Deutsches Zentralarchiv Potsdam Reichskanzlei Nr. 2476, Bl. 105— 108.
Delbrück an Bethmann Hollweg (Ausfertigung)
Rk. 222 pr. Septbr. 1914 1)
G. H. 1 Ani.
Berlin, den 13. September 1914 Eurer Exzellenz geneigtes Schreiben vom 9. d. M. 2) ist gestern hier eingetroffen und von mir mit Freuden begrüßt, weil es mit seinen bestimmten Vorschlägen den Erörterungen über die beim Friedensschluß zu ergreifenden handelspolitischen Maßnahmen etwas von ihrem hypothetischen Charakter nimmt und sie damit auf eine etwas schmalere Basis stellt. Ich hatte bereits Ende voriger Woche die unmittelbar beteiligten Ressortchefs und zwar diese allein zu einer vorbereitenden Besprechung zusammenberufen. Man war mit mir darin einig, daß eigentliche kommissarische Verhandlungen und ein schriftlicher Notenwechsel zu vermeiden seien, daß die Angelegenheit bei mir zu bearbeiten und die Referenten der einzelnen Ressorts nach Bedarf hinzugezogen und schließlich zu einer Kommission zusammengenommen werden sollten. Das entspricht im wesentlichen Eurer Exzellenz Anordnungen. Sachlich hat die Besprechung mit den Herren Ressortchefs, wie ich erwartete, nichts Erhebliches zu Tage gefördert. Ich hatte auch nur die Absicht, sie rechtzeitig mit den für sie alle überraschenden Plänen einer mitteleuropäischen Wirtschaftsvereinigung vertraut zu machen. Abgesehen von den mannigfachen Eventualitäten, die auch in Eurer Exzellenz Programm noch stecken, liegt die Schwierigkeit der Bearbeitung in der Neuheit der Aufgabe, die nur jemand lösen kann, der an ihre Durchführbarkeit glaubt und nicht von vornherein mit Zweifeln an sie herantritt. Ich habe daher ausschließlich für diese Sache den früheren Gouverneur von Rechenberg als Hilfsarbeiter in das Reichsamt des Innern einberufen, der schon vor Wochen mit einer ähnlichen Anregung an mich herangetreten war und, wie ich in einer langen Unterredung, an der auch die Herren Wahnschaffe und Helfferich teilnahmen, festgestellt habe, von den mir zur Verfügung stehenden Leuten unbedingt der geeignetste ist. Den Direktor Müller, der an sich der Berufenste gewesen wäre, konnte ich für diese Sache, die ihn vollständig in Anspruch genommen haben würde, nicht freimachen, da der „wirtschaftliche Krieg" ihn und seine durch Einberufungen zur Fahne von 8 auf 2 Köpfe reduzierte Abteilung voll in Anspruch nimmt. Es wird tatsächlich seit Wochen Tag und Nacht gearbeitet, und ich werde versuchen müssen, einen der einberufenden Herren zu reklamieren. Herr von Rechen-berg, dem der zuständige Dezernent meines Amtes beigegeben wird, soll natürlich unter meiner und meines Unterstaatssekretärs Leitung und in Fühlung mit dem Direktor Müller arbeiten. Was die Arbeit selbst betrifft, so habe ich angeordnet, daß als erstes ein allgemeines Programm für den Wirtschaftsverband, seine Aufgaben, seine Organisation, seinen Umfang und Vorschläge für die Regelung der Übergangszeit und der Übergangsbestimmungen ausgearbeitet werden. Von dem Ergebnis dieser Arbeit wird es abhängen, wie die übrigen Punkte „der allgemeinen Ziele“ zu lösen bezw. zu modifizieren sein werden. Die Vorschläge zu 1 bis 3 quadrieren nicht ganz mit der Forderung zu 4. Es kann beispielsweise zweifelhaft sein, ob man ein Land wirtschaftlich bis auf das letzte erschöpft, das man dem eigenen Wirtschaftsgebiet anzugliedern hofft. Die Annexion des Erzbeckens von Briey kann überflüssig werden, wenn Frankreich und Deutschland ein Wirtschaftsgebiet werden und dergl. mehr. Im übrigen wird die Arbeit Eurer Exzellenz Wünschen entsprechend nach Möglichkeit beschleunigt werden.
Immerhin wird zunächst nicht mehr als die technische Seite der Frage behandelt werden können. Ob ein Zollverein in dem von Eurer Exzellenz gewünschten oder auch geringerem Umfang erreichbar sein wird, hängt von den schließlichen Erfolgen unserer Waffen und vor allem der unserer Verbündeten und von dem Ausgang unseres wirtschaftlichen Krieges mit England ab. Aber auch wenn, wie ich zuversichtlich erwarte, alle diese Voraussetzungen erfüllt sein werden, werden m. E. starke innerpolitische Schwierigkeiten zu überwinden sein. Ein Zollverein, der den größten Teil Europas umfaßt, bedeutet einen Bruch mit unserer Wirtschaftspolitik und leitet einen Abbau unserer Zölle ein. An die Stelle unserer spezialisierten Tarifverträge werden Meistbegünstigungs-oder Reciprocitätsverträge mit einem nach nordamerikanischem Muster zu handhabenden Doppeltarif treten müssen. Während wir bisher die „nationale Arbeit* durch hohe Zölle und Tarifverträge mit allen europäischen Staaten zu schützen suchten, soll in Zukunft auf dem großen Gebiete von den Pyrenäen bis zum Memel, vom Schwarzen Meer zur Nordsee, vom Mittelmeer bis zur Ostsee in der Hauptsache das freie Spiel der Kräfte walten. Der französische und italienische Wein wird dem deutschen Weine, ungarische Agrarprodukte werden unserem ostelbischen Landwirt uneingeschränkte Konkurrenz machen. Die Krefelder Seidenweber werden in unseren Grenzen den Wettbewerb mit Lyon auszuhalten haben. Man wird für eine solche radikale Umwälzung zweierlei anführen können. Die Voraussetzungen, auf denen unsere bisherige Wirtschaftspolitik beruhte, liegen nicht mehr vor, wir kämpfen nicht mehr um die Herrschaft auf dem inneren Markte, sondern um die Herrschaft auf dem Weltmarkt, und den übermächtigen Produktionsmöglichkeiten der transatlantischen Welt kann nur ein zollgeeintes Europa mit dem nötigen Nachdruck gegenübertreten: wir sollen Gott danken, daß der Krieg uns den Anlaß und die Möglichkeit gibt, ein wirtschaftliches System zu verlassen, das den Höhepunkt seiner Erfolge zu überschreiten im Begriff steht. Ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, ohne die Möglichkeit einer vorherigen Propaganda und ohne tatsächliche Beweise für die Uberständigkeit unserer bisherigen Wirtschaftspolitik eine Gefolgschaft für einen Systemwechsel in Deutschland zu gewinnen, und man wird sich darüber klar sein müssen, daß eine solche Politik nicht mit der Rechten und nicht ohne die Sozialdemokratie, jedenfalls nur mit einer liberalen Mehrheit durchzuführen sein wird.
Damit taucht die Frage auf. die allgemein die Gemüter bewegt, ohne daß sie in der Öffentlichkeit erörtert wird, wie wird unsere innere Politik nach dem Kriege orientiert. Vertreter aller Parteien, mit Ausnahme der konservativen, sind bei mir gewesen, die einen schüchtern fragend, die anderen fordernd. Die. Polen rechnen mit der Aufhebung des Enteignungsgesetzes, der Einführung der polnischen Sprache im Religionsunterricht, das Zentrum erwartet den endlichen Fall des Jesuitengesetzes, die Sozialdemokraten erwarten Beseitigung der gegen sie bestehenden Ausnahmebestimmungen auf dem Gebiete der Verwaltung. Die Liberalen begnügen sich mit der Formel, daß nach dieser einhelligen patriotischen Erhebung des ganzen Volkes mit Ausnahmegesetzen nicht mehr regiert werden könne. Die preußische Wahlrechtsfrage erscheint in einer neuen Beleuchtung. Uber eine Unterredung mit dem Abgeordneten David habe ich eine Niederschrift aufnehmen lassen, von der ich Abschrift beifüge. Die Reformisten in der sozialdemokratischen Partei sind in einer schwierigen Lage, sie erstreben die Überführung der internationalen Sozialdemokratie in eine nationale Demokratie, Leute wie Südekum drängen noch weiter, sie wünschen mit der Monarchie zunächst „mindestens auf Grußfuß zu kommen“, sie fürchten aber, daß nach dem Kriege die Radikalen die Oberhand gewinnen, wenn für die Partei keinerlei Erfolge herausspringen. Die Konservativen wünschen dringend, daß die Sozialdemokratie wieder in ihre alten Gewohnheiten zurückfällt und der alte Kampf je eher je lieber durch Schuld der Sozialdemokratie wieder auflebt.
Ich glaube, wir würden es vor dem deutschen Vaterlande nicht verantworten können, wenn wir nicht den Versuch machten, als Preis des Krieges, eine Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite anzubahnen.
Allen an uns ergehenden Anfragen gegenüber haben Herr Wahnschaffe und ich uns mit der Formel geholfen: Es sei klar, daß dieser Krieg mit der gewaltigen nationalen Erhebung, mit den ungeheuren Opfern an Gut und Blut, die alle Teile des Volkes voller Begeisterung brächten, auch auf dem Gebiete der inneren Politik manches wandeln müsse. Welche Konsequenzen aber aus dieser Erkenntnis zu ziehen seien, könne erst nach dem Frieden entschieden werden. Bis dahin müßten alle inneren Kämpfe ruhen, das sei aber nicht möglich, wenn die Regierung jetzt viel umstrittene Fragen, wie das Enteignungsgesetz und dergl. einer plötzlichen Lösung entgegenführte.
Wir müssen versuchen, mit dieser hinhaltenden Politik möglichst weit zu kommen, wir müssen uns aber allmählich darüber klar werden, ob und welche Konzessionen wir machen können und daß wir uns diese nicht abringen lassen dürfen, wenn sie einen politischen Effekt haben sollen. Sie werden im gegebenen Augenblick in feierlicher Form von Allerhöchster Stelle proklamiert werden müssen. Ich bitte Eure Exzellenz, diese etwas langatmigen, nach Form und Inhalt nicht völlig durchgearbeiteten Betrachtungen gütigst entschuldigen zu wollen. Ich habe geglaubt, diese Eindrücke und Erwägungen Eurer Exzellenz nicht vorenthalten zu sollen, zumal Eure Exzellenz aus den zensurierten Zeitungen wenig erfahren und Besuche im Felde nicht empfangen können. Zu einer besseren Durcharbeitung reicht aber bei dem außergewöhnlich starken Geschäftsbetriebe die Zeit nicht aus.