Zu der Front derer, die sich in den ersten Wochen des Jahres 1915 um den Sturz Falkenhayns bemühten, gehörten auch Persönlichkeiten, die im übrigen Gegner der Person und der Politik des Reichskanzlers waren. Dieser befand sich jetzt geradezu in der Gesellschaft nicht nur — wie mit Hindenburg und Ludendorff — seiner pontentiellen sondern auch seiner alten Widersacher.
Kronprinz Wilhelm Kronprinz Wilhelm, Armeeführer im Westen, den Alldeutschen zugeneigt, bekämpfte Bethmann Hollweg seit Jahren und bedrängte seinen Vater schon im September, ihn zu entlassen
In diesem Kampf um den Sturz Falkenhayns hatte Hindenburg, wie oben schon dargestellt wurde, am 12. Januar 1915 den Kronprinzen zu Hilfe gerufen, da er die Mitwirkung seiner Abschiedsdrohung allein nicht für ausreichend hielt, um seine Forderungen durchzusetzen. Damals war der konservative Abgeordnete von Oldenburg-Januschau nach Stenay gefahren und hatte den Thronfolger in seinem Hauptquartier unterrichtet, daß der Feldmarschall wegen der Verweigerung der vier Korps seinen Abschied eingereicht habe
Auch Kronprinz Wilhelm wurde für den Sonderfrieden mit Rußland gewonnen. In einem Briefe vom 2. Februar 1915
Tirpitz ...
Unsere besondere Aufmerksamkeit im Kreise derer, die hier gleichzeitig mit dem Reichskanzler den Sturz Falkenhayns betrieben, verdient der Mann, der immerhin als Initiator des außenpolitischen Kurses angesehen werden kann, den einzuschlagen die Reichsleitung jetzt bemüht war. Tirpitz verfolgte das Ziel, daß er im November dem Staatssekretär des Auswärtigen und dem Chef des Generalstabes unmittelbar vorgetragen und mittelbar an den Kaiser und den Reichskanzler hatte heranbringen lassen
Die Ausschaltung Rußlands bedeutete in der Konzeption des Großadmirals etwas anderes als für den Kanzler. Für den Schöpfer der deutschen Schlachtflotte war dieser Krieg ein „Kampf um Leben oder Tod" mit England. Nach seiner Überzeugung gab es unter den gegebenen Weltverhältnissen für Deutschland nur eine Alternative, ein großes Weltvolk zu werden, die Engländer zur Anerkennung der deutschen Weltmachtstellung zu zwingen oder sich ihnen zu unterwerfen und mit dem Verzicht auf Weltpolitik und Lebensraum in Übersee zur Bedeutungslosigkeit eines reinen Binnenstaates „herabzusinken" ß
Damit folgte Tirpitz dem Grundgedanken seiner Flottenpolitik, daß die Engländer nur durch militärische Macht davon abgehalten würden, sich der überseeischen Wirtschaftsexpansion Deutschlands entgegenzustellen und ihm den freien Zugang zum Weltmeer zu sperren. Wenn sie sich jetzt dem Risiko einer Seeschlacht in deutscher Küstennähe entzogen und die Nordsee mit einer auf die Heimatbasis gestützten Fernblockade abriegelten, dann bot sich dafür im Sinne des Risikogedan kens in Flandern ein Druckmittel. Deutschland sei, so erklärte Tirpitz am 28. Dezember 1914 dem Kronprinzen
Daß die Lage „sehr ernst" geworden sei, war Tirpitz bewußt
unersetzliche Einbuße aus diesem Krieg heraus"; er könne sich das kaum vorstellen
Und auch bei ihm kommt der große Stimmungsunterschied zwischen Heimat und Großem Hauptquartier zum Ausdruck. So findet er in den entscheidenden Tagen der Marneschlacht die „Siegestollheit" der Zeitungen und Briefe, die ihm zugehen, „fatal" und „abstoßend"
... und der Kanzler Auch zur Vorstellungswelt des Reichskanzlers gehörte Gedanke, daß das Deutsche Reich seinen Anteil an der kolonialen Erschließung und der Aufteilung der überseeischen Welt zu beanspruchen habe. Auch seine Außenpolitik vollzog sich im Rahmen einer allgemeinen Bewegung, in der sich die westlichen Nationen in den vierhundert Jahren der europäischen Expansion durch Über-seehandel und Kolonialbesitz ausgebreitet hatten, die im Zeitalter des Imperialismus ihren Höhepunkt erreichte und nun auch Deutschland einschloß, das als aufstrebende Industriemacht darauf angewiesen zu sein meinte, ebenfalls Absatzgebiete, Rohstoffgebiete und Kapitalinvestierungsmöglichkeiten zu erschließen. Nicht minder als bei Portugiesen, Spaniern, Franzosen, Holländern und Engländern entwickelte sich bei den Deutschen mit der Ausbildung des Nationalstaates ein leidenschaftlicher Aktionsdrang zur Betätigung auf den Meeren und in der Welt. Da die Engländer im 19. Jahrhundert die Kontrolle über die maritimen Verkehrswege zu einer Art See-hegemonie entwickelt hatten und die führende Stelle im Welthandel besaßen, mußten sich die anderen Mächte in erster Linie mit diesem Weltreich auseinandersetzen.
Das hatte Bethmann Hollweg bis in den Juli 1914 hinein auf dem Wege diplomatischer Verständigung mit Einzelabkommen versucht.
Und er schien damit Erfolg zu haben. Lagen doch bei Kriegsausbruch für beide Teile befriedigende Verträge über die Zukunft der portugiesischen Kolonien und über die Bagdad-bahn vor, mit denen das deutsch-englische Verhältnis in Mittelafrika und Vorderasien entspannt wurde. Nun hatte sich zwar die auf Deutschland zugespitzte Koalitions-und Isolierungspolitik bis zum Kriegseintritt des britischen Weltreiches gesteigert
Wie sehr sich Bethmann Hollweg in seiner Auffassung über die deutsche Englandpolitik auch jetzt von der eines Tirpitz unterschied, hat dieser — gerade im Hinblick auf die Friedensfrage und auf Belgien — in den tagebuchartigen Aufzeichnungen dieser Woche niedergelegt: „Bethmann hat gestern überall in dem Sinn flaugemacht und gearbeitet, daß wir nur noch um Belgien kämpften, sonst könnten wir den Frieden haben“
Von einem solchen Kanzler war nicht zu erwarten, daß er die mit einem russischen Sonderfrieden gewonnene Rückenfreiheit benützen würde, um den „Kampf bis aufs Messer" gegen England zu führen. Deshalb gehörte Tirpitz zu denen, die am Sturze Bethmann Hollwegs arbeiteten. Hindenburg sollte Reichskanzler werden mit einer Machtstellung, in der ihm auch Heer und Marine unterständen: „Reichskanzler und Chef des Generalstabs und Chef der Admiralität in einer Person"
Ausschaltung des Kaisers?
Doch nicht nur Bethmann Hollweg stand den Tirpitzschen Plänen entgegen, sondern auch der Kaiser
Handelte es sich hier um eine Episode, bei der es offenbar nicht über Gedanken und erste Ansätze hinausging, so bietet sie doch einen tieferen Blick in das innenpolitische Problem der deutschen Sonderfriedenspolitik. Der Kronprinz, für diesen Kurs gewonnen und sogar schon unmittelbar dafür tätig, sah in Tirpitz eine der bedeutendsten politischen Persönlichkeiten der Zeit. Es war zu erwarten, daß er als Regent unter dem Einfluß dieses Ratgebers eine etwa im Osten gewonnene Rückenfreiheit benutzen würde, um den Kampf auf Leben und Tod gegen das britische Weltreich zum Ziel der deutschen Kriegspolitik zu erheben.
Der Vorgang offenbart auch geradezu paradoxe Verhältnisse in der deutschen Führung.
Da bemüht sich der Reichskanzler um einen außenpolitischen Kurs, der ihm auf Betreiben des Staatssekretärs der Marine vom Chef des Generalstabes angeraten wurde und auf den auch der Kaiser drängte. Aber um ihn durchzuführen, sieht er sich genötigt, um die Ablösung eben dieses Generalstabschefs einzukommen. Dabei bedient er sich der Hilfe des früheren, abgesetzten Generalstabschefs, vertritt ein Anliegen des Oberbefehlshabers Ost und hat die Unterstützung des Thronfolgers. Der aber spielt das Spiel des Mannes, der, Initiator einer solchen Rußlandpolitik, auch den Kanzler stürzen, ja den Monarchen ausschalten möchte, um mit dem eine populäre und die militärische Macht repräsentierenden Hindenburg und dem in seiner Unerfahrenheit und Spontaneität lenkbaren Thronfolger den Krieg gegen England auf Sieg oder Niederlage zu führen. Einig sind alle die, die hier miteinander und gegeneinander agieren, in dem Wunsch nach der Verständigung mit dem Gegner im Osten und soweit sie den Generalstabschef zu stürzen suchen, darin, daß hierfür der Schwerpunkt der Kriegsführung nach dem Osten verlegt werden müßte.