die hier selbstverständlich sein müssen. Beginnen wir mit dem Satz, daß sich die geistig-moralische Krise unserer Zeit vor allem als ein außerordentlicher Sprung in der Kontinuität der Geschichte kundgibt, so sehr, daß unser historischer Orientierungssinn verwirrt und wir nicht mehr recht wissen, . wo wir im Strome der Geschichte stehen, aber um so dringender das Verlangen haben, darüber Gewißheit zu erlangen.

Wir stehen ohne Zweifel an einer der schroffsten Bruchstellen der Geschichte überhaupt. Je mehr wir uns vom Ausbruch des ersten Weltkrieges entfernen und zu der Epoche Abstand gewinnen, die mit ihm abschließt, um so klarer wird es uns, daß mit ihm einer der großen Abschnitte der Geschichte zu Ende gegangen ist und ein neuer begonnen hat. Um so deutlicher wird es uns aber auch, daß zwischen diesen beiden Abschnitten die geschichtliche Kontinuität in einem Maße unterbrochen ist, wie es selten in der Geschichte beobachtet werden kann. Man hat sich damals nach 1918 darüber noch täuschen und den Versuch unternehmen können, die Normalisierung in Politik, Wirtschaft und Geistesleben zu einer wirklichen Restauration zu machen. Aber dieser Versuch ist in einer Entwicklung zusammengebrochen, die politisch-geistig mit dem deutschen Nationalsozialismus und wirtschaftlich mit der großen Wirtschaftskrise der Dreißiger Jahre beginnt und mit dem zweiten Weltkrieg und der Auslieferung eines großen Teiles Europas und Asiens an den kommunistischen Totalitarismus ihren Gipfelpunkt erreicht. Diese ungeheure Umwälzung hat sich bereits während jenes Jahrzehnts der Normalisierung, das der politisch-wirtschaftlichen Krise der Dreißiger Jahre voraufging, in einer allgemeinen Dekadenz vorbereitet. Das ist um so stärker zu betonen, als heute viel Mühe aufgewendet wird, jene Zwanziger Jahre als eine Art von „belle epoque" aufzupolieren.

Es ist selbstverständlich, daß auch dieser Bruch der Kontinuität so wenig wie an den anderen großen Bruchstellen der Weltge-schichte ein absoluter gewesen ist, der nichts mehr übriggelassen hätte, was das Gestern mit dem Heute verbindet. Indessen kann über den außerordentlichen Grad der Diskontinuität kein Zweifel sein. Das wird am deutlichsten von den Älteren unter uns empfunden, die, in der „vormodernen" Zeit ausgewachsen und herangereift, von ihr ihren Stempel empfangen und ihre Struktur in der Erinnerung bewahrt haben. In der Hauptsache gehört es zum eigentlichen Wesen der Gegenwart, daß in ihr das Gefühl eines völligen Neubeginns, für den alle historischen Vorbilder fehlen, sich ausgebreitet hat. Dieses Gefühl, das zuweilen den extremen Ausdruck eines wahrhaften „Abschieds von der bisherigen Geschichte" angenommen hat, kann sich auf einige Tatsachen von außerordentlicher Bedeutung berufen, die es begreiflich machen. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß sich in unserer Zeit gewisse Dinge zum ersten Male in der menschlichen Geschichte ereignen. Niemals zuvor hat eine so sehr vom technischen Fortschritt tyrannisierte und vom Geist der Wissenschaft geprägte Kulturform vorgeherrscht. Niemals zuvor hat es eine Bevölkerungsvermehrung auf der Erde mit allen ihren erschreckenden Folgen gegeben wie heute und in der absehbaren Zukunft. Niemals zuvor hat eine einzige Kulturform, die von Europa ausgegangene technisch-szientifische, sich unter Zurückdrängung, Zersetzung und drohenden Auflösung aller anderen sich als eine praktisch universelle auf dem Erdball durchgesetzt. Dieser mangelnden Sicherheit in der geschichtlichen Orientierung, die der unerhörte Bruch der Kontinuität in unserer Zeit verschuldet, entspricht der extreme Gegensatz der geistigen Standpunkte, von denen aus die neue Epoche betrachtet und eine Orientierung unternommen wird. Dem vertikalen Bruch in der geschichtlichen Kontinuität tritt die Unversöhnlichkeit dei'geistigen Systeme in der Gegenwart gegenüber. In der Tat sind keine großeren Extreme denkbar, wenn wir berücksichtigen, daß ein Drittel der Menschheit, das dem Kommunismus verfallen und unterworfen ist, unter der ausschließlichen und intoleranten Herrschaft einer Welt-und Geschichtsdeutung steht, die in jedem Punkte die unsrige verneint, welche der christlich-humanistischen Überlieferung verpflichtet ist. Noch mehr: die kommunistische Interpretation bestreitet nicht nur die Wahrheit der „westlichen“, sondern sagt ihr mit der äußersten Unduldsamkeit eines pseudoreligiösen Glaubens und Missionseifers die Vernichtung an, um den Erdball auch geistig zu erobern und die radikale Revolution des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft und der geistig-moralischen Über-zeugungen, die mit dem kommunistischen Imperium begonnen hat, auf die gesamte Menschheit auszudehnen. Hier ist keine Versöhnung und nicht einmal eine mehr als vorübergehende Milderung des Gegensatzes denkbar, es sei denn, der Kommunismus würde beginnen, sich selber zu verleugnen, oder die nicht-kommunistische Welt sei zur Kapitulation bereit.

Aber auch innerhalb dieser nicht-kommunistischen Welt klafft ein geistiger Riß, der zwar nicht die Breite und Tiefe des Gegensatzes zwischen ihr und dem Kommunismus hat, aber doch nicht leicht zu überbrücken ist. Auf der einen Seite dieses Grabens stehen die Ideologen eines Utopismus und Progressismus. In ihrem gleich dem Kommunismus leicht zu einem Religionsersatz werdenden Glauben an die Wünschbarkeit und Möglichkeit eines Durchbruchs zu radikalem Neubeginn in Politik, Wirtschaft und Geistesleben können sie ihre innere Verwandtschaft mit dem Kommunismus nicht verleugnen, der dann in der Tat nur als eine extreme Form desselben Futurismus und säkularisierten Millenismus erscheint. Diese progressistischen Ideologen sind ungehemmt durch Geschichte, Überlieferung und durch einen bon sens, der die Lehren der Erfahrung wie die Grenzen der Menschennatur klug in Betracht zieht, unbeirrt durch die immer wieder hervortretenden Konstanten dieser Menschennatur und des gesellschaftlichen Lebens, stets geneigt zu einem politischen Intellektualismus und sozialen Rationalismus, immer in Gefahr, über einem vagen und billigen Humanitarismus die konkreten Gebote natürlicher Menschlichkeit zu vernachlässigen und über abstrakten Plänen zentraler maschinenhafter Organisation die Gebote einer natürlichen Gesellschaftsordnung zu vergessen oder zu verachten. Von diesem geheimen Glauben an ein tausendjähriges Reich, der im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufbricht, von diesem Progressismus und Millenismus laufen die Fäden unmittelbar zum Kommunismus, dessen geistige Wurzeln ohne diesen gemeinsamen Untergrund des radikalen Utopismus nicht begriffen werden können. Hier tritt die geistige Ahnenreihe hervor, die ihn mit dem Optimismus der Weltverbesserer verbindet. So kann umgekehrt dieser schwer der Versuchung widerstehen, im Kommunismus im Grunde nur eine gewisse bedauerliche, aber doch nicht grundsätzlich zu verdammende Übertreibung des Progressismus, Kollektivismus und Egalitarismus zu sehen und diese Form des Totalitarismus trotz aller Verlegenheit, die seine Unmenschlichkeit dem Menschenfreund bereitet, mit ganz anderem Maßstabe als den ihm wesensverwandten Nationalsozialismus und seine Form des Totalitarismus zu messen.

Dieser Progressismus ist gerade wegen seiner abstrakten Natur vor allem unter Intellektuellen anzutreffen, die unserer Kulturtradition entfremdet sind, aber schlechthin allen geistig-moralisch Wurzellosen auf den Leib geschrieben. Ihm tritt eine Richtung gegenüber, der wir den Namen des kulturkritischen Realismus geben dürfen. Hier sammeln sich alle diejenigen, die in den erwähnten Tendenzen der Gegenwart die ernstesten Gefahren sehen. Wo der Progressist seinen Optimismus betont, auch gegenüber dem Kommunismus, wird der Vertreter des kulturkritischen Realismus kritisch, besorgt, ja pessimistisch sein. Der Progressist wird dazu neigen, aus dem unerhörten Bruch der Kontinuität eine Tugend und eine große Hoffnung zu machen. Er wird stets das Beiwort „modern" stolz und als jede weitere Diskussion abschneidend verwenden Er wird das Einzigartige unserer Epoche mit dem Stolze dessen, der mit Goethe (nach der Kanonade von Valmy) sagen kann, daß er „dabei gewesen", herausstreichen und darmatisch übertreiben. Man wird ihn darin erkennen können, daß er Geschichte, Überlieferung und geistig-moralisches Erbgut als lästiges Marschgepäck für den Aufbruch zu irgendeinem „Neuen Jerusalem", zu irgendeiner „planetarischen Organisation", zu irgendeiner „Neuen Gesellschaft“ ungeduldig und verächtlich abwirft und sich in der Rolle eines Anwalts der „permanenten Revolution" gefällt. Selbst wenn er wie ein Teilhard de Chardin den Mantel christlicher Formeln über einen solchen progressistischen Optimismus wirft, wird er sich verraten. '

Wer sich demgegenüber zum kulturkritischen Realismus bekennt, wird damit zunächst zum Ausdruck bringen, daß eine solche Entscheidung nicht bloßem subjektiven Dafürhalten entspringt, sondern dem Wesen der Dinge, der menschlichen und sozialen Realität und dem überwältigenden Erfahrungsschatz der Menschheit entspricht. Notwendigerweise wird damit ein Relativismus abgelehnt, der alles und daher im Grunde nichts Endgültiges gelten läßt. Es wird vielmehr die Überzeugung ausgesprochen, daß der utopistisch-optimistische Progressismus wirklich eine Ideologie im Sinne einer vorgefaßten und gefühlsbetonten Verkennung der Wirklichkeit, der des Menschen wie der Geschichte, und daher ein Irrtum ist, der die Wahrheit über die W’elt verfehlt und so auch die Orientierung des politischen Handelns ungeeignet und unheilvoll ist.

Wenn wir uns auf die Seite des kulturkritischen Realismus stellen, so liegt darin freilich noch weit mehr, was dieser Ausdruck nur unzulänglich zum Ausdruck bringt. Wie kaum noch gesagt zu werden braucht, entscheiden wir uns damit zugleich für das geistig-moralische Erbgut unserer Kultur und für das sie tragende Gerüst an unverbrüchlichen Über-zeugungen und Wertvorstellungen. Wir bekennen uns damit zu den letzten Ankern der Existenz des Menschen als eines geistig-moralischen Wesens, das nicht vom Brot allein lebt; wir besinnen uns auf einfache Wahrheiten, vor denen eine von jenen Ankern losgerissene Intelligenz sich als Torheit enthüllt. Es ist eine Entscheidung für das unverrückbar Gültige, das auch durch das, was in der modernen Welt einzigartig ist, nicht entwertet werden kann. „Das alte Wahre, faß es an!" (Goethe). Seine Relativierung zuzulassen würde bedeuten, daß wir uns von der Kultur-und Gesellschaftskrise der Gegenwart selber fortreißen lassen.

Aber haben wir nicht allen Grund, auf den „Fortschritt" stolz zu sein, und muß dann nicht vor ihm unsere Kulturkritik die Segel strei-chen? In der Tat ist gerade die Fülle der materiellen Kräfte und Güter, die dank dem so verstandenen Fortschritt zum mindesten den Massen der Industrieländer zu Verfügung stehen, eine große, ja einzigartige Leistung unseres Zeitalters, die wenigstens in diesen Ländern uns von der Geißel der Massenarmut befreit hat. Während die industrielle Revolution — der eine oft vergessene agrarische Revolution parallel läuft — bereits seit mehr als anderthalb Jahrhunderten ihre Wirkungen entfaltet, sind es doch erst in unserer Zeit bestimmte technische und wissenschaftliche Fortschritte gewesen, die diese Umwälzung auf einen bisher unerreichten Gipfel getrieben haben. Durch die Atomphysik und andere Errungenschaften der Naturwissenschaften sind nicht nur Möglichkeiten der unvorstellbaren Zerstörung, sondern auch Mittel der Herrschaft des Menschen über die Natur erschlossen worden, die selbst dem Blasierten den Atem rauben können. Dank außerordentlicher Fortschritte der Maschinentechnik, der elektronischen Forschung und der Automatisierung der Produktion, zugleich dank entsprechender Verbesserungen der landwirtschaftlichen Technik ist die durchschnittliche Produktivität der menschlichen Arbeit in einer Weise gesteigert worden, die eine Ära des Massenwohlstandes eingeleitet hat.

Man müßte ein unverbesserlicher Griesgram sein, um die erfreulichen Seiten dieser Entwicklung zu leugnen. Aber man müßte ein ebenso verbohrter Optimist sein, um nicht den Preis zur Kenntnis zu nehmen, der für diese außerordentliche Leistung zu zahlen ist. Man müßte verblendet sein, um die Vorbehalte zu leugnen, mit denen eine Würdigung des materiellen Fortschritts unserer Zeit versehen werden muß. Man müßte beschränkt sein, um die Voraussetzungen zu übersehen, von denen er abhängig ist.

Hier gilt es zunächst zu bedenken, daß wir in diesem materiellen Fortschritt die Früchte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation unserer Epoche pflücken, von der sogleich noch ein gewichtiges Wort zu sagen sein wird. Nun lehrt aber eine einfache Überlegung, daß der Fortschritt der Wissenschaft und Technik zwar eine notwendige, aber keine ausreichende Bedingung für die Steigerung der Massen-wohlfahrtist. In der Tat sehen wir, daß von einer wirklichen, in die Massen dringenden Prosperität nur in einem scharf abgegrenzten Bereich der heutigen Welt gesprochen werden kann. Dieser Bereich wird von den entwickelten Industrieländern der freien Welt, d. h. vom nichtkommunistischen Europa, von Nordamerika, Japan und einigen anderen Ländern gebildet, während sowohl die kommunistischen Länder wie die „Dritte Welt" der unterentwickelten Länder außerhalb dieses Bereiches liegen. Das ist kein Zufall. Der zwingende Grund dafür ist vielmehr darin zu sehen, daß in diesen „reichen" Ländern zu der notwendigen Bedingung der modernen Technik und ihrer industriellen Anwendung eine weitere treten muß: eine bestimmte Wirtschaftsordnung und der ihr entsprechende Geist. Das grob Faßbare der Maschinen und des Kapitals genügt also nicht;

nicht minder wichtig ist etwas Geistiges, nämlich der Entschluß zu einer solchen Wirtschaftsordnung und die geistig-moralischen Voraussetzungen dafür, daß eine solche Wirtschaftsordnung funktionieren kann. Daß diese Wirtschaftsordnung die Marktwirtschaft ist, braucht kaum noch ausgesprochen zu werden. So gehört es denn zu den wichtigsten Grundlagen der modernen Welt, daß in ihr die unvergleichliche Überlegenheit der Marktwirtschaft über die kollektivistische, der freien Wirtschaft über die unfreie, bewiesen worden ist und täglich weiter bewiesen wird, mit einer Überzeugungskraft, der sich kein Ehrlicher entziehen kann.

Aber die Wurzeln dieser Wirtschaftsordnung, von der die Nutzung der modernen Technik und Wissenschaft für die uns vertraute Steigerung der Massenwohlfahrt abhängt, liegen tief im Erdreich des Geistigen und Moralischen. Sie werden von jener Kultur genährt, von deren innerer Bedrohung wir hier sprechen, und sind daher auch mit ihr derselben Gefahr ausgesetzt. Hinzu tritt nun der Preis, der für diesen Massenwohlstand der modernen Industriegesellschaft zu zahlen ist. Bleiben wir zunächst auf dem rein wirtschaftlichen Felde, so haben wir von den Problemen zu reden, die mit dem wirtschaftlichen Wachstum, der beschleunigten Entwicklung und der „Vollbeschäftigung“ verknüpft sind. Das ernsteste und auffallendste unter ihnen ist das der heimtückisch schleichenden Inflation, die wirk19 lieh aufzuhalten bisher nicht gelungen ist. Damit hängt es zusammen, daß es bisher auch noch immer nicht geglückt ist, eine wirkliche internationale Währungsordnung zu schaffen, die auch nur entfernt der alten Goldwährung vergleichbar wäre. Hier wie in mannigfacher Hinsicht leben wir von der Hand in den Mund, von Notbehelf zu Notbehelf, ohne festen Boden unter den Füßen.

Von umfassenderer und wohl noch ernsterer Bedeutung ist die Umwälzung, die die moderne Technik und die sie begleitende Verstädterung und Industrialisierung im Haushalt und im Gleichgewicht der Natur hervorruft. Den meßbaren Gefahren einer der Technisierung schließlich deutliche Grenzen setzenden Vergeudung und Vergewaltigung, die in der Bodenerosion, der Entwaldung, der Klima-verschlechterung, der Verunreinigung und Verknappung des Wassers zutage treten, steht die den Menschen unmittelbar angehende und ihn in seiner seelischen Existenz treffende Drohung einer Zerstörung des Landschaftsbildes und einer wahren Denaturierung der Natur zur Seite.

Damit ist aber in ihrer ganzen Tiefe die Frage aufgeworfen, wie über die wissenschaftlich-technische Zivilisation im ganzen zu urteilen ist, nach deren Früchten wir in der Güterfülle der Gegenwart greifen. Zu ihrer Beantwortung tun wir gut, uns zu vergewissern, daß unsere Kultur in der Tat eine wesentlich und zunehmend Zivili wissenschaftlich-technische -sation ist und damit in der Geschichte der Kulturen eine Sonderstellung einnimmt. Während diese reich ist an Gesellschaften, deren Schwerpunkt im religiösen Kultus, im Kriegertum, in der Kunst oder in allem zugleich lag, ist die unsrige die erste, die durch und durch von Wissenschaft erfüllt ist und durch wissenschaftliches Denken wie durch technische Anwendung der Wissenschaft ihre Prägung empfängt. Hier liegt die Quelle ihrer materiellen Kraft, zugleich aber auch ihrer Probleme, die so ungewohnt und gewaltig sind, daß wir nicht mit Sicherheit auf ihre Meisterung rechnen können. Unter ihnen ist an die Spitze die Gefahr einer Entartung zu stellen, die sich aus der Gewohnheit ergibt, den Menschen in seinem geistig-moralischen Kern an den Rand zu drängen und ein technisch-mechanisches Denken von den Naturwissenschaften und der Technik auf die eigentlich humane Sphäre zu übertragen.

In dieser Entwicklung zum sogenannten Szientismus und sozialen Rationalismus darf mit guten Gründen eine sehr ernste Zeitkrankheit geistig-moralischer Art erblickt werden.

Sie bildet in der Tat einen Hauptteil des seit langem sich vollziehenden, aber erst jetzt alles ergreifenden Prozesses der geistig-moralischen Zersetzung und Auflösung, den wir als Kultürkrise kennen. Auch der Kommunismus wird ohne ihn nicht voll begreiflich. Gewiß laufen in ihm, wie schon in seinem untergegangenen Bruder, dem Nationalsozialismus, viele Ströme zusammen, und gewiß ist daher auch jede einfache Erklärung des Kommunismus falsch. Das paratheologische Element des Kommunismus (wie des Nationalsozialismus) als einer neuen säkularisierten und militant atheistischen Form jener messianischen Heilserwartungen, wie sie aus der Geschichte seit dem frühen Mittelalter bekannt sind, kann nicht oft genug hervorgehoben werden. Aber den eigentlichen Inhalt hat diese auf das Soziale übertragene Heilserwartung erst durch die Vermessenheit einer von allem Transzendenten entleerten Wissenschaft empfangen, die, nachdem sie den Glauben an Gott zerstört, auch den Menschen vernichten und zu einem beliebig formbaren Baustein der Geschichte, der Wirtschaft und der Gesellschaft denaturieren und herabwürdigen, d. h. in seinem Menschtum tödlich treffen muß.

Mit diesem ihm innewohnenden Szientismus und Technizismus bringt der Kommunismus daher auch in der Seele vieler Intellektueller des Westens verwandte Saiten zum Schwingen. Ein neuer Grund für ihre Anfälligkeit gegenüber dem Kommunismus und alle Varianten des Kollektivismus. Hier liegt auch eine wesentliche Erklärung der inneren Schwäche einer freien Welt, die in dem Maße, wie sie sich durch einen positivistischen Szientismus und Intellektualismus und einen moralischen Indifferentismus von dem humanistisch-christlichen Erbgut unserer Kultur hat abwenden und für eine am technischen Fortschritt orientierte revolutionäre Ideologie hat gewinnen lassen, sich in der Abwehr des Kommunismus und somit in der elementaren Selbstbehauptung durch das eingestandene oder uneingestandene Gefühl der inneren Verwandtschaft gelähmt fühlt. Auch ein entschiedener Antikommunismus kann dieser Welt nicht auf die Dauer helfen, wenn er jenes Erbgut verleugnet und im Grunde jeder Philosophie und jeder echten Glaubenshingabe bar ist.

Der Szientismus kann als ein Vorgang aufgefaßt werden, der einerseits entscheidend zu der modernen Kulturkrisis als einer Auflösung der Werte und der Transzendenz beiträgt, die in dem von Nietzsche vorausgesagten (und zugleich geförderten) Nihilismus gipfelt. Andererseits aber hilft er das Vakuum ausfüllen, das dieser Auflösungsprozeß hervorruft. In dieser Rolle des Füllmaterials teilt er sich, ich wiederhole es, mit anderen Ersatzinhalten des modernen, von Sinnlosigkeit bedrohten Lebens, mit den „Sozialreligionen“ (Alfred Weber) unserer Zeit wie Progressismus, Kollektivismus und — außerhalb Europas — Nationalismus, mit Kulturbetriebsamkeit, mit Sportismus, mit einer jede Intimität tötenden Topfguckerei, mit Sexualismus, mit Verkehrsraserei und Reisemanie, mit unverhülltem Materialismus. Der Rest ist Langeweile und Unbehagen bis sich schließlich, so hoffen wir wenigstens, die Kräfte der inneren Selbstheilung der Kulturkrise regen.

So steht gerade dem Vertreter der Wissenschaft nicht schlecht an, auf diese ungeheure Gefahr hinzuweisen, die vom Szientismus, einer kultartigen Absolutierung, einer Entartung der Wissenschaft unserer Kultur droht. Wir dürfen mit Recht das Wort „Entartung" gebrauchen, wenn wir bedenken, daß eine immer ausschließlicher gewordene Herrschaft einer bestimmten wissenschaftlichen Methode, nämlich der quantitativ-kausalen und damit zugleich deterministischen, uns so in ihren Bann zieht, daß wir Mühe haben, überhaupt noch darin etwas Bemerkenswertes zu und klarzumachen, daß an sehen uns es -dere Methoden gibt. Es ist — um mit einem frühen Gegner dieser Entartung, nämlich Pascal zu sprechen, der zugleich eines der größten mathematischen Genies gewesen ist, — der „esprit geometrique", der im Gegensatz zum „esprit de finesse“ von Geistern wie Galilei, Descartes und Newton ausgegangen und dann so führend geworden ist, daß er schließlich so gut wie alles qualitativ-teleologische Denken erdrückt hat, aller Gegenwehr von Männern wie Pascal oder Goethe zum Trotz. Erst so ist der Boden bereitet worden für Darwinismus, Marxismus und Freudismus. Wie schon Pascal, weil er zugleich ein Meister des „esprit geometrique" war, uns einen einzigartigen Dienst geleistet hat, indem er ihm den „esprit de finesse" als überlegen gegenübergestellt hat, so ist es höchst eindrucksvoll, wenn gerade ein bedeutender Physiker unserer Zeit die ungeheuren Gefahren der Entartung der Wissenschaft mit stärkstem Nachdruck hervorhebt. Es ist der Physiker W. Heitler (Zürich), der in seiner Schrift „Der Mensch und die naturwissenschaftliche Erkenntnis" (2. Ausl., Braunschweig 1962) uns zeigt, welche Verheerungen die zerstückelnde, wahrhaftig antihumane und deterministisch-mechanistische Art dieser Wissenschaft, die schließlich in der Atombombe geendet hat, anrichtet, vor allem dadurch, daß sie von unserem ganzen Denken mehr und mehr Besitz ergriffen hat. Aus dem Mutterschoße unserer Kultur hervorgegangen, hat sie sich schließlich durch ihre Entartung in einen Gegensatz zum Wertvollsten dieser selben Kultur gestellt und zum stärksten Gift entwickelt, das sie zu zerstören droht. Im Kommunismus erlebt sie ihren eigentlichen Triumph. Heitler weist darauf hin, wie die moderne Forschung immer mehr in bestimmte, eng begrenzte Kanäle geleitet wird, die uns zunehmend vom Humanen entfernen, daher auch den Forscher selber moralisch abstumpfen und gegen die Frage des Gewissens unempfindlich machen, welche Folgen sein so edel erscheinender Kult der wissenschaftlichen Wahrheit für die Menschheit haben könnte. „Noch besitzen wir ein großes Kapital von Humanismus, das sich dieser Gefahr schützend entgegenstellt . . . Aber tun wir wirklich genug, um dieses kostbare Kapital gegen den Ansturm einseitiger Wissenschaft und ihrer vielen verantwortungslosen Anwendungen zu bewahren?"

Dann wird es Zeit, sich an ein Wort Schopenhauers zu erinnern, das sich im Kapitel VIII seiner „Parerga und Paralipomena'findet und also lautet: „Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der funda21 mentale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat".

Wenn wir von Wissenschaft und Universität sprechen, so würden wir einen unverzeihlichen Fehler begehen durch eine ausschließliche Hervorhebung des rein intellektuellen Elements unserer Tätigkeit, d. h.des Wissens, der geistigen Wendigkeit, der Wachheit des Verstandes. Mit der Reife, mit der wir an der Universität bei Lehrern wie Studenten rechnen zu können wünschen, ist vielmehr ein moralisches Element von der höchsten Bedeutung verbunden. Aber es ist in einer beunruhigenden Weise bezeichnend für den Geist — oder Ungeist — unserer Zeit, daß eine allgemeine Scheu, davon zu sprechen oder sprechen zu hören, in Rechnung zu stellen ist. Darin, in einer durchgehenden Intellektualisierung, in einer Verkümmerung des Sinnes für das nicht durch den Verstand und durch die Wissenschaft zu Erfassende, für das Moralische, das Religiöse, das Ästhetische, kommt eben zum Ausdruck, wie unweise wir geworden sind. Wir sind Kinder einer Zeit, in der die Intellektuellen ihre Verantwortung in einer Weise vernachlässigen, für die nur noch das Wort „Verrat" am Platze ist. Die „trahison des clercs“, von der Julien Benda vor einem Dritteljahrhundert in seiner diesen Titel tragende Schrift gesprochen hatte, ist in einem Maße — und, wie wir wohl hinzufügen dürfen, auch in einer Weise — Wirklichkeit geworden, wie sie sich der französische Philosoph damals nicht hat vorstellen können. Wir sollten endlich beherzigen, daß das intellektuelle Leben kein Selbstzweck ist, sondern seinen Sinn von einer umfassenden Wertordnung erhält, die uns auch dann führen muß, wenn wir uns nicht in jedem Augenblick darüber im klaren sind, von einer höheren Stufe, auf der es sich um die Fragen des Wahren und Unwahren, des Guten und Bösen, des Schönen und Häßlichen, des dem Menschen Zuträglichen, des Rechten und Unrechten, der Existenz oder Nichtexistenz Gottes und der Beziehung zwischen Gott und Mensch handelt. Nur dann ist die ungeheure innere Bedrohung unserer Kultur abzuwenden.

Fussnoten

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Wilhelm Röpke, Dr. rer. pol., Dr. h. c., o. ö. Universitätsprofessor i. R., o. Professor Inst. Universitaires de Hautes Etudes Intern., Genf. Geb. 10. Oktober 1899 Schwarmstedt/Hann.