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V. .. und die Septemberdenkschrift | APuZ 20/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 20/1963 Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche. IV. Bethmann Hollwegs Kriegszielpolitik V. .. und die Septemberdenkschrift VI. Sonderfrieden mit Frankreich? VII. Eine Führungskrise VIII. Kronprinz Wilhelm, Tirpitz und der Kanzler Anhang. Nr 22 Nr. 23 Nr. 24 Nr. 25 Nr. 26 Nr. 27 Nr. 27 a Nr. 28 Nr. 29

V. .. und die Septemberdenkschrift

Wie nun fügt sich in dieses Bild das mittlerweile zur Berühmtheit gelangte Aktenstück einer „vorläufigen Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß" ein, das der Reichskanzler am 9. September 1914, also auf dem Höhepunkt der Marneschlacht, vom Hauptquartier aus dem Staatssekretär des Innern, Clemens Delbrück übersandte? Nachdem die Denkschrift jetzt im Wortlaut veröffentlicht ist ’) und mir zudem der sich darauf beziehende Schriftwechsel aus den Akten der Reichskanzlei zur Verfügung* steht, ist es möglich, darauf einzugehen 2).

Der Katalog der dort angeführten einzelnen Kriegsziele ist so umfangreich und weitgreifend, daß eine darauf aufgebaute Politik sich meilenweit von dem Programm der Selbstbehauptung entfeint hätte, wie wir es seit dem 18. November 1914 bei der deutschen Reichs-regierung festgestellt haben. Dementsprechend wurde auch das Bild eines Reichskanzlers entworfen, der eine Kriegszielpolitik verfolgt hätte, die fast zum Verwechseln ähnlich den Forderungen all jener Denkschriftenverfasser aus Politik und Wirtschaft entsprochen hätte, die man gewöhnlich unter dem Namen „Annexionisten" zusammenfaßt und deren Ziele später von der dritten OHL verfolgt wurden Eine solche Politik des Reichskanzlers wird damit sogar für eine Zeit behauptet, in der von Seiten der militärischen Führung, d. h. Moltkes und wenig später Falkenhayns, ein spürbarer Druck in dieser Richtung auf die Reichsleitung nicht ausgeübt worden ist.

Nach allem, was wir über die Bedeutung des Räsonnements vom 19. November und nunmehr in den vorstehenden Untersuchungen dieser neuen Folge dargelegt haben, darf die These als unhaltbar beseite gelassen werden, daß die Denkschrift vom 9. September 1914 das tragende Kriegszielprogramm der deutschen Regierung für den ganzen Verlauf des Krieges gewesen sei. Eine andere Frage ist es, ob sich Bethmann Hollweg auf dem Höhepunkt des Frankreichfeldzuges zu dem Ziel einer Friedensordnung hat hinreißen lassen, die in der Gewißheit des Totalsieges über diesen Gegner und die englische Territorialarmee West-und Mitteleuropa in Abhängigkeit vom Deutschen Reich gebracht hätte, mit allen Graden des Einflusses von direkter Annexion bis zur indirekten Kontrolle und damit zu einer deutschen Herrschaft in napoleonischem Ausmaß.

Eine Untersuchung der Denschrift, mit Berücksichtigung der Umstände ihrer Entstehung und des damit zusammenhängenden Schriftwechsels, gibt freilich ein anderes Bild als das zügelloser Siegestollheit und das eines lang gehegten und schon darum auf die Dauer festgehaltenen Planes.

Wie war denn die Situation in jenen Tagen und welche Vorstellungen hatte man damals im Großen Hauptquartier, in dem sich auch der Reichskanzler mit dem Staatssekretär des Auswärtigen aufhielt?

Kaum Hoffnung auf Frankreichs Kapitulation Vertrauliche Aufzeichnungen lassen erkennen, daß dort eine so unbedingte zuversichtliche Hoffnung auf eine Kapitulation Frankreichs nicht bestand. Von der „Erwartung des Blitz-sieges" gibt es im Hauptquartier kaum, von der eines erbitterten langandauernden Volkskrieges dagegen viele Zeugnisse. Es ist ein Irrtum, daß es den Männern in Koblenz und Luxemburg damals noch um die alles entscheidende Vernichtungsschlacht gegangen wäre Wenn es etwa am 27. August noch so auszusehen schien, als ob der unaufhaltsame Vormarsch der deutschen Armeen zur Einnahme von Paris führen würde so gestand sich Bethmann Hollweg am 31. August, daß, wenn die Armee weitere Erfolge hätte, zumindest doch Paris Schwierigkeiten machen würde:

»Die Besetzung und Ruhehaltung der eroberten Gebiete entzieht uns viele Streitkräfte. Der Krieg wird lange dauern, weil Frankreich nicht zum Frieden bereit sein wird." Und Moltke schrieb am 4. September an Conrad von Hoetzendorff: „Wir müssen noch auf ernste Kämpfe gefaßt sein, auf Kämpfe, die durch einen Volkskrieg im großen Umfange sich besonders erbittert gestalten werden" eine Meinung, die er Helfferich gegenüber am Abend desselben Tages ausführlich wiederholte „Wir wollen uns nichts vormachen. Wir haben Erfolge gehabt, aber wir ha-ben noch nicht gesiegt. Sieg heißt Vernichtung der Widerstandskraft des Feindes. Wenn sich Millionenheere gegenüberstehen, dann hat der Sieger Gefangene. Wo sind unsere Gefangenen?" „Die Franzosen sich plan -(haben)

und in mäßig Ordnung zurückgezogen." Und so findet sich denn in der Denkschrift vom 9. September der Satz, dem wir eine zentrale Bedeutung zumessen: „daß es eher den Anschein hat, als gelänge es England, seine Bundesgenossen in einem Widerstand a outrance festzuhalten" Eben jetzt veröffentlichte nämlich die Entente ihr Abkommen vom 5. September, wonach die Partner sich verpflichteten, keinen Separatfrieden abzuschließen.

Auch das konnte nicht ohne Einwirkung auf den deutschen Reichskanzler bleiben, denn innerhalb weniger Tage oder Wochen brach das Europa der Vorkriegszeit nicht völkerrechtliche Verträge. Deshalb hielt er auch die Tatsache dieses Vertrages dem amerikanischen Vermittlungsvorschlag vom 9. Septtember entgegen

Allerdings — und auch das gehört zur militärischen Stimmung im Hauptquartier — war in einem Kriege alles möglich. Und so richtete der Kanzler auch die Hoffnung auf das Wunder eines Nervenzusammenbruches der nach Bordeaux geflohenen franzöischen Regierung und auf die vage Rechnung mit einer Kapitulation Frankreichs ohne einen langwierigen mörderischen Volkskrieg. Dieses Ereignis konnte dann so überraschend eintreten, daß ein „Präliminarfrieden" vorbereitet werden weil dann in mußte, „nichts die Länge gezogen" werden durfte Der aber mußte dann so beschaffen sein, daß er den militärischen und wirtschaftlichen Aufgaben der weiteren Kriegsführung diente. Denn wie wäre die Lage? In Westeuropa würden die Waffen schweigen, der Krieg im Osten seine Gefährlichkeit verlieren und wohl bald ein Ende finden. Und England? Kriegführung gegen ein unbesiegbares England Das war die napoleonische Situation. Wie ein Alpdruck legte sich aut den Kanzler und auf viele gerade der maßlosesten Denkschriftenverfasser und etwa auch auf Tirpitz die Gewißheit der Unbesiegbarkeit Englands Auf die kaum erwartete, aber doch wiederum erhoffte „Eventualität" eines französischen Zusammenbruchs bereitete sich die politische Führung vor. Das gehörte zu den ressortmäßigen Aufgaben, die, wie das gerade Bethmann Hollweg zu tun pflegte, mit Einholen, Verarbeiten und Durchdenken von Gutachten bis hin zu dieser oder jener Einzelfrage erledigt wurden, ohne daß damit jeweils Entscheidungen getroffen wurden. Auch in diesem Sinne haftet der Aufzeichnung vom 9. September etwas „Vorläufiges" an. Andererseits liegt jedoch in dieser Konzeption etwas Ernsthaftes, insofern sie dazu gedacht war, für den Fall des plötzlichen Präliminarfriedens der Reichsleitung eine Unterlage zu bieten. In diesem Sinne hat sich auch Bethmann Hollweg zu „meinem vertraulichen Schreiben vom 9. d. M." bekannt und sprach auch Staatssekretär Delbrück von „Euer Excellenz Programm" Gehört also die „vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß" in eine — noch dazu ungeklärte — Kampfsituation und enthält sie eine Skala von Zielen, von denen damals keineswegs feststand, was etwa zu realisieren sei, so fügt es sich doch unmittelbar ein in die Aufgabe der Kriegführung gegen England.

Zur Sprache kam dieses Problem zunächst durch Tirpitz'Drängen auf eine Seeschlacht, die vom Reichskanzler und dem Admiralstab abgelehnt wurde, um bei Friedensverhandlungen nach größeren Verlusten ohne Flotte einem Diktat Englands nicht völlig ausgeliefert zu sein Die Schwierigkeit, einen Zweifrontenkrieg durch den schnellen Sieg über Frank-reich zu beenden, verblaßte vor der geradezu überwältigend größeren, nach dem Sieg auf dem Kontinent den Krieg gegen England zu bestehen. England war das große Thema neben und hinter allem Siegesjubel. Nicht zufällig schrieb Bethmann Hollweg am 7. Sept., dem Tage, an dem er sich systematisch mit den Bedingungen des Präliminarfriedens zu beschäftigen begann, eine geradezu leidenschaftliche Weisung an seinen Botschafter in Konstantinopel, die Türkei in den Krieg und zum „Angriff gegen den Suezkanal“ zu treiben, „Wir sind gezwungen, jede Möglichkeit auszunutzen, welche geeignet ist, den Widerstand Englands zu brechen". Als wirklich „durchgreifend"

erschien ihm statt vieler Einzelunternehmen eben dieser Angriff Aber letztlich glaubte er an diese Mittel nicht, genau wie jene Projekte der Revolutionierung des Islam oder gar Indiens eher Anzeichen der Hilflosigkeit waren als ernst zu nehmende Pläne.

Dabei ist noch sehr wahrscheinlich, daß sich Bethmann Hollweg damals durch Tirpitz genötigt fühlte, diese Mittel zu versuchen, und es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß der Staatssekretär der Marine, der bei der Abfassung von Telegrammen nach Konstantinopel dabei war, diesen emphatischen Befehlston selbst hineingebracht hat Tirpitz, der den Kanzler verdächtigte, er würde immer noch auf eine Verständigung mit England hinsteuern und deshalb die Kriegführung verschleppen und nicht zum Äußersten bringen, wollte durch diese Mittel, wenn es ihm schon nicht gelang, die Seeschlacht durchzusetzen, den Bruch unwiderruflich machen. Des Kanzlers Versicherungen gerade Tirpitz gegenüber: „Man dürfe die Hartnäckigkeit Englands nicht unterschätzen; müsse sie vielmehr hoch bewerten" klingen tatsächlich sehr nach unverbindlichem Entgegenkommen gegen einen unablässigen Druck, dem er sich nicht unnötig aussetzen wollte Die gesamte deutsche Planung für den Fall eines europäischen Krieges hatte den britischen Kriegseintritt nicht eingeschlossen. Und angesichts der erbitterten und totalen Kampfbereitschaft der Engländer konnte sich der Kanzler nun nicht den Argumenten derer verschließen, die den Frieden und Ausgleich mit England für unerreichbar und unmöglich hielten. Hatte er noch in den Tagen nach der für ihn so überraschenden englischen Kriegserklärung geglaubt, daß der geglückte Ausbruch der „Göben" aus Messina auf die Absicht der Engländer zurückzuführen sei, keine schweren Schläge gegen Deutschland zu führen so redeten die unerwartet ernste und umfassende Blockade die hemmungslos haßerfüllte Propaganda gegen Deutschland und die überraschende Kampf-kraft der sonst gering eingeschätzten englischen Territorialarmee eine deutliche Sprache.

Und nun hatte sich noch vor jeden Ausgleich Belgien als neuer Block geschoben. Wie war in dieser Konstellation ein Krieg zu beenden? Rathenaus Mitteleuropa:

Kampfmittel oder Friedenshoffnung?

Genau an diesem Punkte hatte auch ein anderer seine Überlegungen begonnen und sie dem Kanzler bereits im August in einem Memorandum auseinandergesetzt, und ihn bat Bethmann Hollweg am 7. September, seine Gedanken nochmals zu entwickeln Walther Rathenau, der Bethmann Hollwegs „englische Illusion" niemals geteilt hatte, sah als prominenter Wirtschaftsführer zu seinem Entsetzen, daß Deutschland wirtschaftlich völlig unvorbereitet in den Krieg gegangen war und nun einen Wirtschaftskrieg gegen die englische Blockade auszuhalten hatte. So entwickelte er den Plan einer Strategie dieses Wirtschaftskrieges. Die eine Seite betraf die Organisation der deutschen Wirtschaftskraft mit der Schaffung der Kriegsrohstotfabteilung, „die ihre Arme schon über Belgien und Frankreich ausstreckt" und deren Chef er bis zum Frühjahr 1915 war. Die andere Seite war die außenpolitische Konzeption einer europäischen Zollunion. Ebenso wie Arthur v. Gwinner, Direktor der Deutschen Bank hielt er das „Urteil der deutschen öffentlichen Meinung" für „irrig", daß England im Wirtschaftskrieg die größeren Einbußen erleiden müsse, weil ihm der Kontinent als Markt verschlossen sei. Diese Vor-Stellung, so schrieb Rathenau, beruhe darauf, „daß man bei uns lieber die Landkarte als den Globus betrachtet". Vielmehr, so legten die beiden Wirtschaftsführer dem Kanzler dar, würde die Eroberung des Weltmarktes in England zu einer „Kriegskonjunktur" führen und dementsprechend zu einem Interesse an einer langen Kriegsdauer.

So ergibt sich denn aus der Zusammenfassung des Memorandums von Rathenau und seines von Bethmann Hollweg angeforderten Briefes vom 7. September die Konzeption für einen Status-quo-Frieden mit Frankreich. Er sollte den Franzosen nach dem Fall von Paris angeboten werden unter der Bedingung, daß Frankreich sich an einer wirtschaftlichen Organisation des „alteuropäischen Körpers" zusammen mit Osterreich-Ungarn, dem Balkan und Belgien unter deutscher Führung beteilige, um sich so gemeinsam gegen die aufkommenden „angelsächsischen" und „osteuropäischen Wirtschaftskörper" zu behaupten. In Übereinstimmung mit früheren Plänen glaubte Rathenau dabei an eine friedliche, fast freiwillige Bereitschaft Frankreichs zur Union. Dies sah er als das Endziel an, das nur in diesem günstigen Zeitpunkt „der Niederwerfung Frankreichs durch unsere Armee" möglich sei und „niemals als Schwäche, sondern als Akt der imposanten Fernsicht" erscheinen würde. Zugleich würde auf diese Weise die „Okkupation" und „Besitzabtretung" vermieden, die oft „mehr belasten als nützen". Für den Kampf gegen England würde damit, insbesondere durch Benutzung der französischen Atlantikhäfen und Bedrohung der englischen Mittelmeerposition von Südfrankreich aus, dann die britische Blockade neutralisiert und zum Teil gebrochen. Vor allem würde „die wirtschaftliche Vereinigung und Emanzipation Mitteleuropas" die Aussichten des britischen Widerstandes so reduzieren, daß England den Kampf beenden würde

Das Diktat des Wirtschaftskrieges Lag hier der Schlüssel zum Kampf gegen England? Bethmann Hollweg ließ den an ihn herangetragenen Gedankengang weiter ausführen. Dieser stieß gerade in seinen Elementen der Zollunion auf parallele Überlegungen in der Reichskanzlei und im Innenministerium Dort hatte sie der ehemalige Gouverneur Rechenberg an Delbrück herangetragen, der sich mit Wahnschaffe und Helfferich beraten hatte Die Analyse dieser Ideen führte den Kanzler zu seiner eigenen, in wesentlichen Punkten abweichenden Positionen Er teilte nicht den idealistischen Optimismus, derartiges in Europa ohne Zwang durchzusetzen. Ihm war bewußt, daß sich damals eine europäische Großmacht auch im Augenblick der drohenden Niederlage kaum freiwillig bereitfinden würde, wesentliche, auch nur wirtschaftspolitische Souveränitätsrechte aufzugeben. Deshalb konnte dieser Plan nicht, wie Rathenau hoffte, als ausgehandeltes Separatabkommen, sondern mußte als hartes Diktat durchgesetzt werden. Und nur in der „Sternstunde", wie sie mit einem Siege und einer Kapitulation Frankreichs heraufzukommen schien, kam eine solche Politik in Betracht. Deshalb war auch alles eingebettet in ein typisches „vorläufig", „eventuell" und „vielleicht". Die konsequente Anwendung des Gedankens der Wirtschaftsunion auf Österreich-Ungarn verlangte dann — auch dies wurde dem Kanzler klar — sogar das Diktat gegenüber dem Bundesgenossen.

Die Versuchung war in diesen Tagen groß, denn Österreich-Ungarn war erschreckend schwach und drauf und dran, den Krieg gegen Serbien und Rußland zu verlieren — ein Moment, das durch das glanzvolle Zweigestirn der Sieger von Tannenberg im Hauptquartier nur für die deutsche Stellung nicht lebensgefährlich erschien.

Diesem Gedanken eines „Handstreiches" gegen Österreich-Ungarn, wie Staatssekretär Delbrück die Rathenausche Vorstellung des politischen Druckes interpretierte, stand er als Verfassungsminister und rechtsstaatlich den-kender Verwaltungsbeamter fassungslos gegenüber. In schärfster Polemik gegen solche Vorstellungen zerriß er in einem Brief an den Kanzler am 3. September geradezu Rathenaus Idee der Zollunion mit Osterreich-Ungarn. In einem groß angelegten historischen Rückblick auf die Geschichte der Zollunionspläne seit 1853 ergab sich für ihn, daß Rathenau „in etwas anderer Aufmachung und ziemlich einseitig ein Problem erörtert, das die Staatsmänner und Wirtschaftspolitiker der beiden großen Reiche seit über 80 Jahren nicht aufgehört hat zu beschäftigen." Wie das im Kriege gegen Osterreich-Ungarn überhaupt durchgesetzt werden könnte und welche Konsequenzen in „wirtschaftspolitischer, technischer und staatsrechtlicher Beziehung" mit einer solchen „Umwälzung" verbunden seien, habe Rathenau offensichtlich nicht durchdacht.

Die Gesamthaltung Delbrücks ist schwer zu erfassen, denn eine wirtschaftliche Neuordnung in Westeuropa in der Folge des Krieges erwartete auch er, und zwar auf der Grundlage, wie er bereits am 3. September mit warnendem Unterton einflocht, daß „wir" Belgien und Holland, „wie ich annehme, nicht annektieren wollen". Aber die Vergewaltigung eines befreundeten „großen Reiches" erschien ihm absurd und empörte ihn. Wahrscheinlich hat er darüber hinaus den Aspekt des Wirtschaftskrieges, der ihm an sich nahe lag, bei Rathenau, dessen Vorkriegsideen in diesen Fragen er natürlich kannte, nicht vermutet und deshalb nicht gefunden. Abneigung, sich von in Verwaltungsfragen und staatsrechtlichen Problemen laienhaften Einflüssen stören zu lassen, hat sichtbar mitgespielt. Sein Schreiben vom 13. September an den Kanzler enthält dann bei aller Skepsis über die Möglichkeiten der technischen Durchführung, wie wir sehen werden, geradezu enthusiastische Töne des Aufbruches zu neuen Ufern einer europäischen Wirtschaftspolitik. Auf seinen leidenschaftlichen Angriff gegen eine gewaltsame deutsch-österreichische Zollunion mußte er dann vom Kanzler als Antwort am 16. September entgegennehmen, daß es tatsächlich in diesem Kriege ohne den hegemonialen Druck auch auf den Bundesgenossen nicht ginge. Daß Bethmann Hollweg diese Gedanken in einer Antwort auf einen so energischen Protest seines Stellvertreters formulierte, zeigt, wie sehr er ihm als harte Notwendigkeit der Gesamtkriegführung erschien und daß er diesen Aspekt des Wirtschaftskrieges verstanden und übernommen hatte. Und so bereitete sich der Kanzler in Überschätzung der Möglichkeiten selbst einer erfolgreichen Marneschlacht nun einmal für die glücklichste Eventualität vor, um so überhaupt gegen England „durchzuhalten''.

Kampfmittel und Kriegsziel:

das Dilemma der deutschen Politik Durchhalten! Dieses Wort ist keine Formel des dritten oder vierten Kriegsjahres, es ist bereits das Wort der Marneschlacht, und zwar sowohl des Reichskanzlers als seines Antipoden Tirpitz Die Härte der in die Septemberdenkschrift aufgenommenen Forderungen, insbesondere das hohe Maß auch direkter Annexion und militärischer Okkupation von Schlüsselpositionen, erklärt sich aus dieser Vorstellung, daß Zwang auszuüben sei.

Ist diese Unterscheidung von Kampfmittel und Kriegsziel zu sehr konstruiert? Sowohl die Septemberdenkschrift als auch gerade die Briefe Rathenaus sind außerdem durch eine Polemik und Abwehrstellung gekennzeichnet, und zwar gegen jene, deren „Hoffnungen auf Erwerb ... ins maßlose gesteigert sind". „Jede Veränderung der Landkarte und jede Zahlung" würde als möglich erachtet, „und keine genügt der Unersättlichkeit der unverantwortlichen Beurteilung". Rathenau setzte dagegen das Ziel des „wirklichen Friedens"

Der Reichskanzler war offensichtlich gerade in den ersten Septembertagen neben der Diskussion über die Kriegführung gegen England und in Zusammenhang mit ihr auch in eine Kriegszieldiskussion geraten. Das geschah meist auf Spaziergängen in Luxemburg oder an der kaiserlichen Tafel und bei improvisierten Lagebesprechungen etwa in seinem Quartier oder etwa durch das Zirkulieren der Denkschriften, z. B.der Erzbergerschen vom 2. Sept. 1914 Die Politik spielte sich, wahrscheinlich durch die sehr unzureichende und ungemütliche Unterbringung in der Stadt Luxemburg und vorher in Koblenz verursacht, zum guten Teil auf der Straße ab, was ihr einen zwischen Unverbindlichkeiten und dem Prozeß der Meinungsbildung, dem Intrigieren und der amtlichen Stellungnahme schwankenden sehr improvisierten Status gab, bei dem selbst wichtige Depeschen die Runde machten und über die Ressortgrenzen hinaus nur wenig geheim blieb

Bei diesen Gesprächen waren, abgesehen von dem bohrenden Mißtrauen Tirpitz gegenüber der „Flaumacherei" des Kanzlers, noch keine festen Fronten entstanden. So blieben viele Ansichten undifferenziert im Gespräch und waren oft nicht verbindlich gemeint. So etwa, wenn Wilhelm II. beim Frühstück und dann auf einem zweistündigen Spaziergang am 19. August Tirpitz gegenüber den Gedanken entwickelte, man müsse „Frankreich erst gänzlich niederschlagen. Dann werde er Frankreich anbieten, ihm kein Gebiet zu neh-men, wenn es zu einem Schutz-und Trutzbündnis mit Deutschland bereit sei" Das war eine „Idee", auf die dann am nächsten Tag der Reichskanzler in einer Besprechung mit Jagow, Tirpitz und Pohl „zu sprechen" kam, ohne daß man wüßte, in welchem Sinn, und die Tirpitz in einem weiteren Gespräch am 27. oder 28. August selbst aufnahm, um dem Kanzler ein amputiertes Restbelgien als Pufferstaat auszureden, das doch nicht lebensfähig sei und das man Frankreich geben sollte „unter der Voraussetzung, daß Frankreich einen Frontwechsel vornehme und mit uns schlüge" So entstanden also selbst bei Kanzlergegnern Überlegungen, die in ihrem Effekt der Schonung und des Bündnisses mit Frankreich bei Rathenau oder beim Staatssekretär des Innern und Stellvertreter des Kanzlers, Delbrück, wiederkehrten, allerdings bei diesen in einer ernst gemeinten Konzeption.

Man mag diese Überlegungen als illusionär und oberflächlich beurteilen. Bemerkenswert ist, daß Projekte völlig ohne Annexionen — natürlich im Hinblick auf eine Weiterführung des Krieges gegen die beiden Hauptgegner — ohne Gefahr für den politischen Ruf, und ohne den Ausbruch eines heftigen Intrigenspiels zu provozieren, offen erörtert werden konnten.

Ein fester und bestimmter politischer Wille hätte hier wohl in fast jeder Richtung weitgehend sich durchsetzen können, wenn die Voraussetzung einer französischen Friedensbereitschaft im Augenblick des Einmarsches in Paris ernste Möglichkeiten geboten hätte. Die Analyse der Denkschrift Hatte sich die Situation seit dem 27. August grundlegend geändert? Ist zielbewußter, übermächtiger Druck ausgeübt worden? Wenn man den Text der Septemberdenkschrift, vor allem die maschinengeschriebene Anlage, mit der von Bethmann Hollweg sehr stark umredigierten Antwort auf Erzbergers Denkschrift vergleicht, so zeigt sich, daß der Kanzler weit hinter den Formulierungen der Denkschrift zurückbleibt. Ja, er diktierte eine kaum verhüllte Ablehnung, um sich auf keine Ziele festlegen zu lassen. Sollte er unter starkem Druck gerade auch der Industrie durch die Vielzahl der Denkschriften gestanden haben und so sein Schreiben vom 9. September entstanden sein, so bliebe völlig unverständlich, warum er dann den ganzen politischen Effekt mit einem derartigen Rückzieher vernichten konnte, und das bei einem so redseligen und vielgeschäftigen Mann wie Erzberger. Andererseits war im Hauptquartier bekannt, daß der Kanzler gerade eine Meinungssammlung über die „westlichen Kriegsziele" zusammenstellte, anscheinend „von sich aus", da auch Tirpitz „aufgefordert wurde", seine „Ansicht zu äußern"

Was bleibt als Impuls für diese Niederschrift verständlich, wenn weder Siegestollheit in bezug auf den Gesamtsieg noch eine politisch unumgängliche Abwehrreaktion des Kanzlers ins Feld geführt werden können? Vielleicht führt eine genauere Analyse des Textes dieses Schreibens vom 9. September 1914 weiter.

Der Inhalt des Anschreibens konzentriert sich völlig auf das Mitteleuropaprojekt im Sinne Rathenaus und erwägt besonders, als an den Innenminister und Stellvertreter gerichtet, die innerpolitische Absicherung gegen die erwartete Opposition von Interessenverbänden und der traditionalistischen und durch Ressortenge skeptischen hohen, vor allem preußischen Bürokratie. Das Anschreiben orientiert sich an der Möglichkeit des — was die politische Situation angeht — plötzlichen Präliminarfriedens mit Frankreich, und dieses im Wirbel der Ereignisse seit dem französischen Angriff vom 6. September. Eile wäre verständlich. Dennoch ist das Anschreiben, obwohl von Riezler am 8. September abgezeichnet, erst am 9. September ausgefertigt worden, um dann am 10. September durch Postkurier nach Berlin abzugehen und endlich am 12. September in Berlin einzutreffen

Demgegenüber zeigt die Anlage, die den Katalog der möglichen Ziele aufzählt, den man für alle Fälle vorbereitend bearbeiten sollte, alle Zeichen höchster Eile: eine unsystematische Aneinanderreihung wesentlicher und unwesentlicher Forderungen, z. T. Wiederholungen und sogar Widersprüche prinzipiellen Ausmaßes. Ein Referentenzeichen fehlt. Gibt es etwa keinen einzelnen Autor? Mein Eindruck ist, daß hier — eine Schreibmaschine belagernd — eine lebhaft diskutierende Gruppe mit Eifer versucht hat, möglichst schnell und vollständig zu Papier zu bringen, was eventuell alles in Frage käme und die Beamten in Berlin vorbereiten sollten

In Punkt 1 sind Handelsabmachungen mit Frankreich auf der Grundlage getrennter Wirtschaftsgebiete gefordert, die eine direkte wirtschaftliche Schwächung wenn nicht Ausbeutung beabsichtigten, um dann in Punkt 4 den „mitteleuropäischen Wirtschaftsverband“

zu postulieren, was ein grotesker Widersinn ist, und worauf Staatssekretär Delbrück in seiner Antwort auch unverblümt hinwies

Einmal wird die Abtretung Belforts, des Westabhanges der Vogesen, und — in einem handschriftlichen Zusatz — des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne von militärischen Gutachten abhängig gemacht, in Punkt 2 aber kann unter bestimmten Voraussetzungen „Französisch-Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne, mit großenteils flämischer Bevölkerung" Belgien „angegliedert" werden, und zwar aus politischen Gründen. Ob dieser Kombination auch strategischer Wert gegenüber England zukomme, hätten die zuständigen Militärs zu beurteilen. In radikaler Umkehrung der Motivation stehen nun also die militärischen Argumente als zusätzliche fast unnötige Ergänzung an zweiter Stelle.

Und der Kanzler? Hat er hier etwa mit ironischer Überlegenheit den annexionistischen Wirbel, der vor allem aus Berlin kam, in diesem Tohuwabohu sich ad absurdum führen lassen? Insbesondere weil ihm ein Diktat über Frankreich und Europa zum Kampf gegen England als Kampfmittel ohnehin notwendig erschien und in der bereits ausgebrochenen Kriegszieldebatte die differenzierte Trennung von Kriegsziel und Kriegsmittel politisch unnötig und verwirrend erschien? Man mag die-sen Zug Bethmann Hollweg nicht zutrauen. Also eine unpolitische, unverbindliche, bürokratische Sammelarbeit? Vielleicht auch das. Aber vor allem sagt der Katalog für den Kanzler weniger etwas über das dahinter-stehende Programm der europäischen Union aus — das ist das Thema des Begleitschreibens, das von seinem Stil geprägt ist — als vielmehr über die dazu in diesem Kriege notwendigen Zwangsmittel. In der September-denkschrift erblicken wir, obwohl in Formeln eines traditionellen Präliminarfriedens und in Weiterentwicklung auch eines förmlichen Friedensvertrages gefaßt, nicht das Bild einer verfehlten Friedensordnung als Ausdruck hybriden Herrschaftsstrebens, sondern viel eher das Bild des totalen Krieges. Es ist, wenn der Vergleich gestattet ist, eher dem Kriegsdienstgesetz Hindenburgs von 1917 verwandt als dessen Kreuznacher Kriegszielprogramm. Dementsprechend sind die Friedensbedingungen an England und an Rußland nicht in Detailbestimmungen erörtert, sondern nur als Fernziel und endgültige Grundlage vorangestellt, um den Sinn des Präliminarfriedens — den Endsieg gegen diese unbesiegten Mächte — klar zu machen, sonst aber sind sie in Punkt 5 der Denkschrift ausgeklammert.

Krieg ohne Frieden?

Aber für welche Dauer galt diese Herrschaft? Bis zum Kriegsende, bis zum endgültigen Siege, zum Siege über England? Hier liegt das große Dilemma der Konzeption des Kanzlers und aller jener, die vor dem Kriege mit der Flottenpolitik als Zwangsmittel zur Anerkennung der deutschen Bewegungsfreiheit in der Welt oder nun nach dem endgültigen Bruch den Kampf mit England als unvermeidbar und notwendig ansahen, und die doch zugleich in ihm den gefährlichsten, praktisch unbesiegbaren Feind erkannten, den höchstens zu haßerfüllter ohnmächtiger Toleranz der deutschen Macht zu zwingen sie im glücklichsten Fall das Reich fähig fanden. Zwischen Krieg und diesem Frieden’ verschwammen die Grenzen, und das um so mehr, als nach dem deutschen Siege auf dem Kontinent auch ohne Frieden mit England die Waffen schweigen und nur die Blockade, der unblutige Wirtschaftskrieg wirken würde. Aus solchen Vorstellungen einer zwischen Waffenstillstand und Frieden schwankenden Rivalität formten sich auch Gedanken des abgebrochenen und deshalb später wieder von Deutschland oder England aufzunehmenden Krieges. Ein Gedanke, der häufig als Formel des zweiten

Punischen Krieges geäußert wurde. Deshalb gehen sowohl die Konzeptionen Rathenaus von der Kriegsorganisation in den Zukunftsplan des endgültigen Zustandes über, wie auch Bethmann Hollweg von einer grundsätzlichen „Neugestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Mitteleuropas" von „Zukunftsaussichten" und von der Neuorientierung der Machtverhältnisse und der Koalitionen in Europa nach dem Kriege sprach. Vorwiegend allerdings als Ziel, um dessentwillen diese Kampfmittel eingesetzt wurden. Hier ist ein Umschlag von der totalen Verteidigung zur zumindest vorübergehenden Herrschaft in Europa, weil der Kampf mit England in die Alternative des alles oder nichts zu münden schien — jedenfalls für lange Zeit, falls England wirklich aufs ganze ging, woran Bethmann Hollweg letztlich nicht glauben wollte. Nun läßt sich beim Reichskanzler auch später — wie wir gesehen haben — die Vorstellung einer Zementierung der Kriegsfronten finden ohne diese Konsequenz weit gespannter Kriegsziele. Auch ein Deutschland, das sich lediglich behauptete, würde in einem friedlosen Europa die stets gefährdete und darum besonders zu sichernde Mitte sein, wenn es im ungünstigsten Fall nicht gelang, die Entente etwa auf späteren Friedensverhandlungen auseinanderzubringen. In dieser Klarheit, wie sich nachträglich die Konsequenzen zu Ende denken lassen, ist nicht gedacht worden. Gerade die Frage des Kriegsendes — schon der blinde Fleck in der Schlieffenschen Konzeption des großen Sieges über Frankreich — ist auch im Hinblick auf den deutsch-englischen Krieg völlig unklar. Wenn wir wüßten, in vrelchen Zeitperioden wirklich gedacht wurde, würden sich manche politischen Konzeptionen ganz anders lesen. „Der Krieg wird nicht so kurze Zeit dauern, wie manche den-ken.

England, welches die Ursache von allem Bösen ist, merkt auch, daß es für seine Weltstellung kämpft". Ein prophetisches Wort?

Die Konzeption der . ewigen'Auseinandersetzung?

„Vor Frühjahr ist m. E.der Krieg sicher nicht beendet. Es steht uns also ein harter Winterfeldzug bevor." Das schrieb Tirpitz Mehr vermag selbst dieser Mann sich nicht als Kriegsdauer vorzustellen, der vom Vernichtungswillen Englands überzeugt ist, der schon im September 1914 die Kriegserklärung Rumäniens täglich erwartete trotz Tannenberg mit einem zweiten russischen Einbruch in Ostpreußen rechnete und mit großer Sorge die amerikanischen Waffen-und Materiallieferungen an Frankreich verfolgte und meinte, „im ganzen steht unsere Sache nicht gut."

Späte Kabinettspolitik Wie die Zeit, so erschien 1914 das politische Geschehen des Weltkrieges den Politikern — wie den Miltärs die Kriegführung — noch in den Auswirkungen und Konsequenzen verfügbar zu sein und die „Direktion“ im tieferen Sinne noch möglich. Da ist die strikte Geheimhaltung der Denkschrift, die ablehnende Antwort an Erzberger, die Beschränkung des Kreises der Wissenden auf ein Minimum, die Ausschaltung der Bürokratie und der Verzicht auf zuviel Schriftliches, gleichzeitig aber die Formulierung der für das preußisch-deutsche Staatsgefühl revolutionären Pläne und innerpolitischen Konstellationen. Da wird versucht, dieses Programm eines Wirtschaftskrieges in einen traditionellen völkerrechtswirksamen Friedensvertrag zu zwängen. Wir finden eine Zeitrechnung nach Wochen und Monaten. In dieser Altes und Neues so vermischenden Art offenbart sich das Werk eines späten Kabine ttpo litikers, der sich auf eine verheißungsvolle und bedrohliche Eventualität zugleich vorbereiten wollte, ohne sich festlegen zu müssen. Man ist erstaunt, in welchem Maße Bethmann Hollweg, der doch so oft den Druck der öffentlichen Meinung zur Sprache brachte, glaubte, sich über sie bei einer gewissen Vorbereitung jederzeit hinwegsetzen zu können. Er hielt das selbst bei Plänen für möglich, die den Bereich der Kabinettspolitik weit hinter sich ließen, sowohl dadurch, daß in sie weiteste und mächtige Interessen verwickelt waren, als auch dadurch, daß sie in einem modernen Industriestaat zu organisatorisch tiefgreifenden und unwiderruflichen Umgestaltungsprozessen führen mußten.

Rathenau und Delbrück sahen in dieser Hinsicht weiter. Beide haben — und gerade auch der Staatssekretär als Vater der wirtschaftlichen Mobilmachung, über die er sich vor dem Kriege mit dem Kanzler sogar überworfen hatte — Fragen des „wirtschaftlichen Krieges" vor Augen. Doch wußten sie, daß die politischen und ökonomischen Gegenmaßnahmen, nämlich Mitteleuropa, unwider ruflich sind und deshalb nach innen wie nach außen aut einer tragfähigen Dauerordnung beruhen mußten. Also kein Diktat gegenüber Frankreich und Reform im Innern, wenn nicht sogar Parlamentarisierung Der Kanzler dagegen wußte, daß außenpolitisch das Kampfmittel der europäischen Union nur als Diktat durchgesetzt werden konnte und der Zwang des Krieges dieses Mittel nötig mach-te. Aber sein außenpolitischer Realismus wollte sich die sogar wahrscheinliche Eventualität eines ausgehandelten Friedens offen halten, der auch eine für die anderen Großmächte tragbare Grundlage enthalten würde, so daß er an einen unwiderruflichen Schritt nicht zu denken wagte, sondern jederzeit im Sinne der Kabinettspolitik manövrierfähig bleiben wollte.

Und genauso sollten auch die Eventualziele vorläufiger oder langfristiger Kampf-und Okkupationsziele jederzeit revidierbar sein, ohne nun gleichzeitig auf dem Wege der Differenzierung nach Zwischen-und Endziel dem Chor der Annexionisten, der vor allem von Berlin her kam, ohne Not entgegenzutreten, da mindestens ein Stück Weges gemeinsam war. Dies ist ohnehin ein Faktum, das im politischen Alltag leicht mehr zählt als eine streng logische Trennung, wie wir sie in der Analyse seiner Gedanken nachträglich vornehmen können.

Immerhin fällt auf, daß in dem Schriftwechsel mit Delbrück die einzelnen Ziele überhaupt nicht erörtert werden, sondern nur der Plan der Zollunion Bei ihm rechneten Kanzler und Innenminister mit großen Widerständen im Reiche, bei Wirtschaftsverbänden und in der Bürokratie. Bethmann Hollweg wollte sie deshalb von der Erörterung ausschalten. Delbrück suchte einen Mann, dem er diesen großen Plan zur technisch-politischen Ausarbeitung anvertrauen konnte, ohne mit nationalistischer oder konservativ preußischer Obstruktion rechnen zu müssen, und er wußte nur zwei Leute, von denen er Rechenberg als einen der Annreger betraute. Delbrück erwartete die größten inneren Schwierigkeiten.

„Während wir bisher , die nationale Arbeit’ zu schützen suchten, soll in Zukunft auf dem großen Gebiete von den Pyrenäen bis zur Me-mel, vom Schwarzen Meer zur Nordsee, vom Mittelmeer bis zur Ostsee in der Hauptsache das freie Spiel der Kräfte walten". Er verstand die Denkschrift seines Kanzlers so, daß im Vertrauen auf die deutsche Wirtschaftskraft die europäische Konkurrenz sich frei entfalten dürfe, weil „wir" — und dieses „wir'ist revolutionär zweideutig; es heißt Deutschland und Deutschland als Teil Europas zugleich — „nicht mehr um die Herrschaft auf dem inneren Markte (kämpfen), sondern um die Herrschaft auf dem Weltmarkt, und den übermächtigen Produktionsmöglichkeiten der transatlantischen Welt", denen nur „ein zollgeeintes Europa mit dem nötigen Nachdruck gegenübertreten könne" „Man wird sich darüber klar sein müssen", fuhr Delbrück fort, „daß eine solche Politik nicht mit der Rechten und nicht ohne die Sozialdemokratie, jedenfalls nur mit einer liberalen Mehrheit durchzuführen sein wird". Wie hat der Innenminister und Stellvertreter des Kanzlers das Programm seines Chefs verstanden, wenn es nur gegen rechts und mit der Sozialdemokratie durchzuführen sei? Konnte ein Innenminister annehmen, daß er für ein Eroberungsprogramm die Hilfe der demokratischen Parteien insbesondere der SPD bekam, das in völliger Verkehrung der späteren Fronten gegen rechts durchgesetzt werden mußte?

Der deutsche Frieden im September War also tatsächlich an kein Eroberungsprogramm gedacht? Oder wollte Delbrück vor den innenpolitischen Gefahren eines solchen Programms warnen? Der klare Wortlaut der September-Denkschrift enthält trotz der vie-len Einschränkungen Eroberungsziele genug. Gab es eine stille Übereinkunft zwischen Beth-mann Hollweg und Delbrück, sie mit Schweigen zu übergehen? War es so, daß das einzige Eroberungsziel, das der Kanzler, selbst hatte, das Erzbecken von Briey-Longwy, deshalb als einziges vom Vizekanzler erörtert wurde und er es unter Hinweis auf die weiteren Perspektiven ihm auszureden versuch-te Gilt das Urteil vom Umschlag der Verteidigungs-und Besatzungspolitik für die Zeit des Krieges in Herrschaftsziele bis zu einem schier unerreichbaren endgültigen Frieden doch nur in den Extremen von drei bis acht Monaten? Schliessen hat in seinem Aufsatz von 1909 „Der Krieg der Gegenwart" den hochspezialisierten vom Welthandel und geregelter Wirtschaftstätigkeit abhängigen Staaten Europas nur die Fähigkeit der totalen Kriegführung von kürzester Zeit gegeben. Ein vierjähriges Inferno war unvorstellbar

Klar scheint mir allerdings zu sein, daß für den Kanzler im September nur ein Frieden denkbar war, der es England unmöglich ma-chen würde, jemals wieder Deutschland machtlos einer tödlichen Blockade auszusetzen. Deshalb lehnten Kanzler und Auswärtiges Amt das amerikanische Vermittlungsangebot vom 9. September 1914 ab, weil es den Krieg unentschieden und ohne Veränderung der deutsch-britischen Machtverhältnisse enden lassen würde Um ein militärisch unbesiegbares England dahin zu bringen und es auch „für erdenkliche Zeit" daran zu binden, Deutschland von der Welt nicht wieder abzuschneiden, bedurfte es im Kriege und in einer friedlosen Nachkriegszeit der Ausschaltung der „Bundesgenossen" eines Krieges „ä outrance", also Frankreichs, Belgiens und, wirtschaftlich gesehen, auch Hollands, einer Ausschaltung also der drei Westmächte, die angesichts der Überbewertung Englands im Urteil der Deutschen zu reinen Satelliten abgewertet waren. Zu diesem Ziel sind auf der Grundlage des schnellen Sieges über Frankreich vier Wege diskutiert worden: 1. Frankreich sollte aus Angst vor den Folgen einer Niederlage ein Kriegsbündnis gegen England im Rahmen des Status quo eingehen — das war die „Idee" des Kaisers und Tirpitz.

2. Westeuropa würde in einer als freiwillig erwarteten Wirtschaftsunion organisiert werden im Vertrauen auf die hegemoniale Wirkung der deutschen Wirtschaftskraft.

Das war der Vorschlag Rathenaus.

3. Der Kanzler entschied sich für die Wirtschaftsunion, sah aber, da er an Freiwilligkeit bei europäischen Großmächten nicht glaubte, nur den Weg des Diktates.

4. Zugelassen hat er, daß in den Plan einer Wirtschaftsunion völlig wesensfremde auf direkte Schwächung und Verstümmelung Frankreichs und Belgiens gerichtete Teilziele einflossen, wahrscheinlich, weil er auf dem Wege zum Diktat die Unvereinbarkeit der Zielsetzungen nicht durchschaute und außerdem durch eine Opposition gegen Einzelziele — von denen er Longwy-Briey und Nordbelgien selbst erwog — nicht das immer wache Mißtrauen seiner Gegner zu früh wecken wollte.

Die Vorläufigkeit aller Einzelziele war ihm bewußt , weil das Ende des Krieges gegen England ungewiß und wohl auch aus Hilflosigkeit nicht nüchtern durchdacht war, wie sich der Abbruch des Krieges durch England gestalten sollte. Nur soviel schien klar, daß die Machtbehauptung ge-gen England nur auf Kosten der Großmachtstellung Frankreichs zu sichern war.

So war im September 1914 in der Reduzierung des Krieges auf einen Zweikampf Deutschland-England der Blick auf eine konstruktive Friedensordnung nicht frei, weil er rückwärts gebannt war auf die Verhinderung einer zweiten Blockade und eines erneuten Wirtschaftskrieges.

Nüchternheit blieb erhalten in dem traditionellen Bereich des Landkrieges. Ein Scheitern des Kriegsplanes gegen Frankreich und ein im Sinne der damaligen Zeitvorstellungen langandauernder Erschöpfungskrieg zwischen den beiden großen Mächten des Kontinents hat man im deutschen Hauptquartier nicht ausgeschlossen und sogar für wahrscheinlich gehalten, wenn auch der Glaube an einen schließlichen Sieg gegen Frankreich nie erschüttert war.

Der Leser wird gespürt haben, wie widerspruchsvoll und schwierig jede politische Entscheidung und ebenso auch deren Darstellung sein muß, in dieser zwiespältigen Situation für Deutschland, in der die Weichen des Krieges sich auf den Sieg für Deutschland zu stellen schienen und gleichzeitig die Frage her-einbrach, ob Deutschland einen Weltkrieg gewinnen könne. Dieses Dilemma schlägt sich in den zwei Teilen der Denkschrift nieder, die zwei politische Programme enthält. Sie ist in dieser Mehrdeutigkeit ein typisches Zeugnis der Politik Bethmann Hollwegs, der sein eigenes politisches Urteil vorsichtig in der Wendung der unglücklichsten Eventualität aussprach und alle Gegenpositionen als glückliche aber unwahrscheinliche Eventualitäten aus taktischer Vorsicht und im stillen Neid gegen diesen Mut zur Zuversicht in seine Schriftstücke aufnahm — eine Methode, die er hier noch sehr distanziert durch eine im Anhang beigefügte Denkschrift anwandte und im Räsonnement vom 19. November 1914 viel weitgehender verwirklichte.

Nadi der Marneschlacht Mit der Marneschlacht gingen die zwei Zielsetzungen für den Reichskanzler unwiderruflich verloren: das negative, England aus eigener Kraft die Möglichkeit zum überwältigenden Druck auf Deutschland zu nehmen, und das positive, in Europa sogar mit den Kräften der Demokratie zu neuen Ufern zu gehen, wobei Herrschaft und liberaler Neuanfang, Nationales und übernationales vermengt waren. Von der Mitteleuropaidee wandte er sich in einem Maße ab, daß er, als Falkenhayn mit den gleichen Motiven der Antwort auf den britischen Erschöpfungskrieg sie an ihn herantrug, diesen Gedanken ablehnte in Form und Worten, die nie vermuten lassen, daß das gleiche Ziel genau 12 Monate vorher von ihm formuliert worden war Was später davon wiederkam, war ohnehin nicht mehr die Union mit dem Schwerpunkt in Westeuropa, denn Frankreich war unbesiegt, sondern es diente eher der Festigung des Kriegsbündnisses gegen eine unerschütterte feindliche Koalition, und es wurde auch ein Mittel, um die leidige polnische Frage zu lösen. Bethmann Hollweg wollte im Herbst 1915 nicht die deutsche Wirtschaft als ausschließlich gebenden Teil an Osterreich-Ungarn binden und hielt weiter gehende Ziele ohne Sieg und im Kriege für völlig utopisch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Räsonnement vom 19. November, Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/61, S. 285.

  2. Nach Fritz Fischer, „Griff nach der Weltmacht" (1961), S. 113, waren „die in dem Programm niedergelegten Richtlinien im Prinzip Grundlage der deutschen Kriegszielpolitik bis zum Ende des Krieges, wenn sich auch je nach der Gesamtlage einzelne Modifikationen ergaben“. Die Formel „im Prinzip" ist gerade in Anwendung auf den doch oft so pragmatischen Bereich der Politik ein Begriff, der durch den hohen Grad der Abstraktion einer moralischen Kategorie sehr ähnlich ist, weil sich machtpolitische Forderungen kleinen und größten Umfanges dadurch auf eine Ebene heben lassen. Dieses Urteil wird durch die Formulierung „einzelner Modifikationen" noch gestützt, in denen — politisch, nicht moralisch gedacht — der Kern eines völligen Kurswechsels enthalten sein kann. Als im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß Volk-mann fragte: „Es waren also Gradunterschiede", antwortete ihm Hans Delbrück: „Verzeihen Sie: Torheit und Weisheit ist kein Gradunterschied", womit er genau dieses Messen unter Prinzipien in der Frage der deutschen Annexionspolitik angriff Dabei soll offen bleiben, ob Delbrücks Vorstellungen reine „Weisheit“ waren Volkmann, Werk d. Pari. Unters. -Aussch., 4. Reihe, Bd. XII, 1 (1929), S. 51, Anm. 1.

  3. Kapitelüberschrift bei Fischer, a. a. O., S. 101.

  4. Das bekannte Bild eines Siegestaumels, das neuerdings Jaeschke — Zum Problem der Marneschlacht 1914, HZ 190, S 311 f., besonders aber S. 318 — unter dem Begriff der „Hybris“ der General-stabsoffiziere nachgezeichnet hat, wobei Moltke ausgenommen ist, bezieht sich nach allen angeführten Belegen auf die Überschätzung rein militärischer, oft sogar taktischer Vorzüge der deutschen Armeen und ihrer Überlegenheit gegenüber einem zu bedeutsamen Widerstand oder gar eigenen operativen Gegenmaßnahmen unfähigen Gegner. Dabei ist nicht einmal der Erfolg des feldzugs-oder kriegsentscheidenden strategischen Konzeptes im Bewußtsein gewesen. Sowie über das . Siegen'zum politischen Sieg im Kriege weitergedacht wurde, (Tirpitz: „Wir müssen aber mehr als siegenl“ Brief vom 7. Sept. 1914. Erinnerungen [1919], S. 399) blieb die nüchterne Berechnung, wenn nicht sogar pessimistische Sorge vorherrschend. Groener fügte bereits am 23. August seinem „Gesamteindruck, daß der Krieg gegen Frankreich bereits entschieden ist“ hinzu: „mag er sich allerdings auch in die Länge ziehen". Doch bereits am 27. August sprach er in den fast gleichen Worten wie Moltke gegenüber Helfferich (s. Anrn. 9) davon, daß die große Vernichtungsschlacht im Schlieffenschen Sinne nicht erreicht sei und „neue große verlustreiche Kämpfe an der Marne und Aisnelinie bevorstehen". Und am 13. Sept, kommentierte er die eigene Aufzeichnung vom 23. August: „war leider ein Irrtum". An den Optimismus dieses 23. August hatte er als Friedensvorstellung geknüpft: „Wir im Generalstab sind bestrebt, in allem, was wir tun, ganze Arbeit zu machen, so daß — wenn es nach uns geht — das deutsche Volk für die nächsten 100 Jahre Frieden hat. Der Herr Reichskanzler und seine Leute scheinen den Krieg als philosophischen Begriff anzusehen und wären nicht abgeneigt, möglichst bald einen faulen Frieden zu schließen. Das gibt es nicht. Wir werden nicht nur mit den Franzosen, sondern auch mit Herrn v. Bethmann und dem Auswärtigen Amt fertig.“ Später fügte er auch hier die Einsicht hinzu: „Der Krieg hatte mich noch nicht in die Lehre genommen " — Groener, Lebenserinnerungen (1957), S. 160— 162.

  5. Am 27. August 1914 bricht bereits die Unsicherheit über den Erfolg des Feldzuges allgemein durch. Aufz. Groeners v. 27. Aug. 1914, a. a. O , S. 162; Aufz. Müllers v. 27. Aug 1914, a a. O., S. 52; s. a. RA I, S. 440 u. 604; RA Hi, S. 3.

  6. Aufz. Pohls über ein Gespräch mit dem Kanzler vom 31. Aug. 1914 Aus Aufzeichnungen und Brie-fen während der Kriegszeit (1920), S. 39.

  7. Moltke an Conrad von Hoetzendorff vom 4. Sept. 1914 in RA III, S. 317 Die mir durchaus bewußte, aus taktischen Gründen betonte Schwarzmalerei Moltkes, um die Verweigerung des Abzuges von Truppen nach Osten zu rechtfertigen, nimmt einen echten Gedanken auf, wie die Äußerung Helfferich gegenüber zeigt. Das Reichsarchiv (RA III, S. 228) gibt für den 1. Sept. 1914 an, daß die OHL mit dem äußersten Widerstand von Paris rechnete.

  8. Helfferich, Der Weltkrieg, einbändige Ausgabe (1920), S. 143 f. Seit dem 3 Sept beunruhigte Moltke die erwartete Landung der Engländer bei Ostende bzw Dünkirchen als Flankenbedrohung ganz außerordentlich (vgl. Groener, Lebenserinnerungen [1957], S 169), so daß diese vermeintliche strategische Bedrohung des deutschen Scbwenkungsflügels den politischen Aspekten der von England drohenden Gefahren einen sehr handgreiflichen Hintergrund gab und dadurch der zur gleichen Zeit am 5. Sept veröffentlichte Ententevertrag gegen den Separatfrieden eine bedeutendere Wirkung im Hauptquartier erhalten konnte.

  9. Bethmann Hollweg an Staatssekretär Delbrück, 9. Sept. 1914, im Einleitungssatz seines Begleitschreibens zur Septemberdenkschrift, DZA Potsdam, RK 2476. abgedr. als Anlage Nr. 22.

  10. Bethmann Hollweg an Zimmermann zur mündlichen Antwort an US-Botschafter Gerard, Tel. Nr. 40, 12. Sept. 1914, AA, Wk. Gr. Hq. Friedensschluß Nr. 21 Bd 1.

  11. Bethmann Hollweg an Staatssekretär Delbrück, 9. Sept 1914, im Einleitungssatz seines Begleitschreibens zur Septemberdenkschrift, DZA Potsdam, RK 2476, s o Anm. 10

  12. Etwa Jagow am 20 Aug 1914 im Gespräch mit Bethmann Hollweg, Tirpitz und Pohl Aufz Tirpitz v 20 Aug. 1914, Ohnmachtspolitik (1926), S 62. Besonders die Vertreter der Industrie sahen die Schwierigkeit, England zu bezwingen. Z. B. Gwinner in einer Unterredung mit Admiral v Capelle am 22. Aug. 1914 (Tirpitz, Ohnmachtspolitik, S. 65), Thyssen n seiner Denkschrift, die von der Unbesiegbarkeit Englands bestimmt ist (abgedr. bei Basler, a a O . S 359 ff.) und vor allem Rathenau am 7 Sept 1914 in seinem Brief an den Kanzler (s. u. Anm. 23) Für Helfferich ist mir keine Stellungnahme bekannt, aber er wußte bereits am 4. Sept. 1914 von Moltke, daß nicht einmal in Frankreich der vernichtende Schlag in Aussicht stand Helfferich, Der Weltkrieg, Einbd. Ausg (1919), S. 143. Ebenso wird in der Denkschrift Schumachers, die von Stinnes überbracht wurde, - wann ist nicht ganz klar, offensichtlich nach dem 9 Sept. - davon ausgegangen, daß „eine gleich volle Bezwingung Englands nicht angenommen" werden könne (abgedr. bei Basler, a. a. O., Anh. 3, S. 362).

  13. In seinem Schreiben vom 16. Sept. 1914 an Delbrück, bevor dessen Antwort vom 13. Sept, am 17. Sept. 1914 eintraf, DZA Potsdam, RK 2476. Anlage Nr. 23 und Nr. 24.

  14. Delbrück an Bethmann Hollweg, 13. Sept. 1914, pr. 17 Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476. Anlage Nr. 23.

  15. Z. B. Brief Pohl v. 11. Sept. 1914, Aus Aufzeichnungen und Briefen (1920), S. 56. Ebenso Beth-mann Hollweg am 31. Aug. 1914 in einem Gespräch mit Falkenhayn und Pohl: „Wenn wir dann keine Flotte haben, wird England den Frieden nur ma-chen, wenn ihm günstige Bedingungen gestellt werden . . ." Die gleiche Auffassung vertrat in dieser Unterredung auch Falkenhayn, „auch er sieht das letzte Ziel des Krieges in der Bekämpfung Englands, hält die Zurückhaltung der Flotte für richtig". — Aufz. Pohl v. 31. Aug. 1914, Aus Aufzeichnungen und Briefen (1920), S. 40.

  16. Telegrammentwurf zur Weitergabe nach Konstantinopel in Tel Bethmann Hollweg an AA, 7. Sept. 1914, AA, Wk. 11 geh.

  17. Aufz. Pohl v 7. Sept. 1914, Aus Aufzeichnungen und Briefen (1920), S. 51. Tirpitz war beim Kanzler zur Besprechung über Depeschen an Wangenheim.

  18. Aufz. Tirpitz über Unterredungen mit dem Kanzler am 27. und 28. Aug. 1914, Ohnmachtspolitik, S. 63.

  19. Am 10 Sept, ließ Bethmann Hollweg über Legationsrat von Mutius sogar Tirpitz bitten, er möge darauf hinwirken, daß sich der Kapitän a D Graf Reventlow in seinen Äußerungen gegenüber England mäßige. Hopman an Capelle. 10 Sept. 1914, Tirpitz, Ohnmachtspolitik, S 96

  20. Aufz. Pohl vom 8 Aug 1914, Aus Aufzeichnungen und Briefen (1920), S 7 In diese Richtung ist der Kanzler anscheinend durch den Schlußbericht Botschafter Lichnowskys vom gleichen Tag gebracht worden Vgl Pohl, a a O , S. 7 auf Grund des gleichen Telefongespräches

  21. Bei aller Souveränitätsgläubigkeit und der dem Ausbau des internationalen Rechts fremd gegenüberstehenden deutschen Haltung ist trotz der belgischen Neutralitätsverletzung ein starkes Vertrauen auf Vertragstreue und Völkerrecht als bestimmendes Motiv bei der Einschätzung der Maßnahmen des Gegners zu erkennen Die Fernblokkade wurde-auch vor dem Krieg vereinzelt gesehen, aber ihre Wirkung wegen des erreichbaren Wirtschaftsraumes der Neutralen nicht allzu tragisch genommen.

  22. „Die Erörterung geht von der Voraussetzung aus, daß eine vernichtende Besiegung Englands nicht erwartet werden darf . . Rathenau an Beth-mann Hollweg vom 7 Sept 1914, abgedr bei M.

  23. Eric Kollmann, Walther Rathenau and German Foreign Policy, Journal of Modern History, vol. 24 (1952), S 218

  24. Rathenau an Fanny Künstler, 1 Sept. 1914, Walther Rathenau, Briefe (1926), Bd. 1, Nr. 142, S. 158

  25. Gwinner im Gespräch mit Capelle, 22 Aug. 1914, Tirpitz, Ohnmachtspolitik, S 65.

  26. Rathenau an Bethmann Hollweg, 7. Sept. 1914, Eynern, S 120 f.

  27. Diese Vorgeschichte berichtet Delbrück dem Kanzler in seiner Antwort vom 13 Sept. 1914, pr. 17. Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476, s. Ani. Nr. 23.

  28. Bethmann Hollweg in seinem Ergänzungsschreiben zur Septemberdenkschrift an Delbrück vom 16. Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476, siehe Anlage Nr. 24. Dieses Schreiben ist gleichzeitig die Antwort auf Delbrücks Brief vom 3. Sept. 1914, ZA Potsdam, Reichskanzlei, Mitteleuropäischer Wirtschaftsbund, Handel und Gewerbe, l, 403 Bd. 1. Vergleiche dazu die wesentlich positiveren Formulierungen zur gesamteuropäischen Union im Brief an den Kanzler vom 13. (pr. 17.) Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476, siehe Anlage Nr. 23. Der Schlüssel für die widersprüchliche Haltung Delbrücks, der von solchen Plänen während des Krieges nichts wissen wollte, scheint mir neben der Empörung über den gleichartigen Druck auf Freund und Feind die in Anm. 41 skizzierte Zeitvorstellung zu sein, vor allem auch die Frage, wie er sich Durchführung und Beendigung des „wirtschaftlichen Krieges“ gegen England dachte.

  29. Bethmann Hollweg an Erzberger in seiner Ant-wort auf dessen Kriegszieldenkschrift vom 2. Sept.

  30. Die Abwehr der Annexionswelle steht noch stärker im Mittelpunkt bei Rathenau einen Monat später in seinen Briefen an Mutius vom 10. Okt.

  31. Brief an Mutius vom 10. Okt. 1914, abgedr. bei Eynern, S. 125. Obwohl nach der Marneschlacht geschrieben, deren politische Konsequenzen im Hinblick auf den Erfolg in Frankreich Rathenau sah, gelten diese Formulierungen auch für den 7. Sept. 1914, wo die Polemik gegen „Besitzabtretungen" und den „diktierten Friedensvertrag" ebenfalls vorhanden ist. Vgl. Eynern, S. 119 f.

  32. Nach Basler, S. 28 ging die Denkschrift an Reichskanzler, Generalstabschef, Kriegsminister und Staatssekretär des Reichsmarineamtes. Die Denkschrift wurde bereits 1926 von Tirpitz (Ohnmachtspolitik S. 69 f.) veröffentlicht, über Erzbergers extremen Annexionismus jetzt die wertvolle Biographie von Klaus Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie (1962) S. 126 ff. Doch dürfte es nicht haltbar sein, wenn Epstein glaubt, hervorheben zu müssen, daß, wie Fischer überzeugend gezeigt habe, „Erzbergers Torheiten nicht nur von den Militärs, sondern auch von dem relativ nüchternen Bethmann geteilt" würden. M. E. ist auch die von Bass r zitierte Antwort Bethmann Hollwegs an Erzberger (s. Anm. 30) nicht in diesem Sinne zu verstehen, sondern als eine ausgesprochene Distanzierung. Das sagt schon der von Bethmann Hollweg zugefügte Schlußsatz: „Wenn auch alle Möglichkeiten durchdacht werden müssen, so hängen die schließlichen Entschlüsse doch noch von der weiteren Entwicklung ab". Das trifft den Kern der Sache!

  33. Vgl. RA III, S. 190, Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente (1922), S. 382 und Groener, Lebenserinnerungen (1957), S. 166.

  34. Aufz. Tirpitz, Ohnmachtspolitik, S. 62.

  35. Aufz. Tirpitz über Unterredungen mit dem Reichskanzler vom 27. und 28. Aug. 1914. Ohnmachtspolitik, S. 64.

  36. Tirpitz, Ohnmachtspolitik, S. 68. Daß der Kanzler „von sich aus“ von Kriegszielen — in diesem Fall Belgien — anfing, ist Tirpitz nachträglich natürlich bei der späteren Verschlossenheit des Kanzlers in dieser Frage als sehr bemerkenswert ausgefallen.

  37. S Antwort Delbrücks an Bethmann Hollweg, 13 Sept 1914, pr 17. Sept., DZA Potsdam, RK 2476 Anlage Nr. 23.

  38. Da diese Vermutung sich nicht exakt nachweisen läßt, wäre es eine Überinterpretation, den Teilnehmerkreis nach einzelnen Forderungen zu rekonstruieren, etwa das Zurückdrängen Rußlands Jagow zuzuschreiben, Calais und Boulogne Tirpitz, den Handelsvertrag, insbesondere die Finanzierungsfragen Helfferich, Mitteleuropa Riezler, eventuell Mutius, dem Kanzler die Überlegung, ob Nordbelgien annektiert werden sollte, und wohl auch Longwy-Briey. Aus dem Offenlassen der strategisch-militärischen Bedingungen könnte man schließen, daß etwa Falkenhayn oder Vertreter der Armee nicht dabei waren usw.

  39. Delbrück an Reichskanzler vom 13. Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476. Ani. Nr. 23: „ Die Vorschläge zu 1 bis 3 quadrieren nicht ganz mit der Forderung zu 4. Es kann beispielsweise zweifelhaft sein, ob man ein Land wirtschaftlich bis aufs letzte erschöpft, das man dem eigenen Wirtschaftsgebiet anzugliedern hofft. Die Annexion des Erzbeckens von Briey kann überflüssig werden, wenn Frank-reich und Deutschland ein Wirtschaftsgebiet werden." Bethmann Hollweg wußte das auch. Ende 1915 lehnte er vor dem Staatsministerium die Forderung Falkenhayns nach der Wirtschaftsunion mit Osterreich-Ungarn ab, weil die Doppelmonarchie — da wirtschaftlich zu schwach — nur der nehmende Teil wäre — Protokoll der Staatsministerialsitzung vom 24. Nov. 1915, s. o. Kap. IV., Anm. 6.

  40. Die Vorstellung des „wirtschaftlichen Krieges mit England“ auch nach den Waffenerfolgen auf dem Kontinent findet sich etwa bei Staatssekretär Delbrück in seiner Antwort an Bethmann Hollweg am 13. Sept 1914 — DZA Potsdam, RK 2476 Anlage Nr 23. Auch er rechnete übrigens mit einer kurzen Kriegsdauer, obwohl er nicht an einen Diktatfrieden glaubte, da ihm besonders die „schließlichen Erfolge unserer Waffen und vor allem der unserer Verbündeten" noch gar nicht garantiert schienen. Das ist eine für die Zeit-und Kriegsvorstellung sehr kennzeichnende „unlogische" Verknüpfung von Skepsis in den deutschen großen Sieg und Glauben an eine kurze Kriegs-dauer. In seinen Memoiren, die von seinem Sohn Joachim v. Delbrück unter dem Titel „Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914" 1924 herausgegeben worden sind, ist übrigens auf Seite 125 die Septemberdenkschrift und Delbrücks Antwort für den Kundigen klar erkennbar erörtert — ein Hinweis, der in 39 Jahren nicht ausgenommen worden ist.

  41. Tgb Tirpitz vom 11. Sept. 1914, Erinnerungen (1919), S 400 Diese „tagebuchartigen Aufzeichnungen" wurden von Tirpitz „regelmäßig spät abends oder kurz vor Abgang der Kuriermappe flüchtig hingeworfen“ und gingen dann als Kriegsbriefe wahrscheinlich an seine Frau (Tirpitz, Erinnerungen (1919). S 393)

  42. Tgb Tirpitz vom 23 Sept. 1914, Erinnerungen, S 406

  43. Tgb Tirpitz vom 23 Sept 1914, Erinnerungen, S 406

  44. Tgb Tirpitz vom 21 Sept. 1914, Erinnerungen, S 405

  45. Tgb Tirpitz vom 22 Sept 1914, Erinnerungen, S. 405 Diese Sorgen hatte er bereits vor der Marneschlacht Sie drückten nun umso schwerer, „nachdem unser Hauptplan offenbar mißglückt ist". Vgl. zur Zeitvorstellung auch Clemens Delbrück in Anm 41

  46. Im Anschreiben vom 9 Sept 1914 an Delbrück und, ihm sehr ähnlich, Delbrück in seiner Antwort vom 13 Sept. 1914, DZA Potsdam, RK 2476, Anlage Nr 22 und Nr 23

  47. Delbrück sprach in seinem Brief vom 13. Sept, an Bethmann Hollweg von der handelspolitischen Abteilung des Reichsamtes des Innern unter Ministerialdirektor Müller als der Abteilung, die für den „wirtschaftlichen Krieg" zuständig und überlastet sei. Er hielt ihren Leiter neben Rechenberg, als einen der Mitteleuropaanreger, zur Bearbeitung dieser Fragen für den richtigen Mann. Das deutet darauf hin, daß Delbrück als Vertreter der wirtschaftlichen Mobilmachung diesen Zusammenhang begriffen hat. Andererseits dachte er nach seinen Memoiren, die 1917 geschrieben sind, bei den Vorschlägen Rathenaus und der Septemberdenkschrift des Kanzlers anscheinend mehr an Kriegsziele, die noch lange nicht reif seien und deren Vorbereitung jetzt nicht das wichtigste sei (Clemens v. Delbrück, Die wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914 (1924), S. 127), da der Übergang zur Kriegswirtschaft die volle Arbeitskraft absorbiere (a. a. O., S 124). Er verstand angeblich überhaupt die ganze Eile des Kanzlers nicht (a. a. O., S. 125 u. 127), — wahrscheinlich, weil er einem Kanzler, der seine Maßnahmen zur Vorbereitung der wirtschaftlichen Mobilmachung in Friedenszeiten gestört hatte, derartige Gedanken der wirtschaftlichen Kriegführung nicht zutrauen konnte oder wollte. Der Kapiteltitel in seinen Memoiren (S 75) lautet „Obstruktion des Reichsschatzsekretärs und Reichskanzlers“.

  48. Delbrück wollte gerade, was die Kriegszielparteien neben und entgegen dem Kern — dem Mitteleuropaprogramm — anging, durch seine innenpolitische Analyse gleichzeitig warnen, keine Ziele zu postulieren, die mit den Vorstellungen der SPD in unüberbrückbarem Widerspruch ständen. In dieser Frage wollte er den Kanzler geradezu aufklären, „zumal Eure Exzellenz aus den zensurierten Zeitungen wenig erfahren und Besuche im Felde nicht empfangen können". Brief vom 13. Sept. 1914 an den Kanzler, DZA Potsdam, RK 2476, Anlage Nr. 23.

  49. S. o. Anm. 29.

  50. Das sind Formulierungen, die mit Rathenaus Vorstellungen sehr zusammenstimmen, so daß die Distanzierung in den Memoiren, die 1917 abgefaßt sind, sich als Absage an die spätere Kriegszielpartei erklären läßt, zu der er wohl Rathenau zählte.

  51. Diese Stelle schreibt Fischer, a. a. O., S 109, Anni. 14 irrtümlich dem Kanzler zu in Verwechselung der beiden Schreiben Kanzler/Delbrück 16. Sept. 1914 und Delbrück/Kahzler 13. /17. Sept. 1914. Den wirklichen Zusammenhang bei Delbrück siehe Anm. 40 und Anlage Nr. 23. und Nr. 24.

  52. Schliessen in „Der Krieg in der Gegenwart", zuerst anonym veröffentlicht in der „Deutschen Revue" Januar 1909, wieder abgedr. in: Generalfeldmarschall Graf Alfred von Schliessen, Ges Sehr., Bd 1 (1913), S 17

  53. Zimmermann an Bethmann Hollweg, Tel Nr 834, 9 Sept 1914 und Bethmann Hollweg an AA, Tel. Nr 40, 12 Sept 1914, AA, Wk Gr Hq 21, Bd 1 Daß Botschafter Gerard diese Antwort nicht unbedingt als Ablehnung empfand, ist dabei eine andere Sache.

  54. Protokoll der Staatsministerialsitzung vom 24. Nov. 1915, s. o. Kap. IV, Anm. 6.

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