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Anhang. Nr 22 | APuZ 20/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1963 Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche. IV. Bethmann Hollwegs Kriegszielpolitik V. .. und die Septemberdenkschrift VI. Sonderfrieden mit Frankreich? VII. Eine Führungskrise VIII. Kronprinz Wilhelm, Tirpitz und der Kanzler Anhang. Nr 22 Nr. 23 Nr. 24 Nr. 25 Nr. 26 Nr. 27 Nr. 27 a Nr. 28 Nr. 29

Anhang. Nr 22

Deutsches Zentralarchiv Potsdam Reichskanzlei Nr. 2476, Bl. 46-53

Die Septemberdenkschrift Bethmann Hollwegs (Konzept) 1) An den Staatssekretär des Innern Kgl. Staatsminister Herrn Dr. Delbrück Berlin. Eigenhändig. e(x) o(fficio) RK 160 G. H. Ganz geheim.

Großes Hauptquartier, 9. Sept. 14.

Euer Excellenz übersende ich in der Anlage eine vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß, die ich hier habe anfertigen lassen. Wenn auch der Krieg noch nicht entschieden ist und es eher den Anschein hat, als gelänge es England, seine Bundesgenossen in einem Widerstand ä outrance festzuhalten, so werden wir doch für die Eventualität plötzlicher Verhandlungen, die dann nicht in die Länge gezogen werden dürfen, gewappnet sein müssen, über das wirtschaftliche Programm eines mitteleuropäischen Zollverbandes haben wir ja kurz nach dem Ausbruch des Krieges mündlich gesprochen und eine übeieinstimmung in den Grundzügen feststellen können.

Es käme nun darauf an, im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt die einzelnen Probleme vorbereitend so zu klären, daß es bei eventuellen Verhandlungen über einen Präliminarfrieden möglich ist, schnell das Richtige zu treffen und in kurzen Formeln die richtige Grundlage für den späteren schwierigen Aufbau zu finden. Zu den großen sachlichen Schwierigkeiten, die die einzelnen Fragen selbst enthalten, scheint mir noch eine besondere in der Frage der Heranziehung der weiten, an der schließlichen Lösung interessierten wirtschaftlichen Kreise zu liegen. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine derartige Neugestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Mitteleuropas eine Umschichtung der Interessen und Zukunftsaussichten der einzelnen Wirtschaftszweige im Gefolge hat, den einen neue Wege zeigt, sehr viele aber in der bisherigen Einstellung ihrer Interessen gefährdet und manche aus den gewohnten Bahnen reißt, die nicht einsehen werden, daß sich ihnen neue, noch bessere Möglichkeiten öffnen. Ich möchte deshalb raten, die Interessentenkreise so wenig und so spät als möglich heranzuziehen. Bei der Größe des zu Erreichenden werden wir um des Gesamtinteresses willen auch da und dort über noch so berechtigte Sonderinteressen hinweggehen müssen. Auch die Rücksicht auf den ganz geheimen Charakter, der diesen vorbereitenden Arbeiten zukommen muß, wird zu einem solchen Vorgehen den Interessenten gegenüber veranlassen müssen.

Sollten Eure Excellenz der Ansicht sein, daß es — bei der Eigenart unserer an Ressortgesichtspunkten zähe festhaltenden Beamten, von denen nicht alle imstande sein werden, sich plötzlich einer neuen und weiteren Perspektive zuzuwenden — sich empfiehlt, die erst in zweiter Linie beteiligten Ressorts nur in Einzelfragen gutachtlich zu hören, so wäre ich meinerseits mit einem solchen Verfahren einverstanden, in dem Bewußtsein, daß der Hauptteil der Aufgabe am besten in Ihrer persönlichen Initiative und Führung liegt.

S. M.der Kaiser kommt immer von neuem auf den Gedanken zurück, daß eventuell von Belgien und Frankreich zu annektierende Gebietsteile evacuiert und mit Militärkolonien in der Form von Landzuwendungen an verdiente Unteroffiziere und Mannschaften besiedelt werden müßten. Ich verkenne nicht, daß dieser Gedanke viel Bestechendes hat, in der Ausführung aber wohl großen Schwierigkeiten begegnen wird. Immerhin wäre zu überlegen, ob sich nicht eine Formel finden läßt, in der eine solche Expropr[i]ierung in dem Präliminarfrieden dem besiegten Staate 'n gewissem Umfang aufgegeben werden kann. Speziell [Auch] der Gedanke, daß die französische Regierung bei der Abtretung des lothringischen Erzbeckens es auf sich nehmen muß, die dortigen Eisenwerke in deutschen Besitz überzuleiten, wäre erwägenswert. Ich wäre dankbar, wenn Sie auch für diesen Punkt eine Form vorbereiten ließen.

Schlußformel

Rk.

[Paraphe Riezlers] 8 9 2) Unterstaatssekretär Zimmermann Berlin Ganz geheim.

Großes Hauptquartier, 9. Sept. 14.

Euer pp. lasse ich in der Anlage ein Schreiben, das ich heute an Excellenz Delbrück gerichtet habe, zu Ihrer persönlichen Information zugehen.

Rk.

i. m.

gez. v. Bethmann Hollweg [Paraphe Riezlers] 9 9.

Zu Rk. 160 G. H.

Das allgemeine Ziel des Krieges:

Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvöiker gebrochen werden.

Die Ziele des Krieges im einzelnen:

1. Frankreich. Von den militärischen Stellen zu beurteilen, ob die Abtretung von Beifort, des Westabhangs der Vogesen, die Schleifung der Festungen, die Abtretung des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne zu fordern ist.

In jedem Falle abzutreten, weil für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig, das Erzbecken von Briey.

Ferner eine in Raten zahlbare Kriegsentschädigung; sie muß so hoch sein, daß Frankreich nicht imstande ist, in den nächsten 15— 20 Jahren erhebliche Mittel für Rüstungen aufzuwenden.

Des weiteren: ein Handelsvertrag, der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten. Dieser Handelsvertrag muß uns finanzielle und industrielle Bewegungsfreiheit in Frankreich schaffen — so, daß deutsche Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden können.

2. Belgien. Angliederung von Lüttich und Verviers an Preußen, eines Grenzstrichs der Provinz Luxemburg an Luxemburg.

Zweifelhaft bleibt, ob Antwerpen mit einer Verbindung nach Lüttich gleichfalls zu annektieren ist.

Gleichviel, jedenfalls muß ganz Belgien, wenn es auch als Staat äußerlich bestehen bleibt, zu einem Vasallenstaat herabsinken, in etwa militärisch wichtigen Hafenplätzen ein Besatzungsrecht zugestehen, seine Küste militärisch zur Verfügung stellen, wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden. Bei einer solchen Lösung, die die Vorteile der Annexion, nicht aber ihre innerpolitisch nicht zu beseitigenden Nachteile hat, kann franz. Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne, mit großenteils flämischer Bevölkerung diesem veränderten Belgien ohne Gefahr angegliedert werden. Den militärischen Wert dieser Position England gegenüber werden die zuständigen Stellen zu beurteilen haben.

3. Luxemburg wird deutscher Bundesstaat und erhält einen Streifen aus der jetzt belgischen Provinz Luxemburg und eventuell die Ecke von Longwy.

4. Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muß die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands über Mitteleuropa stabilieren (I).

5. Die Frage der kolonialen Erwerbungen, unter denen in erster Linie die Schaffung eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreichs anzustreben ist, desgleichen die Rußland gegenüber zu erreichenden Ziele werden später geprüft.Als Grundlage der mit Frankreich und Belgien zu treffenden wirtschaftlichen Abmachungen ist eine kurze provisorische, für einen eventuellen Präliminarfrieden geeignete Formel zu finden.

6. [Nachtrag] 9) Holland. Es wird zu erwägen sein, durch welche Mittel und Maßnahmen Holland in ein engeres Verhältnis zu dem Deutschen Reiche gebracht werden kann.

Dies engere Verhältnis müßte bei der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein, an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern, i Holland. Es wird zu erwägen sein, durch welche Mittel und Maßnahmen Holland in ein engeres Verhältnis zu dem Deutschen Reiche gebracht werden kann.

Dies engere Verhältnis müßte bei der Eigenart der Holländer von jedem Gefühl des Zwanges für sie frei sein, an dem Gang des holländischen Lebens nichts ändern, ihnen auch keine veränderten militärischen Pflichten bringen, Holland also äußerlich unabhängig belassen, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringen. Vielleicht ein die Kolonien einschließendes Schutz-und Trutzbündnis, jedenfalls enger Zollanschluß, [die Befreiung von der Drohung des Rhein-Emden-Kanals] eventuell die Abtretung von Antwerpen an Holland gegen das Zugeständnis eines deutschen Besatzungsrechtes für das befestigte Antwerpen wie für die Scheldemündung wäre zu erwägen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Abdruck der „vorläufigen Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß" und der beiden dazugehörenden Anschreiben an Delbrück und Zimmermann nach dem Konzept mit Einschluß des ihm zugrunde liegenden Entwurfs soll, soweit möglich, Einblick in die Entstehungsgeschichte des Dokuments geben. Sein Wortlaut allein — unter Ausschluß des kurzen Anschreibens an Zimmermann — wie er in die Ausfertigung übernommen wurde, ist bereits abgedruckt in: W. Basler, Deutschlands Annexionspolitik in Polen und im Baltikum 1914— 1918, Berlin 1962, S. 381 ff. (Nach Reichskanzlei Nr. 2476, Blatt 54— 57). Die Konzepte beider Anschreiben sind handschriftlich v. d. H. Riezlers, dessen Entwurf für den Brief an Delbrück Verbesserungen von ihm selbst sowie vom Reichskanzler trägt. Beistift-Neuschreibungen einzelner Wörter zwischen den Zeilen dieses Anschreibens stammen offensichtlich aus der Kanzlei und wurden, wegen der flüchtigen Schrift Riezlers, bei der Herstellung der Ausfertigung vorgenommen. Die Aufzeichnung selbst ist maschinenschriftlich bis einschließlich Punkt 5, mit Verbesserungen v. d. H. Riezlers. Punkt 6 wiederum ist v. d. H. Riezlers geschrieben und trägt Verbesserungen des Reichskanzlers. Alle inhaltlich relevanten Verbesserungen sind beim Abdruck berücksichtigt worden.

  2. Ausfertigungsdatum, 9., erwartungsgemäß nachgetragen, — Datum des Entwurfs 8. 9. Die linke Hälfte der ersten Seite des Anschreibens trägt den handschriftlichen Weitergabevermerk Riezlers „Herrn Ostertag" (Kanzleidirektor) und den Kanzlei-Abgangsvermerk „zu 1 und 2 ab 10. 9. 14. (d. Postkurier)".

  3. v. d. H. Riezlers hinzugefügt.

  4. v. d. H. Riezlers hinzugefügt.

  5. von Bethmann Hollweg eingefügt, ebenso im folgenden. Text in Klammern gibt alte Lesart wieder.

  6. Links neben „Schlußformel Rk.“ Zusatz v. d. H Riezlers „i. m mündlich genehmigt", ebenso unter „Rk." „i. m. 2.)" („i. m." bezieht sich wohl auf das Mundum des ersten Anschreibens, gewährend „ 2.)" lediglich vermerken soll, daß noch ein zweites Anschreiben, an Zimmermann, konzipiert werden muß); auf der linken Hälfte dieser letzten Seite des Anschreibens in der Höhe von „in deutschen Besitz" Vermerk von Bethmann Hollweg „ 2. Zimmermann"; mit Abstand darunter v d. H. Riezlers „Schlußformel manu propria", links daneben der Text der schwer lesbaren, offensichtlich in der Kanzlei von der Ausfertigung übertragenen Schlußformel „Mit verbindlichem Gruß und Wunsche Ihr ergebenster i. m. gez v. B. H.".

  7. v. d. H. Riezlers hinzugefügt.

  8. v. d. H. Riezlers hinzugefügt.

  9. „folgt 6.) Holland" mit einem weichen Stift v. d. H. Riezlers unten auf Blatt 52. Blatt 53, handschriftlich mit Tinte von Riezler, beginnt mit dem Wort „Nachtrag", das durchgestrichen und durch „ 6.“ ersetzt ist.

  10. von Bethmann Hollweg zugesetzt, ebenso „jedenfalls".

  11. von Bethmann Hollweg gestrichen.

  12. Im Konzept der Aufzeichnung erscheint keine Paraphe.

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