Zum 100. Jahrestag der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, die als die Geburtsstunde der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung gelten kann, werden in dieser Ausgabe drei Beiträge veröffentlich. — Die Autoren geben eine Darstellung der Geschichte vornehmlich des demokratischen Sozialismus in Deutschland. Die hier vertretenen wissenschaftlichen Auffassungen stellen selbstverständlich weder die offizielle Meinung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands noch die der herausgebenden Stelle dar.
I. Die Sozialdemokratie im Zeitalter Bismarcks
Die politische und soziale Situation zur Zeit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 Vor hundert Jahren, am Spätnachmittag des 23. Mai 1863, wurde im Pantheon zu Leipzig von einer kleinen Gruppe von Delegierten, die die Arbeitervereine von elf deutschen Städten — Leipzig, Hamburg, Harburg, Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Barmen, Solingen, Frankfurt, Mainz und Dresden — vertraten, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet
Anhang III
Die Sozialdemokratie in den Deutschen Landtagen
Anhang III
Die Sozialdemokratie in den Deutschen Landtagen
Die politische Arbeiterbewegung Deutschlands 1863— 1914 ............ Seite
Anhang IV
Mitgliederzahl und Finanzen der den Freien Gewerkschaften angeschlossenen Zentralverbände
Anhang IV
Mitgliederzahl und Finanzen der den Freien Gewerkschaften angeschlossenen Zentralverbände
Die deutsche politische Arbeiterbewegung von 1914 bis 1945 .............................. Seite 27 Ulrich Dübber:
Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945 ............................ .. Seite 52 und Klasseninteresse vom Unternehmer getrennte Fabrikarbeiter — die notwendigen 3) sozialen Voraussetzungen für die Entwicklung einer unabhängigen sozialistischen Arbeiterbewegung geschaffen.
Die Trennung der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie Die ersten selbständigen Regungen der deutschen Arbeiterschaft in der vorwiegend bürgerlich-liberalen und nationalen Revolution von 1848/49
Geistreich, liebenswürdig und hochbegabt — aber auch ehrgeizig, egoistisch, dem Luxus nachjagend und nicht ohne Eitelkeit — hat Lassalle in der kurzen Frist bis zu seinem frühen, durch bin Duell wegen einer Liebes-affäre herbeigeführten Tod im August 1864 mit seiner Agitation und seinen Ideen weite Teile der Arbeiterschaft aus ihrer politischen Interesselosigkeit geweckt und die Keimzelle einer großen sozialistischen Partei gelegt.
Im Gegensatz zu dem von ihm heftig angegriffenen Schulze-Delitzsch vertrat Lassalle die Ansicht, daß die Arbeiter aus eigener Kraft allein nicht imstande wären, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Auf Grund eines „ehernen" ökonomischen Gesetzes werde der durchschnittliche Arbeiterlohn immer wieder auf den Betrag reduziert, der „zur FrisLung der Existenz und zur Fortpflanzung" der Arbeiter unbedingt erforderlich sei. Allein durch die Bildung von großen Produktionsgenossenschaften, in denen die Arbeiter als ihre eigenen Unternehmer den vollen Ertrag ihrer Arbeit erhielten, könne die Wirkung dieses grausamen Lohngesetzes beseitigt werden. Die Aufgabe des Staates, der für Lassalle die treibende Kraft für den Kulturfortschritt der Menschheit ist, sei es nun, sich der Sache der Arbeiter fördernd anzunehmen und ihnen die Mittel zur Selbstorganisation und zum Aufbau der benötigten großen Fabriken zu geben.
Diese skizzierte Lösung der sozialen Frage setzte aber eine grundlegende politische Reform — die Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts durch die unermüdliche Agitation der Arbeiterschaft — voraus. Erst durch eine Demokratisierung der gesetzgebenden Körperschaften könne der Staat bestimmt werden, seine Pflichten gegenüber den Arbeitern zu erfüllen und den Sozialismus zu verwirklichen
Lassalle, der im Kommunistischen Manifest von Marx sein Glaubensbekenntnis sah, ging in seiner Politik von der Vorstellung eines nicht zu überbrückenden Klassengegensatzes zwischen Proletariat und Bürgertum aus. In der Wendung gegen das politische Übergewicht des Bürgertums und in der hohen Einschätzung der Rolle des Staates ergaben sich Berührungspunkte mit Bismarck, dem auf der Höhe des preußischen Verfassungskonflikts ein Bundesgenosse im Rücken der vom Dreiklassenwahlrecht in Preußen profitierenden liberalen Fortschrittspartei politisch zupaß kam.
Die berühmten Verhandlungen zwischen Bismarck und Lassalle verliefen im Sande, da der sozialistische Agitator dem preußischen Staats-7) mann nicht genug bieten konnte. Der gelegentliche Traum des Republikaners Lassalle von einem revolutionären sozialen Volkskönigtum, das sich mit Hilfe der Arbeiter gegen den „Egoismus der bürgerlichen Gesellschaft" setzen würde
Der bald zum Nachfolger Lassalles gewählte Frankfurter Anwalt Johann Baptist von Schweitzer
Im August 1869 wurde schließlich als zweite Stufe der Loslösung selbständiger Arbeiterparteien vom demokratischen Flügel des bürgerlichen Liberalismus in Rivalität zur Organisation Schweitzers auf einem Kongreß in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" gegründet. Sie setzte sich zusammen aus der kleinbürgerlichen Sächsischen Volkspartei, abgesplitterten Lassalleanern sowie den Mitgliedern des Verbandes Deutscher Arbeitervereine, der 1863 zunächst als Bollwerk des Bürgertums gegen die proletarische Bewegung geschaffen worden war, aber bald sozialistische Tendenzen aufwies.
Im Programm der neuen Partei verbanden sich die demokratischen Ideen des bürgerlichen Radikalismus mit marxistischem Gedankengut und Zugeständnissen an die Lassalleaner
Liebknecht und Bebel Die führenden Köpfe der neuen Partei waren der Journalist Wilhelm Liebknecht und der Drechsler August Bebel. Der 1826 in Gießen geborene, früh verwaiste Liebknecht entstammte einer bürgerlichen Gelehrtenfamilie. Während der Schulzeit in Gießen und während des Universitätsstudiums zu extremen republikanischen und kommunistischen Theorien bekehrt, hat der junge Liebknecht in der Revolution von 1848 an dem gescheiterten Versuch der Schaffung der Republik Baden führend mitgewirkt. In den folgenden
Der nach dem frühen Tod seines Vaters, eines preußischen Unteroffiziers, und seines Stiefvaters, eines Gefängnisaufsehers, in ärmlichen Verhältnissen ausgewachsene Bebel 13) hatte über einen katholischen Gesellenverein, dem er sich — obwohl Protestant — in seinen Wanderjahren anschloß, und einen Leipziger Arbeiterbildungsverein den Weg zur Politik gefunden. Als politischer Taktiker mit einem Sinn für Realitäten, als geschickter Parlamentarier und glänzender Organisator war er Liebknecht, der bis zu seinem Tode 1900 die deutsche Politik nach dem unzulänglichen Maßstab seiner 48er Erfahrungen beurteilte, weit überlegen. Bebel wurde so der eigentliche Baumeister der neuen Partei, die 1870 — als den gemeinsamen nationalpolitischen Konzeptionen durch den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 jede Hoffnung auf Verwirklichung genommen wurde — endgültig die noch vorhandenen Brücken zur bürgerlichen Demokratie abbrach.
Die Sozialdemokratie im Deutsch-Französischen Krieg Bebel und Liebknecht — seit 1867 im Reichstag des neugeschaffenen Norddeutschen Bun-des — haben im Gegensatz zu den zunächst für die geforderten Kriegskredite stimmenden Lassalleanern sofort nach Ausbruch des Krieges ihre „Neutralität" durch Stimmenthaltung zum Ausdruck gebracht. Als nach dem deutschen Sieg von Sedan der Krieg auch gegen die neugegründete Französische Republik fortgesetzt wurde und die Pläne zur Annexion Elsaß-Lothringens immer deutlicher zu erkennen waren, haben sie diesmal zusammen mit den Lassalleanern gegen die geforderten neuen Kriegskredite gestimmt und zur Organisation großer Kundgebungen gegen jede Annexion aufgerufen. Ihr mutiges Auftreten gegen die Welle patriotischer Hochstimmung haben die Sozialdemokraten beider Richtungen mit einer schweren Niederlage in den Reichstagswahlen von 1871 — nur Bebel konnte sein Mandat behaupten — bezahlen müssen. Die tieferen Ursachen, die die Entstehung politischer Arbeiterorganisationen begünstigt hatten, verstärkten sich aber durch die jetzt einsetzende Beschleunigung der Industrialisierung, so daß das Wachstum der Partei nur vorübergehend unterbrochen wurde. Die Vereinigung der Lassalleaner und der Eisenacher und das Sozialistengesetz Die scharf antisozialistische Politik Bismarcks nach den Erfahrungen der Pariser Kommune und der Rücktritt Schweitzers von der Leitung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1871 ebneten schließlich den Weg für die durch eine zweijährige Festungshaft Bebels und Liebknechts
In dem Vereinigungsprogramm
Alle selbständigen Arbeiterorganisationen wurden verboten, ihre Zeitungen — die Partei verfügte bereits über 51 Blätter — wurden mit zwei Ausnahmen unterdrückt und die Versammlungsfreiheit aufs äußerste beschränkt.
Etwa 900 führende Persönlichkeiten der Partei wurden während der Dauer des Gesetzes 1878— 1890 aus ihren Wohnsitzen ausgewiesen und gegen 1500 zeitweilig ins Gefängnis geworfen
Die Politik Bismarcks ist gescheitert. Nach dem ersten Schock, der Tendenzen zu einer Kapitulation aufkommen ließ
Das Vordringen der Sozialdemokratie bis 1890 Es war in jener Zeit des Sozialistengesetzes von 1878— 90, daß die Sozialdemokratie sich zu einer großen Massenpartei der Industriearbeiter und Handwerker entwickelte. Der Schwerpunkt der Eisenacher hatte zunächst bei den wirtschaftlich rückständigen Hand-webern in den halbländlichen Distrikten Sachsens gelegen. Die Lassalleaner dagegen hatten ihre ersten Zentren in Schleswig-Holstein und in Städten des Niederrheins. Erst in den Wahlen von 1877 war es den Sozialdemokraten gelungen, in den Großstädten Nord-und Ostdeutschlands fest Fuß zu fassen. In den Jahren des Sozialistengesetzes konnte die Sozialdemokratie ihren Aktionsradius auf Süddeutschland, wo vor 1878 nur wenige Städte von der Parteiorganisation erfaßt worden waren, ausdehnen und auch im Ruhrgebiet erste größere Wahlerfolge erringen. Die während des Sozialistengesetzes übliche Ausweisung sozialistischer Agitatoren hat dabei die Verbreitung sozialistischer Ideen und die Gründung neuer Organisationskerne nur gefördert. Die Ausbreitung der Partei spiegelt sich in den Ergebnissen der Reichstagswahlen der achtziger Jahre wider
Die Folgen des Sozialistengesetzes Hat so das Sozialistengesetz das Wachstum der Partei, deren erfolgreiches Vorbild zu einer grundlegenden Veränderung des deutschen Parteienwesens führte, nicht aufhalten können, so hat es doch den Charakter der Sozialdemokratie und ihr Verhältnis zum bürgerlichen Staat geprägt. Die Erfahrungen jener Jahre, wachgehalten durch die ständige Furcht vor einer Welle neuer Verfolgungen waren eine Hypothek, die die Politik der Partei auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 noch entscheidend belastete. Vor allem die älteren Sozialdemokraten, die in dieser Zeit des Kampfes ihre sozialistische Rekruten-ausbildung durchgemacht hatten und nach 1890 die Kader der Partei bildeten, behielten einen starken Vorbehalt gegenüber dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft, der immer wieder in entscheidenden Momenten zum Durchbruch kommen sollte. Die verhängnisvolle Kluft zwischen Arbeiterschaft und Staat, die in den Jahren des Sozialistengesetzes aufgerissen worden war, hatte sich noch Jahrzehnte später nicht wieder völlig geschlossen.
Die während der Dauer des Sozialistengesetzes von außen aufgezwungene Isolierung der sozialistischen Arbeiterschaft bestärkte dabei als natürliche Reaktion die Selbstisolierung der Partei, die von der Berührung mit anderen Kräften eine Verwässerung ihrer Prinzipien und eine Aufgabe des Klassen-charakters der Bewegung befürchtete. Der für die deutsche Sozialdemokratie der Zeit vor 1914 so kennzeichnende Charakter der Par-tei als Staat im Staate erhielt in jenen Jahren des Sozialistengesetzes seine Prägung. In den lokalen Partei-und Gewerkschaftsvereinen fand der sozialistische Arbeiter nicht nur eine Organisation zur Wahrnehmung seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen, sondern eine geistige Heimat und eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, deren gesellschaftliches Leben auch seine Freizeit bestimmte. Die Arbeiterorganisationen aber erhielten einen Stamm erprobter und ihnen ergebener Mitglieder, denen keine andere Partei etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Es entwickelten sich die typischen Ehrbegriffe der Arbeiter, ihr Gefühl für Solidarität und Disziplin, ihre Opferbereitschaft, ihr Sinn für Gerechtigkeit und ihre Hingabe an die Ziele der Arbeiterbewegung.
Ein weiteres Erbteil der Zeit des Sozialisten-gesetzes war das Vordringen des Marxismus, dessen Analyse, des Staates als eines Instruments der herrschenden Klassen durch die praktische Politik bestätigt zu werden schien. Gleichzeitig aber setzte sich die Partei aufs schärfste von allen anarchistischen Bestrebungen ab
II. Die politische Arbeiterbewegung von der Aufhebung des Sozialistengesetzes bis zum Ausbruch des erstenWeltkrieges
Anhang II: Die Zusammensetzung der Parteileitung 1890— 1914
Anhang II: Die Zusammensetzung der Parteileitung 1890— 1914
Staat und Arbeiterschaft nach 1890 Das Jahr 1890 markiert für den deutschen Sozialismus und seine Partei — die Sozialdemokratie — den Abschluß einer alten und den Beginn einer neuen Epoche. Das Sozialisten-gesetz, das die Partei zwölf Jahre lang schärfsten Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt hatte, wurde nicht verlängert. Mit Bismarck war der gefährlichste Gegner der Partei gestürzt, und der Kaiser selbst verkündete in zwei Erlassen vom 4. Februar 1890
Mit der Umsturzvorlage 1894/95 und der Zuchthausvorlage, die allerdings am Widerstand des Reichstags scheiterten, wurde erneut mit einer Unterdrückungspolitik gedroht, ehe die Regierung schließlich nach der Jahrhundertwende in die Bahnen einer vorsichtigen, von patriarchalischen Ideen getragenen sozialen Fürsorgepolitik einlenkte
Das Erfurter Programm und die Grundzüge der Parteitaktik Durch die Festigung und den Ausbau ihrer Organisation und vor allem durch die Annahme des berühmten Erfurter Parteiprogramms von 1891
Die Durchdringung der europäischen und besonders der deutschen Arbeiterbewegung mit marxistischen Gedankengängen war im wesentlichen das Werk von Friedrich Engels. Seine zuerst 1877/78 in einer Aufsatzreihe veröffentlichte Schrift gegen den sozialistischen Privatdozenten Karl Eugen Dühring — der sogenannte „Anti-Dühring" — begründete eine marxistische Schule und wurde zur „weltanschaulichen Grundschrift des dialektischen Materialismus"
Hatte schon der Anti-Dühring von Engels als ein „Filter" gewirkt, der wesentliche Elemente des Marxismus nicht durchließ
Die Führer der Sozialdemokratie waren aufgrund der Ideologie der Partei der Überzeugung, daß die Zeit für sie arbeite. Nicht die Partei, sondern ihre Gegner würden schließlich —• verzweifelt über die unaufhaltsame Verstärkung der sozialistischen Bewegung als Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung — die Initiative zum Entscheidungskampf ergreifen. Die optimistische Einschätzung der Situation und die daraus abgeleitete Taktik des Ab-wartens erklärt auch die doppelte Frontstellung der Partei in den Auseinandersetzungen mit den „Jungen", die mit der Provozierung eines verfrühten Zusammenstoßes mit den herrschenden Gewalten vor der Gewinnung der Mehrheit der Bevölkerung eine Niederwerfung der Partei riskieren würden, und dem bayerischen Sozialistenführer Vollmar, dessen Taktik die Arbeiter mit der kapitalistischen Gesellschaft versöhnen würde.
Die Oppositionsbewegung der „Jungen"
Die von links kommende Oppositionsbewegung der sogenannten „Jungen" richtete sich gegen die angebliche Diktatur der Parteiführer und die nach ihrer Ansicht immer, deutlicher werdende Entwicklung der Sozialdemokratie zu einer opportunistischen kleinbürgerlichen Reformpartei. Die radikalsten und konsequentesten Elemente dieser lokal differenzierten und völlig uneinheitlichen Bewegung lehnten die Mitarbeit der Sozialdemokratie in Parlamenten und Stadtverordnetenversammlungen ab und propagierten eine anarchistische Kampfesweise. Das Bedeutsame an dieser Bewegung, die weder eine einheitliche revolutionäre Taktik noch eine zusammenhängende Theorie herausbildete, ist jedoch nicht ihre sachliche Kritik an der Partei und auch nicht ihre äußerst verschwommenen Vorstellungen, sondern vielmehr die in der Opposition zum Ausdruck kommenden Ressentiments der alten Parteigenossen gegen die jetzt nach dem Ende der Kampfzeit des Sozialistengesetzes zur Partei stoßenden Neulinge. Es ist der Parteiführung — vor allem dank des persönlichen Einsatzes von Bebel — jedoch gelungen, die sich anbahnende Verbindung der Vorurteile der Prätorianergarde des Sozialismus mit den revolutionären Phraseologien der intellektuellen Vertreter der „Jungen" aufzulösen, den Stamm der alten Mitglieder, die sich mit ihrer Kritik nicht außerhalb des Parteirahmens stellen wollten, wieder an sich zu fesseln und die so isolierten Sprecher der Opposition auf dem Parteitag in Erfurt 1891 zum Austritt aus der Sozialdemokratie zu provozieren
Georg von Vollmar und die Begründung des Reformismus Sehr viel gewichtiger als diese zu einer sektiererischen Haltung tendierende Linksopposition waren die von einem erheblichen Teil der süddeutschen Sozialdemokratie unterstützten Bemühungen Georg von Vollmars, den neuen reformfreundlichen Kurs der Regierung Caprivis mit einem Wandel der Politik der Sozialdemokratie zu honorieren.
Vollmar, eine mächtige Bauerngestalt mit einem feinen sensiblen Gesicht, ein volkstümlicher Agitator und ein Meister der ausgewogenen, geschliffenen Rede im Parlament, war der unbestrittene Führer der bayerischen Sozialdemokratie. Seine Rede vom 1. Juni 1891 über „Die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie" im Eldorado-Palast in München wurde das grundlegende Programm all der Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung, die sich unter Verzicht auf theoretische Erörterungen auf den Boden des bestehenden Staates stellten und in praktischer Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften versuchten, die Demokratisierung Deutschlands zu beschleunigen. Vollmar forderte die Konzentration der gesamten Kraft der Sozialdemokratie auf die Herbeiführung konkreter Reformen — wie z. B. die Verbesserung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Erringung eines demokratischen Vereinsrechts und die Beseitigung der Lebensmittelzölle
Bebels Kritik an den Ansichten Vollmars ging davon aus, daß das Paktieren mit den herrschenden Gewalten das Rückgrat der Partei brechen, den Klassenkampf lähmen und die Partei zu einem Zeitpunkt mit der kapitalistischen Gesellschaft verbinden würde, in dem deren Untergang unmittelbar bevorstehe. „Ich bin überzeugt", so rief er auf dem Erfurter Parteitag 1891 den Delegierten zu, „die Verwirklichung unserer Ziele ist so nahe, daß wenige in diesem Saale sind, die diese Tage nicht erleben werden"
Die wuchtige Auseinandersetzung zwischen Vollmar und Bebel wurde schließlich ohne endgültige Entscheidung abgebrochen. Weder war es Vollmar gelungen, seinen Ansichten in der Gesamtpartei zum Durchbruch zu verhelfen, noch hatte Bebel, der Protagonist in diesem Streit, eine Isolierung seines Gegenspielers erreichen können. Es hatte sich ge-zeigt, daß Vollmar in der Gefolgschaft der bayerischen und den Sympathien der übrigen süddeutschen Sozialdemokraten eine Stütze fand, die es ihm ermöglichte, die Herrschaft des Parteivorstandes in den nächsten Jahren in Süddeutschland weitgehend zu mediatisieren. In den inneren Parteikämpfen der nächsten Jahre, die immer wieder den gespannten Zustand des Waffenstillstandes unterbrachen, war Vollmar als Antipode Bebels die zentrale Figur.
Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften bis 1894 Die Aufhebung des Sozialistengesetzes hatte auch für die deutschen Gewerkschaften, die — mit der Ausnahme einiger früher gebildeter Fachvereine
Die sozialdemokratisch beeinflußten Verbände, die nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes verboten und meist völlig zerrieben worden waren, wurden in den späten achtziger Jahren während der lascheren Handhabung des Sozialistengesetzes im allgemeinen unter Bruch mit der Kontinuität von einer neuen Schicht von Gewerkschaftsführern neu begründet. Mit der Schaffung der unter der Leitung von Carl Legien stehenden „Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands"
Das Verlangen nach einer strikten Unterwerfung der Gewerkschaften unter die Sozialdemokratie führte auf dem Parteitag in Köln 1893 zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Partei-und Gewerkschaftsführern, in denen Bebel — bestimmt von der Erwartung des sozialistischen Zukunftsstaates — den baldigen Niedergang der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung als Folge der Konzentration des Kapitals und der sozialpolitischen Gesetzgebung des Staates, die die Gewerkschaften aus ihrem eigentlichen Tätigkeitsbereich verdrängen, prophezeite
Tatsächlich sollten jedoch die Diskussionen des Kölner Parteitages den Ausgangspunkt einer allmählichen Loslösung der Gewerkschaften von der Bevormundung durch die politische Partei, die durch das Desinteresse der Sozialdemokratie selbst provoziert wurde, bilden. Vom Aufschwung der wirtschaftlichen Konjunktur und der industriellen Expansion nach 1895 mitgerissen, konnte die Gewerkschaft ihre Mitgliederzahl erhöhen, ihre Organisationen festigen, ihren Tätigkeitsbereich ausdehnen und schließlich eine der Sozialdemokratie gleichberechtigte, wenn nicht sogar führende Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung erringen.
Die Agrarfrage und die Ausdehnung der Partei 1890— 1912 Die Sozialdemokratie hatte nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes damit gerechnet, in kurzer Frist eine Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen und auch die preußische Armee durch Infizierung mit sozialistischen Gedanken für einen Bürgerkrieg aktionsunfähig zu machen. Diese Hoffnungen sollten sich nicht verwirklichen, da es der Partei trotz aller Bemühungen nicht gelang, wesentliche Einbrüche in die traditionellen Herrschaftsbereiche anderer Parteien zu erzielen.
Besonders bedeutsam war das Scheitern des zunächst mit großem Elan unternommenen Versuches, den Einfluß der Partei auf die Agrargebiete des Reiches auszudehnen und damit die Sozialdemokratie — bisher eine Minderheitspartei der gewerblichen Arbeiter — zu einer echten Volkspartei zu machen. Die von den süddeutschen Sozialdemokraten initiierte leidenschaftliche parteiinterne Diskussion der möglichen Reformen für die Landwirtschaft legte die tiefsten sozialen und geistigen Wurzeln der Partei bloß, führte aber zu keinem praktischen Ergebnis. Der von einer Parteikommission ausgearbeitete Entwurf eines Agrarprogramms, der einen Schutz der bäuerlichen Betriebe vorsah, wurde schließlich auf dem Parteitag von Breslau 1895 auf Betreiben Karl Kautskys, des Gralshüters des Marxismus, abgelehnt. Derartige Maßnahmen, so argumentierte Kautsky, ließen sich nicht mit der marxistischen Lehre vereinbaren, nach'der die Bauern eine zum Untergang verurteilte soziale Schicht darstellten
Das allerschlimmste aber war die Motivierung der Ablehnung, die, da mögen die Vertheidiger der Resolution K. = sagen was sie wollen, eine prinzipielle Ablehnung jeder Forderung zu Gunsten der Bauern, auch solcher, die uns nichts kosten, bedeutet. ... Die Breslauer Beschlüsse verlängern unsere Wartezeit um mindestens 10 Jahre, aber dafür haben wir das . Prinzip" gerettet."
Auch die weiteren, der Organisations-und Propagandaarbeit der Sozialdemokratie 1890 gesteckten Ziele — die Durchdringung der ostelbischen Landarbeiter mit sozialistischen Ideen, die Gewinnung der in ihrer Mehrheit vom Zentrum politisch erfaßten katholischen Industriearbeiter und die Erfassung der im Reichsgebiet ansässigen polnischen Arbeiter
Die Partei, die zunächst ihren Stimmenanteil und die Zahl der gewonnenen Mandate ständig vergrößerte, erhielt bei dem von nationalen Parolen bestimmten Wahlkampf von 1907 erstmals seit 1881 einen Rückschlag, konnte jedoch bei den folgenden Wahlen von 1912, die unter ungewöhnlich günstigen Umständen für die Partei abgehalten wurden, mit 34, 8 Prozent der abgegebenen Stimmen und 110 gewonnenen Mandaten noch einmal ihre bisherigen Wahlerfolge übertrumpfen
Das deutliche Abstoppen des Wachstumsprozesses der Sozialdemokratie seit der Mitte der neunziger Jahre und die damit verbundene Suche nach neuen Wegen zur Ausübung und Erweiterung der von der politischen Arbeiterbewegung repräsentierten, aber nicht eingesetzten Macht bildet dann auch eine wesentliche Ursache der das innere Parteileben der folgenden Jahrzehnte mitbestimmenden Auseinandersetzungen über die Theorie und Taktik der Partei.
Eduard Bernstein und der Revisionismus Im Verlauf der Diskussionen über das Agrarprogramm hatte der hessiche Sozialist Dr. Eduard David, zum Nachweis der ökonomischen Existenzfähigkeit der kleinbäuerlichen Wirtschaften, als erster führender Vertreter der Partei die Allgemeingültigkeit der Marx-sehen Lehre von der fortschreitenden Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe angegriffen
Die Zusammenfassung der in der Mitte der neunziger Jahre immer stärker werdenden Kritik an der doktrinären Erstarrung der traditionellen Parteianschauungen unter dem Schlagwort des Revisionismus täuscht eine Einheitlichkeit der oppositionellen Gruppen vor, die in den positiven Anschauungen durchaus nicht gegeben war. Tatsächlich zerfällt der „Revisionismus" in eine Fülle von differen-zierten Strömungen und Gruppen, die, meist aus der Praxis bestimmter engerer Arbeitsbereiche heraus, irgendeinen Punkt der Theorie und der Taktik der Sozialdemokratie der kritischen Betrachtung unterwerfen.
Der erste systematische Versuch, den durch die offizielle Parteitheorie in ihrer Arbeit eingeengten Praktikern der Partei und der Gewerkschaften eine theoretische Grundlage ihrer Tätigkeit zu geben, geht auf Eduard Bernstein
Seine von der offiziellen Parteimeinung abweichenden Ansichten — zuerst veröffentlicht in einer Reihe von Aufsätzen in der „Neuen Zeit" 1896— 98
Bernsteins Kritik an den philosophischen Grundlagen des Marxismus lief im wesentlichen auf die Verwerfung der Hegeischen Dialektik, die nach seiner Meinung kein integraler Bestandteil der Marxschen Lehre sei, und auf die Ablehnung einer rein materialistischen Begründung des Sozialismus hinaus. Als Philosoph war Bernstein ein reiner Eklektiker und äußerst unklar.
Seine Zweifel am Marxismus beruhen aber in erster Linie auch nicht auf philosophischen Erwägungen, sondern darauf, daß der von Marx vorhergesagte Entwicklungsverlauf der kapitalistischen Gesellschaft nicht mit der an Hand von Statistiken untersuchten tatsächlichen Entwicklung übereinstimmte. Weder die Marxsche Lehre von der zunehmenden Konzentration der Produktion und des Besitzes, noch die Theorie von dem Verschwinden der Mittelschichten und der zunehmenden Verelendung des Proletariats könnten absolute Gültigkeit beanspruchen. Da Bernstein auch die Auffassung, daß die kapitalistische Produktionsweise notwendig zu ständig verheerender wirkenden Wirtschaftskrisen führe, bezweifelte, wurde so der von Kautsky in den Mittelpunkt der Parteitheorie und der Parteipolitik gestellten Lehre von der naturnotwendigen Katastrophe der kapitalistischen Gesellschaft der Boden entzogen.
In Verbindung mit seiner Kritik an der Zusammenbruchstheorie bezweifelte Bernstein auch die Einheitlichkeit des Proletariats als einer Klasse. So schreibt er in einem Rechtfertigungsbrief an Bebel vom Oktober 1898: „Es gibt so wenig ein einheitliches Proletariat, wie es ein einheitliches Volk oder einen einheitlichen dritten Stand gegeben hat. Sie sind nur einheitlich in bestimmten Gegensätzen und unter bestimmtem Druck. Je mehr er nachläßt, desto differenzierter verhalten sie sich..."
Vom Angelpunkt der Betonung der Lebensfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ausgehend, kam Bernstein nun nicht zu der Über-zeugung, daß der Sozialismus nicht verwirklicht werden könne, sondern entwickelte vielmehr in positivem Umschlag seiner Kritik die Idee einer stufenweisen Einführung des Sozialismus durch die praktische Reformarbeit von Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Verwirklichung des Sozialismus war für Bernstein nicht das Ergebnis einer punktuellen Katastrophe oder eines revolutionären Impulses, sondern ein sich in der Gegenwart vollziehender, langsamer aber ständiger Prozeß der Umformung der kapitalistischen Gesellschaft im Sinne des Sozialismus Die Demokratie war das wichtigste Instrument zur Beschleunigung dieser Entwicklung und zugleich die Substanz der erstrebten neuen sozialistischen Gesellschaft.
Die gesamte Konzeption Bernsteins gipfelte in der Betonung der Bedeutung der praktischen Gegenwartsarbeit der sozialistischen Organisationen, in der er das schlechthin einzige Mittel zum organischen Aufbau des sozialistischen Staates der Zukunft sah. Im Interesse einer Verstärkung des realen Einflusses der Partei forderte Bernstein daher von der Sozialdemokratie die Emanzipation von ihrer überlebten revolutionären Phraseologie. Die Partei solle das scheinen wollen, was sie in Wirklichkeit sei, „eine demokratische sozialistische Reform-partei“
Die Reaktion auf die Thesen Bernsteins und die Politik des Parteizentrums Die zugespitzten Thesen Bernsteins haben in der Sozialdemokratie eine vielschichtige, sich über Jahrzehnte erstreckende leidenschaftliche Diskussion über die Theorie und die Taktik der Partei ausgelöst, die die Herauskristallisierung verschiedener Grundrichtungen in der Partei beschleunigte.
Das unmittelbare Echo auf die Ideen Bernsteins war — wenn man von einem kleinen Kreis von sozialistischen Intellektuellen absieht — in der Sozialdemokratie im Gegensatz zu der begeisterten Aufnahme seiner Ideen in bürgerlichen Kreisen fast durchweg negativ.
Selbst die in der politischen Gegenwartsarbeit ausgehenden reformistischen Sozialdemokraten, denen Bernstein eine theoretische Rechtfertigung ihrer an die bestehenden Verhältnisse anknüpfenden Reformversuche geben wollte, sahen in der grellen Beleuchtung ihrer seit Jahren unauffällig verfolgten praktischen Arbeit eine taktische Ungeschicklichkeit. So schrieb der zu dieser Gruppe gehörende langjährige Parteisekretär und nüchterne Taktiker Ignaz Auer an Bernstein: „Hältst Du es wirklich für möglich, daß eine Partei, die eine 50 Jahre alte Literatur, eine fast 40 Jahre alte Organisation und eine noch ältere Tradition hat, im Handumdrehen eine solche Wendung machen kann? Speziell seitens der maßgebenden Parteikreise so zu handeln, wie Du es verlangst, hieße einfach die Partei sprengen, jahrzehntelange Arbeit in den Wind streuen. Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man. Unsere ganze Tätigkeit — sogar auch die unter dem Schandgesetz (gemeint ist das Sozialistengesetz Bismarcks) — war die Tätigkeit einer sozialdemokratischen Reformpartei Eine Partei, die mit den Massen rechnet, kann auch gar nicht anders sein."
Typisch dafür war, daß in der offiziellen sozialdemokratischen Theorie der Revolutionsbegriff völlig sinnentleert und verharmlost wurde. Für Kautsky war so jede große politische Erschütterung, die das Leben der Nation beschleunigte, eine Revolution, und die Sozialdemokratie eine revolutionäre, aber nicht eine Revolutionen machende Partei
Für Kautsky und Bebel, wie überhaupt für die Verteidiger der überlieferten Grundanschauungen der Partei, bildete der Marxismus in der Praxis so nur noch einen Deckmantel für eine unfruchtbare Politik der Abstinenz, die auch das Gewicht der Sozialdemokratie als eine für die Völkerverständigung wirkende Kraft nicht genügend zur Geltung brachte.
Rosa Luxemburg und die Bildung eines linksradikalen Flügels Im Gegensatz dazu war der von Rosa Luxemburg ausgehende Versuch, den offensichtlich klaffenden Widerspruch zwischen der revolutionären Theorie und der reformistischen Praxis der Partei durch eine revolutionäre Gesamtkonzeption zu überbrücken, nicht ohne Wucht und innere Geschlossenheit.
Die aus dem russischen Polen stammende jüdische Revolutionärin Rosa Luxemburg
Ihre 1899 veröffentlichte Schrift „Sozialreform oder Revolution", in der wir das erste Dokument dieser Parteiströmung zu sehen haben, wendet sich zwar formell im Namen der überlieferten Parteianschauungen gegen Bernstein, enthält aber tatsächlich bereits die verkappte Formulierung einer neuen revolutionären Taktik.
Der Unterschied zwischen den Ideen der Anhänger Bernsteins und der Konzeption der radikalen Linken ist durch die verschiedene Auffassung der von beiden Richtungen betonten praktischen Gegenwartsarbeit bedingt. Sah Bernstein in der Sozialreform ein Mittel zur allmählichen Durchdringung der kapitalistischen Gesellschaft mit sozialistischen Elementen, so lehnte Rosa Luxemburg die Idee einer Verwandlung des Meeres der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweise Hinzufügung der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit als absurd und phantastisch ab
Wenn auch ihre Ansichten im einzelnen der offiziellen Parteiideologie nicht direkt zuwiderliefen, so war doch der revolutionäre Atem ihrer Sprache und die eindeutige Bejahung der Gewalt als Mittel der Revolution in der Partei neu. Wie Rosa Luxemburg in einem Brief von 1904 schrieb, dürfe sich die Reaktion auf den Revisionismus nicht darauf beschränken, die Partei in den „heimatlichen Stall der Prinzipienfestigkeit zurückzuführen", vielmehr müßten die revolutionären Aspekte der Taktik betont und weiterentwickelt werden
Das Vorbild der russischen Revolution von 1905, schwere Arbeitskämpfe vor allem im Ruhrgebiet Januar-Februar 1905, die aus den romanischen Ländern übernommene Idee des politischen Massenstreiks der Arbeiter, das Aufkommen von Massenbewegungen zur Demokratisierung des Wahlrechts in den deutschen Einzelstaaten und besonders in Preußen, wo das bestehende Dreiklassenwahlrecht einseitig die besitzenden Schichten bevorzugte, sowie die Verschärfung des Kampfes gegen Militarismus und Nationalismus waren die Hauptantriebe für die Bildung und Konsolidierung eines linksradikalen Flügels in der Sozialdemokratie, der sich allerdings erst 1910 klar von der Parteiführung und dem Parteizentrum absetzte.
Die Debatte und die Anwendbarkeit des Massenstreiks als politisches Kampfmittel Die Radikalen sahen nicht mehr im Wahlkampf und in der Parlamentstätigkeit, sondern im politischen Massenstreik das entscheidende taktische Kampfmittel der Sozialdemokratie.
Auch die das Parteizentrum repräsentierende Führung der Sozialdemokratie hat die Idee des Massenstreiks als eines möglichen Kampfmittels der Arbeiterschaft 1905/06 formell akzeptiert. In der Praxis jedoch hat sie — mitbedingt durch die Opposition der Gewerkschaften und die Furcht vor einer Zerschlagung der Arbeiterorganisationen — nie ernsthaft an die Anwendung dieses Druckmittels zur Erzwingung einer Reform des Wahlrechts in Preußen oder gar zur Verhinderung eines Krieges gedacht. Während sogar einige der bedeutendsten Führer der Revisionisten wie Eduard Bernstein und der badenser Sozialistenführer Ludwig Frank im Streik ein brauchbares Instrument zur Erzwingung polilitischer Reformen und zur Aktivierung der latenten Macht der Sozialdemokratie sahen
Man hat in dem Verzicht der Sozialdemokratie auf eine alleinige Bestimmung der Politik der Arbeiterbewegung eine Kapitulation der Partei vor den Gewerkschaften gesehen
In scharfem Gegensatz zur Partei-und Gewerkschaftsführung sahen die Radikalen im Massenstreik eine spontane Erhebung der Arbeiterschaft als Vorstadium der Revolution und als Mittel zur revolutionären Schulung der unorganisierten Arbeiterschaft, auf die die
Radikalen ihre entscheidenden Hoffnungen setzten
Die Eroberung der politischen Macht war bei Rosa Luxemburg und den meisten ihrer Anhänger nicht als Staatsstreich einer entschlossenen Minderheit gedacht, sondern als Folge des zähen revolutionären Kampfes einer großen und klassenbewußten Volksmasse. Die Bruchstelle der Konzeption Rosa Luxemburgs und des linken Parteiflügels, der 1911/12 — provoziert durch die Dämpfung der Massenstreikdebatte, die aus wahltaktischen Gründen erfolgende Zurückhaltung in der Marokkokrise 1911 und das Stichwahlabkommen mit dem Fortschritt 1912 — gegen den Parteivorstand rebellierte, war die Verkennung der wirklichen Einstellung der angeblich revolutionären Massen, als deren Wortführer sie sich ansahen. Rosa Luxemburgs Vorstellung einer „demokratischenRevolution" entsprachim Gegensatz zu Lenins Idee — einer durch eine Minderheit von Berufsrevolutionären bewußt herbeigeführten und straff gelenkten Revolution — der von Engels dargelegten spätmarxistischen Auffassung der Revolution. Sie war aber undurchführbar, da sie auf einer falschen Einschätzung der politischen Verhältnisse beruhte. Trotz aller Kritik der Arbeiterschaft an der ungenügenden Berücksichtigung ihrer politischen und sozialen Forderungen war die Eingliederung der Arbeiter, — die an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs der beiden Jahrzehnte vor 1914 beteiligt worden waren — in den Staat und die Gesellschaft ihrer Zeit bereits so weit fortgeschritten, daß ein echter Resonanzboden für die Ideen Rosa Luxemburgs und ihrer politischen Freunde nicht gegeben war.
In der politischen Praxis entwickelte sich die Sozialdemokratische Partei unter fast unbekümmerter Beibehaltung der alten radikalen Schlagworte trotz des Widerstandes prinzipieller Bedenken immer weiter in der vorgezeichneten Richtung einer reformistischen Emanzipationspartei der Arbeiterschaft. Die langsame Umwandlung der Sozialdemokratie von einer Agitationspartei mit genau festgelegten theoretischen Richtlinien zu einer praktisch tätigen Reformpartei mit einer Vielfalt von durch die konkreten Verhältnisse nuancierten und wandelbaren Einzelansichten war auch die letzte Ursache der besonders in Süddeutschland immer deutlicher werdenden revisionistischen Bestrebungen.
Die agitatorischen Phrasen und radikalen Grundsätze waren das typische Kennzeichen einer Partei gewesen, die, jahrzehntelang auf den Reichstag als einzige Tribüne zur Vertretung ihrer Ideen angewiesen, auf die Fragen der konkreten Tagespolitik fast ohne jeden Einfluß blieb. Während nun in den letzten Jahren vor 1914 im Reichstag selbst mit der steigenden Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten an die Stelle der summarischen Behandlung der aufgeworfenen Fragen eine ernstere Prüfung und sachliche Einzelkritik trat, erschloß sich der Sozialdemokratie in den Selbstverwaltungskörperschaften der Sozialpolitik sowie den Landtagen und Gemeindevertretungen ein immer breiteres Arbeitsfeld, das, ungeeignet zu Propagandazwecken, ein großes Maß an sachlicher Einsicht und praktischem Können erforderte.
Die Sozialdemokratie in den deutschen Einzelstaaten Um die Jahrhundertwende war die Sozialdemokratie in der Mehrzahl der Landtage der deutschen Einzelstaaten vertreten
In den meisten Staaten stand der Kampf um eine Reform des Wahlrechts im Mittelpunkt der Arbeit der Partei. In Süddeutschland konnte die Sozialdemokratie in Bayern, Württemberg und Baden einen bedeutenden Einfluß auf die Schaffung neuer Wahlgesetze nehmen, die die Vorstellungen der Partei im wesentlichen verwirklichten. Im Gegensatz zu dieser Demokratisierung des Wahlrechts im Süden 1904— 07 scheiterten alle Bestrebungen zur Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. In Sachsen, Braunschweig, Lübeck und Hamburg kam es sogar zu Wahlrechtsveränderungen, die den politischen Einfluß der Arbeiterschaft zugunsten privilegierter Gruppen noch stärker als bisher beschränkten. Der Unterschied im politischen und sozialen Klima zwischen dem Süden, in dem die Sozialdemokratie mit bürgerlichen Kräften bei der Demokratisierung der Verfassung zusammenarbeiten konnte, und dem Norden, in dem die Partei weiterhin isoliert blieb und keine politischen Konzessionen erringen konnte, hat den bereits in den neunziger Jahren sichtbaren Gegensatz zwischen der Sozialdemokratie Nord-und Süddeutschlands weiter verschärft.
Es ist bezeichnend, daß die Kritik des Parteizentrums und der Radikalen an der reformistischen Praxis der süddeutschen Sozialdemokraten nicht an sachliche Einzelfragen der Landespolitik anknüpfte, sondern auf der Verschiedenartigkeit der Staatsauffassungen beruhte. Während die an der Festlegung der staatlichen Politik beteiligten süddeutschen Sozialdemokraten eine allmähliche Umwandlung des Staates durch den Einfluß der Arbeiterschaft für möglich hielten, tendierten die Sozialdemokraten in Norddeutschland, wo die Partei durch das die Arbeiter benachteiligende Wahlrecht aus den Landtagen ihrer Staaten ausgeschlossen war oder aufgrund ihrer Schwäche und der Stärke der konservativen Parteien keinen konkreten Einfluß ausüben konnte, dazu, den Staat als ein Instrument der Klassenherrschaft anzusehen, das nicht umgewandelt, sondern nur durch den Sieg des Proletariats zerstört werden könnte.
Der bedeutendste Versuch zur Aufhebung der Gegensätze von Radikalismus und Reformismus, die ja letztlich in den verschiedenen politischen Verhältnissen im Norden und Süden ihre wesentliche Ursache hatten, ging von Ludwig Frank aus. Als eigentlicher Initiator des badischen Großblocks — einer parlamentarischen Arbeitsgemeinschaft von Liberalen und Sozialdemokraten gegen das Zentrum und die Konservativen im Landtag von Baden — demonstrierte er die Möglichkeit eines erfolgreichen Zusammengehens der Sozialdemokratie mit bürgerlichen Parteien, gleichzeitig aber sprach er sich eindeutig für einen Massenstreik der Arbeiterschaft zur Erzwingung einer Wahlreform in Preußen aus
Das in vielen Gebieten bestehende undemokratische Wahlrecht zu den kommunalen Vertretungskörperschaften hat es dabei der Sozialdemokratie erschwert, ihren Einfluß in den Städten und Landgemeinden genügend zur Geltung zu bringen. Beim Gemeinde-wie beim Landtagswahlrecht machte sich die Differenz zwischen Nord-und Süddeutschland, wo in Bayern 1908 und in Baden 1910 die Gemeindewahlrechte grundlegend reformiert wurden, stark bemerkbar. Während in Baden, Württemberg und Bayern Sozialdemokraten in vie-len Orten in die Magistrate gewählt oder so-gar als Bürgermeister eingesetzt wurden, war es den Sozialdemokraten in Preußen unmöglich, ihre Vertreter in die Magistrate oder die Schuldeputationen zu bekommen.
Da Prinzipienfragen auf kommunaler Ebene kaum eine Rolle spielten, wurde die Mitarbeit in den Gemeindevertretungen — es gab 1913 über 10 000 Sozialdemokraten in Gemeindevertretungen und 320 in Magistraten und Gemeindevorständen —
Neben den Landtagen und Kommunen boten vor allem die Vertretungs-und Verwaltungskörperschaften der Arbeiterversicherung, die Gewerbe-und Kaufmannsgerichte sowie die kommunalen Arbeitsnachweise, in denen nach einer Schätzung Bernsteins von 1910 zusammen fast 100 000 Sozialdemokraten tätig waren
In der mit dem wachsenden Umfang der praktischen Gegenwartsarbeit ständig zunehmenden Bedeutung konkreter politischer Fragen gegenüber prinzipiellen Erwägungen lag die Stärke des Revisionismus, dem wie der Hydra der Sage immer neue Köpfe nachwuchsen. Die Revision der Vorstellungen der Partei war nicht an die theoretische Konzeption Bern-steins und deren Schicksal gebunden, sondern war als Betrachtung vom Standpunkte der praktischen Parteiarbeit her als Gesamterscheinung schlechthin unfaßbar. Von einer Fülle wandelbarer Faktoren abhängig, war sie der festgelegten starren Doktrin der orthodoxen Marxisten zwar im einzelnen nicht gleichwertig, im ganzen aber unendlich überlegen. So mußten die sogenannten „Siege" über den Revisionismus — u. a. die ausdrückliche Verurteilung der Bewilligung einzelstaatlicher Budgets durch sozialdemokratische Landtagsfraktionen auf den Parteitagen von 1908 und 1910 — Pyrrhussiege bleiben. Der Wandel der theoretischen Vorstellungen als Reflex der das Parteileben immer mehr überwuchernden reformistischen Politik war das unvermeidliche Schicksal der Partei.
Der Stand der sozialdemokratischen Bewegung am Vorabend des ersten Weltkrieges Dem letzten vor dem ersten Weltkrieg abgehaltenen Parteitag der Sozialdemokratie in Jena 1913 konnte der Parteivorstand berichten, daß die Sozialdemokratie fast eine Million Mitglieder umfaßte und über 90 Tageszeitungen und 62 Druckereien verfügte
Die Sozialdemokratie, deren Arbeit von der 1904 entstandenen proletarischen Jugendbewegung
In enger Verbindung mit ihr stan-den die von Mitgliedern der Partei und der Freien Gewerkschaften begründeten unpolitischen Arbeiterklubs —-die Hunderte von Turnvereinen, Gesangvereinen, Ruderklubs, Schwimmvereinen, Kegelklubs, Radfahrvereinen, die Volksbühnen, Wohlfahrtsverbände, Bestattungskassen usw. In ihnen wurde versucht, die Person des einzelnen Arbeiters über den politischen Bereich hinaus — von der Wiege bis zur Bahre — zu erfassen
In den Anfängen der Arbeiterbewegung und teilweise bis 1914 wird man aber in der Gründung dieser Vereine vor allem das Bestreben sehen müssen, die Arbeiter, denen die bestehenden Vereine ja in der Praxis häufig versperrt blieben oder in denen sie von den das Vereinsleben bestimmenden bürgerlichen Elementen isoliert wurden, aus der Enge ihrer Wohn-und Arbeitsverhältnisse hinauszuführen, ihnen statt Kartenspiel und Alkohol neue Interessen zu geben und die Annehmlichkeiten der bürgerlichen Welt zugänglich zu machen. Das Problem der Emanzipation der Arbeiterschaft war ja keineswegs nur ein politisches Problem.
Die deutsche Arbeiterbewegung als Kulturund Emanzipationsbewegung Die deutsche Arbeiterbewegung war eine politische und soziale Emanzipationsbewegung mit festgefügten, durch den spezifischen Ehrbegriff der Solidarität im gewerkschaftlichen und politischen Kampf erweiterten bürgerlichen Moral-und Anstandsbegriffen. Das kam in der reservierten Einstellung der Partei zum sogenannten „Lumpenproletariat" deutlich zum Ausdruck, Die unter diesem Namen zusammengefaßten Parasitenexistenzen von notorischen Säufern, Vagabunden, Zuhältern, Gaunern und ähnlichen zweifelhaften Typen wurden als Abfall der bürgerlichen Gesellschäft und bedauernswertedeklassierte „Opfer des Kapitalismus"
Die Förderung der Erziehung und Bildung des einzelnen Arbeiters galt seit Lassalle und den ersten Arbeiterbildungsvereinen als eine wesentliche Aufgabe der Partei. Der Drang nach dem „Tempel des Wissens"
Die Bedeutung der Arbeiterbewegung als Emanzipations-und Kulturbewegung wird durch die Lebenswege der um 1890 in die Arbeiterorganisationen gelangten späteren Führer der Sozialdemokratie, wie z. B. Philipp Scheidemann, Wilhelm Keil, Carl Severing, Paul Löbe und Friedrich Ebert
Der Ausgangspunkt der geradezu frappierend ähnlichen Lebensläufe der erwähnten Sozialisten ist jeweils der am finanziellen Unvermögen der Eltern scheiternde Versuch zur Ergreifung eines gehobenen Berufes. Die weiteren Interessen, die in den ursprünglichen Berufszielen zum Ausdruck kamen, waren auch der entscheidende Antrieb, der sie über die vorgezeichnete Bahn von Fabrikarbeitern, Handwerksgesellen und Handwerksmeistern hinaus führte. Sie alle drängte das Bestreben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Masse der Arbeiter den Zugang zu den lange versperrten Schätzen von Kunst und Wissenschaft aufzuschließen. Den Schlüssel dazu sahen sie in den Organisationen der Arbeiterbewegung. Ein weiterer gemeinsamer Zug ihres Entwicklungsganges ist der Ausgang vom lokalen, umgrenzten Bereich und der unbedingte Vorzug der praktischen Arbeit vor prinzipiellen theoretischen Erwägungen. Sie alle sind Einzelerscheinungen des in den neunziger Jahren emporgekommenen Typus des deutschen Arbeiterführers, der im Gegensatz zur älteren Generation der Arbeiter-führer in erster Linie nicht mehr ein Agitator der theoretischen Grundsätze des Sozialismus, sondern ein sachkundiger Reformpolitiker ist.
Die Sozialdemokratie, die immer tiefer in den bestehenden Verhältnissen wurzelte, organisierte so die Arbeiter nicht im Sinne ihrer Theorie als feindliche Sonderklasse gegen die bestehende Gesellschaft, sondern wurde im Gegenteil zusammen mit den Gewerkschaften der Hebel, der die Arbeiterschaft langsam — und angesichts des Widerstandes der herrschenden Schichten noch keineswegs vollständig — in den Gesamtaufbau des gesellschaftlichen Lebens einfügte und damit die vorhandenen Gegensätze wenigstens teilweise überbrückte und versöhnte.
Ausblick
2. Kontrolleure
2. Kontrolleure
Bereits vor dem ersten Weltkrieg war die Verwurzelung der Arbeiterschaft im Deutschen Reiche so stark, daß die berühmte Entscheidung der Sozialdemokratie vom 4. August 1914 für die Bewilligung der Kriegskredite und damit für die Verteidigung des als bedroht angesehenen Vaterlandes von der überwältigenden Mehrheit der deutschen Sozialisten als selbstverständlich akzeptiert wurde. Die Enttäuschung über die offizielle Regierungspolitik, das Entsetzen über die ungeheuren Opfer und Härten des Krieges und die Begeisterung für das Beispiel der russischen Revolution von 1917 bewirkten dann im Laufe des Ersten Weltkrieges die Abwendung der pazifistischen und revolutionären Kräfte von der parteioffiziellen Politik des Burgfriedens. Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung war die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung mit ihren verhängnisvollen Konsequenzen für die Stabilität der Weimarer Republik. Der eine, von der Kommunistischen Partei repräsentierte revolutionäre Flügel gab die noch bei Rosa Luxemburg zentrale demokratische Komponente der alten Ideenwelt der Sozialdemokratie auf und geriet immer mehr in das Fahrwasser Moskaus