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Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost | APuZ 23/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 23/1963 Artikel 1 Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost Die innere Bedrohung der westlichen Kultur

Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost

Joseph M. Bochenski

In dieser Ausgabe werden die Artikel zweier bedeutender Gelehrter über die geistigen Grundlagen der westlichen Welt veröffentlicht. Der Herausgeber setzt damit seine Bemühungen fort, den Lesern Beiträge zur Kenntnis zu bringen, die in ganz verschiedener Weise das Problem der westlichen Wertwelt angehen.

Die Genehmigung zum Vorabdruck des Beitrages von Prof. Bochenski aus dem in Kürze erscheinenden Sammelband „Fragezeichen. Ein Kolloquium über die sechziger Jahre", herausgegeben von Leonhard Reinisch, erteilte freundlicherweise der W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart.

Der Aufsatz von Prof. Röpke stellt die Niederschrift eines Vortrages dar, der am 11. Februar 1963 im Schweizerischen Institut für Auslandsforschung in Zürich gehalten worden ist.

Die sechziger Jahre, in die wir eingetreten sind, sind ernste, vielleicht apokalyptische Jahre. Wir leben in einem düsteren Licht, im Licht der Atombombe. Man hat das Gefühl, als habe man Krebs, einen unheilbaren Krebs. Dieses Gefühl scheint ganz allgemein zu sein. Zwei unserer führenden Philosophen haben diesem Gefühl Ausdruck gegeben: Karl Jaspers hat ein Buch darüber geschrieben und Earl Russell mußte wegen seiner Aktionen in diesem Zusammenhang ins Gefängnis gehen. Es ist ein allgemeines Gefühl, daß diese Bombe eine zentrale Angelegenheit ist. Sie ist es auch in einem gewissen Sinne.

Aber falls die Bombe einmal angewandt werden sollte, so wird sie als vermeintliches Entscheidungsmittel in einer Auseinandersetzung eingesetzt. Es sollte nun klar sein, daß heute die alten Auseinandersetzungen zwischen den Staaten und Nationen nicht mehr die wichtigsten sind — jedenfalls wären es nicht sie, die zur atomaren Katastrophe führten. Freilich fehlt es bei einigen Völkern nicht an der Bereitschaft, die Bombe gegen den nächsten Nachbarn zu gebrauchen. Aber diese Bereitschaft scheint heute relativ belanglos zu sein. Es sieht so aus, als ob keine unter diesen nationalen Streitigkeiten zur Anwendung der Bombe führen könnte. Wenn sie einmal eingesetzt werden sollte, dann wird es in jener großen Auseinandersetzung sein, die heute eine der zentralen Angelegenheiten der sechziger Jahre ist und wahrscheinlich noch eine lange Zeit sein wird. Es ist, wie man es nennt, die Auseinandersetzung zwischen Ost und West.

Keine Erörterung der Probleme der sechziger Jahre wäre vollständig ohne eine Betrachtung dieser Auseinandersetzung. Ihre Wichtigkeit ist so groß, daß sie richtig auch zeitlich an erster Stelle behandelt werden soll.

Im Hinblick auf sie ergeben sich drei Fragen. Erstens: Wer steht in der Auseinandersetzung? Zweitens: Worum geht es in ihr? Und endlich: Was ist die Pflicht der freien Menschen in einem solchen Kampf?

I.

Zuerst also: Wer ist das Subjekt, der Träger der Auseinandersetzung? Man sagt gewöhnlich, daß es eine Ost-West-Auseinandersetzung sei. Es ergebe sich daraus, daß hier zwei Külturkreise, der östliche und der westliche, gegeneinander streiten. Das ist aber nicht der Fall. Denn einen „östlichen" Kulturkreis gibt es ja nicht, so wenig wie es einen „asiatischen“ gibt. Wir kennen im Osten — und auch in Asien — mehrere ganz verschiedene Kulturen; von einer Einheit des ganzen sogenannten „Ostens" kann keine Rede sein. Dazu kommt noch, daß der sogenannte „Osten" nicht nur im Osten vertreten ist: es gibt etwa fünf Millionen Mitglieder der kommunistischen Parteien im Westen; dagegen sind nicht alle Menschen im Osten Kommunisten. Auch dem geistigen Inhalt nach darf der Kommunismus nicht einfach „östlich" genannt werden. Er enthält viel aus dem Gedankengut von Karl Marx und zum Beispiel auch von Hilferding. Soviel ist also sicher: wir haben es nicht mit einem Streit von Kulturkreisen zu tun — so sehr sich auch dieser an unserer Auseinandersetzung beteiligen mag.

Noch weniger ist es eine Auseinandersetzung zwischen den Nationen. Wohl erscheint sie als solche für Völker, die durch militärische Macht teilweise oder ganz in das Lager des Kommu3 nismus gebracht worden sind. Und es gibt auch keinen Zweifel daran, daß der russische Nationalismus eine nicht unbedeutende Rolle im sogenannten „Osten" spielt. Aber national ist die Auseinandersetzung ihrem Wesen nach doch nicht. Das ersieht man daraus, daß die einzelnen Nationen heute zerrissen sind. Es ist heute schon so weit gekommen, daß es nur wenig Sinn hat zu sagen, „er ist ein Deutscher"; man muß gleich fragen: „Was für ein Deutscher?" Denn ein Deutscher, der sich dem Kommunismus geistig ergeben hat, steht einem, sagen wir tschechischen Kommunisten viel näher als einem freien Deutschen. Die Front der Auseinandersetzung geht quer durch die Nationen.

Die wirkliche Lage ist folgende: wenigstens auf der einen Seite haben wir es mit einer Macht zu tun, die ihrem Wesen nach weder mit einem Kuiturkreis noch mit einem Volk gleichzusetzen ist. Diese Macht ist wohl bestimmt. Es ist der Kommunismus. Was in der Auseinandersetzung gegen ihn steht, ist viel weniger klar. Daß es etwas dieser Art gibt, scheint sicher zu sein; auffallend ist aber die Ratlosigkeit, welcher wir so oft begegnen, wenn wir nach einer Bestimmung dieses Etwas, dieser zweiten Macht fragen, die mit dem Kommunismus im Streit liegt.

Es wird eine der Aufgaben dieser Meditation sein, zu versuchen, diese Frage zu beantworten. Vielleicht wird uns das dadurch gelingen, daß wir uns jetzt dem zweiten am Anfang genannten Problem zuwenden — der Frage nach dem Worum der Auseinandersetzung, nach ihrem Inhalt.

II.

Und zwar ist diese Frage für die kommunistische Seite relativ leicht zu beantworten. Denn der Kommunismus kämpft um eine Idee, um eine Ideologie. Er ist in seinem Wesen eine Ideologie. Freilich ist er nicht nur das, sondern auch eine Organisation. Aber diese Organisation — nämlich die kommunistische Partei — wurde begründet, besteht und handelt ausschließlich, um der gesamten Menschheit eine Ideologie samt allen ihren Konsequenzen aufzuzwingen. Die kommunistische Partei ist, nach einem trefflichen Wort von Joad, eine Philosophie in Aktion. Die Auseinandersetzung mit ihr kann und muß auch andere Formen annehmen — im wesentlichen ist sie aber eine Auseinandersetzung um Ideen.

Diese Behauptung wird freilich heute von vielen umstritten. Seit 1956 spricht man bei uns sehr viel von einer vermeintlichen Entideologisierung des Kommunismus. Man weist darauf hin, daß seit dem Tode Stalins eine Verbürgerlichung in der Sowjetunion eingetreten sei, daß die Menschen dort — sogar die Parteiführer — nichts oder nur wenig von den Ideen halten. Man stellt fest, daß diese Führer reine Machtpolitiker seien. Das sagt uns täglich nicht nur ein Teil unserer Presse, sondern wir hören es auch von Männern, die es besser wissen sollten. Wenn wir aber die Tatsachen betrachten, wie sie sind, wie sie von der Sowjetologie dargeboten werden, dann sprechen sie alle, ohne Ausnahme, nicht für eine Entideologisierung, sondern ganz im Gegenteil von einer Reideologisierung des Kommunismus. Nehmen wir zuerst die Aussagen. Die führenden Kommunisten sprechen seit 1956 öfter und mit größerem Nachdruck von der Ideologie, als sie je vorher davon gesprochen haben. Beachten wir ihre Taten: alles, was sie tun, zeugt von dem großen Wert, den sie der Ideologie beimessen. Ein paar Einzelheiten: Als ich vor zwei Jahren Prof. B. M. Kedrov, einem geschätzten sowjetischen Philosophen, begegnete und ihm sagte, daß in meinem Institut 14 Fachleute arbeiteten, sagte er mir: „Und bei uns 300" — in einem einzigen Institut! Nach der Freiburger „Bibliographie der sowjetischen Philosophie" gibt es etwa 3 000 schreibende sowjetische Philosophen. Diesen Philosophen stehen Mittel zur Verfügung, von welchen wir im Westen nicht einmal träumen können. Der Philosoph wird überall in den kommunistischen Ländern nicht nur hoch geschätzt, sondern auch entlohnt. Und endlich, wenn wir die Sowjetologen fragen, ob die Ideologie für die Führer der kommunistischen Parteien noch immer gilt, dann hören wir, daß man solche Fragen nicht ernsthaft stellen kann. Für jene Kenner ist es eine evidente Tatsache, daß wenigstens die führenden Kommunisten an ihre Ideologie glauben und daß diese deshalb auch heute noch die treibende Kraft des Kommunismus ist, wie sie es immer war. Daß in der Sowjetunion eine Verbürgerlichung stattfindet, ist wohl wahr; daraus aber zu schließen, daß die Ideologie jede Bedeutung verloren hat, ist ein Fehlschluß. Man bedenke, daß manche große Religion — so der Buddhismus, um nicht vom Christentum zu sprechen — eine solche Verbürgerlichung während Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden erlebt hat, ohne als Idee unwirksam zu werden. Mit welchem Recht behauptet man, daß der Kommunismus in kaum mehr als 50 Jahren an dieser Krankheit gestorben sei? Und die Machtpolitik steht ja nicht nur in keinem Gegensatz zur Ideologie, sondern wird, wie der Schüler der Sowjetologie weiß, durch diese gerade vorgeschrieben.

Das Problem ist hier nicht, ob es eine Entideologisierung des Kommunismus gibt, sondern warum so viele an eine solche glauben. Der erste Grund dafür ist, um dies einmal ganz schroff zu sagen, die Ignoranz. Es ist wahrlich kaum glaubbar, wie wenig manche Leute, die verantwortliche Stellen in der freien Welt bekleiden, über den Kommunismus wissen. Dann aber kommt das Wunschdenken: es wäre so schön, wenn sich die Kommunisten ein wenig verbürgerlichen könnten, wenn sie uns ähnlich würden; dann könnte man mit ihnen sprechen. Und endlich projizieren wir in die anderen unsere eigene Denkweise, unsere eigene Ideenlosigkeit hinein, und da viele unter uns an überhaupt nichts mehr glauben, können sie sich auch nicht vorstellen, daß ein Chruschtschow, ein Mikojan oder ein Gomulka irgend etwas glauben; sie sollen so sein wie wir.

Was aber die Wissenschaft uns darüber zu sagen hat, ist eindeutig. Die kommunistische Partei ist heute, was sie immer gewesen ist: eine Philosophie in Aktion. Freilich gebraucht sie auch ganz selbstverständlich militärische, wirtschaftliche, politische, psychologische und andere nichtgeistige Mittel. Aber alles das sind nur Mittel im Dienste der Idee. Wir haben es vor allem mit einer geistigen Auseinandersetzung zu tun. Es wäre höchste Zeit, zu verstehen, daß, solange man den Kommunismus nur an der Peripherie, mit physischen Mitteln, der Agitation usw. bekämpft und nicht imstande ist, nach seinem Geist zu greifen, er über die freie Welt eine große Überlegenheit besitzt.

III.

So sieht also das Worum der Auseinandersetzung auf der kommunistischen Seite aus: sie ist ein Kampf um eine Ideologie, im Namen einer Ideologie, der dazu noch, wie wir ausführen werden, mit ideologischen Waffen geführt wird. Es handelt sich um einen seinem Wesen nach geistigen Kampf.

Wie steht es aber auf der anderen, der soge-nannten „westlichen" Seite? Worum handelt es sich hier? Die Kommunisten haben darauf eine einfache Antwort: was gegen sie steht, ist kein Geist; es sind nur materielle Kräfte im Dienste materieller Interessen. Wir hätten es also mit dem Kampf des Geistes, der Idee, gegen den Ungeist, gegen die nackte Gewalt zu tun.

So einfach liegen die Dinge aber nicht. Interessen spielen zwar eine nicht unwichtige Rolle auf der sogenannten „westlichen" wie übrigens auch auf der kommunistischen Seite. Es ist aber falsch, wenn man behauptet, daß nur solche Interessen dem Kommunismus entgegenstünden. Daß es sich dabei um etwas mehr handelt, ist nicht schwer zu zeigen am Verhalten von Menschen, die den Kommunismus erlebt haben.

Es ist nämlich so, daß die meisten Menschen, und vor allem einfache, ungebildete Menschen, die in echte Berührung mit dem Kommunismus kommen, ihn mit größter Energie verwerfen. Das wollen einige unter unseren Intellektuellen nicht sehen — vielleicht deshalb nicht, weil sie mit solchen Menschen nie direkt zusammengekommen sind. Wir besitzen jedoch mehr als zweihunderttausend Aussagen von solchen Menschen. Ich selbst habe viele Tausende befragt. Das Ergebnis ist ganz eindeutig: Der Mensch — und ich meine nicht nur den europäischen Menschen, sondern auch andere —, der den Kommunismus wirklich kennt, wird zum Anti-Kommunisten. Er will den Kommunismus nicht. Dieser erscheint ihm als etwas Häßliches, im höchsten Grade Abstoßendes. Es gibt selbstverständlich Ausnahmen; die große Masse reagiert aber so und nicht anders.

Und es sind gar nicht Kapitalisten oder Vertreter von Monopolen; in der Mehrheit sind es nicht einmal Intellektuelle, sondern gerade schlichte Bauern und Arbeiter, die so reagieren.

Man kann also nicht sagen, daß gegen den Kommunismus nur die physische Gewalt und hinter ihr finanzielle Interessen stehen. Es gibt etwas mehr als das. Was kann dieses Etwas sein?

Oberflächlich betrachtet, handelt es sich um etwas Negatives: Jene Menschen, die den Kommunismus nicht nur in der Propaganda-literatur, sondern im Leben kennengelernt haben, lehnen ihn einfach ab, weil sie ihn als alle Werte Verneinendes empfinden. Und das ist prinzipiell ganz berechtigt. Es herrscht heute in vielen Ländern die Mode, nach welcher man nicht ein Anti-Kommunist wie jene Bauern und Arbeiter sein darf. Es ist aber schwer zu verstehen, warum es so sein soll. Wenn jemand die schwarzen Katzen als verderblich ansieht, ist es sein gutes Recht, ein Anti-schwarz-Katzist zu sein. Und dasselbe gilt selbstverständlich auch für einen, der den Kommunismus als etwas Verderbliches ansieht. Doch so legitim der Anti-Kommunismus auch sein mag, so kann er allein nicht das sein, was sich letzten Endes gegen den Kommunismus erhebt. Denn jede Negation ist in einer Affirmation verwurzelt. Der Mensch verwirft etwas als Unwert nur deshalb, weil er etwas anderes als Wert anerkennt. Die Frage, die wir uns stellen, richtet sich deshalb jetzt auf diesen Hintergrund des Anti-Kommunismus der Völker. Was ist der positive Hintergrund?

IV.

Viele unter uns meinen, daß dies eine andere Ideologie sein müsse. Der Kommunismus vertritt eine Ideologie und kämpft, um sie durchzuführen; was sich gegen ihn wendet, muß also eine formal ähnliche, obwohl inhaltlich verschiedene Ideologie sein. Und da die kommunistische Ideologie eine allumfassende Weltanschauung ist, so muß in der antikommunistischen Welt eine ihm ebenbürtige Ideologie vorhanden sein. Diese Sachanalyse wird durch eine praktische Erwägung bekräftigt: um irgendeine Chance des Erfolges in einer geistigen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu haben, muß man eine solche Ideologie besitzen. Das Verlangen nach einer „Ideologie der freien Welt" ist gerade heute Sehr stark geworden.

Das ist aber ein undurchführbares Postulat. Denn einerseits ist eine solche Ideologie aus faktischen Gründen nicht möglich; und andererseits, wäre sie auch faktisch möglich, so wäre sie doch vom Standpunkt der europäischen geistigen Haltung unerwünscht. Sie ist also zuerst aus faktischen Gründen nicht möglich; denn die freie Welt ist ja bekanntlich Weltanschaulich zerrissen Man spricht manchmal von einer christlichen Welt als dem Gegensatz zum Kommunismus. Aber was sich gegen den Kommunismus wehrt, ist nicht immer christlich. Es gibt unter den schärfsten Vorkämpfern dieser Welt außer den Christen ausgesprochene Agnostiker, ja Atheisten; es gibt Mohammedaner, Buddhisten und viele andere noch. Auch das Christentum ist heute so zerrissen, daß es Christen gibt, die untereinander in keiner einzigen weltanschaulichen Frage übereinstimmen. Der Gedanke einer gemeinsamen antikommunistischen Ideologie der freien Welt ist ein bloßer Traum. Eine solche gibt es nicht und kann es auch unter den heutigen Umständen nicht geben.

Aber auch wenn es anders wäre, so könnte sie von Europäern, die den Sinn ihrer Kultur verstehen, nicht anerkannt werden. Und wenn wir hier von der europäischen Kultur sprechen, so ist daran zu erinnern, daß diese im Begriff ist, die gemeinsame Kultur der Menschheit zu werden. Diese Kultur enthält als ein wesentliches Element die empiristische Haltung den Tatsachen und Methoden gegenüber. Alles, was in Europa groß gewesen ist, wurde nicht nach einem Plan, durch Deduktion aus irgendeinem ideologischen Prinzip geschaffen, sondern in langwieriger empirischer Kleinarbeit, durch trial and error. Es widerstrebt einem Europäer,. Probleme wie das der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, der besten Wahl-ordnung in einem gegebenen Lande und ähnliche durch Ableitung aus weltanschaulichen Prinzipien zu losen. Er glaubt, daß alles das nur auf Grund der Erfahrung und der Erprobung entschieden werden darf. Eine Ideologie schreibt aber die Lösung solcher Fragen vor. Vom Standpunkt dieser Haltung ist also eine Ideologie unannehmbar.

Deshalb sagen andere, daß die Kraft der freien Völker gerade darin besteht, daß sie keine Idee vertreten, daß sie für alle Ideen ständig offen bleiben und keiner unter ihnen einen absoluten Wert zuschreiben. Wohlgemerkt, es handelt sich dabei nicht nur um eine praktische politische Toleranz, sondern um eine geistige, die darin besteht, daß man jede Ansicht in jeder Frage als gleichwertig ansieht.

Die Ansicht wird oft unter dem Namen des Pluralismus vertreten.

Aber auch diese Lehre ist unhaltbar. Sie ist es ebensowohl aus prinzipiellen wie auch aus praktischen Gründen. Aus prinzipiellen Gründen deshalb, weil sie nicht imstande ist, zu erklären, warum man sich gegen gewisse Ideen, wie den Kommunismus, wehrt und ihn verurteilt. Denn der Kommunismus ist ja auch eine Idee, eine Weltanschauung unter den anderen. Sagt man aber, daß die genannte geistige Gleichgültigkeit dort aufhört, wo eine Lehre die menschliche Freiheit nicht anerkennt, so hat man schon etwas als absolute Norm, als unbedingt Gültiges anerkannt — nämlich diese Freiheit. Ein durchgehender Wertskeptizismus ist logisch und, wie es scheint, auch psychologisch undurchführbar. Es ist eine verschwommene Lehre, die gewöhnlich ganz und gar dogmatische Ansichten deckt. Auch praktische Gründe sprechen dagegen. Denn die Geschichte lehrt uns, daß eine solche Skepsis in der Auseinandersetzung mit einem Glauben immer verloren hat. Es genügt hier, an den Fall des Urchristentums, der französischen Revolution, der Jünger Ciankaras und — last but no least — Lenins zu erinnern. Will man den Kampf mit dem Kommunismus, der ein Glaube ist, verlieren, dann gibt es keinen besseren Weg, als diese Lehre zu vertreten. Außerdem ist es wohl so, daß jene Menschen, die den Kommunismus verwerfen, keine Skeptiker sind. Sie haben ganze feste Überzeugungen und Wertungen. Die hier genannte Skepsis ist nicht Sache der Völker-, sie ist ein Produkt der entwurzelten Intelligenz.

Es ergibt sich also, daß irgendein Mittelweg zu suchen ist. Das, wofür die Völker stehen, im Namen wessen sie sich gegen den Kommunismus wehren, kann keine Ideologie sein; es kann aber auch keine Skepsis sein und ist es auch nicht. Dieses geistige Gut kann formal wie folgt beschrieben werden:

— es muß aus einigen, wahrscheinlich wenigen, jedoch grundlegenden Sätzen und Wertungen bestehen, die kein System, geschweige denn eine Ideologie bilden;

— diese Sätze und Wertungen müssen als absolut gelten, jedem Zweifel enthoben sein; — sie müssen positiv sein, nicht Negationen; — sie müssen endlich den verschiedenen Weltanschauungen und Glaubensbekenntnissen der freien Menschheit gemeinsam sein.

Unsere Aufgabe besteht nun darin, diese Sätze und Wertungen aufzufinden; eine wichtige, aber auch schwierige Aufgabe. Kein einzelner darf sich zumuten, sie richtig und vollständig formulieren zu können. Was also hier vorgelegt wird, soll nur als Vorschlag, als Grundlage für eine Diskussion dienen. Jedoch irgendein Anfang muß irgendwo gemacht werden — und als solcher dürfen vielleicht die folgenden Gedanken dienen.

V.

Es sind dies fünf Gedanken, die in zwei Gruppen von ungleicher Bedeutung zerfallen. Die ersten zwei — der wissenschaftliche und der humanistische Gedanke — scheinen axiomatisch zu gelten; sie haben keine weitere Begründung und bedürfen einer solchen auch nicht, weil sie als evident erscheinen. Dagegen sind die drei anderen abgeleitet. Und zwar ist der dritte Gedanke — der sozial-demokratische — a priori aus dem zweiten abgeleitet, während wir die zwei letzten aus diesem und den zweiten mit Gebrauch der Ergebnisse der Erfahrung erhalten werden.

Bevor wir sie formulieren, darf noch die folgende Bemerkung eingeschaltet werden. So wie sie hier stehen, müssen sie sehr abstrakt, sozusagen blutleer erscheinen. Sie sind es auch, wenn man sie allein, von jedem weltanschaulichen Kontext losgelöst, betrachtet, aber sie sind nicht dazu bestimmt, in dieser Abstraktion zu stehen. Im Gegenteil, jeder sollte sie als einen Bestandteil seiner Weltanschauung sehen. Dann werden sie gleich lebendig und gewinnen eine sehr große Anziehungskraft. Nebenbei gesagt können diese Gedanken auch ohne eine solche Einbettung in die Weltanschauung manchmal höchst lebendig sein: dann nämlich, wenn sie schroff vergewaltigt werden.

Ich selbst bekenne mich zum Christentum und werde deshalb auch hier wenigstens skizzenhaft zu zeigen versuchen, wie sich diese Sätze in diese Weltanschauung einfügen. Das geschieht jedoch nur exemplarisch; es ist jedermanns Sache, dasselbe in Hinblick auf seine eigene Weltanschauung zu tun.

Der wissenschaftliche Gedanke. Wenn es sich um die Feststellung und Erklärung von innerweltlichen Tatsachen handelt, ist nur eine menschliche Autorität legitim: jene der echten Wissenschaft.

Tatsachen, also nicht Werte; innerweltliche, also nicht transzendente; menschliche Autorität — eine göttliche wäre selbstverständlich in diesem Bereich auch legitim; legitim, d. h. eine wahre Autorität; alles andere, wie z. B. eine Ideologie, mag den Anspruch auf Autorität erheben, ist aber keine solche; echte Wissenschaft — ein Gefüge von Sätzen, die unter anderen die drei folgenden Eigenschaften aufweisen: sie sind letzten Endes auf Grund der Erfahrung aufgestellt worden; sie werden (falls es sich um klärende Sätze handelt) mit Gebrauch jener Methode aufgestellt, die im betreffenden Gebiet der Wissenschaft gilt (so z. B., wenn es sich um soziale Aussagen handelt, mit jener der Soziologie); und endlich, sie stehen ständig der Diskussion offen.

In diesem Sinne ist der wissenschaftliche Gedanke, wie es scheint, ein grundlegender, positiver Satz, den die freien Menschen gemeinsam vertreten, und zwar so, daß sie nicht bereit sind, ihn in Zweifel zu ziehen. Seinem Wesen nach ist dieser Gedanke die Verwerfung der Ideologie, der Anmaßung, über die innerweltlichen Tatsachen mit unwissenschaftlichen Methoden zu entscheiden. Er braucht keine weitere Begründung. Vom christlichen Standpunkt aus ist er auch deshalb bindend, weil jede Ideologie eine Gotteslästerung ist:

sie schreibt einer menschlichen Autorität Eigenschaften zu, die nur Gott besitzt.

Der Gedanke klingt vielleicht recht rationalistisch — und er ist es auch. Er formuliert das Postulat des durchgehenden Rationalismus in den genannten Grenzen. Es muß zugestanden werden, daß es ein schwer durchführbares Postulat ist. Die Wissenschaft bietet uns nur Bruchstücke, kein einheitliches Bild des Realen. Das Bedürfnis nach einem einheitlichen Weltbild ist aber so groß, daß jeder versucht ist, die Lücken im echten Wissen durch Wunschdenken zu füllen, das heißt, eine Ideologie anzunehmen. Und zwar scheint in dieser Hinsicht die Lage des Ungläubigen schwieriger zu sein als jene des Gläubigen.

Denn der letztgenannte hat den Sinn seines Lebens durch seinen transzendenten Glauben gesichert. Es ist ihm leichter, in der „Zerrissenheit der Wissenschaft", um mit Karl Jaspers zu sprechen, zu verharren. Gerade weil er gläubig ist, kann er es sich leichter erlauben, ein unbedingter Rationalist im Innerweltlichen zu sein. Aber die Forderung, die sich aus diesem Gedanken ergibt, ist an alle Menschen gerichtet.

Der humanistische Gedanke. Die volle, freie Entfaltung des heutigen, wirklichen Einzel-menschen ist der höchste irdische Wert und damit das höchste Ziel jeder Politik.

Die volle Entfaltung, so weit, wie es unter den gegebenen Umständen möglich ist; die ireie Entfaltung in jenem besonderen Sinne, daß nicht etwas Allgemeines und Abstraktes, sondern die eigene, einmalige Persönlichkeit des Menschen gedeihen soll; daß der Mensch „das werde, was er ist" nach einem Worte Goethes; des heutigen — nicht des zukünftigen —, des wirklichen — nicht des mythischen Menschen. Des Einzelmenschen, nicht der Gemeinschaft. Der höchste Wert, so, daß jene Entfaltung, und was dazu notwendig ist, nie etwas anderem untergeordnet werden darf; der höchste irdische, weltliche, nicht transzendente Wert; das höchste Ziel der Politik, die letzten Endes dazu da ist, die Bedingungen lür diese Entfaltung zu schaffen.

Der Gedanke enthält die Behauptung der Priorität des Einzelnen. Damit wird das Soziale nicht geleugnet. Das Soziale braucht der Mensch für seine Entfaltung in zweifacher Weise: erstens, weil dazu eine Ordnung notwendig ist, und zweitens, weil das einmalig Persönliche nur in dem Rahmen und auf dem Boden des geistig Gemeinsamen wachsen kann. Die Politik hat diese Bedingungen zum unmittelbaren Ziel. Aber alles, was sie tut, hat nur einen Sinn: der Entfaltung des Menschen, des wirklichen Menschen zu dienen. Die Gesellschaft ist für den Einzelmenschen da, nicht umgekehrt. Und wenn im Namen der Gesellschaft Opfer vom einzelnen gefordert werden, so geschieht dies im Namen der anderen Einzelmenschen, nicht im Namen des Kollektivs oder des mythischen Zukunftsmenschen.

Auch dieser Gedanke ist evident und bedarf keiner weiteren Begründung. Er ist im europäischen Denken verwurzelt. Seit Plato wird der Mensch — der Einzelmensch — als ein Wesen angesehen, das über der gesamten Natur steht. Er trägt in sich eine Würde, die so groß ist, daß er nie als bloßes Werkzeug, als ein bloßes Mittel zu irgend etwas gebraucht werden darf, und es ist zu betonen, daß es sich dabei nicht um irgendeine abstrakte „Menschheit" in ihm handelt, sondern um seine individuelle konkrete Person. Eine besonders große Kraft erhält dieser Gedanke im Gefüge des christlichen Glaubens: denn der Einzelmensch — der heutige, wirkliche — und er allein, nicht die Menschheit, nicht der Zukunftsmensch, ist ein Kind Gottes, das allein durch Christus erlöst wurde und ein Freund des Unendlichen sein kann und soll.

Es sei bemerkt, daß uns noch immer Lehren beeinflussen, die im schroffen Gegensatz zu diesem Gedanken stehen. Das „Humane" — ein Abstraktum, die „Menschheit" — ein Kollektiv, „der objektive Geist" — eine halb abstrakte, halb kollektive Entität werden noch oft als „heilig" und über dem Menschen stehend angesehen. Vom Standpunkt des humanistischen Gedankens aus, wie er hier formuliert ist, handelt es sich hier um ein grundlegendes und verderbliches Mißverständnis. Der sozial-demokratische Gedanke. Jedem Menschen kommen gewisse unveräußerliche Grundrechte zu, und alle Menschen sind im Hinblick auf diese Grundrechte gleich.

Jedem Menschen: ein Mensch kann sie freilich verlieren, nämlich durch ein Verbrechen; aber abgesehen davon gibt es keine Ausnahmen. Grundrechte: jene, die unbedingt notwendig sind, damit er das am zweiten Gedanken formulierte Ziel erreichen kann. Es ist also das Recht auf Leben, das Recht auf solche Lebensbedingungen, wie sie notwendig sind, um ein menschenwürdiges Dasein zu führen, das Recht, sein persönliches Wesen zu entfalten und andere ähnliche. Unveräußerliche: da das Ziel kraft des zweiten Gedankens absolut gilt, gelten auch die notwendigen Mittel unbedingt; niemand darf also dem Menschen jene Rechte absprechen; zum Beispiel darf ein Unschuldiger nie, auch wenn es um das Wohl der Gemeinschaft geht, getötet werden. Im Hinblick auf diese Grundrechte: das heißt, daß keine Ungleichheit in anderer Hinsicht eine Ungleichheit hier begründen darf. Das bedeutet aber, daß es in dieser Hinsicht keine besseren Menschen, Familien, Völker oder Klassen gibt.

Dieser Gedanke ist, allein betrachtet, nicht evident. Die Erfahrung zeigt uns immer wieder, daß die Menschen in jeder empirisch feststellbaren Hinsicht ungleich sind. Er wird aber deutlich, wenn man ihn im Lichte des humanistischen Gedankens sieht. Denn das, worin der Mensch über die gesamte Natur erhaben ist, ist ein transempirischer Faktor, der durch bloße Beobachtung und folgerichtiges Denken auf Grund der Beobachtung nicht faßbar ist. Der Mensch trägt eine transzendente Würde in sich. Im Hinblick auf diesen Faktor besitzen wir aber keine Maßstäbe und Kriterien. Wir müssen die Menschen als gleich ansehen.

Wieder ist dieser Gedanke vom christlichen Standpunkt aus besonders klar: denn jeder Mensch ist dazu berufen, ein persönlicher Freund des Herrn zu sein. Wer es ist und wer nicht, wissen nicht wir. Wir wissen nur soviel, daß ein in jeder natürlichen Beziehung niedriger Mensch gerade diese Würde besitzen kann, während ein anderer, der z. B. kulturell und intellektuell hochstehend ist, sie nicht haben muß. Wir wissen auch als Christen, daß wir alle Brüder sind. Im Vergleich damit sind alle, auch die größten Unterschiede belanglos. Ein Christ, der diesen Gedanken nicht vertritt, ist wahrlich ein merkwürdiges Phänomen. Der politisch-demokratische Gedanke. Unter den von uns erprobten politischen Verfassungen ist die demokratisch-pluralistische am wenigsten schlecht, weil sie relativ am besten vor Ungerechtigkeiten schützt.

Unser den erprobten: es handelt sich um einen empirisch begründeten Gedanken, er ist ein Ergebnis der Erfahrung; politischen Verfassungen: im Gegensatz zum sozialdemokratischen Gedanken handelt es sich hier also nicht um die persönlichen Rechte, sondern um die Organisation der Gesellschaft; demokratisch: eine Verfassung, nach der alle Bürger einen Einfluß auf die Wahl der Regierenden haben; pluralistisch: eine Verfassung, die eine Vielzahl von Ansichten im Politischen zuläßt; es sei bemerkt, daß dies keine Behauptung einer bestimmten Form der politischen Demokratie ist, etwa im englischen Sinne, sondern nur eine ganz allgemeine Feststellung des genannten Einflusses und des Pluralismus; am wenigsten schlecht: die Demokratie wird nicht als eine vollkommene Verfassung hingestellt; nur im Vergleich mit den anderen soll sie weniger schlecht sein; vor Ungerechtigkeiten schützen: nämlich vor der Vergewaltigung jener Rechte, die im dritten Gedanken genannt sind.

Dieser Gedanke ist, wie gesagt, empirisch begründet: er ist das Ergebnis der langen und blutigen Erfahrung der Menschheit. Diese aber ist groß genug, um ihm eine feste Stütze zu bieten, und im heutigen Stande dürfte der Gedanke als jedem Zweifel enthoben gelten. Es ist hier nicht der Ort, diesen Gedanken im einzelnen zu begründen. Es sei nur gesagt, daß das, was ihm heute entgegengestellt wird, oft eine Verfassung ist, in welcher eine Gruppe von Intellektuellen sich selbst zur Regierung ernennt und die Politik tyrannisch verwaltet, wobei keine Kritik erlaubt wird. Die Praxis hat gezeigt, daß dies zu ungeheuren Ungerechtigkeiten führt. Der Gedanke behauptet nicht, daß solche Ungerechtigkeiten in der Demokratie ausgeschlossen wären; er besagt nur, daß ein Mensch, dem die Regierung seine Rechte abspricht, in der Demokratie größere Chancen hat, sich zu verteidigen.

Der wirtschaftlich-pluralistische Gedanke. Unter den erprobten wirtschaftlichen Verfassungen ist die pluralistische dem durchgehenden Monopol an den Produktionsmitteln, vor allem dem Staatsmonopol, vorzuziehen, weil dies zur Versklavung der Menschen führt.

Erprobt: es handelt sich wieder um einen empirisch begründeten Satz; pluralistisch: eine Verfassung, unter der es mehrere, wenn möglich zahlreiche Dispositionszentren der Wirtschaft gibt; Monopol; das Bestehen eines einzigen Dispositionszentrums; Versklavung: die Macht des gesamten Monopols wird so groß, daß der Einzelmensch ihr gegenüber wehrlos dasteht und versklavt wird.

Zu diesem Gedanken ist zu bemerken, daß er mit der liberalen Theorie nicht zu identifizieren ist. Er behauptet nämlich nicht, daß die Disposition in der Wirtschaft in den Händen von Privatunternehmern liegen soll, obwohl er dies nicht ausschließt. Man könnte sich sehr wohl eine sozialistische, aber doch pluralistische Wirtschaft denken, in der die Werkstätten z. B.den Gewerkschaften, den Genossenschaften, den Gemeinden usw. gehörten und von ihnen geleitet würden. Es gibt überhaupt keine logische Begründung dafür, den Sozialismus mit dem Staatsmonopol gleichzusetzen.

Der Gedanke schließt aber eine Verstaatlichung gewisser Gebiete der Wirtschaft nicht aus. Er spricht nur vom durchgehenden Monopol, also von einer Verfassung, in der praktisch die gesamte Wirtschaft durch ein einziges Dispositionszentrum geleitet wird.

VI.

Soweit die Gedanken. Sie bilden, es soll noch einmal den betont werden, einen Versuch, die freien Menschen gemeinsamen Ideen zu formulieren. Sie sind, wie man leicht sehen kann, keine Ideologie, denn sie bilden kein System und erheben keinen Anspruch auf die Erklärung von Patsachen; wenn sie methodologische Prinzipien enthalten, wie die beiden letzten, dann sind diese ganz allgemein gehalten und auf Grund der Erfahrung aufgestellt. Das Folgende ist im Hinblick auf diese Gedanken von Bedeutung. Es handelt sich nicht um Dinge, die irgendwo in der freien Weit schon voll verwirklicht wären. Freilich nicht in dem Sinne, daß es z. B. in der Bundesrepublik oder in der Schweiz damit schlimmer wäre als in Ungarn oder China. So etwas erklären kann nur jemand, der die Lage überhaupt nicht kennt oder sie bewußt verfälscht. Das Wesentliche ist aber, das es keine Errungenschaften sind, sondern Ideale. Und zwar handelt es sich, wie es scheint, um transzendentale Ideale, um solche nämlich, denen wir uns nur annähern werden, ohne sie voll zu verwirklichen. Das ist deshalb wichtig, weil man sich die freie Welt oft vorstellt, als ob sie ihre Ideale schon verwirklicht hätte, so daß das, was bleibt, nur die Verteidigung der Errungenschaften wäre. Dann wird aber die Haltung passiv und defensiv: passiv, weil man glaubt, keine Anstrengungen mehr machen zu müssen, um irgend etwas außer dem schon Verwirklichten zu erreichen; defensiv, weil man nur an die Verteidigung der vermutlich vorhandenen Errungenschaften denkt. Daß die freie Welt viel zu verteidigen hat, ist klar, auch in rein materieller Hinsicht.

Aber die genannte Haltung ist doch in einer falschen Auffassung begründet und in ihren Konsequenzen verderblich.

Sie ist auf falschen Voraussetzungen gegründet, weil sie den genannten Gedanken einen statischen Charakter zuschreibt, während sie ihrem Wesen nach dynamisch zu denken sind, nämlich als Ideale, für deren Verbreitung und Verwirklichung man kämpfen sollte. Sie ist in den Konsequenzen verderblich, weil sie bei uns ebensowohl den Willen zum Fortschritt wie auch den Willen zum geistigen Angriff lahmlegt.

VII.

Freilich, wenn solche oder ähnliche Gedanken in einer Diskussion mit Kommunisten ausgesprochen werden, dann antworten sie regelmäßig zwei Dinge: daß es gerade ihre Ideale seien und daß sie nur durch ihre Methoden zu verwirklichen wären.

Jedoch ist beides falsch. Es sind nicht dieselben Ideale auf beiden Seiten. Der wissenschaftliche Gedanke wird von den Kommunisten offenbar nicht ernst genommen, da sie sich ausdrücklich zu einer Ideologie bekennen und ihre „Klassiker" — vor allem Engels und Lenin — als unfehlbare Autoritäten anerkennen. Der humanistische Gedanke wird auch nicht ernst genommen, weil der heutige, wirkliche Mensch von ihnen als bloßes Werkzeug zur Verwirklichung des Mythos der Zukunftsgesellschaft angesehen und als solcher behandelt wird. Der sozial-demokratische Gedanke wird geleugnet, da die Kommunisten Wert-unterschiede zwischen den Klassen machen und innerhalb der proletarischen Klasse zwischen den Parteimitgliedern und den Massen.

Die beiden letzten Gedanken werden aber für die Gegenwart ausdrücklich verworfen — nur in einer mythischen Zukunft sollen sie gelten —, wobei es nicht einmal klar ist, ob die kommunistische Partei, die sich das Recht nimmt zu regieren, ohne das Volk zu befragen, einmal endgültig verschwinden soll.

Es ist auch falsch, daß nur die kommunistischen Methoden zur Verwirklichung dieser Ideale führen können. Denn erstens gelten wenigstens die ersten drei absolut und dürfen von dem hier vertretenen Standpunkt aus unter keinen Umständen vergewaltigt werden; das ist es aber, was die kommunistischen Methoden verlangen. Und zweitens ist nachweisbar, daß zahlreiche Völker in vergleichbaren Perioden (so Japan, Kanada und die USA) genau dasselbe (auch im Ausbau der sogenannten Schwerindustrie, also auf einem Sektor, der auf Kosten aller anderen von den Kommunisten bevorzugt wird) geleistet haben wie die Sowjetunion, ohne die kommunistischen Methoden zu gebrauchen.

Dies ist so sehr wahr, daß nach allem, was wir wissen, wenigstens die beiden ersten Gedanken schon heute im kommunistischen Reich zu einer großen Gefahr für den Kommunismus geworden sind. Es besteht fast überall — vor allem in den unterjochten europäischen Ländern, aber auch in der Sowjetunion — eine starke Spannung zwischen dem Bekenntnis zum wissenschaftlichen Gedanken und der „Parteilichkeit" einerseits, dem humanistischen Gedanken und der Tyrannei der Partei andererseits. Es fehlt nicht an Kennern der Sachlage, die behaupten, daß wir Zeugen eines gewaltigen Zersetzungsprozesses sind. Während der Kommunismus Chancen zu haben scheint, physisch die Welt zu erobern, sieht es so aus, als ob er im Begriff sei, den geistigen Kampf zu verlieren.

VIII.

Es ist nicht die Sache eines Forschers, die Zukunft zu prophezeien. Er beschreibt die Lage und versucht, die geistigen Kräfte, die sich im Kampf begegnen, zu verstehen und ihre grundlegenden Annahmen zu formulieren. Eine solche Analyse erlaubt ihm aber auch, einige praktische Schlüsse zu ziehen. Aus der Erkenntnis der Lage im geistigen Gebiet ergeben sich nämlich Regeln für das geistige Handeln.

— Ein freier Mensch, der sich mit seiner geistigen Welt solidarisch fühlt, hat das größte Interesse daran, voll zu verstehen, daß diese in einem wahren geistigen Krieg mit dem Kommunismus steht.

— Dieser Krieg kann mit Aussicht auf Erfolg nur dann geführt werden, wenn er mit ebenbürtigen Mitteln geführt wird, wenn er nämlich als ein Krieg gedacht und ausgekämpft wird.

—• Das setzt aber voraus, daß die freien Menschen sich ihrer grundlegenden Ideen voll bewußt werden. Die heute vielleicht dringendste Aufgabe ist es, diese Ideen zuerst klar zu formulieren und dann dem gesamten Volk in einer groß angelegten Bildungsarbeit nahezu-bringen. Es handelt sich hier um keine Propaganda, um kein Aufzwingen von fremden Lehren, denn es sind ja Ideen, die von den Völkern, obwohl dunkel und oft unbewußt, akzeptiert werden. — Von größter Bedeutung ist aber, daß diese Ideen als dynamische Ideale verstanden werden, daß sie Prinzipien einer aktiven Haltung unserer eigen Wirklichkeit gegenüber werden. — Ein Verständnis des Gegners, des Kommunismus, ist fast ebenso wichtig. Dies ist noch immer sehr ungenügend. Es ist notwendig, die Forschungsstätten auszubauen, die haute vulgarisation der wissenschaftlichen Kenntnisse in diesem Gebiet — etwa in der Art und Weise, wie dies im Kölner Ostkolleg getan wird — zu fördern und dem gesamten Volk eine wahrhaftige und anschauliche Information über den Kommunismus zu geben.

— Endlich ist es notwendig, die Auseinandersetzung offensiv zu führen, das Feuer sozusagen in das Lager des Feindes zu tragen.

IX.

Diese Betrachtungen haben wir mit einem Hinweis auf das Problem der Kernwaffen angefangen. In welcher Beziehung steht die hier erörterte Auseinandersetzung zu jener bedrückenden Frage? Direkt nur insoweit, als daß augenblicklich der Kommunismus über die mächtigsten Kernwaffen verfügt und daß man, wenn man seine moralischen Prinzipien kennt, befürchten kann, seine Vertreter möchten sie früher oder später gebrauchen. Es scheint wohl, daß, solange die freie Welt über mächtige Kernwaffen verfügt, die Kommunisten das Risiko des Atomkrieges nicht auf sich nehmen werden. Wir wollen aber davon absehen und uns fragen, wie sich die entgegengesetzte Hypothese, daß die Kommunisten Atomwaffen einsetzen wollen, auf die Frage der geistigen Auseinandersetzung auswirkt. Wir setzen dabei als selbstverständlich voraus, daß wir einen atomaren Krieg vermeiden möchten. Wie läßt sich das nun unter Voraussetzung der genannten Hypothese durchführen? Es gibt darauf zwei Antworten. Die erste lautet: Laßt uns vor dem Kommunismus kapitulieren. Besser rot als tot. Alles ist besser als der atomare Tod. Die Auseinandersetzung zu fördern ist aber keine Kapitulation. Also soll man von jeder geistigen Auseinandersetzung absehen. Gegen diesen Gedankengang könnte man vieles anführen. Man könnte zum Beispiel mit der Behauptung nicht einverstanden sein, daß es besser ist, geistig zu kapitulieren als zu sterben. Das brauchen wir aber hier nicht zu erörtern, weil sich eine andere, viel näher liegende Frage aufdrängt. Dieser Gedankengang setzt nämlich voraus, daß, solange eine gei11 stige Auseinandersetzung vorhanden ist, der atomare Krieg unvermeidlich bleibt oder gar durch sie hervorgerufen wird.

Das ist aber eine ganz unbegründete Annahme. Zuerst ist mehr als wahrscheinlich, daß die Gefahr der Anwendung von Kernwaffen seitens der Kommunisten gering sein wird, solange die freie Welt stark genug bleibt. Unter solchen Umständen wird aber die geistige Auseinandersetzung geradezu zur Pflicht. Und noch mehr kann gesagt werden: Es ist gerade die geistige Auseinandersetzung, die die Wurzeln des physischen Krieges vernichten kann. Jeder Sieg in dieser Auseinandersetzung, jede Bekehrung des Menschen drüben zu den Idealen der freien Welt — denn diese macht ja den Sinn des geistigen Krieges aus —, vermindert die Chancen des blutigen Kampfes. Ein voller Sieg im geistigen Krieg würde die Gefahr des physischen ganz aufheben. Auch aus diesem Grunde bleibt die Auseinandersetzung das wichtigste Problem und die wichtigste Aufgabe der kommenden Jahre.

Fussnoten

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Joseph M, Bochenski, Dr. phil., Dr. theol., o. Universitätsprofessor für Geschichte der modernen und zeitgenössischen Philosophie, Direktor des Osteuropainstituts der Universität Freiburg/Schweiz, Direktor des Stud. -Programms der Rockefeller Foundation, Mitglied des Direktoriums des Ostkollegs der Bundeszentrale für Heimatdienst. Geb. 30. August 1902 Czuszöw/Polen.