IX. Friedensfühler nach Rußland
Das Ringen in der deutschen Führung um den Feldzug im Osten hatte für die Reichsleitung um so größere Bedeutung, als sie in den Tagen, da der deutsche Kaiser bestürmt wurde, den Generalstabschef zu wechseln, bereits aktiv war, um eine Verbindung mit dem Zaren Nikolaus herzustellen.
Der Brief an den Zaren Als die deutsche Regierung auf das Angebot des Dänen Andersen einging, Verbindungen zu feindlichen Regierungen herzustellen, geschah es in der Hoffnung, auf diesem Wege zu dem erstrebten Separatfrieden mit Ruß-land zu gelangen. Dem entsprach die Weisung, die Albert Ballin vom Reichskanzler für die Unterredung mit Andersen bekam, zu der dieser im Auftrag seines Königs am 2. Dezember 1914 nach Berlin gekommen war. Der Generaldirektor der Hapag gab dem dänischen Reeder zu verstehen, daß eine Verständigung mit Rußland „viel weniger kompliziert sei als diejenige mit England" und daß es doch vielleicht richtiger sei, wenn der König „zunächst den Hebel in Rußland ansetze" Die beiden vereinbarten, daß König Christian sich unmittelbar nach der Rückkehr Andersens mit einem Brief an den Zaren und später an den König von England wenden sollte Man rechnete mit einer schnellen und nachdrücklichen Aktion. Hatte Christian doch Andersen nach dessen eigenen Angaben am 1. Dezem-ber noch spät abends in seiner Wohnung ausgesucht, ihn veranlaßt, sofort am nächsten Tag nach Berlin zu fahren, und diesen ungewöhnlichen Schritt damit begründet, daß es gegen sein religiöses Gefühl verstoße, „diese hohe Mission, wenn sie ihm wirklich zuteil werden sollte, auch nur um einen Tag verzögert zu sehen" Dem deutschen Gesandten in Kopenhagen, Graf Brockdorff-Rantzau, gab Andersen allerdings — am 10. Dezember — zu verstehen, es sei noch alles in der Schwebe, der König wolle tun, was in seinen Kräften stehe. „Welche Form Er wählen wird, ist noch nicht entschieden; vielleicht wird Er an den König von England und an den Zaren schreiben"
Der Dezember verging, ohne daß aus Kopenhagen zu erfahren war, was der Zar auf den zwischen Ballin und Andersen verabredeten Brief König Christian geantwortet hatte. In Berlin vermutete man, daß Nikolaus sich erst mit den Alliierten in Verbindung setzen wollte oder — das war auch die Ansicht Ballins — daß „die Stimmung in Petersburg für Friedensvorschläge überhaupt noch nicht reif" sei oder man begann, an der Ernsthaftigkeit des dänischen Planes zu zweifeln, der offenbar „lediglich dem Kopfe des Herrn Andersen entsprungen" sei. Das Schweigen in Kopenhagen und die Unsicherheit waren um so unangenehmer, da man sich einerseits ganz auf den „Ausweg" eines Sonderfriedens angewiesen sah — es sei an das Drängen der OHL am 1. und 2. Dezember erinnert — es aber zur deutschen Verhandlungstaktik gehörte, das eigene Interesse zu verbergen und die Dinge auf sich zukommen zu lassen. „Wir müssen", so formulierte es der Kanzler, „jedes Drängen auf Einleitung oder Fortsetzung der Aktion vermei-den, damit nicht der Anschein erweckt wird, als ginge das Friedensangebot von uns aus."
Doch um die Jahreswende war es den Berufsdiplomaten bereits gelungen, die Aktion in Gang zu bringen. Der dänische Außenminister Scavenius ließ sich von Brockdorff-Rantzau davon überzeugen, daß die Hauptschwierigkeit für einen Frieden bei England liege Dementsprechend setzte er sich im Sinne der deutschen Bemühungen für einen Separatfrieden mit Rußland ein. So bewog er den König, „zunächst nur nach Petersburg Schreiben zu richten"
In der Form der üblichen Neujahrstelegramme, mit denen die Souveräne ihren allgemeinen Wunsch nach Frieden ausdrückten, in Ton und Diktion ganz auf Charakter und Gemütsstimmung des hohen Verwandten abgestellt und mit symbolischer Anspielung auf die gemeinsame Jugendzeit auf Schloß Fredensborg, dem „Friedens" -Schloß, versuchte der König, seinen Vetter ganz persönlich anzusprechen. Wenn dieser, dessen „mildes Herz" er kenne und der so „schwer unter diesem furchtbaren Kriege leiden müsse", glaube, daß es eine Möglichkeit zur Wiederherstellung des Friedens gäbe, so möge er sofort nach Kopenhagen telegrafieren. Für diesen Fall kündigte Christian den Besuch des dem Zaren bekannten Staatsrates Andersen in Petersburg an: „Dieser könnte mündlich manches vortragen, was sich schriftlich nicht erörtern lasse" 6).
Deutschland war auf den Rat von Scavenius, den Brockdorff-Rantzau nach einer Weisung aus Berlin entsprechend informiert hatte, nicht erwähnt, weil „dadurch die ganze Aktion scheitern und völlig falscher Eindruck erweckt werden könnte, als ginge der Wunsch nach Frieden von uns aus" 10). Am 6. Januar ging der Brief nach Petrograd ab n).
Die Wahrheit ist freili Am 6. Januar ging der Brief nach Petrograd ab n).
Die Wahrheit ist freilich, daß es sich bei dem Schritt des Königs von Dänemark um einen, wenn auch ausdrücklich nicht formell, so doch faktisch autorisierten Friedensfühler der deutschen Regierung handelte. Er charakterisiert deren Haltung in der Friedensfrage um so mehr, als in jenen Tagen im Auswärtigen Amt und vom Reichskanzler noch weitere Schritte unternommen wurden, um mit den Russen ins Gespräch zu kommen. „Kanäle" nach Petrograd Es war am 9. November 1914, als aus Stockholm die Meldung kam 12), daß die Zarinmutter, für den Thron ihres Sohnes fürchtend, an der Entfernung daß die Zarinmutter, für den Thron ihres Sohnes fürchtend, an der Entfernung des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch vom Oberkommando arbeite. Der Kaiser schwanke noch. Bethmann Hollweg, zu dieser Zeit im Großen Hauptquartier, nahm diese — übrigens so nicht zutreffende — Nachricht sehr ernst. Sie brachte ihn auf den Gedanken, die Gegensätze in Zarskoje Selo auszunutzen Der ebenfalls in Charleville anwesende Staatssekretär Jagow fragte deshalb am 11. November bei Pourtales, dem Leiter der Rußlandabteilung im Auswärtigen Amt, an, ob dieser Persönlichkeiten wisse, zu denen es möglich sei, „Fäden zu spinnen, um die Miß-Stimmigkeiten zwischen Kaiserin-Mutter, Kaiser, Großfürsten und eventuell Generälen zu vertiefen". „Könnte man nicht zunächst die Uneinigkeit im eigenen russischen Lager schüren?" Damit und wenn der Großfürst fallen sollte, würde die „eventuelle Sprengung derCoalition auch erleichtert". „Lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen und suchen Sie nach Fäden. Es ist für alle Eventualitäten nützlich, solche an der Hand zu haben." Diese Anfrage und die Erkundigungen, die der frühere Botschafter in Petersburg daraufhin bei den Gesandtschaften in Stockholm und Kopenhagen einzuholen suchte entsprachen also der Absicht, „Kanäle" ausfindig zu machen, sowohl um „auf Petersburger Kreise einzuwirken" und Nachrichten dorthin zu „lancieren", wie auch, um solche über die Vorgänge am Hofe zu erhalten. Das Ziel war „die Einwirkung auf russische Persönlichkeiten". Das bedeutete, daß die Deutschen die Opposition im Zarenreich gegen die Kriegspartei zu stärken suchten, offenbar, um die Aktionskraft des Gegners zu schwächen.
Dazu lief nun parallel Tirpitz'Bemühen um einen russischen Separatfrieden. Am 10. November, an dem die Meldung über die Zarinmutter bereits in Charleville vorlag, hatte er dort Staatssekretär Jagow und den Generaladjutanten von Plessen für seinen Plan zu gewinnen gesucht von denen der eine mit dem Reichskanzler und der andere mit dem Kaiser darüber gesprochen haben dürfte; und am 18. November hatte Falkenhayn jene denkwürdige Besprechung mit Bethmann Hollweg, in der er, unmittelbar von Tirpitz gewonnen, mit militärischer Argumentation die Dringlichkeit des Sonderfriedens mit Rußland darlegte. Damit erhielt die Aufgabe, Kontakte in Petrograd herzustellen, eine größere Bedeutung. Sie galt nicht nur Verbindungen, wie sie durch Vermittlung Andersens und des dänischen Königs zu erreichen waren, sondern auch solchen Persönlichkeiten, die einmal zur Ablösung des ententefreundlichen Kabinetts in Petersburg in Betracht kamen.
Da war der russische Botschafter in Konstantinopel, Michael N. von Giers. Er hatte im März 1914 seinem deutschen Kollegen von Wangen-heim zu verstehen gegeben, daß er zu einer „großen und starken Partei" gehöre, die das „Pivot" der Politik in einer Verständigung mit Deutschland sehe Das ist um so bemerkenswerter, als er gerade in Petersburg an der Sonderkonferenz des Ministerrates vom 25. Februar 1914 teilgenommen hatte, in der die „planmäßige Vorbereitung für eine möglicherweise in Kürze erforderliche Besitzergreifung der Meerengen" beschlossen wurde Entsprechend einer von Sasonow ausgearbeiteten und vom Zaren genehmigten Denkschrift war man sich darüber einig geworden, daß dies „kaum ohne einen allgemeinen europäischen Krieg möglich wäre". Obgleich es vor allem die Engländer waren, die sich den Russen in Sorge um ihre Mittelmeerroute nach Indien entgegenstellten und die russische Kriegsflotte im Schwarzen Meer „gefangen hielten", ging das russische. Aktionsprogramm zur „Sicherung einer für uns günstigen Lösung der Meerengenfrage“ davon aus, daß diese nur in einem Krieg gegen Deutschland und Osterreich-Ungarn entschieden werden könnte, und zwar im Kampf an der Westgrenze. Der Chef der Operationsabteilung der Marine formulierte das in dieser Sitzung so, daß dann „offensichtlich die einzige Aufgabe sei, die deutschen und österreichisch-ungarischen Heere zu schlagen, worauf wir in Berlin unseren Willen diktieren und die Meerengen erhalten würden".
Es war nicht lange nach seiner Rückkehr von dieser Ministerratssitzung, daß Giers bei dem deutschen Botschafter in Konstantinopel um eine „vertrauliche Aussprache" nachsuchte die Wangenheim um so ernster nahm, als in der russischen Botschaft Gerüchte umliefen, wonach Giers Chancen habe, Sasonow als Außenminister abzulösen. Was der Russe hier anbot, war nichts geringeres als eine deutsch-russische Verständigung, um den bedrohten Weltfrieden zu retten. Gegenüber den Idealisten in Petersburg, in deren Träumen noch der Marsch auf Konstantinopel eine Rolle spiele, empfahl er eine „praktische Politik": Wenn nun einmal der Besitz Konstantinopels oder auch nur ein Protektorat ohne Krieg nicht zu erlangen sei, dann sollten die Russen durch eine „harmonische Zusammenarbeit" mit Deutschland zur Erhaltung der Türkei das Vertrauen der türkischen Regierung und dadurch größeren Einfluß auf diese gewinnen. So würde Rußland, das nach Giers politisch und militärisch im Mittelmeer nichts zu suchen habe, die „handelspolitische Freiheit der Meerengen" sichern können, und zusammen mit Deutschland könne es dann verhindern, daß die Türkei von einer dritten Macht, d. h. England, zu russenfeindlichen Maßnahmen veranlaßt würde.
Das deutsch-russische Verständigungsprogramm, das Giers dem deutschen Botschafter im März 1914 vortrug, berührte noch einen wesentlichen Gefahrenpunkt, der das russisch-deutsche Verhältnis belastete und nach Giers den Weltfrieden bedrohe. Rußland und Deutschland, so sagte er, müßten beide ihre Bundesgenossen zügeln, um nicht von ihnen in einen Konflikt hineingetrieben zu werden. Wenn den Deutschen die Sorge genommen werde, daß Rußland die französische Revanche-idee unterstütze, dann könne dieses wiederum beanspruchen, daß Deutschland nicht mehr „die österreichischen Intrigen auf dem Balkan" begünstige. Denn dadurch würde Rußland gezwungen, Stellung zu nehmen, obgleich es die Balkanländer am liebsten sich selbst überlassen möchte. Und er erinnerte daran, daß Deutschland einmal der „Kork auf der österreichischen Champagnerflasche gewesen sei" — ein prophetischer Blick auf die österreichische Serbienpolitik und ihre Auswirkungen in der Julikrise.
Was es mit der „großen und starken“ Partei in Rußland auf sich hatte, als deren Sprecher der Botschafter hier eine deutsch-russische Verständigung einzuleiten suchte, wurde dadurch dokumentiert, daß in jenen Tagen des März 1914 in Petersburger Zeitungen Artikel erschienen, die von dem früheren Ministerpräsidenten Graf Witte inspiriert waren und u. a. mit Hinweis auf Äußerungen des deutschen Kaisers zum Kriegsminister Suchomlinow im Dezember 1912 für eine deutsch-russisch-französische Verständigung warben Damit sollte offenbar gezeigt werden, wie der Friede erhalten werden könne, und ein come back dieses Staatsmannes vorbereitet werden, der stets ein Gegner der Entente mit dem britischen Weltreich gewesen war. Der Zusammenhang zwischen dem Vorstoß von Giers und dem von Witte wurde damals auch in Berlin empfunden
Im Oktober 1914 berichtete Wangenheim nun von Bemühungen seines russischen Kollegen, auf jene Vorschläge vom März d. J. zurückzukommen, die dieser offensichtlich auch jetzt noch für realisierbar halte. Eine, nach seiner Ansicht von Giers vorgeschickte Persönlichkeit, die einen „mehr und mehr vertrauenswürdigen Eindruck" mache ein Inspektor der „Asiatischen Bank" in Petersburg habe den deutschen Militärattache ausgesucht, um authentische Auskunft über die militärische Lage zu erhalten. Diese Nachrichten wolle er nach seiner Rückkehr nach Petrograd Witte übermitteln, von dem er Briefe zu seiner Legitimation vorzeigte neben solchen des Berliner Historikers Theodor Schiemann. Witte, erklärte er weiter, sei bereit sich mit Deutschland in antienglischem Sinne zu verständigen, wenn die Großfürstenpartei infolge weiterer militärischer Niederlagen geschwächt sein würde und er dann die maßgebende politische Persönlichkeit in Rußland geworden sei. Die Angelegenheit erschien um so ernster, als bereits am Anfang des Monats Oktober ein russischer Journalist, und zwar mit ausdrücklicher Berufung auf Giers um eine Unterredung bei einem Vertrauensmann der deutschen Botschaft nachgesucht hatte um Gedankengänge vorzutragen, die, wie wir noch hören werden, Witte damals gegenüber seinen Freunden in Petersburg zu äußern pflegte. Es sei das Ziel Englands, mit diesem Kriege Deutschland und Rußland zu schwächen, um dann mit dem Einsatz seiner Flotte den Frieden zu diktieren. Diese Haltung errege bereits Bedenken in eingeweihten russischen Kreisen. Nur müßten sich diese angesichts des populären Wutausbruches gegen Deutschland zurückhalten, der mit einer von englischen Agenten organisierten Pressehetze geschürt würde Beide Mittelsleute deuteten dabei dem Gierschen Gedankengang vom März entsprechend an, daß eine deutsch-russische Verständigung auf Kosten Österreichs möglich sein würde. Der Journalist machte sogar einen konkreten Vorschlag: die Ansicht tonangebender Kreise in Petersburg ginge dahin, daß Ruß-land Deutschland die Annexion deutscher Teile Österreichs durchaus zubilligen könne, wenn ihm dafür Galizien für ein Königreich Polen und wenn an Serbien die Herzegowina und Bosnien abgetreten würden. Wir werden uns auch dieser Worte noch erinnern. Es gehört zum Bilde solcher Fühlungnahmen, daß der Militärattache ein derartiges Ansinnen sofort zurückwies, aber nicht nur eine ehren-wörtliche Versicherung über die russischen Niederlagen abgab, sondern auch eine „unverbindliche und rein persönliche Erklärung" darüber, daß Deutschland einer gegen England gerichteten, Österreich schonenden Verständigung nicht prinzipiell abgeneigt sei. „Friedenstauben" für Witte So hatte es denn für die deutsche Regierung schon Bedeutung, als im Laufe des Dezember 1914 Nachrichten kamen, daß Witte in Petrograd Einfluß gewonnen habe und etwa das Finanzministerium übernehmen würde
Von diesem Staatsmann war tatsächlich eine andere Einstellung gegenüber Deutschland zu erwarten als von dem gegenwärtigen Kabinett, insbesondere dem Außenminister Sasonow. Noch in der Vorstellung, daß es am Zaren liege, wenn aus Kopenhagen kein Echo auf die deutsche Friedensbereitschaft kam, erkundigte sich am ersten Weihnachtstage der Reichskanzler bei Albert Ballin, ob er noch in Verbindung mit Witte stände oder über Kanäle zu ihm verfüge. Bei dessen „bekannten Ansichten" und im Hinblick auf sein „Wiedererscheinen auf der politischen Bühne" halte er es für angezeigt, „beizeiten mit ihm Fäden anzuknüpfen". „Glauben Sie", fragte der Reichskanzler, „in einer die Regierung nicht kompromittierenden Weise ganz von sich aus eine Taube mit einem diskreten Ölzweig an Witte gelangen lassen zu können?" Unter diesen Voraussetzungen würde sich seines Erachtens „vielleicht doch eine günstige Entwicklung anbahnen lassen".
Der Generaldirektor der Hapag hatte einen Mittelsmann zur Verfügung. In den Diensten dieses weltweiten Unternehmens befand sich seit Jahren ein Russe namens Melnik, der Berichte über die Vorgänge in Rußland lieferte. Melnik war Privatsekretär bei Witte gewesen und stand auch als Übersetzer und Herausgeber seiner volkswirtschaftlichen Schriften mit ihm in Verbindung. Diesen Russen, der bei Kriegsausbruch gerade von einer Erkundungsreise nach Rußland zurückgekehrt war, hatte Ballin dem deutschen Gesandten in Kopenhagen für die Bearbeitung der nordischen Presse zur Verfügung gestellt. Ballin erklärte sich bereit zu ermitteln, „ob man seiner Zuverlässigkeit soweit trauen kann, wie es in diesem Falle auch bei einer von mir ganz persönlich ausgehenden Fühlungnahme nötig wäre"
Doch dies war erst einer der Wege, auf denen die deutsche Regierung den Kontakt mit Witte herzustellen suchte. Am 24. Dezember schrieb Jagow vom Großen Hauptquartier in Charleville aus an Robert Mendelssohn dessen Bank 1906, als Witte Finanzminister war, die deutschen Anleihen für Rußland besorgte Der Bankier hatte dem Staatssekretär kürzlich erzählt, daß Witte ihn gebeten hatte, seineVermögenswerte nach der Schweiz zu transferieren. Das wurde nun als Vorwand für einen Brief genommen, dessen Entwurf Jagow billigte Darin teilte Mendelssohn seinem Bankkunden mit, daß zwar die ausländischen Konten gesperrt seien, Witte aber darauf vertrauen könne, daß ihm sein Depot nach Beendigung dieses schrecklichen Krieges wieder voll und ganz zur Verfügung stehe. Eine Wendung in Wittes Brief vom 3. November aufgreifend, daß die Beziehungen der beiden Länder so schnell wie möglich wiederhergestellt werden müßten, erklärte Mendelssohn, daß auch er nichts sehnlicher wünsche. Es würde doch entscheidend dem Wohle der beiden Nationen dienen, wenn diese sinnlosen Kämpfe endeten. Sowohl als allgemeine Resignation wie auch als höchst konkrete Aufforderung konnte der Gedanke aufgefaßt werden, mit dem der Brief, in die Form der Frage gekleidet, schloß: „Glauben Sie nicht, Ihrer Öffentlichkeit einreden zu können, daß der Krieg lange genug gedauert hat? Was mich betrifft, so kann ich nicht sehen, daß Rußland und Deutschland ein Interesse daran haben könnten, diesen Krieg weiterzuführen."
Hatte Mendelssohn auch seine Freude darüber zum Ausdruck gebracht, daß er zur Verwirklichung eines so „herrlichen Gedankens" beitragen könne, so kamen ihm doch Bedenken hinsichtlich des Zeitpunktes für einen solchen Schritt Ob die Mutlosigkeit in Petersburg, so fragte er, denn schon soweit fortgeschritten sei, daß dort der Wunsch nach Frieden vorherrsche? Allerdings, so meinte er höchstbeziehungsvoll, sei Fortuna ja veränderlich, und die Lage könne sich auch — das heißt für die Deutschen — verschlechtern. Doch auch Ballin hatte Vorbehalte. Sie resultierten aus der wachsenden Skepsis, mit der der politisch feinfühlige Hamburger Reeder die Möglichkeiten einer russischen Friedensbereitschaft beurteilte. „Ich muß gestehen", schrieb er am 5. Januar 1915 an den Kanzler „daß je länger und eingehender der Gedanke an solch'Separatfrieden mich beschäftigt, die Befürchtung in mir wächst, daß Rußland eine derartige Loslösung von seinen Bundesgenossen nicht für so vorteilhaft gegenwärtig halten kann, um dafür sein politisches Prestige als zuverlässiger Kontrahent zu opfern." Bevor Rußland nicht „wirklich am Boden läge", könne es sich von einem Gesamtfrieden immer noch bessere Geschäfte versprechen als von einem „an sich schon höchst blamablen Separat-Abkommen".
Ballin war auch nicht unbedingt überzeugt, daß nun gerade Witte als „ein willkommener Verhandler" anzusehen sei. „Witte ist sehr scharf, und — wenn es auch immer angenehm ist, mit einem klugen Mann zu verhandeln, — so wäre mir Witte beinahe zu klug" — Ballin gebraucht für ihn das Wort „gerissen". Man dürfe ihn auf keinen Fall mit Leuten vom Typ Iswolski verwechseln, die „absolut unzuverlässig", „vielleicht allerdings empfänglich für Geschenke" seien, „was bei Witte ganz ausgeschlossen" ist. Eigentlich sollte man jedoch glauben, daß wohl Robert Mendelssohn für die Verbindung mit Witte noch „bessere Persönlichkeiten" an der Hand habe, als es Melnik sei Bethmann Hollweg schien es dann auch ratsam, erst einmal das Echo auf Mendelssohns Brief abzuwarten und „einen zweiten Versuchsballon erst nach einiger Zeit abzulassen." Hoffnung auf Wandlung in Rußland Indessen hatte man in der deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen agiert. Am 15. Januar erschien Melnik mit einem Geleitschreiben Brockdorff-Rantzaus versehen auf dem Land-sitz Albert Ballins, Hamfelde in Holstein, um ihm über seinen Kontakt mit Witte zu berichten und Direktiven einzuholen
Witte hatte am 10. Januar einen mit einem Empfehlungsbrief ausgerüsteten Freund Melniks aus Kopenhagen empfangen und durch ihn telegraphisch seinen Wunsch übermittelt, daß Melnik möglichst bald nach Petrograd kommen solle. Dieser erklärte sich daraufhin bereit, Witte durch einen zuverlässigen Mann zu verständigen, daß er nach Rußland reisen würde, wenn Witte ihm einen Diplomatenpaß für die Hin-und Rückreise verschaffen könne. Zwei Tage nach seinem Besuch bei Ballin erschien Melnik in Berlin, wo er allerdings erst irrtümlicherweise, weil er Russe war, verhaftet wurde und vom Chef des Pressereferates des Auswärtigen Amtes, Hammann, der ihn kannte, aus dem Polizeigefängnis am Alexanderplatz befreit werden mußte
Dieser Russe lieferte dem Auswärtigen Amt auf Grund seines Studiums der russischen Presse auch noch ein Bild von Wittes Tätigkeit in Petersburg Witte habe auf einer Konferenz von Industriellen England angeklagt, sich an dem gegenwärtigen Krieg einzig und allein bereichern zu wollen, mit anderen Worten, es nütze Rußland aus, und er habe eine düstere Prognose für die russische Wirtschaft gestellt, die mit einem durch den Krieg zertrümmerten Währungssystem verkümmern werde. Melnik berichtete auch von den Spannungen zwischen Witte und den Botschaftern der Entente und von ihren Beschwerden über ihn bei der russischen Regierung. Außerdem erfuhr man von ihm von der Silvesterrede Buchanans, der vor „einigen wohl bekannten Germanophilen“ gewarnt hatte, die England beschuldigten, Rußland aus selbstischen Gründen in den Krieg getrieben zu haben. Nach Melnik teile auch der Landwirtschaftsminister Kriwoschein, „ein intimer Freund Wittes", dessen Ansichten Auch habe der Lieblings-sohn der Zarinmutter, der Großfürst Michael, der sich einen Schüler Wittes nenne und seit seiner Kindheit dessen Rat in Anspruch nehme, sich mit dem Zaren ausgesohnt und Einfluß gewonnen. Das alles deutete darauf hin, daß sich um Witte eine antienglische Friedens-partei zu sammeln begann und er bereits dabei war, die öffentliche Meinung in dieser Richtung zu bearbeiten. Das Friedensbedürfnis, erklärte Melnik, sei in Hof-und Adels-kreisen so stark, daß man dort im Falle einer militärischen Niederlage nach einer Gelegenheit suchen würde, diesem unglücklichen Kriege ein Ende zu machen. Dazu würde dann die Partei Wittes gerufen werden, auf den der Zar auch nach der Niederlage im Kriege mit Japan zurückgreifen mußte, um den Frieden von Porthmouth auszuhandeln.
Der Bericht Melniks und Ballins Mitteilung über dessen mündliche Angaben erreichten den Reichskanzler am 18. Januar im Großen Hauptquartier gerade als sich Falkenhayn nun doch für die Ostoffensive entschieden hatte und die umstrittenen Armee-korps hierfür zur Verfügung stellen wollte Damit schuf die OHL die militärischen Voraussetzungen für die Politik des Sonderfriedens, um derentwillen Bethmann Hollweg am 2. Januar die Ablösung des Generalstabs-chefs gefordert hatte. Ein entscheidender Sieg im Osten, den jedenfalls Oberost im Zusammenhang mit der bereits in Vorbereitung befindlichen Karpatenoffensive erwartete, ließ einen politischen Umschwung in Petersburg erhoffen, wie ihn Mendelssohn, Ballin und Melnik für einen Erfolg ihrer Bemühungen erforderlich hielten. An diesem 18. Januar schrieb Bethmann an Ballin, daß in Rußland eine Wandlung bevorstehe, der, wie er hoffe, „durch unsere militärischen Aktionen nachgeholfen werden wird" Zwei Tage später telegrafierte er ihm über die preußische Gesandtschaft in Hamburg: „Nachrichten über sich anbahnende Krisis in Rußland mehren sich. Unsere militärische Stellung im Osten wird durchaus zuversichtlich beurteilt. Ebenso im Westen" und am 26. Januar: „Nach wie vor will mir ein Einzelfrieden mit Ruß-land jetzt als das einzig Mögliche erscheinen."
Die Antwort des Zaren Am 1. Februar traf die Antwort des Zaren auf den Brief des dänischen Königs in Kopenhagen ein. Nikolaus II. bediente sich eingangs äußerlich des gleichen herzlich-persönlichen Stiles wie Christian X. Auch er berührte die gemeinsamen Jugenderinnerungen von Fredensborg, die sein Vetter heraufbeschworen hatte und pflichtete ihm in dem Wunsche nach „Beendigung dieses furchtbaren Krieges" bei. Dann aber hieß es im Stile der Diplomatie: man müsse „aber gerade unter dem Eindruck der Schrecken dieses unheilvollen Krieges darauf bedacht sein, Sorge zu tragen, daß so furchtbares Unglück sich in absehbarer Zeit nicht wiederhole und daß, wenn der Friede zustande komme, dieser auf lange Zeit gesichert sei“. Mit anderen Worten: der Zar hatte sich nicht als friedliebender Privatmann und Monarch ansprechen lassen, wie man wohl in Kopenhagen gehofft hatte, sondern antwortete in der dezidierten Form der Kriegszielabmachungen innerhalb der Entente. Die späte Beantwortung des Briefes vom 6. Januar wurde zwar mit der Abwesenheit des Zaren von Petrograd begründet, aber Scavenius vermutete, als die Antwort auf sich warten ließ, daß Nikolaus seine Ratgeber hinzugezogen hatte Der dänische Außenminister betrachtete jedoch die Antwort des Zaren nicht als „direkte Ablehnung" einer Friedensvermittlung Nikolaus hatte am Schluß seines Schreibens den Vorschlag aufgegriffen, Andersen nach Petersburg zu senden, und den in der Zarenfamilie wohlgelittenen dänischen Reeder für Ende Februar nach Rußland eingeladen. „Bis dahin sei er durch Reisen innerhalb des Landes in Anspruch genommen." Dieser späte Zeitpunkt sollte offenbar zeigen, daß das Friedensbedürfnis in Petrograd „noch kein sehr dringendes" sei. „Vielleicht erwartet man bis dahin eine günstige Wende für Ruß-land durch Eingreifen Italiens und Rumäniens", heißt es in einem Erlaß Jagows vom 2. Februar nach Wien — wobei der Vorwurf nicht zu überhören war, daß die Donaumonarchie immer noch säume, Italien und Rumänien durch territoriale Zugeständnisse von diesem Schritt abzubringen.
Daß diese pessimistische Interpretation des Zarenbriefes mehr als berechtigt war, bestätigte ein einige Tage später von der Kopenhagener Gesandtschaft übermittelter Artikel der Petersburger „Birschewyja Wjedomosti“ vom 28. Januar, in dem sich die Zeitung ausdrücklich auf die Ansichten der russischen Regierung berief und der — was Brockdorff-Rantzau sofort auffiel — an einer Stelle eine gewiß nicht zufällige Ähnlichkeit mit dem Antwortbrief des Zaren an König Christian aufwies Offenbar, um zu ergänzen, was der Zar aus Höflichkeit gegenüber dem Anerbieten seines dänischen Vetters nicht ausgesprochen hatte, wurden Gerüchte über die Möglichkeit eines Separatfriedens mit Deutschland oder Osterreich-Ungarn damit dementiert, daß „der Frieden mit Deutschland nur nach dem endlichen und vollen Siege über den Germanismus" geschlossen werden könne, da nur in diesem Falle in Europa eine wirkliche, dauernde Ruhe herrschen würde. Wenn der russische Zeitungsartikel dann fortfuhr, sich in dem gleichen Tonfall über einen Separatfrieden „entweder mit Deutschland oder mit Osterreich-Ungarn oder endlich nur mit Ungarn allein" zu äußern, so wurde dabei, was die übrige russische Presse unterstrich, zum ersten-mal in einer offiziösen Kundgebung in Ruß-land von einer Teilung der Monarchie, d. h. Zerstückelung, als Kriegsziel gesprochen. Dieser Teil der Pressemeldung kam dem Unter-staatssekretär Zimmermann nur recht; denn zu dieser Zeit bestanden zwischen den Bundesgenossen schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten, so daß man im Auswärtigen Amt in Sorge war, das Wiener Kabinett könne versuchen, sich durch einen Separatfrieden mit Rußland aus der Schlinge zu ziehen. So wurde der russische Bericht in dem — von Zimmermann entworfenem — Erlaß des Staatssekretärs nach Wien mit der Bemerkung durchgegeben, daß „diejenigen Kreise Österreichs, welche noch immer von einer Verständigung mit Rußland träumen, über die Unmöglichkeit derselben aufgeklärt würden"
Die Antwort des Grafen Witte Am 14. Februar konnte Mendelssohn Staatssekretär Jagow Antworten Wittes vorweisen die, wie sein Brief, durch den schwedischen Gesandtschaftskurier befördert waren.
Witte bat sein Guthaben und ebenso das seiner Kinder sofort auf den Namen seiner Frau nach Kopenhagen oder Stockholm zu überweisen. Seine Begründung war aber ein Politikum ersten Ranges. Es war die Mitteilung, daß beschlossen wäre, ihn zum Delegierten einer Friedenskonferenz zu ernennen, wenn der Augenblick dafür gekommen wäre. Um hierfür vor dem Verdacht der Verfolgung persönlicher Interessen geschützt zu sein, müßten jene deutschen Konten gelöscht sein: Zumindest hintergründig, wenn nicht gar erpresserisch klingen die Worte: „Ich könnte diese Erhennung nicht annehmen, solange jeder beliebige meine friedliebenden Ansichten mit der Behauptung kritisiert, ich verfolgte mit meinem Verhalten persönliche Interessen. Ich habe bereits von ähnlichen Verleumdungen gehört." Allerdings war nicht ersichtlich, von wem oder von welcher Instanz beschlossen war, Witte zur Friedenskonferenz zu entsenden. Ungewiß blieb auch, wie ernst dieser Konferenzgedanke zu nehmen war. Wollte etwa der nach Ballins Urteil so „gerissene" Politiker nur die Gelegenheit benutzen, um private Dinge zu erreichen, etwa in Anbetracht seiner schweren Erkrankung sein Guthaben in Deutschland für seine Frau in Sicherheit zu bringen. Aber bei den Akten befindet sich auch — ebenfalls eine Abschrift Mendelssohns — ein undatiertes und nicht unterschriebenes Schriftstück von Witte, das nach einer Notiz von der Hand Jagows ein " erster Brief Wittes" war. Diese Mitteilung enthielt eine Reihe konkreter Angaben. Wäre er an der Macht, so schrieb Witte, so wäre es wahrscheinlich nicht zu dieser „Hölle auf Erden" gekommen. Als Grund dafür, daß er der Möglichkeit zu handeln beraubt sei, nannte er die deutsche Kriegserklärung und die Vorbereitung dieses Krieges durch Deutschlands erbittertste Feinde „jenseits des Meeres", bzw. Kanals, d. h. also der Engländer. Gab Witte damit offenbar zu verstehen, daß er weiterhin seine bekannte antibritische Konzeption verfolgte, so wies er als Weg, um Friedensverhandlungen einzuleiten, wie schon in Salzschlirf, auf die dynastischen Verbindungen, die „Familienbande" hin. Das einzige Mittel, dem Frieden näher zu kommen, sei „eine freimütige Aussprache der beiden Kaiser". Das politisch wichtigste war, daß er von Vorschlägen schrieb, „die Rußland und Frankreich Genugtuung und volle Garantien für die Zukunft geben könnten". „Aber man muß schnell und entschlossen handeln."
Damit gab Witte der deutschen Regierung zweierlei zu verstehen: einmal, daß der Frieden mit Rußland auch den mit Frankreich voraussetze, wie er das mit seiner Idee der Kontinentalliga seit Jahren vertrat; zum anderen aber wurde hier zum Ausdruck gebracht, daß er für Rußland genau das verlangte, was im Auswärtigen Amt in einer stereotypen Formel durch die Akten ging und von Bethmann Hollweg auch als erste Reaktion auf das dänische Vermittlungsangebot als Sprachregelung ausgegeben wurde, der „vollen Entschädigung und Sicherung gegen erneuten Überfall". Schließlich läßt die Mitteilung Wittes erkennen, daß er die Initiative, die man in Berlin dem Zaren zugedacht hatte, vielmehr den Deutschen zuschieben wollte.
Albert Ballin hatte richtig gesehen, als er Bethmann Hollweg darauf aufmerksam machte, daß Witte kein bequemer Unterhändler sein würde.
Im Auswärtigen Amt ging man zuerst daran, einen Weg zu finden, um Wittes Wünsche wegen seines deutschen Kontos zu erfüllen. Einem Vorschlag Jagows in der Besprechung vom 14. Februar entsprechend, erbot sich Mendelssohn das Guthaben zwar nicht etwa auf Wittes oder seiner Frau Namen, sondern das eines dänischen oder schwedidischen Vertrauensmannes nach Stockholm oder Kopenhagen zu transferieren. So würde die Diskretion gewahrt und Witte vor dem Verdacht geschützt werden, daß diese ge-schäftliche Manipulation eine „captatio benevolentia" sei.
Am 25. Februar erhielt in Kopenhagen auch Melnik einen Brief von Witte Melnik hatte — offenbar auf Grund seiner Besprechung im Auswärtigen Amt vom 18. Januar — eine Zeitungsrezension über ein von Witte inspiriertes Buch zum Anlaß genommen, um sie diesem zu übersenden und in seinem Begleitbrief vom 4. Februar an frühere Unterhaltungen mit Witte anknüpfend darauf hingewiesen, daß es für diesen ein besonders großer Schmerz sein müsse, diese Weltkatastrophe erleben zu müssen, deren Herannahen er wie kein Zweiter gefühlt habe. Dann hatte er u. a. erwähnt, daß er vielleicht in einiger Zeit, wenn er seine Angelegenheiten geordnet habe, nach Petrograd kommen werde, während Witte, falls er etwas in Kopenhagen zu besorgen hätte, auf seine Freundschaft rechnen könne. Das konnte „durch die Blume gesprochen" schon etwas bedeuten. Wittes Antwort lautete, daß er einstweilen gar keine Geschäfte in Kopenhagen voraussehe, sich aber freuen würde, wenn Melnik nach Petrograd kommen würde. Sphinxhaft klingen seine Worte: „Gegenwärtig ist es schwer zu sagen, welche Folgen der furchtbare Krieg haben wird. Hoffen wir das Beste". In der Nach-schrift erkundigte er sich nach Ballin. „Wie steht's mit Ihrem Patron?" Verrät der Brief mehr Resignation als etwa positive Erwartungen, so gibt doch die rhetorische Frage des Postskriptums zu denken. Wollte der Schreiber damit andeuten, daß er bereit sei, die Korrespondenz fortzuführen? Das glaubte man im Auswärtigen Amt, der Interpretation Melniks folgend. Oder wollte Witte auch zeigen, daß er die politische Bedeutung eines solchen Briefwechsels erkannt habe; denn zumindest Ballins Beziehungen zum deutschen Kaiser waren allgemein bekannt.
*) Die Ziele und das Europabild Wittes und eine ausführlichere Darstellung der Verbindungen der deutschen Regierung zu ihm behandelt ein Kapitel in dem in absehbarer Zeit erscheinenden Buche des Vers.
X. Erwartungen und Enttäuschungen
Günstige Meldungen aus Petrograd Die Bereitwilligkeit, mit der Witte auf die brieflichen Annäherungen der Mittelsleute der deutschen Regierung eingegangen ar erhielt eine tiefere Bedeutung durch eine Reihe von übereinstimmenden Nachrichten, die im Auswärtigen Amt in den letzten Februar-und ersten Märztagen des Jahres 1915 über Stockholm und Kopenhagen eingingen. Danach stand in Petersburg eine Wendung bevor. Während der Einfluß des Großfürsten abnehme*), sei „Wittes Stern nunmehr wieder im Steigen" Als Gründe wurde u. a. eine „äußerst pessimistische" Stimmung angeführt, wie sie nach Äußerungen des russischen Militärattaches in Stockholm auf einer langen Sitzung des russischen Generalstabes zum Ausdruck gekommen sei. Nachdem der Finanzminister Bark aus Paris und London mit leeren Händen zurückgekehrt war, hieß es, der Zar habe ihn ins Hauptquartier geschickt, um dem Großfürsten die kritische Lage auseinanderzusetzen — nach mehrfachen Meldungen gehörte auch Bark zu Wittes Friedenspartei Das sollte sogar für den mit Witte befreundeten Landwirtschaftsminister Kriwoschein gelten. Dieser sei vorgesehen, den alten Goremykin als Ministerpräsidenten abzulösen
Diese Meldungen, die für ein Anwachsen der Friedenspartei sprachen, wurden in Berlin sehr ernst genommen und Bethmann Hollweg bemühte sich im Auswärtigen Amt, alles zu vermeiden, wodurch Wittes Aktion kompromittiert werden konnte Der Presse wurden „übereifrige Kommentare" über ihn untersagt, — nach den Worten Jagows — „unangebrachte Lobeshymnen", „die seinen zahlreichen Feinden nur Anlaß gäben, ihn als Vaterlandsverräter zu brandmarken" Am 9. März äußerte sich der Staatssekretär gegenüber dem k. u. k. Botschafter, dem Prinzen Hohenlohe, voller Zuversicht über diesen mächtigsten und energischsten Verfechter einer Verständigung mit Deutschland. Er sei „der einzige Mann in Rußland", der allem Anschein nach stark genug sei, „den Kaiser auch gegen den Willen des Großfürstlichen Generalissimus zu zwingen, Frieden zu schließen". Auch die Österreicher glaubten die Entwicklung so zu sehen. Der k. u. k. Gesandte in Stockholm verstieg sich sogar zu dem Vorschlag, die Gräfin Witte und damit ihren Mann zu „kaufen" und dann mit Hilfe von Rasputin und der Zarin von Ferne etwas wie eine höfische Untergrundbewegung anzuzetteln
In diesen Tagen trafen auch günstige Meldungen über den Zaren ein -so etwa, daß er, „obgleich noch gegen S. M.den Kaiser gereizt, voller persönlicher Hochachtung für Allerhöchstdenseiben sei". Das wurde ergänzt durch die Mitteilung, daß Nikolaus zum Frieden neige und sogar „eventuell bereit" sei, an den deutschen Kaiser zu schreiben, er fürchte nur, auf Unnachgiebigkeit zu stoßen wegen des Einflusses der „deutschen Militärpartei", und auf „zu schwere Bedingungen", etwa die Forderung der Abtretung Warschaus. Andererseits würde er geneigt sein, Deutschland „gewisse Grenzkonzessionen zu machen". Illusionslose Lagebeurteilung der Heerführer Der Optimismus, mit dem der Reichskanzler und das Auswärtige Amt auf Grund dieser Meldungen und in der Hoffnung auf Witte auf einen Frieden mit Rußland spekulierten, stand freilich in keinem Verhältnis zu der militärischen Situation im Osten. Die Russen hatten nicht die entscheidende Niederlage erlitten, die der Kanzler am 18. Januar erhofft hatte, um den Zaren zu zwingen, auf die deut-sehenFriedensfühler einzugehen. Die Karpatenoffensive blieb Mitte Februar auf den Gebirgskämmen stehen, ohne daß es auch nur gelungen wäre, Galizien zurückzuerobern und die in der Festung Przemysl eingeschlossene Armee zu entsetzen (sie kapitulierte am 22.
März), und die Schlacht an den Masurischen Seen, die am 22. Februar beendet wurde, war zwar eine Vernichtungsschlacht nach der Art von Tannenberg, aber die Kräfte reichten nicht aus, ihr eine operative Auswirkung zu geben: es kam weder zu einer weiter ausholenden Umfassungsoperation, da der Feind am Njemen mit frischen Kräften auftrat, noch gelang der Versuch, mit der Bezwingung der Bobr-Narew-Festungslinie in Flanke und Rükken der Russen zu kommen. Der Russe ging vielmehr auf der ganzen Front zum Angriff über und drohte von neuem von den Paßhöhen der Karpaten aus mit einem Einbruch in die ungarische Tiefebene mit allen seinen militärischen und politischen Auswirkungen.
Vor allem bewegte der drohende Kriegseintritt Italiens die Gemüter. Ein Gutachten, das Falkenhayn am 1. März auf Verlangen der politischen Führung in knappen Sätzen erstattete kam zu dem Ergebnis, daß es „eine Katastrophe wäre, wenn man nicht alles täte, um neue Feinde am Eintritt in den Kampf gegen uns zu hindern". Warnend wies der Generalstabschef dabei auf die bisher ausgebliebenen strategischen Ergebnisse der Offensive in den Karpaten und in Ostpreußen hin und erklärte sich außerstande, ein Urteil darüber abzugeben, „ob überhaupt und wann sie noch erwartet werden dürfen". Verzögerten sie sich noch längere Zeit, so sei zu befürchten, „daß Deutschland, da es dann nicht in der Lage ist, Truppen von Ost nach West zu verschieben, in ernste Schwierigkeiten an der Westfront kommt". Unmittelbar darauf erhielt der Kanzler bei einem Besuch im Hauptquartier Oberost in Lötzen in Ostpreußen am 4. März in einer sechsstündigen Unterredung mit Hindenburg einen Einblick in die Kriegslage, wie er ihn — so schrieb er am 12. März an Valentini — in Charleville nicht in sechs Monaten erhalten haben Der Feld-marschall, der noch am 28. Januar von dem bevorstehenden „endgültigen Siege im Osten"
gesprochen hatte sah jetzt keine Möglichkeit mehr, Rußland zu besiegen. So formulierte es der Kanzler in seinem Brief an den Chef des Zivilkabinetts „Hindenburg und seine Männer beurteilten die östliche Lage zuversichtlich aber ernst und ohne Illusionen. Sie würden Ostpreußen halten, den Russen noch Teilschlappen beibringen, aber keine große Entscheidung mehr herbeiführen." Eine inhaltlich gleichlautende Information über die Unterredung des Reichskanzlers mit Hindenburg gab Graf Wedel dem bayerischen Gesandten in Berlin, Lerchenfeld, und er fuhr fort „Der Feldmarschall riet unter diesen Umständen, Frieden zu schließen." Dieser „Ausspruch Hindenburgs", so heißt es im Bericht Lerchenfelds an seine Regierung, „hat mit einem Schlag die Lage verdunkelt", und in Charleville notierte Tirpitz — es war am Tage des Falls von Przemysl —, daß Bethmann aus dem HauptquartierOberost mit dem Eindruck zurückgekommen sei, Hindenburg sei am Ende seiner Kräfte
Dem Kanzler war auch aufgefallen, daß in Lötzen nicht ein böses Wort über Falkenhayn zu hören war. Es gehört zu diesem Bild, wenn er mit Genugtuung feststellte, daß Hindenburg und Umgebung „sehr hart" über die „Alldeutschen und Konsorten" geurteilt hätten jenen Tagen wurde in eine In Oberost Denkschrift des Generallandschaftsdirektors Kapp gelesen, des Mitbegründers der Vaterlandspartei von 1917 und des Putschisten von 1920, nach der es bei dem heutigen Eisenbahn-system und den modernen Hilfsmitteln doch viel leichter als für Napoleon sei, nach Moskau zu marschieren. „Der Mann hat vollkommen recht", notierte in Lötzen Oberst Hoffmann sarkastisch „geht nur von einer falschen Voraussetzung aus. Wir haben bis jetzt nicht gesiegt und haben keine Aussicht, alle Feinde vernichtend zu schlagen." Das habe er auch dem Reichskanzler gesagt, den er sehr verständig gefunden hätte, nur komme dieser etwas langsam zu einem Entschluß.
Deutsche Friedensbedingungen im Osten Bethmann Hollweg sah jetzt den Augenblick gekommen, einen konkreten Vorschlag nach Petersburg zu lancieren. Er benutzte dafür den Weg über den dänischen Außenminister, der sich in der Angelegenheit der Mission Andersen so verständnisvoll für die Idee des russisch-deutschen Separatfriedens gezeigt hatte. So ließ er denn Scavenius wissen, „daß unsere Bedingungen nicht schwer sein und [wir] nur kleinere Konzessionen zum Schutz unserer östlichen Grenzen (nicht aber Warschau) . sowie finanzielle und Handelsvertrags-Bedingungen" im Auge haben würden".
„Wir wünschen in dauerndem Frieden mit Rußland zu leben." Die Schlußwendung des Telegramms, das am 6. März um 5. 25 Uhr nachm. nach Kopenhagen abging, deutet darauf hin, daß er sich damit noch in die Besprechungen Andersens in Petersburg einzuschalten suchte
Die Bedeutung dieses Schrittes, eines der wenigen, mit denen die deutsche Regierung im Laufe des Krieges ein konkretes Kriegsziel übermitteln ließ, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie wird dadurch erhöht, daß hier das Ergebnis interner Überlegungen zum Ausdruck kam, bei denen die militärische und die politische Führung sich in Überein-stimmung befanden. In der grundlegenden Besprechung mit dem Reichskanzler am 18. November 1914 hatte Falkenhayn die deutschen Bedingungen für den russischen Sonderfrieden „vom militärischen Standpunkt aus" formuliert: „eine ausreichende Kriegsentschädigung, aber kein Land, vorbehaltlich kleiner Grenzberichtigungen im Verteidigungsinteresse", darüber seien Ermittlungen anzustellen Das hatte Bethmann durch Einholen zahlreicher Gutachten getan, wie etwa von Hindenburg bei einem Besuch im Hauptquartier Oberost am 6. Dezember. Es handelte sich dabei um eine strategisch günstigere Grenze für Ostpreußen, dessen gefährdete Lage sich in den ersten Kriegswochen so drastisch gezeigt hatte. Denn nur durch die kühne Operation von Tannen-berg war vereitelt worden, daß die Russen — von dem Ausfalltor ihres Festungssystems in Nordpolen ausgehend — die gesamte Provinz in die Hände bekommen hätten. Die „Grenzregulierung", von der Bethmann am 3. Dezember auch zu Hertling sprach umfaßte einen Schutzgürtel für Ostpreußen entlang der Flüsse Njemen-Bobr-Narew, wozu Hindenburg in seiner lakonischen Art allerdings geltend machte, es hänge „naturgemäß in ausschlaggebender Weise" von einem deutschen Waffenerfolg ab, wie weit Forderungen nach Landerwerb gestellt werden könnten
Zur strategischen Grenzregulierung zum Schutze Ostpreußens kam in diesen Tagen das Problem des polnischen Kohlengebietes von Sosnovice. Die deutsche Regierung bot dem österreichisch-ungarischen Bundesgenossen die von den deutschen Truppen besetzten Bergwerke an der schlesischen Grenze an, um ihn dazu zu bringen, den Italienern das Trentino zu überlassen und sie damit vom Kriegseintritt abzuhalten 21a).
Um aber den Zaren zu solchen „Grenzkorrekturen" und überhaupt für einen Separatfrieden zu gewinnen, hatte Bethmann Hollweg im Sinne, ihm territoriale Entschädigungen anzubieten. Wenn der Kanzler in diesen Tagen von seiner Hoffnung sprach, mit Rußland „in's Reine zu kommen" und davon, daß Italien daß Trentino bekommen sollte und dafür Osterreich-Ungarn die Bergwerksgegend östlich der schlesischen Grenze, dann sagte er auch, daß die Österreicher Ost-Galizien und die Bukowina verlieren würden. Das sei „eigentlich kein Verlust, sondern ein negativer Wert schon bisher" 21b). War man doch in jenen Wochen in Berlin in Sorgen, daß das Wiener Kabinett versuchen würde, sich durch Preisgabe Ost-Galiziens an die Russen mit einem Sonderfrieden aus der Schlinge zu ziehen, Tendenzen, die unter dem Druck der italienischen Kriegsgefahr akut werden konnten.
Der Gedanke aber, die von eigenen und die von feindlichen Truppen eroberten Gebiete als „Faustpfänder" zu betrachten und für politische Kompensationsgeschäfte auszuspielen, gehörte, wie wir sahen, zur Politik des Reichskanzlers. So stand die deutsche Politik mit dem Telegramm des Reichskanzlers nach Kopenhagen vom 6. März 1915 und den mit ihm zusammenhängenden Plänen mitten in dem traditionellen Beziehungssystem der drei europäischen Ostmächle. In ihm sah die deutsche Außenpolitik einen Ausweg, um über den Verständigungsfrieden mit Rußland aus einer schwer erträglichen militärischen Lage herauszukommen, in die sie durch den Krieg geraten war Und dieser Kurs entsprach auch den Erwartungen und Hoffnungen, zu denen sich der Kanzler auf Grund der Meldungen aus Petrograd berechtigt glaubte.
Das bevölkerungspolitische Dilemma der Grenzsicherung Im Rahmen dieser traditionellen Politik ist es nicht allzu überraschend, daß das Machtverhältnis der drei Ostmächte sich wie stets seit 150 Jahren auf Kosten der polnischen Nation einpendeln und der schwankende Grenzverlauf der drei Reiche durch dieses Land ihr wechselndes Machtgewicht widerspiegeln sollte. Und so bewegten sich die deutschen Überlegungen zur Grenzsicherung im Osten dann leicht in Größenordnungen, die — ohne daß eine solche Absicht vorlag — einer erneuten Teilung Polens sehr nahe kamen und dies in der Hoffnung, darüber mit Ruß-land zur Verständigung zu kommen.
Dabei sollte im Zuge solcher strategischen Sicherheitsmaßnahmen dennoch Preußen nicht noch mehr mit einem Problem belastet werden, an dem es schwer genug zu tragen hatte. Dem preußischen Staat war es keineswegs erwünscht, sich mit weiteren Polen auseinander-zusetzen, schon gar nicht mit einer militärischen Sicherheitszone. Da Preußen nicht bereit war, Posen, Westpreußen, ja sogar Schlesien und damit sich selbst aufzugeben — und anders war „eine Polen befriedigende Auseinandersetzung . . . unmöglich" — entstand jetzt der Gedanke, daß der „an Preußen fallende Landstrich von den Russen evacuiert" werden solle, wie der Kanzler und Preußische Ministerpräsident seinem bayerischen Kollegen in dem schon erwähnten Gespräch am 3. Dezember 1914 sagte
Im engsten Zusammenhang mit dem Friedensangebot vom 6. März 1915 an den Zaren wandte sich Bethmann Hollweg am 2. d. M. an den Vorsitzenden des Ostmarkenvereins Ganse, indem er die bereits im Dezember erbetene Denkschrift über die Besiedlung und Evakuierung der von Rußland abgetretenen Gebiete anmahnte Und zwar fragte er nach den
Eventualitäten der „Verpflanzung der polnischen Grundbesitzer’ dieser Gebiete nach Ruß-land und ihre Ersetzung durch deutsche Kolonisten aus Rußland" Gerade weil hieraus ein Symptom radikalster und menschlich hemmungslosester Annexionsbereitschaft gemacht worden ist das also den Zusammenhang mit einer außenpolitischen Lösung großer Mäßigung unglaubwürdig machen könnte, ist es nötig, das Problem nicht nur unter dem Aspekt der Bemühungen um strategische Grenzsicherungen, sondern auch ausführlicher als es das Thema eigentlich verlangt, unter dem der sich daran anknüpfende Ansiedlungsoder Umsiedlungsgedanken und Pläne zu erörtern. Dabei muß zuerst einmal festgehalten werden, daß der Gedanke einer mit Grenzsicherungen verknüpften Bevölkerungsverschiebung allgemein umging. Diese Töne einer herrischen und menschlich rücksichtslosen Sprache fanden sich nicht nur in dem gewohnten Vokabular der Alldeutschen, sondern auch in den Denkschriften der durch ihre politische Arbeit an der polnischen Frage interessierten Mitglieder des Ostmarkenvereins und der führenden Beamten der östlichen Provinzen Preußens, die, als sich der Gedanke der Annexionen von Grenzgebieten aus strategischen Gründen entwickelte, auf dem Wege der verwaltungstechnischen Vorbereitung ihr Gedankengut der Siedlungspolitik einfließen ließen, das ihnen womöglich wichtiger war als der militärische und außenpolitische Zweck, den Bethmann Hollweg damit verfolgte
Auch ohne diesen zum Teil brutalen Unterton kam „mehr und mehr der Gedanke auf . . .
Rußland soll da oder dort Land abtreten ohne Menschen", weil als Ergebnis des Krieges sich allmählich der Eindruck vertiefte, daß sich Bevölkerungsverschiebungen organisieren ließen. „Früher hätte man das für phantastisch gehalten, und doch ist es nicht unausführbar."
So schrieb selbst Meinecke an Walter Goetz Anfang Mai 1915 und sagte, daß er „schon längst" die Idee gehabt hätte, einen Teil des polnischen Großgrundbesitzes aus Polen und Westpreußen nach Kongreßpolen zu „verpflanzen", und er fragte anläßlich der Kurlandoffensive sogar, ob man nicht „die Letten nach Rußland abschieben" könnte. Auch er dachte an einen Bevölkerungsaustausch zwischen Polen aus annektierten Grenzgebieten und Wolgadeutschen Daß solches technisch nicht mehr unmöglich sei und fern von dem Bild eines Leidenszuges organisiert werden könne, leitete der Oberpräsident von Ostpreußen aus der im großen und ganzen geglückten Massenflucht aus Ostpreußen und der Rückkehr der Flüchtlinge nach sechs Wochen ab So hatte der Krieg die Proportionen des Menschenmöglichen und Erlaubten verschoben.
Zu Millionen hatte Europa seine Massen als Heere in Bewegung gebracht. Hunderttausende starben in den Materialschlachten. Das Trommelfeuer der Offensiven machte keinen Unterschied mehr zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, wenn etwa eine Stadt in die Frontlinie kam. Flüchtlingsströme irrten umher, und über 80 Millionen legte sich eine unerbittliche Hungerblockade. Wie groß war die Gefahr, das als vorübergehend gedachte Leid geordneter und begrenzter Bevölkerungsverschiebungen als klein und im Verhältnis zum Ziel des gesicherten Friedens, dem auch das große Leid untergeordnet war, als nicht sehr relevant zu betrachten. Die Konsequenzen eines Dammbruches bis hin zur verheerenden Flut organisierter und blutiger Massenvernicbtung und Verschleppung oder einer von den Großmächten sanktionierten haßerfüllten Massenvertreibung kennen wir zwar, aber wer konnte das damals ahnen und wer wollte das?
Der Gedanke, für den Osten derartiges zu überlegen, ist von dieser allgemeinen Bereitschaft sicher gespeist worden, aber seine Entstehungsgeschichte weist auf viel begrenztere und konkretere Überlegungen hin. Das Thema bevölkerungspolitische Aktivität im Osten ist durch Überlegungen eröffnet worden, wie die durch den russischen Einbruch verursachte Entvölkerung Ostpreußens rückgängig zu machen sei.
Zu eben diesem Zeitpunkt wurden aus Ruß-land Nachrichten bekannt, daß Gesetze zur Enteignung des Grundbesitzes der Volksdeutschen in Rußland vorbereitet würden und damit insbesondere Hunderttausende von Wolga-deutschen „in großen Mengen" nach dem Kriege „von ihrer Scholle gelockert" würden, so daß mit Abwanderungen großen Stils zu rechnen sei So verknüpfte sich die Neubesiedlung Ostpreußens mit der Rückführung der Wolgadeutschen im Austausch gegen polnische und litauische Bevölkerung. Im Verlauf weiterer Überlegungen kam man dann von der Wiederansiedlung in Ostpreußen, zu der Oberpräsident Batocki auch Deutsche aus Kongreßpolen hinzufügen wollte, zu der Idee, dann schon eher in den srategischen Grenzstreifen die Bevölkerungsverhältnisse zu Gunsten der deutschen Volksgruppe zu verschieben. Beide Pläne sind nebeneinander erwogen worden. Obwohl die Aussiedlungspläne sich schon auf den Grenzstreifen bezogen, blieb die Ansiedlung der „Deutsch-Russen" in Ostpreußen bis 1918 im Gespräch Diese Facherörterungen blieben so lange trotz aller Nebenmotive der Ostmarkenpolitiker ohne eigenes politisches Gewicht, wie die Sicherung einer strategisch besseren Grenze im Rahmen einer deutsch-russischen Verständigung stand. Die Politik der Verständigung setzte ohnehin zumindest in diesen bevölkerungspolitischen Details das Einverständnis der Russen voraus, und das in einer Frage, die sehr schnell zu einem Prestigepunkt gerade für eine russische Regierung werden konnte. Die völkerrechtlichen Voraussetzungen solcher Regelungen kannte die deutsche Regierung sehr gut Sie wurden sogar bewußt in den Vordergrund gespielt. Die ganze vom Kanzler oder vom Staatssekretär des Innern aufgeworfene Frage der bevölkerungs-politischen Konsequenzen hatte nämlich auch die Funktion auf zu große Annexionswünsche im Osten erschwerend und mässigend einzuwirken. Dabei bediente sich der Kanzler vornehmlich rechtsstaatlicher und auch völkerrechtlicher Argumente, in denen zum Ausdruck kam, daß, so wünschenswert Annexionen und auch Aus-siedlungen seien, man „in der Ausführung aber wohl großen Schwierigkeiten begegnen" würde Mit diesem Wink übergab zum Beispiel der Kanzler in seinem Begleitschreiben zur Denkschrift vom 9. September 1914 den auf Frankreich bezogenen kaiserlichen Aussiedlungsgedanken dem Gestrüpp der Verwaltung. Mit dem entscheidenden juristischen Fachbegriff der „Expropriierung" lieferte Bethmann Hollweg dann allgemein dem der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem rechtsstaatlichen Prinzip verpflichteten Innenminister Delbrück das juristische Stichwort, das dieser dann auch gegenüber den Annexionsforderungen anwandte, die ihm die Vertreter der Industrie am 8. Dezember 1914 für den Osten vortrugen.
Damit band sich die kaiserliche Verwaltung an die Enteignungsvorschriften des preußischen Landrechtes, das einen Schutz des Grundeigentums beinhaltete, der abgesehen von der Ausweitung der schutzwürdigen Objekte auch heute in Deutschland verfassungsrechtliche Norm ist und nach dem Enteignungsbeschlüsse nur als Gesetze und damit durch parlamentarische Entscheidungen durchgesetzt werden können. Ob selbst ein preußisches Abgeordnetenhaus in öffentlicher Debatte eine größere und sei es nur einige hundert Familien betreffende Aussiedlung hätte riskieren können, ohne damit einen an Revolutionsnähe reichenden innenpolitischen Sturm in Deutschland zu entfachen, etwa noch unter der Alternative Separatfrieden mit Rußland oder Enteignung von Polen, halte ich für völlig ausgeschlossen. Das alles waren Schwierigkeiten, die selbst die leidenschaftlichen Siedlungspolitiker, Wie der Posener Oberpräsident von Schwerin oder der Oberregierungsrat Conze, kannten. Einmal kamen sie deshalb zu dem Gedanken der „teilweisen", nur die selbständige Landbevölkerung betreffenden Enteignung — zum andern wichen sie in unauffällige und unter dem Schutz der Okkupation eher mögliche de facto-Maßnahmen aus, aber auch dies nur im Sinne einer „Förderung" durch kleinliche Schikanen als die hierfür möglichen Mittel der Verwaltungspraxis
Delbrück selbst operierte etwa gegenüber dem Überbringer der großen Kriegszieldenkschrift vom 8. Dezember 1914 mit bevölkerungs-und besiedlungspolitischen Argumenten. Je größer die Annexionen desto schlimmer die innerpolitischen Belastungen. Deutschland solle sich kein „zweites Elsaß oder Polen" zulegen.
„Eine großzügige Expropriierung ...sei aber auch keine leichte Aufgabe, da wir keinen Uberschuß an Menschenmaterial haben." Gegen dieses Argument, daß nämlich Deutschland schon lange unterbevölkert und Einwanderungsland sei, hatte Roetger nichts anderes vorzuschlagen, als daß man dann wohl auf den Neubauerstellen Invaliden einsetzen könne, worauf Delbrück nur fragte, wieso denn Invaliden einen Hof bewirtschaften, geschweige denn neu aufbauen könnten
Insoweit muß der stete Hinweis von seifen der Reichsleitung auf die bevölkerungspolitischen Konsequenzen der für den Fall der Annexion als notwendig angesehenen Aussiedlung vor allem als bewußte Behinderung allzuweitgehender Annexionsforderungen verstanden werden und als Versuch, die Proportionen der Erwerbungen im Osten nicht ins Expansive gleiten zu lassen. Denn wesentlich ist, daß die Annexion dieses Grenzschutzstreifens für den Kanzler und für die führenden Militärs zur Idee einer Friedenspolitik gehörte, die mit einer, wie man meinte, für den Zaren ertragbaren Abtretung den Ausgleich mit dem großen Nachbarn im Osten suchte. Darauf deutet auch hin, daß dieser Grenzschutzstreifen für Ostpreußen gerade in Denkschriften auftaucht, die sich für die Verständigung mit Rußland und so auch gegen eine Abtrennung von Russisch-Polen erklären. Die polnische Frage, so argumentierte der preußische Innenminister von Loebell sei am besten durch die polnischen Teilungen gelöst und die Erhaltung des polnischen Besitzes für die Russen vom Zaren bis zum Bauern ein Ehrenpunkt; sein Verlust würde Revanchegedanken hervorbringen, die denen der Franzosen nicht nachständen. Der zum Schutze Ostpreußens begehrte polnische Landstreifen aber sei für die Russen von wirtschaftlich geringem Wert und würde um so leichter und schmerzloser entbehrt werden, wenn ihnen der polnische Besitz sonst ungeschmälert bliebe. Es gab sogar Vorkämpfer der Idee einer deutsch-russischen Verständigung, wie den konservativen Historiker Otto Hoetzsch, der den Sonderfrieden unter „mäßiger und von Rußland tragbarer Veränderung des Status quo ante bellum" erstrebte darunter aber eine Grenzlinie verstand, die mit einer südlichen Verlängerung der Bobr-Narewlinie entlang der Warthe bis zur österreichischen Grenze bei Czentschochau auch dem Schutze des schlesischen Industriegebietes dienen sollte.
So bewegte sich denn die Polenpolitik des Kanzlers zu dieser Zeit auf der historisch konservativ-dynastischen Linie, die auf dem Rücken der Polen der Verständigung der Teilungsmächte diente. Deutschland, so sagte Bethmann Hollweg zum österreichisch-ungarischen Botschafter, Prinz Hohenlohe, am Tage nach der Rückkehr vom Posener Hauptquartier, dem 7. Dezember, wünsche weder einen unabhängigen polnischen Staat noch beanspruche er selbst großen territorialen Zuwachs In Fortsetzung der traditionellen preußischen Rußlandpolitik und unter dem Gesichtspunkt zukünftiger Freundschaft mit dem östlichen Nachbarreich ist diese Sicherheitspolitik Bethmann Hollwegs zu verstehen, die, solange noch die Hoffnung auf einen separaten Friedensvertrag bestand, nicht an einer Neuordnung Osteuropas interessiert war. Erst als sich Rußland einer Verständigung entzog, sollte sich der Reichskanzler zu Maßnahmen bekennen, die geeignet waren, einen „Damm gegen die slawische Gefahr" zu errichten.
Schwarze Tage für die deutsche Diplomatie »Hat Andersen schon aus Petersburg berichtet?" fragte der deutsche Reichskanzler in Kopenhagen in seinem Telegramm vom 6. März an Vier Tage darauf erfuhr er das Ergebnis der Mission des dänischen Vermittlers, der nach fast vierzehntägiger Abwesenheit wieder in der dänischen Hauptstadt eingetroffen war Aber er brachte alles andere als Friedenszeichen. „Je länger ich reise, desto weiter entferne ich mich vom Friedensgedanken", so faßte Andersen das Ergebnis seiner Bemühungen zusammen, überall habe er eine „unbedingte Einmütigkeit" in der Ablehnung seiner Vorschläge, „sogar in den Finanzkreisen“ gefunden. Dabei bezog sich dieses Urteil noch gar nicht einmal auf die Idee des russischen Sonderfriedens, sondern auf die eines Friedens überhaupt. In London habe er verhältnismäßig günstige Dispositionen, in Berlin Reserve, in Petersburg aber direkte Ablehnung gefunden! Nach seiner Ansicht seien die Russen für den Friedensgedanken „noch nicht reif". In dem Zaren traf er nicht den Willensschwächen, friedliebenden Monarchen, der nur genug in seinen guten Absichten unterstützt zu werden brauchte, um dann sofort in einen Verständigungsfrieden einzuwilligen, wie man sich das am Berliner, vor allem auch am dänischen Hofe vorstellte. Er macht auf Andersen im Gegenteil einen „überraschend sicheren und zuversichtlichen Eindruck". Zu den dänischen Vermittlungsvorschlägen sagte Nikolaus, daß er das furchtbare Blutvergießen zwar beklage, aber „bis zum Frieden sei es ja noch weit". Nicht viel anderes hörte Andersen von Sasonow, der ihm sogar kategorisch erklärte, Ruß-land werde „niemals einen Sonderfrieden mit Deutschland schließen", und dabei nicht unterließ, auf die Bemühungen anzuspielen, die von „unberufener Seite" dafür gemacht würden
Mit bissiger Verachtung distanzierte er sich von Witte, der alt werde und durchaus eine Rolle spielen wolle. Der dänische Außenminister, der sich zunächst am 10. März mit dem deutschen Gesandten über Andersens Rußlandreise aussprach meinte zwar, daß dieser wenigstens vorbereitende Dienste geleistet habe, und wies darauf hin, daß der Zar ihn eingeladen habe, nach sechs Wochen wiederzukommen. Brockdorff-Rantzau aber vermutete noch ganz andere Ursachen der niederschmetternden Meldungen über die russische Kriegswilligkeit in Andersens Bericht: nämlich dessen Rücksichtnahme auf das Ziel der deutsch-englischen Verständigung *) Die Reise Andersens nach London Ende Januar 1915 sowie die Frage eines deutsch-englischen Friedens behandelt ein Kapitel in dem in absehbarer Zeit erscheinenden Buche des Vers. Er versuchte daher, Andersen, der ihm am folgenden Tage aufsuchte, auf den Zahn zu fühlen. Was dieser selbst in Dunkel zu hüllen versuchte, was der Gesandte aber über Scavenius erfuhr, zeigte jedenfalls deutlich, daß die Engländer das ihre getan hatten, um einen Separatfrieden zu durchkreuzen Buchanan, nach Brockdorff-Rantzaus Mutmaßung von London angewiesen, Andersen „in nächster Nähe zu überwachen" hatte ihn gleich mit den Worten empfangen, er komme wohl, um für einen Separatfrieden mit Deutschland zu arbeiten.
Worauf ihm dieser scharf erwiderte, „er komme im Auftrage des Königs von Dänemark, höchstweicher ihn persönlich bei dem Zaren angemeldet habe"
Doch dies war nur eine der Hiobsbotschaften, die Bethmann Hollweg erhielt. Wenige Tage nachdem er die Zeit in Petersburg für so reif gehalten hatte, daß er dorthin deutsche Friedensbedingungen lancieren ließ, mußte er nach Eingang der Telegramme aus Kopenhagen am 11. März feststellen, daß in Rußland „momentan von Kriegsmüdigkeit keine Spur"
sei. Zur gleichen Zeit erkannte er, daß „in Frankreich die absolute Siegeszuversicht in beständigem Wachsen" sei. Dazu kam die wachsende Sorge um den drohenden Kriegseintritt Italiens und Rumäniens
Der stärkste Schlag folgte wenige Tage darauf. Am 13. März starb Witte. In Petersburg tauchte sehr bald das Gerücht auf, er hätte kein natürliches Ende gefunden. Die einen behaupteten, er sei von politischen Gegnern vergiftet worden andere glaubten zu wissen, er habe Selbstmord verübt, als er hörte, daß man den Beweis seiner mit Deutschland geführten Unterhandlungen in die Hände bekommen hätte Äußerungen seines Arztes in Salzschlirf vom Juli 1914 lassen aber erkennen, daß Witte schon damals ein vom Tode gezeichneter Mann gewesen war Als Todesursache wurde Gehirntumor angeführt Das Echo, das der Tod Wittes in Kreisen der Diplomatie fand, bestätigt, daß er als ein Machtfaktor empfunden worden war. Paleologue telegraphierte an Delcasse: „Mit ihm ist ein mächtiger Intrigenherd erloschen." Unverhohlen gab der Zar seiner Freude über das plötzliche Ende seines früheren Ministerpräsidenten Ausdruck. Vor dem französischen Botschafter betonte er feierlich in einer Gesellschaft, daß er in diesem Ereignis ein Zeichen Gottes erblicke An diesem Tage ging der Zar „mit besonderer Seelenruhe" auf Reisen, so daß er sich selber wunderte: „Ob das", so meditierte er „daher kommt, daß ich gestern Abend mit unserm Freund [Rasputin] geplaudert habe, oder wegen der Zeitung, die mir Buchanan gegeben hat, oder infolge des Todes von Witte, vielleicht auch infolge der Ahnung, daß im Kriege etwas Schönes passieren wird — ich weiß es nicht, aber in meinem Herzen herrscht wahrer Osterfrieden.“
Es drängt sich die Frage auf, ob Witte, wenn er länger gelebt hätte, eine Chance gehabt hätte, Einfluß auf die russische Politik zu gewinnen, wie es Bethmann Hollweg und Jagow erhofften, und etwa, wie er mit seinem Brief an Mendelssohn der deutschen Regierung ankündigte, wieder zur russischen Friedensdelegation zu gehören Dafür spricht, daß sich in den folgenden Monaten Rasputins Stellung noch verstärkt hatte, besonders nachdem er im September 1915 mit Hilfe der Zarin den Machtkampf gegen den Großfürsten gewann, der als „Höchstkommandierender" abgesetzt wurde. Die Verbindung Rasputins mit Witte beruhte auf der gemeinsamen Überzeugung, daß dem Krieg ein Ende gemacht werden müsse, bevor er zur Revolution führen würde. Wie man der Mehrzahl der Verhöre vor der Untersuchungskommission der Provisorischen Regierung entnehmen kann, war Rasputin weder ein deutscher Spion noch ein Verräter Doch was der eine seiner Mörder, unmittelbar, nachdem er seine Schüsse abgefeuert hatte, dem wachhabenden Polizisten als Tatmotiv angegeben haben soll, offenbart einen Teil der Wahrheit: daß er ein Freund der Deutschen gewesen sei und den Frieden gewollt habe, und daß der Krieg nun weitergeführt werden könne „Ein Freund der Deutschen“ war Rasputin ebensowenig wie Witte, der trotz oder gerade wegen seiner deutschen Abstammung väterlicherseits nicht einmal die deutsche Sprache erlernt hatte. Aber beide spürten das kommende Unheil und suchten, um Rußland vor der Revolution zu bewahren, den Frieden mit Deutschland, den auch dieses als Ausweg aus seiner bedrängten Lage erstrebte.
Eine andere Frage ist, ob die politischen Ziele und die Konzeption des Grafen Witte sich mit den deutschen Bestrebungen um den russischen Sonderfrieden vereinen ließen. Verlangte Witte doch nicht nur, wie er in Berlin hatte wissen lassen, für sein Land „Sicherungen und Garantien", was ja auch die Deutschen mit den gleichen Worten zur Abwehr der „russischen Gefahr" für nötig hielten. Sondern die Sondierungen der Mittelmänner, die Giers im Oktober in Konstantinopel vorgeschickt hatte, und schließlich die Konzeption der Witteschen Friedensordnung vom Januar 1915 lassen erkennen, daß Deutschland auch seine Bundesgenossen preisgeben sollte. Witte glaubte wohl, Deutschland ein solches Opfer zumuten zu können, da seiner Ansicht nach ja der Krieg kein „entscheidendes Endergebnis", sondern nur eine gegenseitige „völlige Erschöpfung" bringen würde, und gerade dies könnte Deutschland ermöglichen, sich neu zu orientieren und für den zukünftigen Bund mit Frankreich und Rußland den Preis des Verlustes seiner gegenwärtigen Bundesgenossen zu zahlen.
XI. Die „Politik der Diagonale"
Die Frage von Krieg und Frieden war auch ein innerpolitisches Problem. Für den 10. März war der Reichstag einberufen worden, um weitere Kriegskredite zu bewilligen. Sie waren jetzt in den Gesamtetat einbezogen. Damit wurde die Sozialdemokratie vor eine neue Grundsatzfrage gestellt, hatte sie doch im Reichstag noch niemals das Budget bewilligt. Dennoch bestand kein Zweifel, daß der Etat — mit zehn Milliarden der größte der Reichsgeschichte — die Zustimmung der Parteien finden würde. Doch war nicht zu erwarten, daß die Sitzungen wieder zu einer Demonstration der nationalen Einheit werden würden, wie es die vom 4. August und vom 2. Dezember gewesen waren. Vielmehr waren infolge der Gegensätze in der Kriegszielfrage scharf divergierende Erklärungen zu befürchten mit umfangreichen Kriegszielforderungen aut der einen und dem Verlangen nach einem schnellen, annexionslosen Frieden auf der anderen Seite.
Ein so umstrittener Reichskanzler wie Bethmann Hollweg konnte es sich aber weder leisten, daß die Idee des Burgfriedens sozusagen offiziell von der Rednertribüne des Reichstages für bankrott erklärt würde, noch ließ sich der Eindruck einer in sich geschlossenen Nation für die Außenpolitik entbehren; denn das war der Grundton öffentlicher Kundgebungen in Deutschland geblieben, daß die einmütige Gesinnung des deutschen Volkes eine moralische Kraft sei, um die materielle und zahlenmäßige Überlegenheit der Feinde auszugleichen. Die Staatsführung brauchte diesen psychologischen Machtfaktor um so mehr in einem Augenblick, in dem sie sich anschickte, Friedensfühler auszustrecken.
Gefahr einer annexionistischen Kundgebung ...
Mit den Bemühungen der deutschen Regierung um einen russischen Sonderfrieden und mit der schlechten Kriegslage im Osten hätte es sich kaum vertragen, wenn im deutschen Reichstag Kriegszielforderungen mit Gebiets-ansprüchen erhoben worden wären, wie sie in Kreisen der Wirtschaft von einer „Kriegszielbewegung" genannt wurden. In engem Zusammenwirken mit den alldeutschen Führern Class und Hugenberg — letzterer war damals Generaldirektor der Kruppwerke —, hatte der nationalliberale Abgeordnete Hirsch (Essen) Syndikus der Handelskammern für die Kreise Essen, Mühlheim/Ruhr und Ober-hausen, auch Vorstandsmitglied des „Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie", fünf führende Wirtschaftsverbände, die sich bisher bitter bekämpft hatten, auf ein Kriegs-zielprogramm geeinigt: den Bund der Landwirte, den deutschen Bauernbund, den Zentralverband deutscher Industrieller, den Bund der Industriellen und den Reichsdeutschen Mittelstandsverband. Eine von diesen unterschriebene Eingabe an den Reichskanzler wurde Bethmann Hollweg für die Reichstags-eröffnung vom März übermittelt und gleichzeitig veröffentlichte die bürgerliche Presse die Forderung nach Freigabe der Kriegszieldebatte
Diese Denkschrift der Wirtschaftsverbände war nach den Worten ihres Organisators, Hirsch (Essen), „das größte Mißtrauensvotum, welches einer Regierung je erteilt" sei und hatte den ausgesprochenen Zweck, einen Reichskanzler unter Druck zu setzen, der die Nation um die Früchte ihres Sieges zu bringen drohe, der „das Erkämpfte wieder preisgibt und einen vorzeitigen Frieden macht, der ja auch einen Ersatz der Kosten ausschließt" „Denn", so motiviert Hirsch (Essen) die Aktion, „heute glaubt kein Mensch mehr daran, daß die Regierung überhaupt daran denkt, der Volksstimmung und den Volkswünschen Rechnung zu tragen." Begründet mit dem Vernichtungswillen der Feinde und mit Berufung auf die Formel von einem Frieden, „der den aufgebrachten Opfern entspricht und die Gewähr einer Dauer in sich trägt", wurde in der Eingabe der für sicher gehaltene Sieg für eine „starke wirtschaftliche und militärische Schwächung unserer Gegner" in Anspruch genommen. Damit sei der Frieden eher gesichert als durch den Schutz von Verträgen, „die man im passenden Fall doch wieder mit Füßen tritt". Im Westen forderten die Interessenverbände „zur Sicherung der Seegeltung und militärischen und wirtschaftlichen Zukunftsstellung gegenüber England" die Herrschaft über Belgien und den Besitz des angrenzenden französischen Küstengebietes „bis etwa zur Somme und damit den Ausweg zum Atlantischen Ozean", dazu das Hinterland unter militärstrategischen Erwägungen mit der Maaslinie und den Erz-und Kohlengruben in Briey und Longwy.
Dieser „im Westen zu erwartende große industrielle Machtzuwachs" müsse „ein Gegengewicht finden durch ein gleichwertiges im Osten zu erwerbendes Landwirtschaftsgebiet" Class und Hugenberg hatten sogar eine Grenze von der Südostecke Schlesiens über Grodno/Wilna bis zum Peipussee und bis zur Narwamündung vorgeschlagen, aber das erschien den konservativen Parteiführern Heydebrand und Westarp als „Utopien und reine Kanngießereien" Die etwas umständliche Formulierung des Kriegszieles im Osten lautete demnach: „eine erhebliche Erweiterung durch Angliederung mindestens von Teilen der Ostseeprovinzen und der südlich davon liegenden Gebiete unter der Berücksichtigung des Zieles, unsere östliche deutsche Grenze militärisch verteidigungsfähig zu gestalten."
Von dieser Seite war also in einer Kriegszieldebatte einiges zu erwarten. Und zwar im gleichen Augenblick, da Bethmann Hollweg die Vermittlung Scavenius’ und Andersens in Anspruch nahm, um in Petersburg " wissen zu lassen, daß die Sorge des Zaren vor zu hohen Forderungen unbegründet sei Sowohl für Wittes Friedenskampagne wie für die über Andersen angeknüpften höfischen Beziehungen in Zarskoje Selo war es von wesentlicher Bedeutung, daß die Russen nicht durch annexionistische Reden im deutschen Reichstage abgeschreckt wurden. ... und einer sozialdemokratischen Friedenskundgebung Bethmann Hollweg wollte aber auch verhindern, daß die Reichstagssitzung zu einer Friedenskundgebung führte. Die Russen dürften vor allem nicht den Eindruck bekommen, als ob das deutsche Volk des Krieges müde geworden sei. „In deutschen Eroberungsgelüsten so gut wie in deutschen Entsagungsbeteuerungen entstanden den Gegnern wertvolle Bundesgenossen", konstatierte Bethmann in seinen Erinnerungen Zeigte sich dagegen, daß Volk, Armee und Regierung entschlossen waren, auch einen langen Krieg durchzuhalten, so mochte der Feind eher geneigt sein, ihn unter Verzicht auf weiterreichende Kriegs-ziele zu beenden. Zudem verlangte im Augenblick das Ringen um Italien und die neutralen Balkanstaaten ein Gesicht von Stärke und Machtbewußtsein, von Siegeswillen und Siegeszuversicht.
Eine Friedenskundgebung war von der SPD zu erwarten. Selbst der größte Teil der deutschen Arbeiter, an der Front und in der Heimat, war von Siegeswillen erfüllt. — „Unerschütterlichen Willen zum Durchhalten, bis zum Siege" gab Scheidemann seinen Partei-genossen als Neujahrsparole für 1915 10a). — Bethmann Hollweg konnte deshalb den All-deutschen entgegnen, daß der „Krieg und seine Erfahrungen" den nationalen Machtwillen zum Gemeingut des Volkes gemacht hätten und es sich daher erübrige, eine Völkerverbrüderungsideologie zu bekämpfen Die sozialdemokratischen Abgeordneten hatten die Kriegskredite am 4. August nicht nur bewilligt, weil sie von der Atmosphäre patriotischer Begeisterung mitgetragen wurden und sonst nach einem Worte Noskes „vor dem Brandenbuger Tor zu Tode getrampelt" worden wären. Hier wurde eine Auseinandersetzung zwischen dem klassenkämpferisch-internationalen Element in der Partei und dem reformistischnationalen entschieden, die die deutsche Arbeiterbewegung seit dem Tode Lassalles beherrscht hatte. Es war mehr als ein Symbol, daß die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordnete am 4. August beim Kaiser-Hoch nicht mehr wie früher den Saal verließen, sondern sich erhoben, als es in der verabredeten Form auf „Kaiser, Volk und Vaterland" ausgebracht wurde — man beobachtete sogar, daß ein Teil leise mitgerufen hättella). Die Arbeiterschaft fühlte sich nunmehr zugehörig zum Staat und war ihm — nicht zuletzt über Armee und Marine — mit „Sieg oder Niederlage" verbunden. Die Parteiführung war auch bereit, mit den Gewalten zusammenzuarbeiten, die sie bisher bekämpft hatte; man wollte, erklärte der Abgeordnete Cohen (Reuss) am 2. Oktober 1914 dem Unterstaatssekretär der Reichskanzlei, Wahnschaffe, „mit der Monarchie und dem Heere Frieden machen" Aber die Sozialdemokraten waren doch niemals von der Forderung abgegangen, die sie bei der Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 erhoben hatten, daß der Krieg kein Eroberungskrieg werden dürfe. Diese Erklärung, die der konservative Parteiführer Graf Westarp noch nach dem Krieg vorwurfsvoll ein „Dogma" nannte verlangte, daß dem Kriege ein Ende gemacht würde, sobald das Ziel der Sicherheit erreicht und die Gegner zum Frieden geneigt seien Noch wenige Stunden bevor dieser Text von Haase verlesen wurde, hatte die Fraktion sogar beabsichtigt, der Regierung darin die Wiederaufnahme des Kampfes anzukündigen, wenn sich aus dem Verteidigungskrieg ein Eroberungskrieg entwickelte. Eine hierfür von Kautsky entworfene Formulierung wurde erst unter der Einwirkung Bethmanns und Wahnschaffes fallen gelassen, weil die Konservativen wegen ihres „pazifistischen Inhaltes" mit einer Gegenerklärung gedroht hatten Der Kanzler hatte den Sozialdemokraten dargelegt, daß dieser Satz in England, das damals noch nicht in den Krieg eingetreten war, so aufgefaßt werden könnte, als ob die Regierung von einer Partei der Eroberungsabsichten verdächtigt würde Karl Kautsky, Sozialisten und Krieg (Prag 1937), S. 460. Vgl. auch Scheidemann, Memoiren (1928) Bd. I, S. 300. Nach Kautsky lautete der Satz: „Sollte die Regierung gestatten, daß der Krieg von deutscher Seite den Charakter eines Eroberungskrieges annimmt, dann werden wir uns gegen sie auf das energischste wenden." Kautsky, a. a. O. Vgl. auch Walter Bartels, Die Linken in der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen Militarismus und Krieg (1958), S. 176 ff. über die Haltung der deutschen Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg gab es auf dem internationalen Historiker-Kongreß 1960 in Stockholm eine Diskussion im Anschluß an Vorträge von Henri Haag und Charles Bloch. Sitzungsberichte vom 24. August: Discussion sur le rapport de H. Haag, La social-democratie allemande et la premiere guerre mondiale XIe Congres int. hist. Actes du Congres, S. 213 ff. und Discussion sur la communication de Ch. Bloch, Les divers courants au sein de la social-democratie allemande (1914- 1918) et leurs buts de guerre, ebenda, S 223 ff. .
Mit den nunmehr entwickelten außenpolitischen Zielen der bürgerlichen Parteien und der Annexionspropaganda der Wirtschaftsverbände war die am 4. August preisgegebene oder abgeschwächte Warnung der Sozialdemokraten erneut aktuell geworden. Diese Kriegs-ziele lieferten zum mindesten Agitationsstoff für eine sozialistische Auffassung des Krieges als kapitalistisch-imperialistischer Auseinandersetzung und als Ausdruck des Klassenkampfes. Gehörte es doch tatsächlich zur Argumentation eines Hugenberg in einer Sitzung des Kriegsausschusses der Industrie vom 7. November 1914, die Annexionen mit der Notwendigkeit zu begründen, — gleichsam um ein Ventil zu schaffen und damit inneren Schwierigkeiten vorzubeugen —, „die Aufmerksamkeit des Volkes abzulenken und der Phantasie Spielraum zu geben“. Damit wollte Hugenberg jener innenpolitischen Gefahr begegnen, die sich seines Erachtens aus dem gehobenen Machtgefühl der Arbeiter und Gewerkschaften nach dem Kriege durch gesteigerte Ansprüche an die Gesetzgebung und an die Arbeitgeber ergeben würde — hier dachte er auch etwa an mangelnde „Fabrikdisziplin" Dies hieß doch, daß die Annexion von Kohlengruben und Erzlagern und die Erweiterung des Nahrungsraumes durch landwirtschaftliche Gebiete helfen sollte, die soziale Revolution zu verhindern und das bestehende Gesellschaftssystem zu erhalten.
Wenn man in Rechtskreisen erwartete, daß die Sozialdemokraten nach dem Kriege wieder zu ihren marxistischen Prinzipien der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes zurückkehren würden, so schienen die Expansionsziele geradezu den marxistischen Begriff „Imperialismus" zu rechtfertigen. Die Kriegszielfrage wurde somit zu einem zentralen innenpolitischen und geradezu sozialen Problem, zumal die Regierung die Angelegenheit der inneren Reformen mit einer hinhaltenden Taktik behandelte, und sich so ein Sprengstoff ansammelte, der die Kluft zwischen Bürgertum und Arbeitern, aber auch den Gegensatz zwischen Revisionisten und Linksradikalen in der Sozialdemokratie zu vertiefen drohte. Damit war jene Basis der nationalen Einheit gefährdet, die Bethmann Hollweg als Grundlage seiner Kriegspolitik betrachtete. „Das heftige Treiben auf der rechten Seite", schrieb Wahnschaffe an Valentini „nährt das Mißtrauen, die Regierung könne doch den Krieg aus Eroberungssucht länger als zum Schutz des Vaterlandes not tue, weiterführen, der Reichskanzler, zu dem man das Vertrauen hat, daß er keine phantastischen Pläne hat und sich von seiner Pflicht leiten läßt, werde gestürzt werden usw.“; er habe oft gewarnt, daß man durch die Annexionspropaganda dem radikalen Flügel der Sozialdemokraten Vorschub leiste.
In den Vorbesprechungen des Parteivorstandes und der Fraktion über die Haltung der Partei in der dritten Kriegssitzung drängte die Gruppe um den Parteivorsitzenden Haase darauf, daß die Sozialdemokratie von der Reichstagstribüne und im Lande ein Bekenntnis zum annexionslosen Frieden ablegen sollte. Nicht um „den Klassenkampf während des Krieges und Klassenkampf gegen den Krieg" zu proklamieren, wie Liebknecht und Rosa Luxemburg das öffentlich taten, sondern mit der Begründung, daß mit einer solchen Friedenskampagne der Frieden erreicht werden könne. Dem wurde von der Fraktionsmehrheit entgegengehalten, daß eine solche Aktion, wenn sie nicht von allen sozialdemokratischen Parteien der kriegführenden Länder gemeinsam und gleichzeitig durchgeführt würde, erfolglos sein müßte Dittmann im Parl. U. A., W. d. U. A., 4. Reihe, Bd. 7, TI (1928), S. 328.
So ging es dann in der Fraktionsbesprechung vom 8. März nicht mehr um die Kriegskredite und nicht einmal darum, daß diesmal das Gesamtbudget zu bewilligen war; es ging um die Friedensfrage und darum, daß er zum Etatsredner bestimmte Haase den Entwurf für eine Rede vorlegte, die, wie Scheidemann berichtet, „Gift und Galle" war und kein Wort mehr enthielt über die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen! Scheidemann, Der Zusammenbruch (1921), S. 23. Im gleichen Augenblick, als die Wirtschaftsverbände sich anschickten, dem Reichkanzler ihr Annexionsprogramm zu übermitteln, hatte sich die sozialdemokratische Partei zu entscheiden, ob sie mit einer Friedenskundgebung an die Öffentlichkeit treten sollte.
Der Kanzler zwischen den Fronten Wie nach der Lagebeurteilung des General-stabschefs vor der zweiten Sitzungsperiode des Reichstages im Dezember 1914 befand sich der Kanzler in einer zwiespältigen Position zwischen „Vernunft und öffentlicher Meinung" Nur war seine Stellung inzwischen noch schwieriger geworden. Nicht nur bestand ein Widerspruch zwischen der Einsicht der Führung in die wirkliche Kriegslage und den Illusionen, die sich der größte Teil des deutschen Volkes vom Ausgang des Krieges machte; nicht nur hatte sich die Kluft in der Kriegszielfrage zwischen den bürgerlichen Parteien und den Sozialdemokraten — und auch innerhalb dieser Fraktion — vertieft: Jetzt hatte es der Kanzler mit einem massiven Angriff der einflußreichen, machtbewußtenWirtschaftsorganisationen zu tun, die auch über enge Verbin17a) düngen zu führenden Militärs verfügten, Zeitungen finanziell kontrollierten und deren Vorgehen nur ein getrenntes Marschieren mit den bürgerlichen Rechtsparteien bedeutete, die sich in den nächsten Wochen zu einer „Kriegszielmehrheit" formierten. Auch erwies sich die Methode, die annexionistische Propaganda mit Hilfe des Belagerungszustandes zurückzudrängen, als fragwürdig, noch dazu, da auch die Sozialisten aus grundsätzlichen Ansichten die Wiederherstellung der Presse-, Vereins-und Versammlungsfreiheit verlangten. Bei diesen aber begann sich die Gruppe zu formieren, die mit einer Friedenskampagne im deutschen Volke sagen wollte, was der Wirklichkeit entsprach, aber nach Ansicht des Kanzlers nicht gesagt werden dürfe, gerade um nicht den Frieden zu gefährden.
Wieder lassen Zeugnisse im internen Schriftwechsel des Kanzlers die Problematik seiner Stellung und seines Verfahrens erkennen.
„Hier ist die Stimmung eigentlich unerklärlich", schrieb Bethmann Hollweg am 12. März 1915 an Valentini „Selbst bei den meisten Politikern ist sie nicht nur siegesgewiß, sondern geradezu vermessen." Wenn er dann fortfuhr:
„Das erstere brauchen wir, das zweite erscheint mir vom Übel. Dagegen wirken kann ich nicht", so erklärt diese Resignation allerdings vieles. Sie zeigt, wie verwickelt und gravierend zugleich das Problem der Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung resp, ihrer Beeinflussung war. Noch in seinen Memoiren rühmte Bethmann Hollweg die „unbedingte Siegeszuversicht" als einen „moralischen Machtfaktor von ungeheurer Bedeutung", und zwar „unbeschadet aller darin liegenden Selbsttäuschung", und stellte die rhetorische Frage, ob denn die Widerstandskraft der Nation gegen die Weltübermacht so glänzend und solange intakt geblieben wäre, wenn die OHL im September 1914 unverblümt ausgesprochen hätte, mit der Marneschlacht sei unser Kriegsplan in der Anlage gescheitert. Andererseits bezeichnet er dort die Aufstellung von Eroberungszielen als einen Mißbrauch der Siegesstimmung und schreibt von einem „Machtfetischismus", von phantastischer Selbstüberschätzung und einem Irrglauben, „uns von den natürlichen Gefahren unserer eingekeilten geographischen Mittellage durch Hinausschieben unseres Machtbereichs zu befreien.“ In dem Brief an den Chef des Zivilkabinetts vom 12. März heißt es, die Psyche des deutschen Volkes sei während der letzten 25 Jahre „so durch Renommisterei vergiftet, daß sie wahrscheinlich zaghaft würde, wenn man ihr die Großsprecherei verböte." Als Weg zur Abhilfe sah er „eine richtige Redaktion" der Heeresberichte, in denen die Alldeutschen „und Konsorten" tagtäglich eine „Grundlage für ihr Geschrei" fänden. Offenbar hatte Bethmann vergessen, daß er selbst es gewesen war, der es nicht nur versäumt, sondern im September gegen den Wunsch Falken Jahre „so durch Renommisterei vergiftet, daß sie wahrscheinlich zaghaft würde, wenn man ihr die Großsprecherei verböte." Als Weg zur Abhilfe sah er „eine richtige Redaktion" der Heeresberichte, in denen die Alldeutschen „und Konsorten" tagtäglich eine „Grundlage für ihr Geschrei" fänden. Offenbar hatte Bethmann vergessen, daß er selbst es gewesen war, der es nicht nur versäumt, sondern im September gegen den Wunsch Falkenhayns sogar verhindert hatte, daß die Öffentlichkeit über die Kriegslage aufgeklärt wurde.
Immer wieder sah er sich auch jetzt genötigt, Kraftbewußtsein und Siegeszuversicht zur Schau zu tragen und Konzessionen an Annexionisten zu machen, um damit denen den Wind aus den Segeln zu nehmen, die ihn als „Flaumacher" verdächtigten, und ihn von ihren Machtpositionen in Politik, Wirtschaft und Bürokratie aus zu stürzen suchten.
„Intrigiert wird heftig weiter", stellte er am 12. März offenbar im Hinblick auf die oben beschriebene Aktion von Tirpitz fest. Und es trifft den Gegenstand des Konfliktes wenn er fortfährt, man werfe ihm vor, „daß wir nicht jetzt schon Belgien und Nordfrankreich annektiert hätten. Hintergrund: Alldeutsche, Marine und S(eine). K(aiserliche). und K(önigliche). H(oheit)." 20).
Wie es Bethmann darauf ankam, bei den Rechtsparteien den Eindruck von Kraft und Stärke zu erwecken, läßt sich aus der Sprachregelung erkennen, die er in der Reichskanzlei in seinen Randbemerkungen für die Beantwortung ihrer Eingaben forderte. Etwa so: „Die Antwort (an Westarp) ist mir noch nicht stark und sicher genug; sie muß überlegene Ruhe atmen" 21). Auf der anderen Seite wollte er nicht die sozialdemokratischen Führer desavouieren, die sich, wie Scheide-mann, bei ihren Parteigenossen dafür verbürgten, daß dieser Kanzler keine Eroberungsabsichten habe, vielmehr auf dem Boden des Verteidigungskrieges stände, wie er ihn am 4. August im Reichstag als Regierungsprogramm proklamiert hatte. „Bethmann Hollweg war in einer furchtbaren Lage", so hat es Scheidemann später einmal charakterisiert 22), „denn er mußte schweigen, entweder hätte er uns oder die Leute von rechts verletzt. Das veranlaßte ihn natürlich immer, den Mund zu halten, zu lavieren und sich zwischen Scylla und Charybdis hindurchzubewegen". Nach seiner eigenen Darstellung versuchte er unter dem nationalen Gebot „zwischen Leidenschaften, Gegensätzen und Verführungen den schmalen Weg der Besonnenheit zu gehen" 23).
Es mag das widerspruchvolle Bild ergänzen, wenn man sieht, daß Bethmann Hollweg die siegreichen Heeresberichte nicht nur kritisiert, weil im deutschen Volke falsche Erwartungen auf einen baldigen Siegfrieden erweckt wurden, sondern auch im Hinblick darauf, daß damit dem besser informierten Feind zu einer moralischen Überlegenheit verhülfen wurde. So bezeichnete er es als auch politisch schädlich, daß Falkenhayn damals die Schlacht in der Champagne — Bethmann schrieb von der „defensiven Abwehr einer Katastrophe" — mit Hindenburgs Sieg an den Masurischen Seen verglich. „Bei einer so siegesgewissen Nation, wie der französischen, kann aber das Gefühl der Unterlegenheit unter den Gegner nicht gesteigert werden, wenn dieser Gegner eine glücklich abgeschlagene Offensive, wobei indes viel Gelände verloren ist, zu einem ungeheuren Siege stempelt, und die Beendigung der Schlacht in einem Moment verkündet, wo sie ruhig weitergeht". Ein klassisches Urteil über die deutsche Kriegsberichterstattung. „Wir können den Krieg nur zu einem glücklichen Ende bringen, wenn wir unsere Feinde, außer daß wir sie schlagen, auch moralisch dahin bringen, das Rennen aufzugeben 24)." „Nicht vom Frieden reden"
In dieser Situation suchte der Kanzler die Parteien zu bewegen, im Reichstag auf Erklärungen zur Kriegszielfrage zu verzichten. Als er die ausschlaggebenden Führer hierfür am Abend des 8. März empfing 25) stand er aber auch vor der Aufgabe, sich mit ihnen auf eine interne Formulierung zu einigen. Sein Vorschlag lautete: „Sicherung, größere Bewegungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeit für ein stärkeres und größeres Deutschland." Es ist verständlich, daß der Abgeordnete Haase, der vorgesehene Redner der Sozialdemokratie, dies als ein Bekenntnis zum Er-oberungskrieg auffaßte und nun erst recht auf einer Erklärung seiner Partei zum annexionslosen Frieden bestand. Auch Scheide-mann gesteht, daß es ihm eisig kalt über den Rücken lief, als er diese Worte hörte. Er versuchte noch, die in der Formulierung des Kanzlers liegende Doppeldeutigkeit zu einer optimistischen Auslegung zu benutzen: wenn Deutschland in diesem Kriege siege, so erklärte er seinem Parteigenossen, stehe es noch stärker und größer da als vorher, auch wenn es nicht einen Quadratmeter an Gebiet gewönne; nach allem, was er von Bethmann wisse, erscheine es ihm ausgeschlossen, daß hier ein durch Gebietszuwachs vergrößertes Deutschland gemeint sei. Nachdem Haase am Nachmittag in der Fraktionssitzung durch Abstimmung gezwungen worden wäre, für den nächsten Tag seinen Rede-entwurf mit einem Passus über die Verteidigungspflicht zu verändern, hätte er mit diesen Worten des Kanzlers — so notiert Scheide-mann — gehabt, „was er brauchte, das Stichwort für den . Eroberungskrieg', für den wir unmöglich noch Kredite würden bewilligen können."
Als Bethmann am folgenden Tage, dem 9. März morgens, die beiden sozialdemokratischen Parteiführer noch einmal allein empfing, mußte er seine Worte vom „größeren und stärkeren Deutschland" interpretieren Er sagte ihnen, daß er nicht daran denke, Belgien zu annektieren, gab aber die Absicht zu, dort wirtschaftliche und militärische Abmachungen zu treffen; und er erwähnte den Wunsch von „Grenzregulierungen" in den Vogesen, und daß es von Bedeutung sein würde, wenn die Schleifung von Beifort durchgesetzt werden könne. Dann nannte er den besonderen Grund dafür, daß er eine sozialdemokratische Erklärung über einen baldigen Verzichtfrieden zur Zeit für inopportun halte. „In tiefstem Vertrauen", eröffnete er den Sozialdemokraten, daß in Rußland zarte Keime sprießten, „Keime, aus denen ein Frieden entstehen könnte. Wir würden sie zertreten, wenn wir vom Frieden sprechen." „Nicht vom Frieden reden". wiederholte er immer wieder, „das werde man als Schwäche deuten, dadurch wachse in Ruß-land noch einmal das Kraftgefühl." Und auch hier sprach der Kanzler über die „Bereitwilligkeit", mit Rußland oder Frankreich Separatfrieden zu schließen, sobald es gehe. Die Hauptsache sei, die Entente zu sprengen." Als warnendes Beispiel für die Folgen öffentlicher Gespräche erwähnte er noch, was in Peters-burg dem Grafen Witte passiert sei, der kürzlich Friedensversuche gemacht habe; sie seien sofort abgetan gewesen, als die deutsche Presse davon schrieb 26a).
Es mag den sozialdemokratischen Parteiführern noch eine Bekräftigung dieser Mitteilung des Reichskanzlers gewesen sein, daß am Tage zuvor auf der Pressekonferenz die oben beschriebene Sprachregelung gegeben wurde, die Tätigkeit Wittes nicht durch Kommentare zu stören.
Wenn Scheidemanns Eindruck richtig war, daß auch Haase durch die Worte Bethmanns beruhigt wurde, wie er es für die Unterredung der beiden Parteiführer mit dem Kanzler am Morgen des 9. März notiert, kann diese Wirkung nicht von Dauer gewesen sein. Denn Haases Etatsrede am 10. März hat doch vom Frieden gesprochen. Und die Opposition in der Fraktion wuchs bei der Kreditabstimmung auf nunmehr 30 Personen, die — von einem grundsätzlichen Beschluß Gebrauch machend — ohne daß dieses demonstrativen Charakter tragen dürfe 26b) —, sich der Abstimmung durch* Fernbleiben entzogen, darunter Haase. Zu Liebknechts öffentlicher Gegenstimme kam diesmal noch eine zweite. Haase legte den ersten Akzent seiner Rede auf die Forderung nach Aufhebung von Ausnahme-gesetzen, die eines freien Volkes unwürdig seien, insbesondere der Beschränkung der Presse-, Vereins-und Versammlungsfreiheit, wobei ihm Scheidemann in einer Rede vom 18. März in Erinnerung an die Freiheitskämpfer der Revolution von 1848 sekundierte.
Das Hauptgewicht der Rede lag auf dem Friedenswunsch: er erwähnte, daß die Sehnsucht in allen Ländern durchbreche, dem schrecklichen Gemetzel ein Ende zu machen, und daß es angesichts des unbestreitbaren militärischen Erfolges der Deutschen und ihrer Wirtschafts-und Finanzkraft gerade für den Starken keine Schwäche sei, zuerst die Friedenshand auszustrecken. Und er drückte den Wunsch aus nach einem dauernden Frieden, der nicht neue Verwicklungen in sich schließe und der zu erreichen sei, wenn nicht ein Volk das andere vergewaltige. Infolgedessen sahen sich die bürgerlichen Parteien zu einer gemeinsamen Erklärung durch den Abgeordneten Spahn veranlaßt, die das Ziel eines Friedens proklamierte, „der, mehr als bisher, der deutschen Arbeit freien Wettbewerb und machtvolle Entwicklung sichert, und der dem Reiche dauernden Schutz gegen frevelhafte Angriffe auf der Grundlage seiner Größe gewährt" und Staatssekretär Delbrück sah sich veranlaßt, sein Bedauern über die Ausführungen des Abgeordneten Haase auszusprechen, weil sie nicht geeignet seien, den Frieden zu fördern.
Das Verhalten des Reichskanzlers gegenüber den Parteien in der Kriegszielfrage bietet ein Bild des Zwiespaltes und der Widersprüche. Da trägt er Siegeszuversicht und Kraftbewußtsein zur Schau, obgleich ihm am 18.
November und am 1. und 4. März die Ungunst der militärischen Lage, und zwar von so verschiedenen Persönlichkeiten wie Falkenhayn und Hindenburg, dargelegt worden war. Hier kritisiert er die siegreiche Tonart der Heeresberichte, obschon er doch selbst verhindert hatte, daß das deutsche Volk über die Bedeutung des Rückzugs von der Marne aufgeklärt wurde. Und dort wiederum spricht er von einem „größeren und stärkeren Deutschland", obgleich er, wenn der Krieg nicht gar „eine im ganzen für uns ungünstige Wendung" nehme, allenfalls hoffte, daß er sich nicht bis zur einseitigen Erschöpfung der Mittelmächte hinziehe, sondern mit dem Ergebnis ende, daß keine der beiden Mächte-gruppen die andere niederwerfen könne, Deutschland also der Koalition der Feinde „nicht erlegen" sei. Wie er es noch während des Krieges für seinen Nachfolger formulierte verstand er unter Gewinn des Krieges „die siegreiche Abwehr unserer Feinde und die unversehrte Selbstbehauptung". Dies war, so hat er es auch später in seinen Memoiren dargelegt „die Parole, die die Marneschlacht ausgegeben hatte". Auch der Kaiser habe ihm stets darin zugestimmt, „daß wir den Krieg gewonnen hätten, wenn wir uns selbst behaupteten".
Nachdem die Menge des jetzt zugänglichen Archivmaterials es möglich macht, das Verhalten Bethmann Hollwegs in konkreten, zeitlich eng begrenzten und überschaubaren Situationen zu analysieren, lassen sich gesichertere Aufschlüsse über sein Handeln als Staatsmann und über seine Persönlichkeit gewinnen. Schritt für Schritt durchgeführt, erlaubt ein solches Vorgehen ein sachliches Urteil mit einem jeweils durch die Breite der stofflichen Grundlage bestimmten Maß an Abstraktion.
So zeigt die Haltung des Reichskanzlers in dem dargestellten Zeitraum vom September 1914 bis zum März 1915 nicht jenes tragische Gegenspiel von kluger Einsicht und mangelnder Tatkraft, das oft sowohl im Urteil der Zeitgenossen als auch in der Literatur als Kern seines Wesens dargestellt wurde. Was hier als Schwanken und Zaudern erscheint, als Bedenken und Widerspruch, findet seine Erklärung zu einem wesentlichen Teil darin, daß Bethmann Hollweg sich des ephemeren Charakters aller auf die Zukunft zielenden außenpolitischen Erörterungen und der Abhängigkeit der auf ihnen aufbauenden Entscheidungen vom weiteren Verlauf der militärischen Ereignisse bewußt war, und daß schließlich die jeweilige Einschätzung des Kräfteverhältnisses und der Bedeutung der vielfältigen Machtfaktoren innerhalb der politischen Gesamtsituation die tagespolitische Praxis des Reichskanzlers bestimmte. Hierbei hatte er vor allem ständig darauf Rücksicht zu nehmen, daß jede „offizielle" Erörterung politischer Probleme, sobald sie nach außen drang, beim Feind und für dessen Propaganda als politischer Machtfaktor relevant werden konnte. In diesem Kräftefeld des von uns behandelten Zeitraumes aber behauptete sich Bethmann Hollweg energischer und konsequenter, und konnte er für seine Gegner gefährlicher werden, als die bisherige Forschung annahm. Hat er doch selbst den Generalstabschef zu stürzen versucht und die Strategie in den Dienst seiner außenpolitischen Konzeption gestellt. Und immer wieder war er bedacht, die Parteien rechts und links in der Kriegszielfrage auszumanövrieren. Zum Teil mit verdeckten Karten spielend und mit einer hinhaltenden und mehrgleisigen Taktik suchte er mit scheinbarem Entgegenkommen auszuweichen und mit innerem Vorbehalt aufzutrumpfen. Dabei bemühte er sich, Elemente herauszugreifen, um sie seiner Politik nutzbar zu machen. Die Frage war freilich, wie lange sich ein solches Verfahren durchführen ließe.