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Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863-1914') | APuZ 21/1963 | bpb.de

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APuZ 21/1963 Artikel 1 Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863-1914') Die deutsche politische Arbeiterbewegung von 1914 bis 1945 Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945

Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863-1914')

Gerhard A. Ritter

Zum 100. Jahrestag der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die als die Geburtsstunde der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung gelten kann, werden in dieser Ausgabe drei Beiträge veröffentlich. — Die Autoren geben eine Darstellung der Geschichte vornehmlich des demokratischen Sozialismus in Deutschland. Die hier vertretenen wissenschaftlichen Auffassungen stellen selbstverständlich weder die offizielle Meinung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands noch die der herausgebenden Stelle dar.

I. Die Sozialdemokratie im Zeitalter Bismarcks

Anhang I

Die Wahlerfolge der Sozialdemokratie 1867 bis 1912

Die politische und soziale Situation zur Zeit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 Vor hundert Jahren, am Spätnachmittag des 23. Mai 1863, wurde im Pantheon zu Leipzig von einer kleinen Gruppe von Delegierten, die die Arbeitervereine von elf deutschen Städten — Leipzig, Hamburg, Harburg, Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Barmen, Solingen, Frankfurt, Mainz und Dresden — vertraten, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands bildete sich damit in einer Welt, in der der revolutionäre, radikaldemokratische Republikanismus Mazzinis in Süditalien einen fruchtbaren Boden fand, in der die junge russische Intelligenz immer leidenschaftlicher gegen die überkommene Ordnung des Zarenreiches protestierte und in der der amerikanische Bürgerkrieg in sozialistischen Zirkeln Europas als Klassenkampf gedeutet wurde Auch in Deutschland waren nach der politischen Erstarrung der Reaktionszeit von 1851 bis 1858, durch das Beispiel der italienischen Einigung und des Beginns der neuen Ära in Preußen geschürt, die 1848/49 gescheiterten Bestrebungen nach nationaler Einheit und politischer Freiheit wieder aufgeflammt und hatten zur Politisierung der Bevölkerung und zur Neubildung politischer Parteien geführt. Wirtschaftlich hatte die Konjunktur der fünfziger Jahre den Untergang der Kleinbetriebe und die Bildung von Fabriken beschleunigt und mit der damit verbundenen zunehmenden Proletarisierung der Handwerkerschaft — an die Stelle des von seinem Meister sozial und wirtschaftlich noch kaum geschiedenen Gesellen tritt der im Lebensstil Gerhard A. Ritter:

Anhang III

Die Sozialdemokratie in den Deutschen Landtagen

Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863— 1914 ............ Seite Ernst Schraepler:

Anhang IV

Mitgliederzahl und Finanzen der den Freien Gewerkschaften angeschlossenen Zentralverbände

Die deutsche politische Arbeiterbewegung von 1914 bis 1945 .............................. Seite 27 Ulrich Dübber:

Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945 ............................ .. Seite 52 und Klasseninteresse vom Unternehmer getrennte Fabrikarbeiter — die notwendigen 3) sozialen Voraussetzungen für die Entwicklung einer unabhängigen sozialistischen Arbeiterbewegung geschaffen.

Die Trennung der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie Die ersten selbständigen Regungen der deutschen Arbeiterschaft in der vorwiegend bürgerlich-liberalen und nationalen Revolution von 1848/49 waren politisch ohne Gewicht geblieben. Die Mehrzahl der Arbeiter — soweit sie sich nicht überhaupt als unbeteiligte Zuschauer verhielten — stand unter der Führung der linksradikalen demokratisdien Kräfte im Bürgertum. Mit der Neubelebung der deutschen Politik um 1860 wurde zunächst versucht, diese alte Allianz von Bürgertum und Arbeiterschaft neu zu zementieren, das Proletariat mit dem bestehenden Wirtschaftsgefüge zu versöhnen und in die liberale Bewegung einzubeziehen. Die Gründung zunächst unpolitischer Arbeiterbildungsvereine und die Bestrebungen des Vertreters der liberalen Fortschrittspartei, Franz Hermann Schulze-Delitzsch, die Handwerker und Arbeiter für seine Idee der Lösung der sozialen Frage durch freien genossenschaftlichen Zusammenschluß und Selbsthilfe zu gewinnen, sollten diesem Zweck dienen. Die Auflösung der gemeinsam von allen Klassen getragenen demokratischen Volksbewegung der 48er Revolution — die die Hin-wendung der Arbeiterschaft zum Sozialismus und das Erlahmen der demokratischen Tendenzen im Bürgertum zur Folge hatte —, vollzog sich in zwei Stufen deren erste, die Bildung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins als Sammelbecken für die mit der Fortschritts-partei unzufriedenen Arbeiter Preußens und der norddeutschen Kleinstaaten, das Ergebnis der politischen Arbeit Ferdinand Lassalles, des ersten Präsidenten des Vereins, darstellt. Der 1825 geborene Sohn eines jüdischen Seidenkaufmanns hatte bereits in seiner Schulzeit mit demokratischen Bestrebungen sympathisiert und war 1848 wegen seiner revolutionären Aktivität einige Monate inhaftiert worden. Seit seinem Universitätsstudium Junghegelianer, hat Lassalle in der Folgezeit in zwei bedeutenden wissenschaftlichen Werken über „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos" (1858) und „Das System der erworbenen Rechte" (1861) — eine brillante Abhandlung über das Eigentum — seine Lebensphilosophie entwickelt, ehe er sich 1862/63, als der preußische Verfassungskonflikt seinen ersten Höhepunkt erreichte, der aktiven Politik zuwandte.

Geistreich, liebenswürdig und hochbegabt — aber auch ehrgeizig, egoistisch, dem Luxus nachjagend und nicht ohne Eitelkeit — hat Lassalle in der kurzen Frist bis zu seinem frühen, durch bin Duell wegen einer Liebes-affäre herbeigeführten Tod im August 1864 mit seiner Agitation und seinen Ideen weite Teile der Arbeiterschaft aus ihrer politischen Interesselosigkeit geweckt und die Keimzelle einer großen sozialistischen Partei gelegt.

Im Gegensatz zu dem von ihm heftig angegriffenen Schulze-Delitzsch vertrat Lassalle die Ansicht, daß die Arbeiter aus eigener Kraft allein nicht imstande wären, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Auf Grund eines „ehernen" ökonomischen Gesetzes werde der durchschnittliche Arbeiterlohn immer wieder auf den Betrag reduziert, der „zur FrisLung der Existenz und zur Fortpflanzung" der Arbeiter unbedingt erforderlich sei. Allein durch die Bildung von großen Produktionsgenossenschaften, in denen die Arbeiter als ihre eigenen Unternehmer den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhielten, könne die Wirkung dieses grausamen Lohngesetzes beseitigt werden. Die Aufgabe des Staates, der für Lassalle die treibende Kraft für den Kulturfortschritt der Menschheit ist, sei es nun, sich der Sache der Arbeiter fördernd anzunehmen und ihnen die Mittel zur Selbstorganisation und zum Aufbau der benötigten großen Fabriken zu geben.

Diese skizzierte Lösung der sozialen Frage setzte aber eine grundlegende politische Reform — die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts durch die unermüdliche Agitation der Arbeiterschaft — voraus. Erst durch eine Demokratisierung der gesetzgebenden Körperschaften könne der Staat bestimmt werden, seine Pflichten gegenüber den Arbeitern zu erfüllen und den Sozialismus zu verwirklichen

Lassalle, der im Kommunistischen Manifest von Marx sein Glaubensbekenntnis sah, ging in seiner Politik von der Vorstellung eines nicht zu überbrückenden Klassengegensatzes zwischen Proletariat und Bürgertum aus. In der Wendung gegen das politische Übergewicht des Bürgertums und in der hohen Einschätzung der Rolle des Staates ergaben sich Berührungspunkte mit Bismarck, dem auf der Höhe des preußischen Verfassungskonflikts ein Bundesgenosse im Rücken der vom Dreiklassenwahlrecht in Preußen profitierenden liberalen Fortschrittspartei politisch zupaß kam.

Die berühmten Verhandlungen zwischen Bismarck und Lassalle verliefen im Sande, da der sozialistische Agitator dem preußischen Staats-7) mann nicht genug bieten konnte. Der gelegentliche Traum des Republikaners Lassalle von einem revolutionären sozialen Volkskönigtum, das sich mit Hilfe der Arbeiter gegen den „Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft" setzen würde blieb unverwirklicht. Die Frage aber, ob damals noch die Chance bestanden habe, den die deutsche Geschichte in der Folgezeit so verhängnisvoll belastenden Gegensatz zwischen Staat und Arbeiterbewegung zu vermeiden, ist eines der Kernprobleme der deutschen Geschichte.

Der bald zum Nachfolger Lassalles gewählte Frankfurter Anwalt Johann Baptist von Schweitzer der aus dem kleinen Verein Lassalles erst eine zur politischen Aktion befähigte Partei machte, versuchte, an der Zusammenarbeit mit Bismarck festzuhalten. Die Versöhnung zwischen liberalem Bürgertum und preußischem Staat 1866 und das mangelnde Interesse der Konservativen für die Idee eines sozialen Königstums entzogen jedoch dieser Politik den realen Boden. Schweitzer selbst sah sich bald heftigen Angriffen in der Arbeiterschaft ausgesetzt, die sich gegen seine preußen-freundliche Politik und seine fast diktatorische Leitung des seit seiner Gründung streng zentralistisch organisierten Vereins wandten.

Im August 1869 wurde schließlich als zweite Stufe der Loslösung selbständiger Arbeiterparteien vom demokratischen Flügel des bürgerlichen Liberalismus in Rivalität zur Organisation Schweitzers auf einem Kongreß in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" gegründet. Sie setzte sich zusammen aus der kleinbürgerlichen Sächsischen Volkspartei, abgesplitterten Lassalleanern sowie den Mitgliedern des Verbandes Deutscher Arbeitervereine, der 1863 zunächst als Bollwerk des Bürgertums gegen die proletarische Bewegung geschaffen worden war, aber bald sozialistische Tendenzen aufwies.

Im Programm der neuen Partei verbanden sich die demokratischen Ideen des bürgerlichen Radikalismus mit marxistischem Gedankengut und Zugeständnissen an die Lassalleaner Im Gegensatz zum Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein war die Partei scharf antipreußisch und ein Anhänger der großdeutschen Lösung der Frage der nationalen Einigung. Auch in der Betonung der internationalen Solidarität der Arbeiter, in der scharfen Ablehnung der bestehenden Staaten als Instrument der Klassenherrschaft und in der relativ lokkeren Form der Organisation, die den örtlichen Parteigruppen eine bessere Entfaltungsmöglichkeit gab unterschieden sich die Eisenacher von den Lassalleanern.

Liebknecht und Bebel Die führenden Köpfe der neuen Partei waren der Journalist Wilhelm Liebknecht und der Drechsler August Bebel. Der 1826 in Gießen geborene, früh verwaiste Liebknecht entstammte einer bürgerlichen Gelehrtenfamilie. Während der Schulzeit in Gießen und während des Universitätsstudiums zu extremen republikanischen und kommunistischen Theorien bekehrt, hat der junge Liebknecht in der Revolution von 1848 an dem gescheiterten Versuch der Schaffung der Republik Baden führend mitgewirkt. In den folgenden Jahren hat er sich in London in enger Berührung mit Marx und Engels sein theoretisches Rüstzeug angeeignet, ehe er auf Grund einer Amnestie 1862 nach Deutschland zurückkehrte. Kurze Zeit bis zum Bruch mit Schweitzer als Vertrauensmann von Marx und Engels in der Redaktion des „Sozialdemokrat", des Zentral-organs der Lassalleaner, in Berlin wirkend, kam Liebknecht nach seiner Ausweisung aus Preußen 1865 in Leipzig mit dem 14 Jahre jüngeren Bebel in Berührung, dessen Mauserung zum Sozialisten er beschleunigte.

Der nach dem frühen Tod seines Vaters, eines preußischen Unteroffiziers, und seines Stiefvaters, eines Gefängnisaufsehers, in ärmlichen Verhältnissen ausgewachsene Bebel 13) hatte über einen katholischen Gesellenverein, dem er sich — obwohl Protestant — in seinen Wanderjahren anschloß, und einen Leipziger Arbeiterbildungsverein den Weg zur Politik gefunden. Als politischer Taktiker mit einem Sinn für Realitäten, als geschickter Parlamentarier und glänzender Organisator war er Liebknecht, der bis zu seinem Tode 1900 die deutsche Politik nach dem unzulänglichen Maßstab seiner 48er Erfahrungen beurteilte, weit überlegen. Bebel wurde so der eigentliche Baumeister der neuen Partei, die 1870 — als den gemeinsamen nationalpolitischen Konzeptionen durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 jede Hoffnung auf Verwirklichung genommen wurde — endgültig die noch vorhandenen Brücken zur bürgerlichen Demokratie abbrach.

Die Sozialdemokratie im Deutsch-Französischen Krieg Bebel und Liebknecht — seit 1867 im Reichstag des neugeschaffenen Norddeutschen Bun-des — haben im Gegensatz zu den zunächst für die geforderten Kriegskredite stimmenden Lassalleanern sofort nach Ausbruch des Krieges ihre „Neutralität" durch Stimmenthaltung zum Ausdruck gebracht. Als nach dem deutschen Sieg von Sedan der Krieg auch gegen die neugegründete Französische Republik fortgesetzt wurde und die Pläne zur Annexion Elsaß-Lothringens immer deutlicher zu erkennen waren, haben sie diesmal zusammen mit den Lassalleanern gegen die geforderten neuen Kriegskredite gestimmt und zur Organisation großer Kundgebungen gegen jede Annexion aufgerufen. Ihr mutiges Auftreten gegen die Welle patriotischer Hochstimmung haben die Sozialdemokraten beider Richtungen mit einer schweren Niederlage in den Reichstagswahlen von 1871 — nur Bebel konnte sein Mandat behaupten — bezahlen müssen. Die tieferen Ursachen, die die Entstehung politischer Arbeiterorganisationen begünstigt hatten, verstärkten sich aber durch die jetzt einsetzende Beschleunigung der Industrialisierung, so daß das Wachstum der Partei nur vorübergehend unterbrochen wurde. Die Vereinigung der Lassalleaner und der Eisenacher und das Sozialistengesetz Die scharf antisozialistische Politik Bismarcks nach den Erfahrungen der Pariser Kommune und der Rücktritt Schweitzers von der Leitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1871 ebneten schließlich den Weg für die durch eine zweijährige Festungshaft Bebels und Liebknechts noc einmal verzögerte organisatorische Verschmelzung der beiden deutschen Arbeiterparteien auf dem Kongreß von Gotha 1875 zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands".

In dem Vereinigungsprogramm hatten — wie Marx in einer von den Parteiführern bis 1891 unterdrückten vernichtenden Kritik an der „Heiligsprechung der Lassalleschen Glaubensartikel" im einzelnen nachwies — die Vorstellungen Lassalles noch einen starken Niederschlag gefunden. Das allmähliche Zurücktreten dieser Ideen und das innere Zusammenwachsen der beiden konstituierenden Gruppen der neuen Partei war eine Folge des Sozialistengesetzes, das 1878 nach zwei Attentaten auf den Kaiser, die der Sozialdemokratie unberechtigt zur Last gelegt wurden, vom Reichstag verabschiedet wurde. Mit diesem Ausnahmegesetz wollte Bismarck die sich rasch ausbreitende Sozialdemokratie zerschlagen, ehe sie dem Staat selbst gefährlich werden konnte.

Alle selbständigen Arbeiterorganisationen wurden verboten, ihre Zeitungen — die Partei verfügte bereits über 51 Blätter — wurden mit zwei Ausnahmen unterdrückt und die Versammlungsfreiheit aufs äußerste beschränkt.

Etwa 900 führende Persönlichkeiten der Partei wurden während der Dauer des Gesetzes 1878— 1890 aus ihren Wohnsitzen ausgewiesen und gegen 1500 zeitweilig ins Gefängnis geworfen Neben diesen Unterdrückungsmaßnahmen versuchte aber Bismarck auch durch eine für die damalige Zeit großzügige soziale Gesetzgebung — die Einführung der staatlichen Kranken-, Unfall-, Alters-und Invalidenversicherung — die Arbeiter mit ihren materiellen Interessen an das Deutsche Reich zu binden und so der sozialdemokratischen Agitation das Wasser abzugraben.

Die Politik Bismarcks ist gescheitert. Nach dem ersten Schock, der Tendenzen zu einer Kapitulation aufkommen ließ wurde die Sozialdemokratie als Geheimorganisation neu aufgebaut. Die ersten örtlichen Organisationen wurden zunächst als Rauch-oder Kartenklubs getarnt oder entstanden in Anlehnung an die nicht aufgelösten Hilfskassen der früheren Gewerkschaften. Später gaben die mit der mildeien Handhabung des Sozialistengesetzes nach 1884 neu entstehenden gewerkschaftlichen Fachvereine und Arbeiterwahlvereine den Rahmen der lokalen Parteiorganisation. In vielen Orten wurde ein Lokal zum Treffpunkt der sozialdemokratisch Gesinnten und der Wirt zum Führer der Partei des Ortes. Die für ein Jahr völlig abgerissene Verbindung der Parteimitglieder der einzelnen Orte mit der Parteiführung, die auf die Reichstagsfraktion und ihren Vorstand überging, wurde durch den im Ausland hergestellten und nach Deutschland eingeschmuggelten „Sozialdemokrat", das Zentralorgan der Partei, sowie durch die Auslandskongresse in Wyden (Schweiz) 1880, Kopenhagen 1883 und St. Gallen 1887 neu geknüpft. Weiterhin bildeten sich in den achtziger Jahren schlagkräftige illegale regionale Organisationen, die es der Parteiführung eines Gebietes ermöglichten, eine Mobilisierung der Parteimitglieder für bestimmte Aktionen innerhalb kürzester Zeit zu veranlassen. Die Schaffung regionaler Organisationen und die Stärke der Stellung der in dieser Zeit bewährten lokalen und regionalen Parteiführer ist ein Erbe der Zeit des Sozialistengesetzes für die spätere Parteiorganisation. Schließlich wurde auch die lokale Presse langsam unter geschickter Umgehung der Bestimmungen des Sozialistengesetzes wieder aufgebaut.

Das Vordringen der Sozialdemokratie bis 1890 Es war in jener Zeit des Sozialistengesetzes von 1878— 90, daß die Sozialdemokratie sich zu einer großen Massenpartei der Industriearbeiter und Handwerker entwickelte. Der Schwerpunkt der Eisenacher hatte zunächst bei den wirtschaftlich rückständigen Hand-webern in den halbländlichen Distrikten Sachsens gelegen. Die Lassalleaner dagegen hatten ihre ersten Zentren in Schleswig-Holstein und in Städten des Niederrheins. Erst in den Wahlen von 1877 war es den Sozialdemokraten gelungen, in den Großstädten Nord-und Ostdeutschlands fest Fuß zu fassen. In den Jahren des Sozialistengesetzes konnte die Sozialdemokratie ihren Aktionsradius auf Süddeutschland, wo vor 1878 nur wenige Städte von der Parteiorganisation erfaßt worden waren, ausdehnen und auch im Ruhrgebiet erste größere Wahlerfolge erringen. Die während des Sozialistengesetzes übliche Ausweisung sozialistischer Agitatoren hat dabei die Verbreitung sozialistischer Ideen und die Gründung neuer Organisationskerne nur gefördert. Die Ausbreitung der Partei spiegelt sich in den Ergebnissen der Reichstagswahlen der achtziger Jahre wider Hatte die Wahl von 1881 aufgrund der scharfen Überwachung durch die Behörden noch einen Rückschlag gebracht, so konnte die Partei bei den folgenden Reichstagswahlen von 1884 und 1887 große Gewinne verbuchen. 1890 wurde die Sozialdemokratie schließlich mit fast Pro-zent der abgegebenen Stimmen zur größten Partei Deutschlands und gleichzeitig zum ersten Beispiel einer sich über das ganze Reichsgebiet erstreckenden politischen Massenorganisation. Das Muster der von der Sozialdemokratie praktizierten modernen Methoden der Propaganda und der Massenorganisation ist schließlich auch von den anderen deutschen Parteien nachgeahmt worden. So schuf sich das Zentrum 1890 im Volksverein für das katholische Deutschland eine Hilfsorganisation zur politischen Beeinflussung der katholischen Wähler, während der Massenanhang der Konservativen von dem 1893 gegründeten Bund der Landwirte organisiert wurde. Auch die Liberale Partei ging langsam dazu über, ihren Charakter als reine Honoratiorenpartei abzustreifen und eine eigene Massenorganisation aufzubauen 20).

Die Folgen des Sozialistengesetzes Hat so das Sozialistengesetz das Wachstum der Partei, deren erfolgreiches Vorbild zu einer grundlegenden Veränderung des deutschen Parteienwesens führte, nicht aufhalten können, so hat es doch den Charakter der Sozialdemokratie und ihr Verhältnis zum bürgerlichen Staat geprägt. Die Erfahrungen jener Jahre, wachgehalten durch die ständige Furcht vor einer Welle neuer Verfolgungen waren eine Hypothek, die die Politik der Partei auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 noch entscheidend belastete. Vor allem die älteren Sozialdemokraten, die in dieser Zeit des Kampfes ihre sozialistische Rekruten-ausbildung durchgemacht hatten und nach 1890 die Kader der Partei bildeten, behielten einen starken Vorbehalt gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft, der immer wieder in entscheidenden Momenten zum Durchbruch kommen sollte. Die verhängnisvolle Kluft zwischen Arbeiterschaft und Staat, die in den Jahren des Sozialistengesetzes aufgerissen worden war, hatte sich noch Jahrzehnte später nicht wieder völlig geschlossen.

Die während der Dauer des Sozialistengesetzes von außen aufgezwungene Isolierung der sozialistischen Arbeiterschaft bestärkte dabei als natürliche Reaktion die Selbstisolierung der Partei, die von der Berührung mit anderen Kräften eine Verwässerung ihrer Prinzipien und eine Aufgabe des Klassen-charakters der Bewegung befürchtete. Der für die deutsche Sozialdemokratie der Zeit vor 1914 so kennzeichnende Charakter der Par-tei als Staat im Staate erhielt in jenen Jahren des Sozialistengesetzes seine Prägung. In den lokalen Partei-und Gewerkschaftsvereinen fand der sozialistische Arbeiter nicht nur eine Organisation zur Wahrnehmung seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen, sondern eine geistige Heimat und eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, deren gesellschaftliches Leben auch seine Freizeit bestimmte. Die Arbeiterorganisationen aber erhielten einen Stamm erprobter und ihnen ergebener Mitglieder, denen keine andere Partei etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Es entwickelten sich die typischen Ehrbegriffe der Arbeiter, ihr Gefühl für Solidarität und Disziplin, ihre Opferbereitschaft, ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihre Hingabe an die Ziele der Arbeiterbewegung.

Ein weiteres Erbteil der Zeit des Sozialisten-gesetzes war das Vordringen des Marxismus, dessen Analyse, des Staates als eines Instruments der herrschenden Klassen durch die praktische Politik bestätigt zu werden schien. Gleichzeitig aber setzte sich die Partei aufs schärfste von allen anarchistischen Bestrebungen ab So rücken gerade in der Zeit des Sozialistengesetzes die Propaganda für die Reichstagswahlen und die vor allem als Agitation verstandene parlamentarische Tätigkeit der Abgeordneten — die einzig übrig-gebliebenen legalen Betätigungsfelder der Partei — noch stärker als bisher in den Mittelpunkt der politischen Arbeit. Als Konsequenz dieser Entwicklung wurde die revolutionäre Zielsetzung in der Praxis immer mehr von der konkreten Reformarbeit in den Hintergrund gedrängt. Durch die Wahl-erfolge zur Zeit des Sozialistengesetzes bestätigt, wurde dann diese Taktik der Konzentration des Emanzipationskampfes des Proletariats auf die politische Aktion im Wahlkampf und in den Parlamenten, die die deutsche Sozialdemokratie zur ersten großen Massenpartei der Arbeiterschaft der ganzen Welt gemacht hatte, zum Vorbild für die in den Jahren vor 1914 in Mittel-, Nord-und Westeuropa aufkommenden sozialistischen Parteien.

II. Die politische Arbeiterbewegung von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zum Ausbruch des erstenWeltkrieges

Anhang II: Die Zusammensetzung der Parteileitung 1890— 1914

Staat und Arbeiterschaft nach 1890 Das Jahr 1890 markiert für den deutschen Sozialismus und seine Partei — die Sozialdemokratie — den Abschluß einer alten und den Beginn einer neuen Epoche. Das Sozialisten-gesetz, das die Partei zwölf Jahre lang schärfsten Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt hatte, wurde nicht verlängert. Mit Bismarck war der gefährlichste Gegner der Partei gestürzt, und der Kaiser selbst verkündete in zwei Erlassen vom 4. Februar 1890 ein großzügig konzipiertes Programm sozialer Reformen, das den sozialpolitischen Bestrebungen der Sozialdemokratie weitgehend entgegenkam. Dieser von einigen Gruppen der hohen Beamtenschaft’mit großem Elan aufgegriffene Versuch, die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen und der revolutionären Agitation unter den Arbeitern den Boden zu entziehen, führte zur Grundlegung der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung und zum Ausbau der Gewerbeinspeklion. Alle weiterreichenden Bestrebungen scheiterten aber an der Uneinigkeit der Regierung, am Widerstand der betroffenen Interessen und der von Augenblickseinflüssen abhängigen schwankenden Haltung des Kaisers, dessen kurzfristig entflammtes Interesse an Fragen der Sozialpolitik bald wieder erlosch.

Mit der Umsturzvorlage 1894/95 und der Zuchthausvorlage, die allerdings am Widerstand des Reichstags scheiterten, wurde erneut mit einer Unterdrückungspolitik gedroht, ehe die Regierung schließlich nach der Jahrhundertwende in die Bahnen einer vorsichtigen, von patriarchalischen Ideen getragenen sozialen Fürsorgepolitik einlenkte Die Politik des „Neuen Kurses" blieb so auf dem Gebiet der Arbeiterpolitik, wie in anderen Bereichen, in Ansätzen stecken. Sie zeigte, daß von Ausnahmeerscheinungen, wie dem preußischen Handelsminister Freiherrn von Berlepsch und seinen engsten Mitarbeitern, abgesehen, bei den sozial bestimmenden Schichten noch keine Bereitschaft bestand, mit dem alten System der Fürsorge und der Wohltaten zu brechen und den tieferen Antrieben der Arbeiterbewegung — dem Streben der Arbeiter nach Gleichberechtigung und Mitbestimmung bei der Entscheidung ihrer Anliegen — Verständnis entgegenzubringen. Durch den Zickzackkurs ihrer Arbeiterpolitik und die grundsätzliche Weigerung, die Sozialdemokratie und die von ihr beeinflußten Freien Gewerkschaften als politische und wirtschaftliche Vertretung der Arbeiter zu akzeptieren und zu tolerieren, nahm sich die Regierung auch die Chance, die innere Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Das Erfurter Programm und die Grundzüge der Parteitaktik Durch die Festigung und den Ausbau ihrer Organisation und vor allem durch die Annahme des berühmten Erfurter Parteiprogramms von 1891 glaubte sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands — wie sie sich jetzt nannte — für die neu an sie herantretenden Aufgaben gewappnet. Im Erfurter Programm wurden die an Lassalle anklingenden Formulierungen des alten Gothaer Programms von 1875 ausgemerzt. Gleichzeitig wurde der Marxismus zur alleinigen offiziellen Ideologie der Partei erhoben.

Die Durchdringung der europäischen und besonders der deutschen Arbeiterbewegung mit marxistischen Gedankengängen war im wesentlichen das Werk von Friedrich Engels. Seine zuerst 1877/78 in einer Aufsatzreihe veröffentlichte Schrift gegen den sozialistischen Privatdozenten Karl Eugen Dühring — der sogenannte „Anti-Dühring" — begründete eine marxistische Schule und wurde zur „weltanschaulichen Grundschrift des dialektischen Materialismus" In der deutschen Sozialdemokratie wurde besonders Karl Kautsky — ein Österreicher tschechischer Abstammung, der mit Engels bis zu dessen Tode in engem Kontakt stand — zum Vorkämpfer des Marxismus. In der „Propagandierung, Popularisierung und ... Fortführung der wissenschaftlichen Resultate Marxschen Forschens und Denkens" sah er nach seinen eigenen Worten sein Lebenswerk. In seinem Streben nach einer einheitlichen Weltanschauung faßte Kautsky die von ihm redigierte wissenschaftliche Zeitschrift der Partei, „Neue Zeit", als ein Organ des Marxismus auf, das rivalisierende Weltanschauungen bekämpfen und den Marxismus den Massen einhämmein sollte. Als theoretisches Gewissen der Partei hatte Kautsky einen bedeutenden und oft verhängnisvollen Einfluß auf die Festlegung der Parteipolitik, die er völlig einseitig nach dem. Maßstab des von ihm interpretierten Marxismus beurteilte. Ganze Gebiete der Politik konnten für die Partei gar nicht oder erst spät erschlossen werden, da der von Kautsky benutzte Schlüssel des Marxismus für sie nicht paßte.

Hatte schon der Anti-Dühring von Engels als ein „Filter" gewirkt, der wesentliche Elemente des Marxismus nicht durchließ so stellte der Kautskyanismus eine weitere Verflachung, Einengnung und Umformung der Lehren von Marx dar. An die Stelle der Dialektik im Marxismus wurde von Kautsky die Evolution gesetzt. Die die aktive Rolle des Proletariats betonenden revolutionären Bestandteile wurden ausgeklammert. Schließlich wurde der Marxismus im Verständnis Kautskys fast völlig auf eine Diagnose der nur durch den Sozialismus heilbaren Krankheitserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft und auf eine Prognose der mit naturgesetzlicher Sicherheit zu bestimmenden weiteren Entwicklung reduziert. Der Glaube an den von der Theorie vorhergesagten, naturnotwendigen und von selbst erfolgenden Zusammenbruch des Kapitalismus sollte auch das taktische Vorgehen der Partei bestimmen. Für die Führer der deutschen Sozialdemokratie — wie für Engels — war die Voraussetzung einer erfolgreichen Revolution die Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung In der vorrevolutionären Epoche lag daher die Aufgabe der Sozialdemokratie in der Propagierung des Sozialismus und in der Organisation des Proletariats, durch die die Position der Sozialdemokratie für den Endkampf, über dessen Form man sich kaum Gedanken machte, ständig verbessert wurde. Die Organisations-und Propagandaarbeit der Sozialdemokratie hatte damit in der Theorie ein revolutionäres Vorzeichen.

Die Führer der Sozialdemokratie waren aufgrund der Ideologie der Partei der Überzeugung, daß die Zeit für sie arbeite. Nicht die Partei, sondern ihre Gegner würden schließlich —• verzweifelt über die unaufhaltsame Verstärkung der sozialistischen Bewegung als Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung — die Initiative zum Entscheidungskampf ergreifen. Die optimistische Einschätzung der Situation und die daraus abgeleitete Taktik des Ab-wartens erklärt auch die doppelte Frontstellung der Partei in den Auseinandersetzungen mit den „Jungen", die mit der Provozierung eines verfrühten Zusammenstoßes mit den herrschenden Gewalten vor der Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung eine Niederwerfung der Partei riskieren würden, und dem bayerischen Sozialistenführer Vollmar, dessen Taktik die Arbeiter mit der kapitalistischen Gesellschaft versöhnen würde.

Die Oppositionsbewegung der „Jungen"

Die von links kommende Oppositionsbewegung der sogenannten „Jungen" richtete sich gegen die angebliche Diktatur der Parteiführer und die nach ihrer Ansicht immer, deutlicher werdende Entwicklung der Sozialdemokratie zu einer opportunistischen kleinbürgerlichen Reformpartei. Die radikalsten und konsequentesten Elemente dieser lokal differenzierten und völlig uneinheitlichen Bewegung lehnten die Mitarbeit der Sozialdemokratie in Parlamenten und Stadtverordnetenversammlungen ab und propagierten eine anarchistische Kampfesweise. Das Bedeutsame an dieser Bewegung, die weder eine einheitliche revolutionäre Taktik noch eine zusammenhängende Theorie herausbildete, ist jedoch nicht ihre sachliche Kritik an der Partei und auch nicht ihre äußerst verschwommenen Vorstellungen, sondern vielmehr die in der Opposition zum Ausdruck kommenden Ressentiments der alten Parteigenossen gegen die jetzt nach dem Ende der Kampfzeit des Sozialistengesetzes zur Partei stoßenden Neulinge. Es ist der Parteiführung — vor allem dank des persönlichen Einsatzes von Bebel — jedoch gelungen, die sich anbahnende Verbindung der Vorurteile der Prätorianergarde des Sozialismus mit den revolutionären Phraseologien der intellektuellen Vertreter der „Jungen" aufzulösen, den Stamm der alten Mitglieder, die sich mit ihrer Kritik nicht außerhalb des Parteirahmens stellen wollten, wieder an sich zu fesseln und die so isolierten Sprecher der Opposition auf dem Parteitag in Erfurt 1891 zum Austritt aus der Sozialdemokratie zu provozieren

Georg von Vollmar und die Begründung des Reformismus Sehr viel gewichtiger als diese zu einer sektiererischen Haltung tendierende Linksopposition waren die von einem erheblichen Teil der süddeutschen Sozialdemokratie unterstützten Bemühungen Georg von Vollmars, den neuen reformfreundlichen Kurs der Regierung Caprivis mit einem Wandel der Politik der Sozialdemokratie zu honorieren.

Vollmar, eine mächtige Bauerngestalt mit einem feinen sensiblen Gesicht, ein volkstümlicher Agitator und ein Meister der ausgewogenen, geschliffenen Rede im Parlament, war der unbestrittene Führer der bayerischen Sozialdemokratie. Seine Rede vom 1. Juni 1891 über „Die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie" im Eldorado-Palast in München wurde das grundlegende Programm all der Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung, die sich unter Verzicht auf theoretische Erörterungen auf den Boden des bestehenden Staates stellten und in praktischer Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften versuchten, die Demokratisierung Deutschlands zu beschleunigen. Vollmar forderte die Konzentration der gesamten Kraft der Sozialdemokratie auf die Herbeiführung konkreter Reformen — wie z. B. die Verbesserung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Erringung eines demokratischen Vereinsrechts und die Beseitigung der Lebensmittelzölle Gleichzeitig deutete er an, daß die Sozialdemokraten im Falle eines Angriffs von außen bereit wären, ihr Vaterland zu verteidigen.

Bebels Kritik an den Ansichten Vollmars ging davon aus, daß das Paktieren mit den herrschenden Gewalten das Rückgrat der Partei brechen, den Klassenkampf lähmen und die Partei zu einem Zeitpunkt mit der kapitalistischen Gesellschaft verbinden würde, in dem deren Untergang unmittelbar bevorstehe. „Ich bin überzeugt", so rief er auf dem Erfurter Parteitag 1891 den Delegierten zu, „die Verwirklichung unserer Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden" Auch aus anderen Zeugnissen von Bebel und Engels wissen wir, daß sie fest mit einem Sieg des Sozialismus im Laufe der nächsten zehn Jahre rechneten

Die wuchtige Auseinandersetzung zwischen Vollmar und Bebel wurde schließlich ohne endgültige Entscheidung abgebrochen. Weder war es Vollmar gelungen, seinen Ansichten in der Gesamtpartei zum Durchbruch zu verhelfen, noch hatte Bebel, der Protagonist in diesem Streit, eine Isolierung seines Gegenspielers erreichen können. Es hatte sich ge-zeigt, daß Vollmar in der Gefolgschaft der bayerischen und den Sympathien der übrigen süddeutschen Sozialdemokraten eine Stütze fand, die es ihm ermöglichte, die Herrschaft des Parteivorstandes in den nächsten Jahren in Süddeutschland weitgehend zu mediatisieren. In den inneren Parteikämpfen der nächsten Jahre, die immer wieder den gespannten Zustand des Waffenstillstandes unterbrachen, war Vollmar als Antipode Bebels die zentrale Figur.

Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften bis 1894 Die Aufhebung des Sozialistengesetzes hatte auch für die deutschen Gewerkschaften, die — mit der Ausnahme einiger früher gebildeter Fachvereine — am Ende der sechziger Jahre durch die Hebammendienste politischer Parteien begründet worden waren, eine grundsätzliche Neuorientierung zur Folge.

Die sozialdemokratisch beeinflußten Verbände, die nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes verboten und meist völlig zerrieben worden waren, wurden in den späten achtziger Jahren während der lascheren Handhabung des Sozialistengesetzes im allgemeinen unter Bruch mit der Kontinuität von einer neuen Schicht von Gewerkschaftsführern neu begründet. Mit der Schaffung der unter der Leitung von Carl Legien stehenden „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" der Entscheidung für die Organisation in gewerkschaftlichen Zentralverbänden statt in örtlichen Vereinigungen und dem Aufkommen der ersten großen Industrieverbände, die die Arbeiterschaft verschiedener Berufe organisierten, wurde schließlich in den schwierigen Jahren der wirtschaftlichen Krise 1890— 94 die organisatorische Grundlage des sozialistischen Flügels der deutschen Gewerkschaftsbewegung, der über zwei Drittel der organisierten Arbeiter umfaßte, gelegt.

Das Verlangen nach einer strikten Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Sozialdemokratie führte auf dem Parteitag in Köln 1893 zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Partei-und Gewerkschaftsführern, in denen Bebel — bestimmt von der Erwartung des sozialistischen Zukunftsstaates — den baldigen Niedergang der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung als Folge der Konzentration des Kapitals und der sozialpolitischen Gesetzgebung des Staates, die die Gewerkschaften aus ihrem eigentlichen Tätigkeitsbereich verdrängen, prophezeite Selbst Legien, der ein Jahr zuvor auf dem Parteitag in Berlin vergeblich versucht hatte, eine Resolution durchzusetzen, die die Parteimitglieder zum Anschluß an die gewerkschaftliche Organisation ihres Berufes verpflichtete verteidigte die Bedeutung der Gewerkschaften als „Vorschule für die politische Bewegung" und als „Erziehungsanstalt" der Partei nur unter Hinweis auf ihre Dienste für die Sozialdemokratie

Tatsächlich sollten jedoch die Diskussionen des Kölner Parteitages den Ausgangspunkt einer allmählichen Loslösung der Gewerkschaften von der Bevormundung durch die politische Partei, die durch das Desinteresse der Sozialdemokratie selbst provoziert wurde, bilden. Vom Aufschwung der wirtschaftlichen Konjunktur und der industriellen Expansion nach 1895 mitgerissen, konnte die Gewerkschaft ihre Mitgliederzahl erhöhen, ihre Organisationen festigen, ihren Tätigkeitsbereich ausdehnen und schließlich eine der Sozialdemokratie gleichberechtigte, wenn nicht sogar führende Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung erringen.

Die Agrarfrage und die Ausdehnung der Partei 1890— 1912 Die Sozialdemokratie hatte nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes damit gerechnet, in kurzer Frist eine Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen und auch die preußische Armee durch Infizierung mit sozialistischen Gedanken für einen Bürgerkrieg aktionsunfähig zu machen. Diese Hoffnungen sollten sich nicht verwirklichen, da es der Partei trotz aller Bemühungen nicht gelang, wesentliche Einbrüche in die traditionellen Herrschaftsbereiche anderer Parteien zu erzielen.

Besonders bedeutsam war das Scheitern des zunächst mit großem Elan unternommenen Versuches, den Einfluß der Partei auf die Agrargebiete des Reiches auszudehnen und damit die Sozialdemokratie — bisher eine Minderheitspartei der gewerblichen Arbeiter — zu einer echten Volkspartei zu machen. Die von den süddeutschen Sozialdemokraten initiierte leidenschaftliche parteiinterne Diskussion der möglichen Reformen für die Landwirtschaft legte die tiefsten sozialen und geistigen Wurzeln der Partei bloß, führte aber zu keinem praktischen Ergebnis. Der von einer Parteikommission ausgearbeitete Entwurf eines Agrarprogramms, der einen Schutz der bäuerlichen Betriebe vorsah, wurde schließlich auf dem Parteitag von Breslau 1895 auf Betreiben Karl Kautskys, des Gralshüters des Marxismus, abgelehnt. Derartige Maßnahmen, so argumentierte Kautsky, ließen sich nicht mit der marxistischen Lehre vereinbaren, nach'der die Bauern eine zum Untergang verurteilte soziale Schicht darstellten Die Mobilisierung der Bauern als Anhang der Konservativen war damit unvermeidbar und hat die Chancen zu einer Verwirklichung des Sozialismus durch die Gewinnung einer Reichstags-mehrheit praktisch zunichte gemacht. Tief resigniert über den Beschluß des Parteitages schrieb Bebel an den österreichischen Sozialistenführer Victor Adler: „Im Eifer zu verwerfen hat man dann auch Forderungen verworfen, die man vernünftigerweise gar nicht verwerfen konnte, nicht verwerfen durfte und deren Verwerfung auf dem Lande — und ich rechne mit keinen anderen Elementen dort neben den Landarbeitern als mit den Klein-bauern — den allerbösesten Eindruck macht,, sogar bei den halb Tagelöhnern, halb Bauern.

Das allerschlimmste aber war die Motivierung der Ablehnung, die, da mögen die Vertheidiger der Resolution K. = sagen was sie wollen, eine prinzipielle Ablehnung jeder Forderung zu Gunsten der Bauern, auch solcher, die uns nichts kosten, bedeutet. ... Die Breslauer Beschlüsse verlängern unsere Wartezeit um mindestens 10 Jahre, aber dafür haben wir das . Prinzip" gerettet."

Auch die weiteren, der Organisations-und Propagandaarbeit der Sozialdemokratie 1890 gesteckten Ziele — die Durchdringung der ostelbischen Landarbeiter mit sozialistischen Ideen, die Gewinnung der in ihrer Mehrheit vom Zentrum politisch erfaßten katholischen Industriearbeiter und die Erfassung der im Reichsgebiet ansässigen polnischen Arbeiter — ließen sich nicht verwirklichen.

Die Partei, die zunächst ihren Stimmenanteil und die Zahl der gewonnenen Mandate ständig vergrößerte, erhielt bei dem von nationalen Parolen bestimmten Wahlkampf von 1907 erstmals seit 1881 einen Rückschlag, konnte jedoch bei den folgenden Wahlen von 1912, die unter ungewöhnlich günstigen Umständen für die Partei abgehalten wurden, mit 34, 8 Prozent der abgegebenen Stimmen und 110 gewonnenen Mandaten noch einmal ihre bisherigen Wahlerfolge übertrumpfen Damit war aber auch — sofern nicht völlig neue Schichten der Bevölkerung gewonnen wurden — der Sättigungsgrad der Partei erreicht.

Das deutliche Abstoppen des Wachstumsprozesses der Sozialdemokratie seit der Mitte der neunziger Jahre und die damit verbundene Suche nach neuen Wegen zur Ausübung und Erweiterung der von der politischen Arbeiterbewegung repräsentierten, aber nicht eingesetzten Macht bildet dann auch eine wesentliche Ursache der das innere Parteileben der folgenden Jahrzehnte mitbestimmenden Auseinandersetzungen über die Theorie und Taktik der Partei.

Eduard Bernstein und der Revisionismus Im Verlauf der Diskussionen über das Agrarprogramm hatte der hessiche Sozialist Dr. Eduard David, zum Nachweis der ökonomischen Existenzfähigkeit der kleinbäuerlichen Wirtschaften, als erster führender Vertreter der Partei die Allgemeingültigkeit der Marx-sehen Lehre von der fortschreitenden Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe angegriffen Seine Arbeiten bilden den Ansatzpunkt der seitdem nicht mehr abreißenden Diskussion um die Revision der marxistischen Glaubenssätze.

Die Zusammenfassung der in der Mitte der neunziger Jahre immer stärker werdenden Kritik an der doktrinären Erstarrung der traditionellen Parteianschauungen unter dem Schlagwort des Revisionismus täuscht eine Einheitlichkeit der oppositionellen Gruppen vor, die in den positiven Anschauungen durchaus nicht gegeben war. Tatsächlich zerfällt der „Revisionismus" in eine Fülle von differen-zierten Strömungen und Gruppen, die, meist aus der Praxis bestimmter engerer Arbeitsbereiche heraus, irgendeinen Punkt der Theorie und der Taktik der Sozialdemokratie der kritischen Betrachtung unterwerfen.

Der erste systematische Versuch, den durch die offizielle Parteitheorie in ihrer Arbeit eingeengten Praktikern der Partei und der Gewerkschaften eine theoretische Grundlage ihrer Tätigkeit zu geben, geht auf Eduard Bernstein einen langjährigen Freund und Mitarbeiter von Karl Kautsky und Friedrich Engels, zurück. Der 1850 in Berlin geborene Sohn eines jüdischen Lokomotivführers hatte während des Sozialistengesetzes von 1881 bis 1890 das offizielle Parteiorgan „Der Sozialdemokrat" zunächst in Zürich und dann in London mit großem Geschick redigiert. Bernstein, einer Persönlichkeit von unbedingter innerer Wahrhaftigkeit und intellektueller Integrität, waren im Verlaufe der neunziger Jahre immer stärkere Zweifel an der Richtigkeit der Lehren von Marx gekommen. Seine Wandlung vom orthodoxen Marxisten zum führenden Revisionisten der Sozialdemokratie bewirkten zunächst einmal die genaue Beobachtung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Englands als des am weitesten entwickelten kapitalistischen Industrielandes sowie die Demonstration der Lebensfähigkeit des Kapitalismus in den Jahren der wirtschaftlichen Konjunktur nach 1895. Ein vertieftes wissenschaftliches Studium und die intensive Berührung mit dem nicht vom Marxismus geprägten Sozialismus der Fabier und der Unabhängigen Arbeiterpartei Großbritanniens waren weitere Antriebe in diesem intellektuellen Gärungsprozeß.

Seine von der offiziellen Parteimeinung abweichenden Ansichten — zuerst veröffentlicht in einer Reihe von Aufsätzen in der „Neuen Zeit" 1896— 98 — fanden ihren klarsten Ausdruck in dem 1899 erschienenen, vielbeachteten Buch über „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie".

Bernsteins Kritik an den philosophischen Grundlagen des Marxismus lief im wesentlichen auf die Verwerfung der Hegeischen Dialektik, die nach seiner Meinung kein integraler Bestandteil der Marxschen Lehre sei, und auf die Ablehnung einer rein materialistischen Begründung des Sozialismus hinaus. Als Philosoph war Bernstein ein reiner Eklektiker und äußerst unklar.

Seine Zweifel am Marxismus beruhen aber in erster Linie auch nicht auf philosophischen Erwägungen, sondern darauf, daß der von Marx vorhergesagte Entwicklungsverlauf der kapitalistischen Gesellschaft nicht mit der an Hand von Statistiken untersuchten tatsächlichen Entwicklung übereinstimmte. Weder die Marxsche Lehre von der zunehmenden Konzentration der Produktion und des Besitzes, noch die Theorie von dem Verschwinden der Mittelschichten und der zunehmenden Verelendung des Proletariats könnten absolute Gültigkeit beanspruchen. Da Bernstein auch die Auffassung, daß die kapitalistische Produktionsweise notwendig zu ständig verheerender wirkenden Wirtschaftskrisen führe, bezweifelte, wurde so der von Kautsky in den Mittelpunkt der Parteitheorie und der Parteipolitik gestellten Lehre von der naturnotwendigen Katastrophe der kapitalistischen Gesellschaft der Boden entzogen.

In Verbindung mit seiner Kritik an der Zusammenbruchstheorie bezweifelte Bernstein auch die Einheitlichkeit des Proletariats als einer Klasse. So schreibt er in einem Rechtfertigungsbrief an Bebel vom Oktober 1898: „Es gibt so wenig ein einheitliches Proletariat, wie es ein einheitliches Volk oder einen einheitlichen dritten Stand gegeben hat. Sie sind nur einheitlich in bestimmten Gegensätzen und unter bestimmtem Druck. Je mehr er nachläßt, desto differenzierter verhalten sie sich..." Indem Bernstein die den Zusammenbruch aufhaltenden bzw. verhindernden Erscheinungen und Kräfte der kapitalistischen Gesellschaft aufgrund der Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse aufzeigte, erwies er sich in seinem methodischen Vorgehen als Marxist. Auch für Marx sollten ja politische Entscheidungen auf der Analyse der tatsächlichen Klassensituation beruhen. Eine Abweichung von Marx liegt jedoch darin, daß Bernstein den wissenschaftlichen Charakter des Sozialismus aufgibt Nach Marx will der Sozialist das aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis Unabwendbare und Notwendige. Für Bernstein ist eine sozialistische Ordnung nicht mehr unabwendbar und notwendig, sondern ein Ziel des vorwiegend von ethischen Motiven getragenen Wollens. Der tiefere Antrieb der Tätigkeit Bernsteins — und darin ist er dem französischen Sozialistenführer Jean Jaures im innersten verwandt — war sein stark ausgeprägtes und von humanitären Impulsen getragenes Rechtsgefühl: „Wenn wir uns genau prüfen", so schreibt er an Victor Adler am 3. März 1899, „so ist es nicht der hypothetische Zukunftsstaat, der uns zu Sozialisten macht, auch nicht der Ausblick auf die große allgemeine Expropriation, sondern unser Rechtsgefühl. Dieses aber, das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit, ist, soweit ideelle Kräfte in Betracht kommen, das dauernde Element in der Bewegung, das alle Wandlungen in der Doktrin überlebt, aus dem sie zu allen Zeiten immer wieder neue Kraft schöpft."

Vom Angelpunkt der Betonung der Lebensfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ausgehend, kam Bernstein nun nicht zu der Über-zeugung, daß der Sozialismus nicht verwirklicht werden könne, sondern entwickelte vielmehr in positivem Umschlag seiner Kritik die Idee einer stufenweisen Einführung des Sozialismus durch die praktische Reformarbeit von Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Verwirklichung des Sozialismus war für Bernstein nicht das Ergebnis einer punktuellen Katastrophe oder eines revolutionären Impulses, sondern ein sich in der Gegenwart vollziehender, langsamer aber ständiger Prozeß der Umformung der kapitalistischen Gesellschaft im Sinne des Sozialismus Die Demokratie war das wichtigste Instrument zur Beschleunigung dieser Entwicklung und zugleich die Substanz der erstrebten neuen sozialistischen Gesellschaft.

Die gesamte Konzeption Bernsteins gipfelte in der Betonung der Bedeutung der praktischen Gegenwartsarbeit der sozialistischen Organisationen, in der er das schlechthin einzige Mittel zum organischen Aufbau des sozialistischen Staates der Zukunft sah. Im Interesse einer Verstärkung des realen Einflusses der Partei forderte Bernstein daher von der Sozialdemokratie die Emanzipation von ihrer überlebten revolutionären Phraseologie. Die Partei solle das scheinen wollen, was sie in Wirklichkeit sei, „eine demokratische sozialistische Reform-partei“ Die Überwindung der Kluft zwischen Theorie der und der reformistischen Praxis durch die Anpassung der Theorie an die reale Politik der Partei war also das Anliegen Bernsteins.

Die Reaktion auf die Thesen Bernsteins und die Politik des Parteizentrums Die zugespitzten Thesen Bernsteins haben in der Sozialdemokratie eine vielschichtige, sich über Jahrzehnte erstreckende leidenschaftliche Diskussion über die Theorie und die Taktik der Partei ausgelöst, die die Herauskristallisierung verschiedener Grundrichtungen in der Partei beschleunigte.

Das unmittelbare Echo auf die Ideen Bernsteins war — wenn man von einem kleinen Kreis von sozialistischen Intellektuellen absieht — in der Sozialdemokratie im Gegensatz zu der begeisterten Aufnahme seiner Ideen in bürgerlichen Kreisen fast durchweg negativ.

Selbst die in der politischen Gegenwartsarbeit ausgehenden reformistischen Sozialdemokraten, denen Bernstein eine theoretische Rechtfertigung ihrer an die bestehenden Verhältnisse anknüpfenden Reformversuche geben wollte, sahen in der grellen Beleuchtung ihrer seit Jahren unauffällig verfolgten praktischen Arbeit eine taktische Ungeschicklichkeit. So schrieb der zu dieser Gruppe gehörende langjährige Parteisekretär und nüchterne Taktiker Ignaz Auer an Bernstein: „Hältst Du es wirklich für möglich, daß eine Partei, die eine 50 Jahre alte Literatur, eine fast 40 Jahre alte Organisation und eine noch ältere Tradition hat, im Handumdrehen eine solche Wendung machen kann? Speziell seitens der maßgebenden Parteikreise so zu handeln, wie Du es verlangst, hieße einfach die Partei sprengen, jahrzehntelange Arbeit in den Wind streuen. Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man. Unsere ganze Tätigkeit — sogar auch die unter dem Schandgesetz (gemeint ist das Sozialistengesetz Bismarcks) — war die Tätigkeit einer sozialdemokratischen Reformpartei Eine Partei, die mit den Massen rechnet, kann auch gar nicht anders sein." Die führenden Reformisten sahen also in dem Vorgehen Bernsteins ein Einrennen offener Türen, das ihre praktische Reformarbeit erschwerte, indem es sie überflüssigerweise in die Schußlinie der Auseinandersetzung mit dem Marxismus trieb. Tatsächlich führte die Kampfstellung gegen Bernstein vielfach dazu, daß die konkrete Gegenwartsarbeit abgewertet und als Alternative zur Prinzipientreue aufgefaßt wurde. * Der orthodoxe Marxismus im Sinne Kautskys und Bebels wurde durch Bernsteins Kritik in seinem Lebensnerv getroffen. Wenn man mit Bernstein das unaufhaltsame Anwachsen der Armee des Proletariats und den schließlich von selbst erfolgenden Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft bestritt, wurde die parteioffizielle Taktik des Abwartens unhaltbar. Obgleich die konkrete Entwicklung — die anhaltende Wirtschaftskonjunktur 1895 und die Fortdauer der Mittelschichten — die Richtigkeit der Analysen Bernsteins bewies, haben die in ihrer Vorstellungswelt erstarrten orthodoxen Marxisten sich in ihrer Polemik gegen Bernstein im wesentlichen auf die stereotype Wiederholung der angegriffenen Lehren von Marx beschränkt. Sie brachten nicht die Kraft auf, die Politik der Partei zu ändern, als sich herausstellte, daß die optimistische Einschätzung der Lage, auf der sie beruhte, falsch war. Das bedeutete aber, daß die von den orthodoxen Marxisten repräsentierte Parteimehrheit keine tragfähige Konzeption zur Eroberung der politischen Macht besaß. Einerseits wurde der von den Revisionisten und Reformisten vorgeschlagene Weg zur Gewinnung neuer Einflußsphären durch die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine alle Wählerschichten ansprechende Volkspartei und durch taktische Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften aus Sorge vor einer möglichen Verletzung der Reinheit der Prinzipien der Partei abgelehnt. Andererseits schreckte die Parteimehrheit — wohl auch aus Furcht vor einer möglichen Niederlage — vor der Vorbereitung revolutionärer Aktionen zurück.

Typisch dafür war, daß in der offiziellen sozialdemokratischen Theorie der Revolutionsbegriff völlig sinnentleert und verharmlost wurde. Für Kautsky war so jede große politische Erschütterung, die das Leben der Nation beschleunigte, eine Revolution, und die Sozialdemokratie eine revolutionäre, aber nicht eine Revolutionen machende Partei Diese Wortklauberei in der Erklärung des revolutionären Charakters der Partei ist kennzeichnend für das krampfhafte Festhalten an radikalen Phrasen bei dem Fehlen jeder revolutionären Ausrichtung der Gegenwartsarbeit. Sie zeigt die ganze Unklarheit, Richtungslosigkeit und Inkonsequenz dieser schließlich das Parteizentrum bildenden Gruppe der orthodoxen Marxisten. Die Grenzen ihrer politischen Konzeption wurden besonders deutlich, als die deutsche Sozialdemokratie auf dem internationalen Sozialistenkongreß von Amsterdam 1904 versuchte, eine auf dem Parteitag in Dresden 1903 beschlossene Resolution gegen den Revisionismus für die Parteien der 2. Internationale verbindlich zu machen. In scharfen Auseinandersetzungen mit Bebel warf dabei der große französische Sozialistenführer Jean Jaures den deutschen Sozialdemokraten vor, daß ihre hinter starren theoretischen Grundsätzen verdeckte Impotenz und Machtlosigkeit das eigentliche Hindernis auf dem Wege des sozialen und politischen Fortschritts und einen Gefahrenherd für den Frieden Europas darstelle

Für Kautsky und Bebel, wie überhaupt für die Verteidiger der überlieferten Grundanschauungen der Partei, bildete der Marxismus in der Praxis so nur noch einen Deckmantel für eine unfruchtbare Politik der Abstinenz, die auch das Gewicht der Sozialdemokratie als eine für die Völkerverständigung wirkende Kraft nicht genügend zur Geltung brachte.

Rosa Luxemburg und die Bildung eines linksradikalen Flügels Im Gegensatz dazu war der von Rosa Luxemburg ausgehende Versuch, den offensichtlich klaffenden Widerspruch zwischen der revolutionären Theorie und der reformistischen Praxis der Partei durch eine revolutionäre Gesamtkonzeption zu überbrücken, nicht ohne Wucht und innere Geschlossenheit.

Die aus dem russischen Polen stammende jüdische Revolutionärin Rosa Luxemburg ist eine der fesselndsten Frauengestalten der modernen europäischen Geschichte. Sie verband einen eindringlichen scharfen Verstand und ein leidenschaftliches energiegeladenes Eintreten für ihre Ideen mit einer hingebungsvollen menschlichen Wärme, ohne daß man angesichts der ungeheuren Spannungen in ihrem Wesen das Gefühl eines inneren Bruches hat. Die tiefsten Wurzeln dieser mimosenhaft sensiblen, aber doch unbeugsamen Persönlichkeit und den Motor ihrer revolutionären Aktivität bildeten ihren unbändigen Haß gegen jede Form von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ihr Mitgefühl für die leidende Kreatur und ihre unmittelbare, nicht nur ab-51) strakte Liebe zur Menschheit. Rosa Luxemburg hat die revolutionären Elemente des Marxismus vitalisiert und die theoretische Grundlegung und taktische Führung eines sich langsam herausbildenden linksradikalen Parteiflügels übernommen.

Ihre 1899 veröffentlichte Schrift „Sozialreform oder Revolution", in der wir das erste Dokument dieser Parteiströmung zu sehen haben, wendet sich zwar formell im Namen der überlieferten Parteianschauungen gegen Bernstein, enthält aber tatsächlich bereits die verkappte Formulierung einer neuen revolutionären Taktik.

Der Unterschied zwischen den Ideen der Anhänger Bernsteins und der Konzeption der radikalen Linken ist durch die verschiedene Auffassung der von beiden Richtungen betonten praktischen Gegenwartsarbeit bedingt. Sah Bernstein in der Sozialreform ein Mittel zur allmählichen Durchdringung der kapitalistischen Gesellschaft mit sozialistischen Elementen, so lehnte Rosa Luxemburg die Idee einer Verwandlung des Meeres der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweise Hinzufügung der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit als absurd und phantastisch ab Für sie war der praktische Kampf für Sozialreformen nur ein Weg zur Durchführung des proletarischen Klassenkampfes, ein Mittel zur Aufweckung der Mas-sen. Zwar würden sich die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr denen der sozialistischen nähern; gleichzeitig aber würde durch die rechtlichen und politischen Verhältnisse eine starre Wand zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft errichtet, die durch die Entwicklung der Sozialreform wie der Demokratie nur fester und starrer gemacht würde. Die einzige Möglichkeit zur Niederreißung dieser Wand sei „der Hammerschlag der Revolution"

Wenn auch ihre Ansichten im einzelnen der offiziellen Parteiideologie nicht direkt zuwiderliefen, so war doch der revolutionäre Atem ihrer Sprache und die eindeutige Bejahung der Gewalt als Mittel der Revolution in der Partei neu. Wie Rosa Luxemburg in einem Brief von 1904 schrieb, dürfe sich die Reaktion auf den Revisionismus nicht darauf beschränken, die Partei in den „heimatlichen Stall der Prinzipienfestigkeit zurückzuführen", vielmehr müßten die revolutionären Aspekte der Taktik betont und weiterentwickelt werden

Das Vorbild der russischen Revolution von 1905, schwere Arbeitskämpfe vor allem im Ruhrgebiet Januar-Februar 1905, die aus den romanischen Ländern übernommene Idee des politischen Massenstreiks der Arbeiter, das Aufkommen von Massenbewegungen zur Demokratisierung des Wahlrechts in den deutschen Einzelstaaten und besonders in Preußen, wo das bestehende Dreiklassenwahlrecht einseitig die besitzenden Schichten bevorzugte, sowie die Verschärfung des Kampfes gegen Militarismus und Nationalismus waren die Hauptantriebe für die Bildung und Konsolidierung eines linksradikalen Flügels in der Sozialdemokratie, der sich allerdings erst 1910 klar von der Parteiführung und dem Parteizentrum absetzte.

Die Debatte und die Anwendbarkeit des Massenstreiks als politisches Kampfmittel Die Radikalen sahen nicht mehr im Wahlkampf und in der Parlamentstätigkeit, sondern im politischen Massenstreik das entscheidende taktische Kampfmittel der Sozialdemokratie.

Auch die das Parteizentrum repräsentierende Führung der Sozialdemokratie hat die Idee des Massenstreiks als eines möglichen Kampfmittels der Arbeiterschaft 1905/06 formell akzeptiert. In der Praxis jedoch hat sie — mitbedingt durch die Opposition der Gewerkschaften und die Furcht vor einer Zerschlagung der Arbeiterorganisationen — nie ernsthaft an die Anwendung dieses Druckmittels zur Erzwingung einer Reform des Wahlrechts in Preußen oder gar zur Verhinderung eines Krieges gedacht. Während sogar einige der bedeutendsten Führer der Revisionisten wie Eduard Bernstein und der badenser Sozialistenführer Ludwig Frank im Streik ein brauchbares Instrument zur Erzwingung polilitischer Reformen und zur Aktivierung der latenten Macht der Sozialdemokratie sahen war er für das Parteizentrum nur ein mögliches Defensivmittel zur Bekämpfung eines Anschlages auf das Koalitionsrecht oder das Reichstagswahlrecht. Selbst dann aber sollte ein etwaiger Massenstreik nur begrenzte, genau definierte Ziele verfolgen und — wie in einer Abmachung zwischen dem Parteivor-stand und der Generalkommission der Gewerkschaften ausdrücklich festgelegt wurde — von der Partei und Gewerkschaftsführung gemeinsam eingeleitet und mit straffer Disziplin von den Arbeiterorganisationen durchgeführt werden.

Man hat in dem Verzicht der Sozialdemokratie auf eine alleinige Bestimmung der Politik der Arbeiterbewegung eine Kapitulation der Partei vor den Gewerkschaften gesehen Tatsächlich aber war die Verpflichtung zum gemeinsamen Vorgehen lediglich ein Ausdruck der realen Machtverhältnisse, aufgrund derer die Partei nicht daran denken konnte, ohne die Unterstützung der Freien Gewerkschaften, die ihr an Mitgliederzahl und Geldmitteln weit überlegen waren einen Massenausstand der Arbeiter erfolgreich durchzuführen. Nicht das Prinzip der Mitbestimmung der Gewerkschaften in politischen Fragen, sondern der von vielen Parteifunktionären und vor allem den orthodoxen Marxisten geteilte Mangel an politischem Machtwillen der meisten Gewerkschaftsführer und die Tendenz, die aufkommenden Fragen allzu einseitig nach den voraussichtlichen Rückwirkungen auf die Organisationsarbeit zu entscheiden, waren das Bedenkliche an der „Vergewerkschaftung" der Sozialdemokratie, die mit der Vernachlässigung der ideellen Antriebe der politischen Arbeit und der einseitigen Beschränkung auf die Vertretung der materiellen Interessen der Arbeiterschaft sich selbst einen ihrer Lebensfäden abschnitt. Die von der Sozialdemokratie angestrebte Reform der Verfassungsstruktur des Reiches und Preußens erforderte nicht nur rechnerisches Abwägen, sondern auch politischen Elan und die Bereitschaft, Risiken einzugehen.

In scharfem Gegensatz zur Partei-und Gewerkschaftsführung sahen die Radikalen im Massenstreik eine spontane Erhebung der Arbeiterschaft als Vorstadium der Revolution und als Mittel zur revolutionären Schulung der unorganisierten Arbeiterschaft, auf die die

Radikalen ihre entscheidenden Hoffnungen setzten

Die Eroberung der politischen Macht war bei Rosa Luxemburg und den meisten ihrer Anhänger nicht als Staatsstreich einer entschlossenen Minderheit gedacht, sondern als Folge des zähen revolutionären Kampfes einer großen und klassenbewußten Volksmasse. Die Bruchstelle der Konzeption Rosa Luxemburgs und des linken Parteiflügels, der 1911/12 — provoziert durch die Dämpfung der Massenstreikdebatte, die aus wahltaktischen Gründen erfolgende Zurückhaltung in der Marokkokrise 1911 und das Stichwahlabkommen mit dem Fortschritt 1912 — gegen den Parteivorstand rebellierte, war die Verkennung der wirklichen Einstellung der angeblich revolutionären Massen, als deren Wortführer sie sich ansahen. Rosa Luxemburgs Vorstellung einer „demokratischenRevolution" entsprachim Gegensatz zu Lenins Idee — einer durch eine Minderheit von Berufsrevolutionären bewußt herbeigeführten und straff gelenkten Revolution — der von Engels dargelegten spätmarxistischen Auffassung der Revolution. Sie war aber undurchführbar, da sie auf einer falschen Einschätzung der politischen Verhältnisse beruhte. Trotz aller Kritik der Arbeiterschaft an der ungenügenden Berücksichtigung ihrer politischen und sozialen Forderungen war die Eingliederung der Arbeiter, — die an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs der beiden Jahrzehnte vor 1914 beteiligt worden waren — in den Staat und die Gesellschaft ihrer Zeit bereits so weit fortgeschritten, daß ein echter Resonanzboden für die Ideen Rosa Luxemburgs und ihrer politischen Freunde nicht gegeben war.

In der politischen Praxis entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei unter fast unbekümmerter Beibehaltung der alten radikalen Schlagworte trotz des Widerstandes prinzipieller Bedenken immer weiter in der vorgezeichneten Richtung einer reformistischen Emanzipationspartei der Arbeiterschaft. Die langsame Umwandlung der Sozialdemokratie von einer Agitationspartei mit genau festgelegten theoretischen Richtlinien zu einer praktisch tätigen Reformpartei mit einer Vielfalt von durch die konkreten Verhältnisse nuancierten und wandelbaren Einzelansichten war auch die letzte Ursache der besonders in Süddeutschland immer deutlicher werdenden revisionistischen Bestrebungen.

Die agitatorischen Phrasen und radikalen Grundsätze waren das typische Kennzeichen einer Partei gewesen, die, jahrzehntelang auf den Reichstag als einzige Tribüne zur Vertretung ihrer Ideen angewiesen, auf die Fragen der konkreten Tagespolitik fast ohne jeden Einfluß blieb. Während nun in den letzten Jahren vor 1914 im Reichstag selbst mit der steigenden Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten an die Stelle der summarischen Behandlung der aufgeworfenen Fragen eine ernstere Prüfung und sachliche Einzelkritik trat, erschloß sich der Sozialdemokratie in den Selbstverwaltungskörperschaften der Sozialpolitik sowie den Landtagen und Gemeindevertretungen ein immer breiteres Arbeitsfeld, das, ungeeignet zu Propagandazwecken, ein großes Maß an sachlicher Einsicht und praktischem Können erforderte.

Die Sozialdemokratie in den deutschen Einzelstaaten Um die Jahrhundertwende war die Sozialdemokratie in der Mehrzahl der Landtage der deutschen Einzelstaaten vertreten Während im Reichstag die scharfen Gegensätze in den Fragen der Wehrpolitik, der auswärtigen Politik, der Kolonialpolitik sowie der Zoll-und Steuerpolitik einer positiven Mitarbeit der Sozialdemokratie enge Grenzen zogen, bestanden für die in den Kompetenzbereich der Landtage fallenden Fragen wie Sozial-, Kirchen-und Schulpolitik im allgemeinen keine unüberbrückbaren prinzipiellen Gegensätze zwischen der Regierung und der Gesamtheit der bürgerlichen Parteien sowie der Sozialdemokratie. In geschickter Ausnützung der Gegensätze zwischen den anderen Parteien — vor allem dem Zentrum und den Liberalen — gelang es der Sozialdemokratie in Staaten wie Bayern, Baden, Württemberg, Hessen, Gotha und zunächst auch Bremen, die Landespolitik zu beleben und wesentliche Reformmaßnahmen durchzusetzen.

In den meisten Staaten stand der Kampf um eine Reform des Wahlrechts im Mittelpunkt der Arbeit der Partei. In Süddeutschland konnte die Sozialdemokratie in Bayern, Württemberg und Baden einen bedeutenden Einfluß auf die Schaffung neuer Wahlgesetze nehmen, die die Vorstellungen der Partei im wesentlichen verwirklichten. Im Gegensatz zu dieser Demokratisierung des Wahlrechts im Süden 1904— 07 scheiterten alle Bestrebungen zur Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. In Sachsen, Braunschweig, Lübeck und Hamburg kam es sogar zu Wahlrechtsveränderungen, die den politischen Einfluß der Arbeiterschaft zugunsten privilegierter Gruppen noch stärker als bisher beschränkten. Der Unterschied im politischen und sozialen Klima zwischen dem Süden, in dem die Sozialdemokratie mit bürgerlichen Kräften bei der Demokratisierung der Verfassung zusammenarbeiten konnte, und dem Norden, in dem die Partei weiterhin isoliert blieb und keine politischen Konzessionen erringen konnte, hat den bereits in den neunziger Jahren sichtbaren Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie Nord-und Süddeutschlands weiter verschärft.

Es ist bezeichnend, daß die Kritik des Parteizentrums und der Radikalen an der reformistischen Praxis der süddeutschen Sozialdemokraten nicht an sachliche Einzelfragen der Landespolitik anknüpfte, sondern auf der Verschiedenartigkeit der Staatsauffassungen beruhte. Während die an der Festlegung der staatlichen Politik beteiligten süddeutschen Sozialdemokraten eine allmähliche Umwandlung des Staates durch den Einfluß der Arbeiterschaft für möglich hielten, tendierten die Sozialdemokraten in Norddeutschland, wo die Partei durch das die Arbeiter benachteiligende Wahlrecht aus den Landtagen ihrer Staaten ausgeschlossen war oder aufgrund ihrer Schwäche und der Stärke der konservativen Parteien keinen konkreten Einfluß ausüben konnte, dazu, den Staat als ein Instrument der Klassenherrschaft anzusehen, das nicht umgewandelt, sondern nur durch den Sieg des Proletariats zerstört werden könnte.

Der bedeutendste Versuch zur Aufhebung der Gegensätze von Radikalismus und Reformismus, die ja letztlich in den verschiedenen politischen Verhältnissen im Norden und Süden ihre wesentliche Ursache hatten, ging von Ludwig Frank aus. Als eigentlicher Initiator des badischen Großblocks — einer parlamentarischen Arbeitsgemeinschaft von Liberalen und Sozialdemokraten gegen das Zentrum und die Konservativen im Landtag von Baden — demonstrierte er die Möglichkeit eines erfolgreichen Zusammengehens der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien, gleichzeitig aber sprach er sich eindeutig für einen Massenstreik der Arbeiterschaft zur Erzwingung einer Wahlreform in Preußen aus Sein Plan einer Mobilisierung der Kräfte der Partei im Dienste der Demokratisierung Deutschlands war den politischen Ideen von Victor Adler, Jean Jaures, Hjalmar Branting und Emile Vandervelde — den berühmten Führern der österreichischen, frarzösischen, schwedischen und belgischen Sozialisten — verwandt; in Deutschland jedoch blieb diese Konzeption sowohl in der Spannweite der Ideen als auch in dem für die deutsche Sozialdemokratie so ungewöhnlichen echten Drang nach politischer Aktion eine Ausnahme. Die Kommunalpolitik der Sozialdemokratie und die Auswirkung der praktischen Gegenwartsarbeit auf den Charakter der Partei Die Fragen der Gemeindepolitik waren von der Sozialdemokratie, die schon frühzeitig in einer Reihe von bedeutenden Städten eigene Stadtverordnete besaß, lange kaum beachtet worden. Erst als die offensichtliche Stagnation der Sozialpolitik des Reiches in Arbeiterfragen und die zunehmende Verlagerung der sozialpolitischen Initiative auf die größeren Kommunen die Bedeutung der städtischen Verwaltung unterstrichen, konnten die führenden Kommunalpolitiker der Sozialdemokratie, unterstützt von den seit dem Ende der neunziger Jahre in vielen Städten bestehenden Arbeitersekretariaten, für ihre Arbeit ein stärkeres Echo in der Gesamtpartei finden. Die Demokratisierung des Gemeindewahlrechts, die Reformierung des Schul-, Gesundheits- und Armenwesens, die Verbesserung der Lage der Gemeindearbeiter, die Munizipalisierung der Monopolbetriebe, die Förderung des kommunalen Wohnungsbaus sowie die Neuregelung des kommunalen Steuerwesens waren die Hauptforderungen der sozialdemokratischen Gemeindepolitiker, von denen einige in der Gemeinde sogar einen entscheidenden Hebel zur Neuorganisation der Gesellschaft sahen

Das in vielen Gebieten bestehende undemokratische Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungskörperschaften hat es dabei der Sozialdemokratie erschwert, ihren Einfluß in den Städten und Landgemeinden genügend zur Geltung zu bringen. Beim Gemeinde-wie beim Landtagswahlrecht machte sich die Differenz zwischen Nord-und Süddeutschland, wo in Bayern 1908 und in Baden 1910 die Gemeindewahlrechte grundlegend reformiert wurden, stark bemerkbar. Während in Baden, Württemberg und Bayern Sozialdemokraten in vie-len Orten in die Magistrate gewählt oder so-gar als Bürgermeister eingesetzt wurden, war es den Sozialdemokraten in Preußen unmöglich, ihre Vertreter in die Magistrate oder die Schuldeputationen zu bekommen.

Da Prinzipienfragen auf kommunaler Ebene kaum eine Rolle spielten, wurde die Mitarbeit in den Gemeindevertretungen — es gab 1913 über 10 000 Sozialdemokraten in Gemeindevertretungen und 320 in Magistraten und Gemeindevorständen — für die örtlichen Führer der Partei eine Schule zum Verständnis der komplexen Probleme der modernen Verwaltung und zu einem Experimentierfeld in der Zusammenarbeit mit Angehörigen divergierender Anschauungen.

Neben den Landtagen und Kommunen boten vor allem die Vertretungs-und Verwaltungskörperschaften der Arbeiterversicherung, die Gewerbe-und Kaufmannsgerichte sowie die kommunalen Arbeitsnachweise, in denen nach einer Schätzung Bernsteins von 1910 zusammen fast 100 000 Sozialdemokraten tätig waren ein fruchtbares Feld für praktische Arbeit.

In der mit dem wachsenden Umfang der praktischen Gegenwartsarbeit ständig zunehmenden Bedeutung konkreter politischer Fragen gegenüber prinzipiellen Erwägungen lag die Stärke des Revisionismus, dem wie der Hydra der Sage immer neue Köpfe nachwuchsen. Die Revision der Vorstellungen der Partei war nicht an die theoretische Konzeption Bern-steins und deren Schicksal gebunden, sondern war als Betrachtung vom Standpunkte der praktischen Parteiarbeit her als Gesamterscheinung schlechthin unfaßbar. Von einer Fülle wandelbarer Faktoren abhängig, war sie der festgelegten starren Doktrin der orthodoxen Marxisten zwar im einzelnen nicht gleichwertig, im ganzen aber unendlich überlegen. So mußten die sogenannten „Siege" über den Revisionismus — u. a. die ausdrückliche Verurteilung der Bewilligung einzelstaatlicher Budgets durch sozialdemokratische Landtagsfraktionen auf den Parteitagen von 1908 und 1910 — Pyrrhussiege bleiben. Der Wandel der theoretischen Vorstellungen als Reflex der das Parteileben immer mehr überwuchernden reformistischen Politik war das unvermeidliche Schicksal der Partei.

Der Stand der sozialdemokratischen Bewegung am Vorabend des ersten Weltkrieges Dem letzten vor dem ersten Weltkrieg abgehaltenen Parteitag der Sozialdemokratie in Jena 1913 konnte der Parteivorstand berichten, daß die Sozialdemokratie fast eine Million Mitglieder umfaßte und über 90 Tageszeitungen und 62 Druckereien verfügte Die Partei war zu einem großen Konzern geworden, dessen Presse allein (mit Zeitungsausträgerinnen) 11 089 Personen beschäftigt und deren Interessen in zunehmendem Maße von der seit der Jahrhundertwende schnell ansteigenden Gruppe der Parteibeamten — 1913 waren allein 50 Bezirkssekretäre und 100 Wahlkreissekretäre von der Partei angestellt — vertreten wurden.

Die Sozialdemokratie, deren Arbeit von der 1904 entstandenen proletarischen Jugendbewegung und der sehr viel älteren sozialistischen Frauenbewegung — beides Zentren radikaler Tendenzen — ergänzt wurde, war jedoch keineswegs nur eine politische Organisation.

In enger Verbindung mit ihr stan-den die von Mitgliedern der Partei und der Freien Gewerkschaften begründeten unpolitischen Arbeiterklubs —-die Hunderte von Turnvereinen, Gesangvereinen, Ruderklubs, Schwimmvereinen, Kegelklubs, Radfahrvereinen, die Volksbühnen, Wohlfahrtsverbände, Bestattungskassen usw. In ihnen wurde versucht, die Person des einzelnen Arbeiters über den politischen Bereich hinaus — von der Wiege bis zur Bahre — zu erfassen später wohl auch in der Absicht, ihn gegen die Einflüsse der bürgerlichen Welt zu immunisieren.

In den Anfängen der Arbeiterbewegung und teilweise bis 1914 wird man aber in der Gründung dieser Vereine vor allem das Bestreben sehen müssen, die Arbeiter, denen die bestehenden Vereine ja in der Praxis häufig versperrt blieben oder in denen sie von den das Vereinsleben bestimmenden bürgerlichen Elementen isoliert wurden, aus der Enge ihrer Wohn-und Arbeitsverhältnisse hinauszuführen, ihnen statt Kartenspiel und Alkohol neue Interessen zu geben und die Annehmlichkeiten der bürgerlichen Welt zugänglich zu machen. Das Problem der Emanzipation der Arbeiterschaft war ja keineswegs nur ein politisches Problem.

Die deutsche Arbeiterbewegung als Kulturund Emanzipationsbewegung Die deutsche Arbeiterbewegung war eine politische und soziale Emanzipationsbewegung mit festgefügten, durch den spezifischen Ehrbegriff der Solidarität im gewerkschaftlichen und politischen Kampf erweiterten bürgerlichen Moral-und Anstandsbegriffen. Das kam in der reservierten Einstellung der Partei zum sogenannten „Lumpenproletariat" deutlich zum Ausdruck, Die unter diesem Namen zusammengefaßten Parasitenexistenzen von notorischen Säufern, Vagabunden, Zuhältern, Gaunern und ähnlichen zweifelhaften Typen wurden als Abfall der bürgerlichen Gesellschäft und bedauernswertedeklassierte „Opfer des Kapitalismus" zwar als eine zwangsläufige Begleiterscheinung der bestehenden Verhältnisse angesehen, aber doch im einzelnen tief verachtet. Man lehnte jede Gemeinschaft mit diesen Elementen, die zudem organisatorisch nicht erfaßt werden konnten, vor allem aus einem deutlich profilierten Gefühl für persönliche Ehrenhaftigkeit — aber auch aus Furcht, daß die Partei für Ausschreitungen unzuverlässiger Radaubrüder verantwortlich gemacht werden könnte — auf das schärfste ab.

Die Förderung der Erziehung und Bildung des einzelnen Arbeiters galt seit Lassalle und den ersten Arbeiterbildungsvereinen als eine wesentliche Aufgabe der Partei. Der Drang nach dem „Tempel des Wissens" fand nicht nur in der bereitwilligen Unterstützung aller Kultur-und Bildungsaufgaben durch die Sozialdemokratie im Reichstag und in den Landtagen, sondern auch in der Bildungsarbeit der Partei und der Gewerkschaften selbst seinen Ausdruck. So hatte die Partei 1913 in 791 Orten Bildungsausschüsse, die neben Hunderten von Kursen und Einzelvorträgen, die zum Teil von festangestellten Wanderlehrern der Partei gehalten wurden, allein 848 Theatervorstellungen für 559 199 Besucher organisierten Die Sozialdemokratie gehörte nach den Worten Max Webers zu den „mächtigsten charakterbildenden Elementen breitester Volksmassen" Ähnlich wie die Partei bewiesen auch die Freien Gewerkschaften ein starkes Interesse an der geistigen Weiterentwicklung und der fachlichen Schulung ihrer Mitglieder. Eine Betrachtung der Veröffentlichungen der Partei über nichtpolitische Fragen und der in Einzelfällen überlieferten Listen des Bücherbestandes der Bibliotheken sozialdemokratischer Wahlvereine und gewerkschaftlicher Fachvereine zeigt, daß die ursprüngliche Idee eines spezifisch proletarischen Weltbildes, die Vorstellung einer besonderen sozialistischen Kunst und Wissenschaft langsam zurückgedrängt wurde, so daß die Arbeiterbewegung sich immer mehr an die bürgerliche Vorstellungswelt anlehnte und so letztlich zur Vermittlerin der bestehenden Kultur wurde.

Die Bedeutung der Arbeiterbewegung als Emanzipations-und Kulturbewegung wird durch die Lebenswege der um 1890 in die Arbeiterorganisationen gelangten späteren Führer der Sozialdemokratie, wie z. B. Philipp Scheidemann, Wilhelm Keil, Carl Severing, Paul Löbe und Friedrich Ebert unterstrichen. Sie zeigen, daß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts neben der katholischen Kirche die Organisationen der Arbeiterschaft zum entscheidenden Hebel für den sozialen Aufstieg intelligenter Arbeiterkinder werden.

Der Ausgangspunkt der geradezu frappierend ähnlichen Lebensläufe der erwähnten Sozialisten ist jeweils der am finanziellen Unvermögen der Eltern scheiternde Versuch zur Ergreifung eines gehobenen Berufes. Die weiteren Interessen, die in den ursprünglichen Berufszielen zum Ausdruck kamen, waren auch der entscheidende Antrieb, der sie über die vorgezeichnete Bahn von Fabrikarbeitern, Handwerksgesellen und Handwerksmeistern hinaus führte. Sie alle drängte das Bestreben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Masse der Arbeiter den Zugang zu den lange versperrten Schätzen von Kunst und Wissenschaft aufzuschließen. Den Schlüssel dazu sahen sie in den Organisationen der Arbeiterbewegung. Ein weiterer gemeinsamer Zug ihres Entwicklungsganges ist der Ausgang vom lokalen, umgrenzten Bereich und der unbedingte Vorzug der praktischen Arbeit vor prinzipiellen theoretischen Erwägungen. Sie alle sind Einzelerscheinungen des in den neunziger Jahren emporgekommenen Typus des deutschen Arbeiterführers, der im Gegensatz zur älteren Generation der Arbeiter-führer in erster Linie nicht mehr ein Agitator der theoretischen Grundsätze des Sozialismus, sondern ein sachkundiger Reformpolitiker ist.

Die Sozialdemokratie, die immer tiefer in den bestehenden Verhältnissen wurzelte, organisierte so die Arbeiter nicht im Sinne ihrer Theorie als feindliche Sonderklasse gegen die bestehende Gesellschaft, sondern wurde im Gegenteil zusammen mit den Gewerkschaften der Hebel, der die Arbeiterschaft langsam — und angesichts des Widerstandes der herrschenden Schichten noch keineswegs vollständig — in den Gesamtaufbau des gesellschaftlichen Lebens einfügte und damit die vorhandenen Gegensätze wenigstens teilweise überbrückte und versöhnte.

Ausblick

2. Kontrolleure

Bereits vor dem ersten Weltkrieg war die Verwurzelung der Arbeiterschaft im Deutschen Reiche so stark, daß die berühmte Entscheidung der Sozialdemokratie vom 4. August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite und damit für die Verteidigung des als bedroht angesehenen Vaterlandes von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Sozialisten als selbstverständlich akzeptiert wurde. Die Enttäuschung über die offizielle Regierungspolitik, das Entsetzen über die ungeheuren Opfer und Härten des Krieges und die Begeisterung für das Beispiel der russischen Revolution von 1917 bewirkten dann im Laufe des Ersten Weltkrieges die Abwendung der pazifistischen und revolutionären Kräfte von der parteioffiziellen Politik des Burgfriedens. Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung war die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung mit ihren verhängnisvollen Konsequenzen für die Stabilität der Weimarer Republik. Der eine, von der Kommunistischen Partei repräsentierte revolutionäre Flügel gab die noch bei Rosa Luxemburg zentrale demokratische Komponente der alten Ideenwelt der Sozialdemokratie auf und geriet immer mehr in das Fahrwasser Moskaus Die andere Richtung, die sozialdemokratische Partei, wurde im Sinne Vollmars und Bernsteins eine ihre sozialistischen Ziele allein auf parlamentarischem Wege verfolgende demokratische Reformpartei, in der der Marxismus zwar noch nicht aufgegeben wurde, aber doch ständig an Bedeutung verlor.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der vorliegende Artikel beruht — vor allem für die Zeit nach 1890 — auf dem Buch des Verfassers „Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890— 1900". Bd. III der „Studien zur Europäischen Geschichte aus dem Friedrich-Mein-ecke-Institut der Freien Universität Berlin", Berlin 2 1963.

  2. über die Gründungsversammlung vgl.den bei Wilhelm Schröder (Hrsg.), Handbuch der sozialdemokratischen Parteitage von 1863— 1909, München 1910, S. 400 ff. abgedruckten Bericht der „Deutschen Allgemeinen Zeitung" aus Leipzig.

  3. Für die Situation zur Zeit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vgl.den instruktiven Aufsatz von Horst Lademacher, Zu den Anfängen der Deutschen Sozialdemokratie 1863— 1878, in: International Review of Social History [Neue Folge], Bd. 4, 1959, S. 239 ff.

  4. Vgl. darüber Rudolf Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München 1948, S. 158 ff.

  5. Vgl dazu die noch Immer grundlegende Arbeit von Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutsch land 41863— 1870). Leipzig 1911

  6. Für die Persönlichkeit und die Ideen Lassalles s. Hermann Oncken, Lassalle, Eine politische Bio graphie, Stuttgart und Berlin 3 1920 Für sein politisches Vorgehen vgl ferner den bedeutenden Aufsatz von Gustav Mayer, Zum Verständnis der politischen Aktion Lassalles, in: International Review for Social History [alte Folge), Bd. 3, 1938, S. 89 ff.

  7. Für diese Grundideen Lassalles vgl sein zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins führendes programmatisches „Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig* (1863), abgedruckt in: Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, hrsg. v. Ludwig Maenner, Berlin 1926. S. 211 ff.

  8. Vgl.den von Lademacher abgedruckten Brief Lassalles an Bismarck vom 8. 6. 1863.

  9. Gustav Mayer, Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie, Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jena 1909.

  10. Abdruck des „Statuts" und der „Grundzüge des Geschäfts-und Verwaltungsreglements" des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins vom 23. 5. 1863 in: Wilhelm Schröder, Geschichte der sozialdemokratischen Parteiorganisation in Deutschland, Dresden 1912, S. 60 ff.

  11. Abdruck bei Schröder, Handbuch, S. 464 f.

  12. Vgl. das Organisationsstatut der Partei, in: Schröder, Parteiorganisation, S. 66 ff.

  13. über Bebels Lebensweg vgl.seine leider nur bis 1882 reichende Autobiographie: Aus meinem Leben, 3 Teile, Stuttgart 1910— 14.

  14. Für den vorangegangenen Prozeß vgl. Wilhelm Liebknecht, Der Leipziger Hochverratsprozeß, Nachdruck der 2. Ausl., Berlin 1911. Dieses Buch, das eine Reihe von Dokumenten abdruckt, ist eine der wichtigsten Quellen zur Frühgeschichte der Eisenacher

  15. Schröder, Handbuch, a. a. O., S. 467 ff.

  16. Karl Marx, Aus dem Nachlaß, Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms, in: Neue Zeit, 1890/91, Bd. IX, 1, S. 561 ff.

  17. Die wichtigste Veröffentlichte Quelle für die Parteigeschichte 1878— 90 ist die Denkschrift des Parteivorstandes,: Nadi 10 Jahren, Material und Glossen zur Geschichte des Sozialistengesetzes, I. Historisches, London 1889, II. Die Opfer des Sozialistengesetzes, London 1890.

  18. Vgl. Kurt Brandis, Die deutsche Sozialdemokratie bis zum Fall des Sozialistengesetzes, Leipzig 1931, S. 50 ff.

  19. Vgl. dazu Anhang I.

  20. Für den inneren Aufbau der deutschen Parteien der behandelten Zeit vgl. jetzt: Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961.

  21. Vgl.den „Bericht über die Verhandlungen des Parteitages der Deutschen Sozialdemokratie", St. Gallen 1887, S. 58 ff.

  22. über die Februarerlasse vgl. Hermann Bollnow, Wilhelms 11. Initiative zur Arbeiterschutzgesetzgebung und die Entlassung Bismarcks, in: Aspekte sozialer Wirklichkeit, Berlin 1958, S. 94 ff.

  23. über die staatliche Sozialpolitik vgl. Karl Erich Born, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz, Wiesbaden 1957, sowie Peter Rassow und Karl Erich Born, Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890— 1914, Wiesbaden 1959,

  24. Schröder, Handbuch, a. a. O., S. 470 ff.

  25. S. Iring Fetscher, Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, in: Marxismus-Studien, 2. Folge, Tübingen 1957, S. 41.

  26. Friedrich Engels'Briefwechsel mit Karl Kautsky, 2., durch die Briefe Karl Kautskys vervollständigte Ausgabe ..., hrsg. und bearbeitet von Benedikt Kautsky, Wien 1955, S. 90.

  27. Vgl. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus, in: Marxismus-Studien, 2. Folge, S. 157.

  28. Vgl. dazu Engels’ Einleitung zu Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848— 1850, in: Marx-Engels, Ausgewählte Schriften, Berlin 1953, Bd. 1, S. 107 ff. — Nicht der leninistische Typ einer Kaderpartei der Berufsrevolutionäre, sondern der von der deutschen Sozialdemokratie repräsentierte Typ einer Massenpartei der Arbeiterschaft entsprach den Vorstellungen Engels’ von einer revolutionären Partei.

  29. Protokoll des Erfurter Parteitages 1891, S. 318.

  30. Georg von Vollmar, über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, München 1891, S. 11 ff.

  31. Protokoll, S. 172.

  32. Für Engels vgl.: „Le Socialiste“ vom 25. III. 1891; der Sozialismus in Deutschland, Neue Zeit, Bd. X, 1, S. 583.

  33. Es handelte sich dabei um die Organisationen der Buchdrucker, Tabakarbeiter, Schneider und Zimmerer.

  34. Vgl. Paul Umbreit, 25 Jahre deutscher Gewerkschaftsbewegung 1890— 1915. Erinnerungsschrift zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum der Begründung der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Berlin 1915, S. 7 ff.

  35. Protokoll des Parteitages, S. 201.

  36. Protokoll, S. 221 f.

  37. Protokoll, S. 183 f.

  38. Protokoll des Parteitages, S. 124 ff.

  39. Victor Adler, Briefwechsel mit August Bebel und Karl Kautsky, Gesammelt und erläutert von Friedrich Adler, Wien 1954, S 194.

  40. Diese Aufgaben wurden der Sozialdemokratie ausdrücklich von Bebel in einem grundlegenden Referat auf dem Parteitag in Halle 1890 — dem ersten seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes — gesetzt (Protokoll, S. 39 f.).

  41. Vgl. Anhang I. Die aus der dort wiedergegebenen Tabelle klar hervorgehende Diskrepanz zwischen dem relativ hohen Stimmenanteil der Sozialdemokratie und dem viel niedrigeren Anteil an gewonnenen Mandaten beruht im wesentlichen auf zwei Faktoren. Erstens war es für die sozialdemokratischen Kandidaten schwierig, den aufgrund des absoluten Mehrheitswahlrechts erforderlichen Anteil von über 50 % der in einem Wahlkreis abgegebenen Stimmen zu gewinnen, da die bürgerlichen Parteien sich in den häufig notwendigen Stichwahlen meist gegen den sozialdemokratischen Kandidaten zusammenschlossen. Zweitens wurde die Sozialdemokratie durch die Wahlkreiseinteilung des Reiches benachteiligt, die auf Bevölkerungszahlen von 1867 beruhte und die durch die Industrialisierung und die Abwanderung in die großen Städte eingetretenen Bevölkerungsverschiebungen nicht berücksichtigte.

  42. Vgl. Davids Artikelserie in der Wochenzeitung „Sozialdemokrat", Nr. 28— 35 (9., 16., 23., 30. August, 6., 13., 20., 27. September 1894). David hat seine Ansichten später in seinem Werk „Sozialismus und Landwirtschaft", 1. Bd., Berlin 1903, untermauert.

  43. Uber Bernsteins Leben vgl.seine Memoirenwerke: Aus den Jahren meines Exils, Erinnerungen eines Sozialisten, Berlin 1918; Erinnerungen, Berlin 1929

  44. Bernstein, Problem des Sozialismus, Eigenes und Übersetztes, Neue Zeit, 1896/97, Bd. XV, 1, S. 164 ff., S. 204 ff., S. 303 ff., S. 772 ff ; Bd. XV, 2, S. 100 ff., S. 138 ff. Vgl. weiterhin die gleichfalls in der „Neuen Zeit" erschienenen Aufsatzreihen „Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft" und „Das realistische und das idealistische Moment im Sozialismus". Besonders aufschlußreich für die innere Entwicklung Bern-steins sind die im Adler-Briefwechsel abgedruckten Briefe an Bebel vom 20. 10. 1898 und Adler vom 3. und 28. 3. 1899 (a. a. O„ S. 258 ff., 287 ff. und S. 305 ff.).

  45. Brief an Bebel vom 20. 10. 1898, in: Adler, Briefwechsel, a. a. O., S. 261.

  46. Besonders deutlich wird das in dem 1901 vor Berliner Studenten gehaltenen Vortrag: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich? Berlin 1901.

  47. Adler, Briefwechsel, a. a. O., S 289.

  48. Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 165.

  49. Abdruck des Briefes in dem Gedächtnisartikel Eduard Bernsteins, Ignaz Auer, der Führer, Freund und Berater, Sozialistische Monatshefte, 1907, Bd. I, S. 345 f.

  50. Vgl. Karl Kautsky, Ein sozialdemokratischer Katechismus, Neue Zeit, 1893/94 Bd. XII, 1, S. 368. Kautsky hat an seinen Auffassungen fast ohne Korrektur festgehalten (vgl. Der politische Massenstreik, Berlin 1914, S. 241 ff.).

  51. Protokoll des Parteitages, S. 133 ff., S. 419 f.

  52. Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Amsterdam 1904, Berlin 1904, S. 35 ff.

  53. Den besten Eindruck von ihrer Persönlichkeit vermitteln die nach ihrem Tode veröffentlichten Briefsammlungen: Briefe aus dem Gefängnis, Berlin 1920; Briefe an Karl und Luise Kautsky 1896 bis 1918, hrsg. von Luise Kautsky, Berlin 1923; Briefe an Freunde. Nach dem von Luise Kautsky fertiggestellten Manuskript hrsg. von Benedikt Kautsky, Hamburg 1950.

  54. Sozialreform oder Revolution, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, hrsg. von Clara Zetkin und Adolf Warski, Bd. III: Gegen den Reformismus, Berlin 1925, S. 60 f.

  55. Sozialreform oder Revolution, S. 61.

  56. Brief an Roland-Holst vom 17. 12. 1904, mitgeteilt in: Henriette Roland-Holst, Rosa Luxemburg, ihr Leben und Wirken, Zürich 1937, S. 216.

  57. Für Bernstein vgl. Peter Gay, The Dilemma of Democratic Socialism, Eduard Bernstein's challenge to Marx, New York 1952, S. 234 f.; für Frank vgl.seine Rede auf dem Parteitag von 1913, Protokoll, S. 306 ff.

  58. Vgl. das Protokoll des Parteitages von 1906, S. 306 und S. 473.

  59. S. Carl E. Schorske, German Social Democracy 1905— 1917. The Development of the Great Schism, Cambridge/Mass. 1955, S. 110.

  60. 1906 hatten die Freien Gewerkschaften 1 689 709, die Partei dagegen nur 384 327 Mitglieder. Die Jahreseinnahmen des Parteivorstandes betrugen 810 917 Mk. Selbst wenn man berücksichtigt, daß die Ortsvereine der Partei schätzungsweise etwa weitere 2 Millionen Mk. einnahmen, ist doch die Gesamtsumme gering gegenüber der Jahres-einnahme von 41 602 939 Mk., die die Zentral-verbände der Freien Gewerkschaften verbuchen konnten.

  61. Typisch für diese Auffassung sind die Reden von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf dem Parteitag von 1910, Protokoll, 3. 426 ff. und S. 447 ff.

  62. Vgl. Anhang III.

  63. Protokoll des Parteitages von 1913, S. 306 ff.

  64. Besonders ausgeprägt ist diese Auffassung in den Schriften von Hugo Lindemann, dem führenden Kommunaltheoretiker der Partei.

  65. Bericht des Parteivorstandes an den Parteitag von 1913, Protokoll, S. 26 f.

  66. Eduard Bernstein, Die Arbeiterbewegung, Frankfurt/Main 1910, S. 92

  67. Protokoll, S. 10 und S. 28 f.

  68. Protokoll, S. 12.

  69. Vgl. Karl Korn, Die Arbeiterjugendbewegung, Einführung in ihre Geschichte, Berlin 1922.

  70. Sigmund Neumann bezeichnet daher die alte deutsche Sozialdemokratie als den Prototyp einer „demokratischen Integrationspartei" (Die Deutschen Parteien, Berlin 1932, S, 109).

  71. So Wilhelm Liebknecht auf dem Berliner Parteitag 1892, Protokoll S. 273.

  72. Vgl. für diese Formulierung die „Rede des Reichstagsabgeordneten Wilhelm Liebknecht über den Kölner Parteitag mit besonderer Berücksichtigung der Gewerkschaftsbewegung", Bielefeld 1893, S. 38.

  73. Parteitagsprotokoll von 1913, S. 12 und S. 37 ff.

  74. Bemerkungen Max Webers zu einer Arbeit von R. Blank über „die soziale Zusammensetzung der sozialdemokratischen Wählerschaft Deutschlands", in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 20, 1905, S, 550. — Dr. Wörrishofer, der Leiter der vorbildlichen badischen Fabrikinspektion und wohl beste neutrale Kenner der süddeutschen Arbeitsverhältnisse, sah in den Organisationen der Arbeiterschaft das Bestreben, „die Arbeiter intellektuell und moralisch zu heben’ (Jahresbericht der Großherzoglich Badischen Fabrikinspektion für das Jahr 1892, hrsg. im Auftrage des Großherzoglichen Ministeriums des Innern, Karlsruhe 1893, S. 65).

  75. Vgl. J. S. und E. F.: Was lesen die organisierten Arbeiter in Deutschland? in: Neue Zeit, 1894/95, Bd. XIII, 1, S. 153 ff., -Advocatus, Was liest der deutsche Arbeiter? in: Neue Zeit, 1894/95, Bd. XIII, 2, S. 814 ff.; Konrad Haenisch, Was lesen die Arbeiter? in: Neue Zeit, 1899/1900, Bd. XVIII, 2, S. 691 ff.

  76. Vgl. dafür: Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, I. Bd., Dresden 1928; Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten, I. Bd., Stuttgart 1947; Carl Severing, Mein Lebensweg, I. Bd., Köln 1950; Paul Löbe, Erinnerungen eines Reichstagspräsidenten, Berlin 1949 und Friedrich Ebert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, hrsg. von Friedrich Ebert jun. Mit einem Lebensbild von Paul Kampffmeyer, 1. Bd., Dresden 1926.

  77. Vgl. dazu die glänzende Studie von Richard Löwenthal. The Bolshevisation of the Spartacus League, in: St. Anthony's Papers, Nr. 9, London 1960, S. 23 ff.

Weitere Inhalte

Gerhard A. Ritter, Dr. phil., B. Litt (Oxon), o. Professor, geb. 29. März 1929 in Berlin, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft (unter besonderer Berücksichtigung der historischen Grundlagen der Politik) an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die Sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890— 1900, 2. Ausl., Berlin 1963; Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein Verfassungsgeschichtlicher Vergleich, Tübingen 1962; mit Sir Ivor Jennings: Das britische Regierungssystem, Köln und Opladen 1958; diverse Aufsätze über Fragen der Neueren Geschichte und des „Comparative Government".