Wie nun fügt sich in dieses Bild das mittlerweile zur Berühmtheit gelangte Aktenstück einer „vorläufigen Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluß" ein, das der Reichskanzler am 9. September 1914, also auf dem Höhepunkt der Marneschlacht, vom Hauptquartier aus dem Staatssekretär des Innern, Clemens Delbrück übersandte? Nachdem die Denkschrift jetzt im Wortlaut veröffentlicht ist ’) und mir zudem der sich darauf beziehende Schriftwechsel aus den Akten der Reichskanzlei zur Verfügung* steht, ist es möglich, darauf einzugehen 2).
Der Katalog der dort angeführten einzelnen Kriegsziele ist so umfangreich und weitgreifend, daß eine darauf aufgebaute Politik sich meilenweit von dem Programm der Selbstbehauptung entfeint hätte, wie wir es seit dem 18. November 1914 bei der deutschen Reichs-regierung festgestellt haben. Dementsprechend wurde auch das Bild eines Reichskanzlers entworfen, der eine Kriegszielpolitik verfolgt hätte, die fast zum Verwechseln ähnlich den Forderungen all jener Denkschriftenverfasser aus Politik und Wirtschaft entsprochen hätte, die man gewöhnlich unter dem Namen „Annexionisten" zusammenfaßt und deren Ziele später von der dritten OHL verfolgt wurden
Nach allem, was wir über die Bedeutung des Räsonnements vom 19. November und nunmehr in den vorstehenden Untersuchungen dieser neuen Folge dargelegt haben, darf die These als unhaltbar beseite gelassen werden, daß die Denkschrift vom 9. September 1914 das tragende Kriegszielprogramm der deutschen Regierung für den ganzen Verlauf des Krieges gewesen sei. Eine andere Frage ist es, ob sich Bethmann Hollweg auf dem Höhepunkt des Frankreichfeldzuges zu dem Ziel einer Friedensordnung hat hinreißen lassen, die in der Gewißheit des Totalsieges über diesen Gegner und die englische Territorialarmee West-und Mitteleuropa in Abhängigkeit vom Deutschen Reich gebracht hätte, mit allen Graden des Einflusses von direkter Annexion bis zur indirekten Kontrolle und damit zu einer deutschen Herrschaft in napoleonischem Ausmaß.
Eine Untersuchung der Denschrift, mit Berücksichtigung der Umstände ihrer Entstehung und des damit zusammenhängenden Schriftwechsels, gibt freilich ein anderes Bild als das zügelloser Siegestollheit und das eines lang gehegten und schon darum auf die Dauer festgehaltenen Planes.
Wie war denn die Situation in jenen Tagen und welche Vorstellungen hatte man damals im Großen Hauptquartier, in dem sich auch der Reichskanzler mit dem Staatssekretär des Auswärtigen aufhielt?
Kaum Hoffnung auf Frankreichs Kapitulation Vertrauliche Aufzeichnungen lassen erkennen, daß dort eine so unbedingte zuversichtliche Hoffnung auf eine Kapitulation Frankreichs nicht bestand. Von der „Erwartung des Blitz-sieges"
»Die Besetzung und Ruhehaltung der eroberten Gebiete entzieht uns viele Streitkräfte. Der Krieg wird lange dauern, weil Frankreich nicht zum Frieden bereit sein wird."
und in mäßig Ordnung zurückgezogen." Und so findet sich denn in der Denkschrift vom 9. September der Satz, dem wir eine zentrale Bedeutung zumessen: „daß es eher den Anschein hat, als gelänge es England, seine Bundesgenossen in einem Widerstand a outrance festzuhalten"
Auch das konnte nicht ohne Einwirkung auf den deutschen Reichskanzler bleiben, denn innerhalb weniger Tage oder Wochen brach das Europa der Vorkriegszeit nicht völkerrechtliche Verträge. Deshalb hielt er auch die Tatsache dieses Vertrages dem amerikanischen Vermittlungsvorschlag vom 9. Septtember entgegen
Allerdings — und auch das gehört zur militärischen Stimmung im Hauptquartier — war in einem Kriege alles möglich. Und so richtete der Kanzler auch die Hoffnung auf das Wunder eines Nervenzusammenbruches der nach Bordeaux geflohenen franzöischen Regierung und auf die vage Rechnung mit einer Kapitulation Frankreichs ohne einen langwierigen mörderischen Volkskrieg. Dieses Ereignis konnte dann so überraschend eintreten, daß ein „Präliminarfrieden" vorbereitet werden weil dann in mußte, „nichts die Länge gezogen" werden durfte
Zur Sprache kam dieses Problem zunächst durch Tirpitz'Drängen auf eine Seeschlacht, die vom Reichskanzler und dem Admiralstab abgelehnt wurde, um bei Friedensverhandlungen nach größeren Verlusten ohne Flotte einem Diktat Englands nicht völlig ausgeliefert zu sein
erschien ihm statt vieler Einzelunternehmen eben dieser Angriff
Dabei ist noch sehr wahrscheinlich, daß sich Bethmann Hollweg damals durch Tirpitz genötigt fühlte, diese Mittel zu versuchen, und es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß der Staatssekretär der Marine, der bei der Abfassung von Telegrammen nach Konstantinopel dabei war, diesen emphatischen Befehlston selbst hineingebracht hat
Und nun hatte sich noch vor jeden Ausgleich Belgien als neuer Block geschoben. Wie war in dieser Konstellation ein Krieg zu beenden? Rathenaus Mitteleuropa:
Kampfmittel oder Friedenshoffnung?
Genau an diesem Punkte hatte auch ein anderer seine Überlegungen begonnen und sie dem Kanzler bereits im August in einem Memorandum auseinandergesetzt, und ihn bat Bethmann Hollweg am 7. September, seine Gedanken nochmals zu entwickeln
So ergibt sich denn aus der Zusammenfassung des Memorandums von Rathenau und seines von Bethmann Hollweg angeforderten Briefes vom 7. September die Konzeption für einen Status-quo-Frieden mit Frankreich. Er sollte den Franzosen nach dem Fall von Paris angeboten werden unter der Bedingung, daß Frankreich sich an einer wirtschaftlichen Organisation des „alteuropäischen Körpers" zusammen mit Osterreich-Ungarn, dem Balkan und Belgien unter deutscher Führung beteilige, um sich so gemeinsam gegen die aufkommenden „angelsächsischen" und „osteuropäischen Wirtschaftskörper" zu behaupten. In Übereinstimmung mit früheren Plänen glaubte Rathenau dabei an eine friedliche, fast freiwillige Bereitschaft Frankreichs zur Union. Dies sah er als das Endziel an, das nur in diesem günstigen Zeitpunkt „der Niederwerfung Frankreichs durch unsere Armee" möglich sei und „niemals als Schwäche, sondern als Akt der imposanten Fernsicht" erscheinen würde. Zugleich würde auf diese Weise die „Okkupation" und „Besitzabtretung" vermieden, die oft „mehr belasten als nützen". Für den Kampf gegen England würde damit, insbesondere durch Benutzung der französischen Atlantikhäfen und Bedrohung der englischen Mittelmeerposition von Südfrankreich aus, dann die britische Blockade neutralisiert und zum Teil gebrochen. Vor allem würde „die wirtschaftliche Vereinigung und Emanzipation Mitteleuropas" die Aussichten des britischen Widerstandes so reduzieren, daß England den Kampf beenden würde
Das Diktat des Wirtschaftskrieges Lag hier der Schlüssel zum Kampf gegen England? Bethmann Hollweg ließ den an ihn herangetragenen Gedankengang weiter ausführen. Dieser stieß gerade in seinen Elementen der Zollunion auf parallele Überlegungen in der Reichskanzlei und im Innenministerium Dort hatte sie der ehemalige Gouverneur Rechenberg an Delbrück herangetragen, der sich mit Wahnschaffe und Helfferich beraten hatte
Die Versuchung war in diesen Tagen groß, denn Österreich-Ungarn war erschreckend schwach und drauf und dran, den Krieg gegen Serbien und Rußland zu verlieren — ein Moment, das durch das glanzvolle Zweigestirn der Sieger von Tannenberg im Hauptquartier nur für die deutsche Stellung nicht lebensgefährlich erschien.
Diesem Gedanken eines „Handstreiches" gegen Österreich-Ungarn, wie Staatssekretär Delbrück die Rathenausche Vorstellung des politischen Druckes interpretierte, stand er als Verfassungsminister und rechtsstaatlich den-kender Verwaltungsbeamter fassungslos gegenüber. In schärfster Polemik gegen solche Vorstellungen zerriß er in einem Brief an den Kanzler am 3. September geradezu Rathenaus Idee der Zollunion mit Osterreich-Ungarn. In einem groß angelegten historischen Rückblick auf die Geschichte der Zollunionspläne seit 1853 ergab sich für ihn, daß Rathenau „in etwas anderer Aufmachung und ziemlich einseitig ein Problem erörtert, das die Staatsmänner und Wirtschaftspolitiker der beiden großen Reiche seit über 80 Jahren nicht aufgehört hat zu beschäftigen." Wie das im Kriege gegen Osterreich-Ungarn überhaupt durchgesetzt werden könnte und welche Konsequenzen in „wirtschaftspolitischer, technischer und staatsrechtlicher Beziehung" mit einer solchen „Umwälzung" verbunden seien, habe Rathenau offensichtlich nicht durchdacht.
Die Gesamthaltung Delbrücks ist schwer zu erfassen, denn eine wirtschaftliche Neuordnung in Westeuropa in der Folge des Krieges erwartete auch er, und zwar auf der Grundlage, wie er bereits am 3. September mit warnendem Unterton einflocht, daß „wir" Belgien und Holland, „wie ich annehme, nicht annektieren wollen". Aber die Vergewaltigung eines befreundeten „großen Reiches" erschien ihm absurd und empörte ihn. Wahrscheinlich hat er darüber hinaus den Aspekt des Wirtschaftskrieges, der ihm an sich nahe lag, bei Rathenau, dessen Vorkriegsideen in diesen Fragen er natürlich kannte, nicht vermutet und deshalb nicht gefunden. Abneigung, sich von in Verwaltungsfragen und staatsrechtlichen Problemen laienhaften Einflüssen stören zu lassen, hat sichtbar mitgespielt. Sein Schreiben vom 13. September an den Kanzler enthält dann bei aller Skepsis über die Möglichkeiten der technischen Durchführung, wie wir sehen werden, geradezu enthusiastische Töne des Aufbruches zu neuen Ufern einer europäischen Wirtschaftspolitik. Auf seinen leidenschaftlichen Angriff gegen eine gewaltsame deutsch-österreichische Zollunion mußte er dann vom Kanzler als Antwort am 16. September entgegennehmen, daß es tatsächlich in diesem Kriege ohne den hegemonialen Druck auch auf den Bundesgenossen nicht ginge. Daß Bethmann Hollweg diese Gedanken in einer Antwort auf einen so energischen Protest seines Stellvertreters formulierte, zeigt, wie sehr er ihm als harte Notwendigkeit der Gesamtkriegführung erschien und daß er diesen Aspekt des Wirtschaftskrieges verstanden und übernommen hatte. Und so bereitete sich der Kanzler in Überschätzung der Möglichkeiten selbst einer erfolgreichen Marneschlacht nun einmal für die glücklichste Eventualität vor, um so überhaupt gegen England „durchzuhalten''.
Kampfmittel und Kriegsziel:
das Dilemma der deutschen Politik Durchhalten! Dieses Wort ist keine Formel des dritten oder vierten Kriegsjahres, es ist bereits das Wort der Marneschlacht, und zwar sowohl des Reichskanzlers als seines Antipoden Tirpitz
Ist diese Unterscheidung von Kampfmittel und Kriegsziel zu sehr konstruiert? Sowohl die Septemberdenkschrift als auch gerade die Briefe Rathenaus
Der Reichskanzler war offensichtlich gerade in den ersten Septembertagen neben der Diskussion über die Kriegführung gegen England und in Zusammenhang mit ihr auch in eine Kriegszieldiskussion geraten. Das geschah meist auf Spaziergängen in Luxemburg oder an der kaiserlichen Tafel und bei improvisierten Lagebesprechungen etwa in seinem Quartier oder etwa durch das Zirkulieren der Denkschriften, z. B.der Erzbergerschen vom 2. Sept. 1914
Bei diesen Gesprächen waren, abgesehen von dem bohrenden Mißtrauen Tirpitz gegenüber der „Flaumacherei" des Kanzlers, noch keine festen Fronten entstanden. So blieben viele Ansichten undifferenziert im Gespräch und waren oft nicht verbindlich gemeint. So etwa, wenn Wilhelm II. beim Frühstück und dann auf einem zweistündigen Spaziergang am 19. August Tirpitz gegenüber den Gedanken entwickelte, man müsse „Frankreich erst gänzlich niederschlagen. Dann werde er Frankreich anbieten, ihm kein Gebiet zu neh-men, wenn es zu einem Schutz-und Trutzbündnis mit Deutschland bereit sei"
Man mag diese Überlegungen als illusionär und oberflächlich beurteilen. Bemerkenswert ist, daß Projekte völlig ohne Annexionen — natürlich im Hinblick auf eine Weiterführung des Krieges gegen die beiden Hauptgegner — ohne Gefahr für den politischen Ruf, und ohne den Ausbruch eines heftigen Intrigenspiels zu provozieren, offen erörtert werden konnten.
Ein fester und bestimmter politischer Wille hätte hier wohl in fast jeder Richtung weitgehend sich durchsetzen können, wenn die Voraussetzung einer französischen Friedensbereitschaft im Augenblick des Einmarsches in Paris ernste Möglichkeiten geboten hätte. Die Analyse der Denkschrift Hatte sich die Situation seit dem 27. August grundlegend geändert? Ist zielbewußter, übermächtiger Druck ausgeübt worden? Wenn man den Text der Septemberdenkschrift, vor allem die maschinengeschriebene Anlage, mit der von Bethmann Hollweg sehr stark umredigierten Antwort auf Erzbergers Denkschrift vergleicht, so zeigt sich, daß der Kanzler weit hinter den Formulierungen der Denkschrift zurückbleibt. Ja, er diktierte eine kaum verhüllte Ablehnung, um sich auf keine Ziele festlegen zu lassen. Sollte er unter starkem Druck gerade auch der Industrie durch die Vielzahl der Denkschriften gestanden haben und so sein Schreiben vom 9. September entstanden sein, so bliebe völlig unverständlich, warum er dann den ganzen politischen Effekt mit einem derartigen Rückzieher vernichten konnte, und das bei einem so redseligen und vielgeschäftigen Mann wie Erzberger. Andererseits war im Hauptquartier bekannt, daß der Kanzler gerade eine Meinungssammlung über die „westlichen Kriegsziele" zusammenstellte, anscheinend „von sich aus", da auch Tirpitz „aufgefordert wurde", seine „Ansicht zu äußern"
Was bleibt als Impuls für diese Niederschrift verständlich, wenn weder Siegestollheit in bezug auf den Gesamtsieg noch eine politisch unumgängliche Abwehrreaktion des Kanzlers ins Feld geführt werden können? Vielleicht führt eine genauere Analyse des Textes dieses Schreibens vom 9. September 1914 weiter.
Der Inhalt des Anschreibens konzentriert sich völlig auf das Mitteleuropaprojekt im Sinne Rathenaus und erwägt besonders, als an den Innenminister und Stellvertreter gerichtet, die innerpolitische Absicherung gegen die erwartete Opposition von Interessenverbänden und der traditionalistischen und durch Ressortenge skeptischen hohen, vor allem preußischen Bürokratie. Das Anschreiben orientiert sich an der Möglichkeit des — was die politische Situation angeht — plötzlichen Präliminarfriedens mit Frankreich, und dieses im Wirbel der Ereignisse seit dem französischen Angriff vom 6. September. Eile wäre verständlich. Dennoch ist das Anschreiben, obwohl von Riezler am 8. September abgezeichnet, erst am 9. September ausgefertigt worden, um dann am 10. September durch Postkurier nach Berlin abzugehen und endlich am 12. September in Berlin einzutreffen
Demgegenüber zeigt die Anlage, die den Katalog der möglichen Ziele aufzählt, den man für alle Fälle vorbereitend bearbeiten sollte, alle Zeichen höchster Eile: eine unsystematische Aneinanderreihung wesentlicher und unwesentlicher Forderungen, z. T. Wiederholungen und sogar Widersprüche prinzipiellen Ausmaßes. Ein Referentenzeichen fehlt. Gibt es etwa keinen einzelnen Autor? Mein Eindruck ist, daß hier — eine Schreibmaschine belagernd — eine lebhaft diskutierende Gruppe mit Eifer versucht hat, möglichst schnell und vollständig zu Papier zu bringen, was eventuell alles in Frage käme und die Beamten in Berlin vorbereiten sollten
In Punkt 1 sind Handelsabmachungen mit Frankreich auf der Grundlage getrennter Wirtschaftsgebiete gefordert, die eine direkte wirtschaftliche Schwächung wenn nicht Ausbeutung beabsichtigten, um dann in Punkt 4 den „mitteleuropäischen Wirtschaftsverband“
zu postulieren, was ein grotesker Widersinn ist, und worauf Staatssekretär Delbrück in seiner Antwort auch unverblümt hinwies
Einmal wird die Abtretung Belforts, des Westabhanges der Vogesen, und — in einem handschriftlichen Zusatz — des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne von militärischen Gutachten abhängig gemacht, in Punkt 2 aber kann unter bestimmten Voraussetzungen „Französisch-Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne, mit großenteils flämischer Bevölkerung" Belgien „angegliedert" werden, und zwar aus politischen Gründen. Ob dieser Kombination auch strategischer Wert gegenüber England zukomme, hätten die zuständigen Militärs zu beurteilen. In radikaler Umkehrung der Motivation stehen nun also die militärischen Argumente als zusätzliche fast unnötige Ergänzung an zweiter Stelle.
Und der Kanzler? Hat er hier etwa mit ironischer Überlegenheit den annexionistischen Wirbel, der vor allem aus Berlin kam, in diesem Tohuwabohu sich ad absurdum führen lassen? Insbesondere weil ihm ein Diktat über Frankreich und Europa zum Kampf gegen England als Kampfmittel ohnehin notwendig erschien und in der bereits ausgebrochenen Kriegszieldebatte die differenzierte Trennung von Kriegsziel und Kriegsmittel politisch unnötig und verwirrend erschien? Man mag die-sen Zug Bethmann Hollweg nicht zutrauen. Also eine unpolitische, unverbindliche, bürokratische Sammelarbeit? Vielleicht auch das. Aber vor allem sagt der Katalog für den Kanzler weniger etwas über das dahinter-stehende Programm der europäischen Union aus — das ist das Thema des Begleitschreibens, das von seinem Stil geprägt ist — als vielmehr über die dazu in diesem Kriege notwendigen Zwangsmittel. In der September-denkschrift erblicken wir, obwohl in Formeln eines traditionellen Präliminarfriedens und in Weiterentwicklung auch eines förmlichen Friedensvertrages gefaßt, nicht das Bild einer verfehlten Friedensordnung als Ausdruck hybriden Herrschaftsstrebens, sondern viel eher das Bild des totalen Krieges. Es ist, wenn der Vergleich gestattet ist, eher dem Kriegsdienstgesetz Hindenburgs von 1917 verwandt als dessen Kreuznacher Kriegszielprogramm. Dementsprechend sind die Friedensbedingungen an England und an Rußland nicht in Detailbestimmungen erörtert, sondern nur als Fernziel und endgültige Grundlage vorangestellt, um den Sinn des Präliminarfriedens — den Endsieg gegen diese unbesiegten Mächte — klar zu machen, sonst aber sind sie in Punkt 5 der Denkschrift ausgeklammert.
Krieg ohne Frieden?
Aber für welche Dauer galt diese Herrschaft? Bis zum Kriegsende, bis zum endgültigen Siege, zum Siege über England? Hier liegt das große Dilemma der Konzeption des Kanzlers und aller jener, die vor dem Kriege mit der Flottenpolitik als Zwangsmittel zur Anerkennung der deutschen Bewegungsfreiheit in der Welt oder nun nach dem endgültigen Bruch den Kampf mit England als unvermeidbar und notwendig ansahen, und die doch zugleich in ihm den gefährlichsten, praktisch unbesiegbaren Feind erkannten, den höchstens zu haßerfüllter ohnmächtiger Toleranz der deutschen Macht zu zwingen sie im glücklichsten Fall das Reich fähig fanden. Zwischen Krieg und diesem Frieden’ verschwammen die Grenzen, und das um so mehr, als nach dem deutschen Siege auf dem Kontinent auch ohne Frieden mit England die Waffen schweigen und nur die Blockade, der unblutige Wirtschaftskrieg
Punischen Krieges geäußert wurde. Deshalb gehen sowohl die Konzeptionen Rathenaus von der Kriegsorganisation in den Zukunftsplan des endgültigen Zustandes über, wie auch Bethmann Hollweg von einer grundsätzlichen „Neugestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Mitteleuropas" von „Zukunftsaussichten" und von der Neuorientierung der Machtverhältnisse und der Koalitionen in Europa nach dem Kriege sprach. Vorwiegend allerdings als Ziel, um dessentwillen diese Kampfmittel eingesetzt wurden. Hier ist ein Umschlag von der totalen Verteidigung zur zumindest vorübergehenden Herrschaft in Europa, weil der Kampf mit England in die Alternative des alles oder nichts zu münden schien — jedenfalls für lange Zeit, falls England wirklich aufs ganze ging, woran Bethmann Hollweg letztlich nicht glauben wollte. Nun läßt sich beim Reichskanzler auch später — wie wir gesehen haben — die Vorstellung einer Zementierung der Kriegsfronten finden ohne diese Konsequenz weit gespannter Kriegsziele. Auch ein Deutschland, das sich lediglich behauptete, würde in einem friedlosen Europa die stets gefährdete und darum besonders zu sichernde Mitte sein, wenn es im ungünstigsten Fall nicht gelang, die Entente etwa auf späteren Friedensverhandlungen auseinanderzubringen. In dieser Klarheit, wie sich nachträglich die Konsequenzen zu Ende denken lassen, ist nicht gedacht worden. Gerade die Frage des Kriegsendes — schon der blinde Fleck in der Schlieffenschen Konzeption des großen Sieges über Frankreich — ist auch im Hinblick auf den deutsch-englischen Krieg völlig unklar. Wenn wir wüßten, in vrelchen Zeitperioden wirklich gedacht wurde, würden sich manche politischen Konzeptionen ganz anders lesen. „Der Krieg wird nicht so kurze Zeit dauern, wie manche den-ken.
England, welches die Ursache von allem Bösen ist, merkt auch, daß es für seine Weltstellung kämpft". Ein prophetisches Wort?
Die Konzeption der . ewigen'Auseinandersetzung?
„Vor Frühjahr ist m. E.der Krieg sicher nicht beendet. Es steht uns also ein harter Winterfeldzug bevor." Das schrieb Tirpitz
Späte Kabinettspolitik Wie die Zeit, so erschien 1914 das politische Geschehen des Weltkrieges den Politikern — wie den Miltärs die Kriegführung — noch in den Auswirkungen und Konsequenzen verfügbar zu sein und die „Direktion“ im tieferen Sinne noch möglich. Da ist die strikte Geheimhaltung der Denkschrift, die ablehnende Antwort an Erzberger, die Beschränkung des Kreises der Wissenden auf ein Minimum, die Ausschaltung der Bürokratie und der Verzicht auf zuviel Schriftliches, gleichzeitig aber die Formulierung der für das preußisch-deutsche Staatsgefühl revolutionären Pläne
Rathenau und Delbrück sahen in dieser Hinsicht weiter. Beide haben — und gerade auch der Staatssekretär als Vater der wirtschaftlichen Mobilmachung, über die er sich vor dem Kriege mit dem Kanzler sogar überworfen hatte — Fragen des „wirtschaftlichen Krieges"
Und genauso sollten auch die Eventualziele vorläufiger oder langfristiger Kampf-und Okkupationsziele jederzeit revidierbar sein, ohne nun gleichzeitig auf dem Wege der Differenzierung nach Zwischen-und Endziel dem Chor der Annexionisten, der vor allem von Berlin her kam, ohne Not entgegenzutreten, da mindestens ein Stück Weges gemeinsam war. Dies ist ohnehin ein Faktum, das im politischen Alltag leicht mehr zählt als eine streng logische Trennung, wie wir sie in der Analyse seiner Gedanken nachträglich vornehmen können.
Immerhin fällt auf, daß in dem Schriftwechsel mit Delbrück die einzelnen Ziele überhaupt nicht erörtert werden, sondern nur der Plan der Zollunion
„Während wir bisher , die nationale Arbeit’ zu schützen suchten, soll in Zukunft auf dem großen Gebiete von den Pyrenäen bis zur Me-mel, vom Schwarzen Meer zur Nordsee, vom Mittelmeer bis zur Ostsee in der Hauptsache das freie Spiel der Kräfte walten". Er verstand die Denkschrift seines Kanzlers so, daß im Vertrauen auf die deutsche Wirtschaftskraft die europäische Konkurrenz sich frei entfalten dürfe, weil „wir" — und dieses „wir'ist revolutionär zweideutig; es heißt Deutschland und Deutschland als Teil Europas zugleich — „nicht mehr um die Herrschaft auf dem inneren Markte (kämpfen), sondern um die Herrschaft auf dem Weltmarkt, und den übermächtigen Produktionsmöglichkeiten der transatlantischen Welt", denen nur „ein zollgeeintes Europa mit dem nötigen Nachdruck gegenübertreten könne"
Der deutsche Frieden im September War also tatsächlich an kein Eroberungsprogramm gedacht? Oder wollte Delbrück vor den innenpolitischen Gefahren eines solchen Programms warnen? Der klare Wortlaut der September-Denkschrift enthält trotz der vie-len Einschränkungen Eroberungsziele genug. Gab es eine stille Übereinkunft zwischen Beth-mann Hollweg und Delbrück, sie mit Schweigen zu übergehen? War es so, daß das einzige Eroberungsziel, das der Kanzler, selbst hatte, das Erzbecken von Briey-Longwy, deshalb als einziges vom Vizekanzler erörtert wurde und er es unter Hinweis auf die weiteren Perspektiven ihm auszureden versuch-te
Klar scheint mir allerdings zu sein, daß für den Kanzler im September nur ein Frieden denkbar war, der es England unmöglich ma-chen würde, jemals wieder Deutschland machtlos einer tödlichen Blockade auszusetzen. Deshalb lehnten Kanzler und Auswärtiges Amt das amerikanische Vermittlungsangebot vom 9. September 1914 ab, weil es den Krieg unentschieden und ohne Veränderung der deutsch-britischen Machtverhältnisse enden lassen würde
2. Westeuropa würde in einer als freiwillig erwarteten Wirtschaftsunion organisiert werden im Vertrauen auf die hegemoniale Wirkung der deutschen Wirtschaftskraft.
Das war der Vorschlag Rathenaus.
3. Der Kanzler entschied sich für die Wirtschaftsunion, sah aber, da er an Freiwilligkeit bei europäischen Großmächten nicht glaubte, nur den Weg des Diktates.
4. Zugelassen hat er, daß in den Plan einer Wirtschaftsunion völlig wesensfremde auf direkte Schwächung und Verstümmelung Frankreichs und Belgiens gerichtete Teilziele einflossen, wahrscheinlich, weil er auf dem Wege zum Diktat die Unvereinbarkeit der Zielsetzungen nicht durchschaute und außerdem durch eine Opposition gegen Einzelziele — von denen er Longwy-Briey und Nordbelgien selbst erwog — nicht das immer wache Mißtrauen seiner Gegner zu früh wecken wollte.
Die Vorläufigkeit aller Einzelziele war ihm bewußt , weil das Ende des Krieges gegen England ungewiß und wohl auch aus Hilflosigkeit nicht nüchtern durchdacht war, wie sich der Abbruch des Krieges durch England gestalten sollte. Nur soviel schien klar, daß die Machtbehauptung ge-gen England nur auf Kosten der Großmachtstellung Frankreichs zu sichern war.
So war im September 1914 in der Reduzierung des Krieges auf einen Zweikampf Deutschland-England der Blick auf eine konstruktive Friedensordnung nicht frei, weil er rückwärts gebannt war auf die Verhinderung einer zweiten Blockade und eines erneuten Wirtschaftskrieges.
Nüchternheit blieb erhalten in dem traditionellen Bereich des Landkrieges. Ein Scheitern des Kriegsplanes gegen Frankreich und ein im Sinne der damaligen Zeitvorstellungen langandauernder Erschöpfungskrieg zwischen den beiden großen Mächten des Kontinents hat man im deutschen Hauptquartier nicht ausgeschlossen und sogar für wahrscheinlich gehalten, wenn auch der Glaube an einen schließlichen Sieg gegen Frankreich nie erschüttert war.
Der Leser wird gespürt haben, wie widerspruchsvoll und schwierig jede politische Entscheidung und ebenso auch deren Darstellung sein muß, in dieser zwiespältigen Situation für Deutschland, in der die Weichen des Krieges sich auf den Sieg für Deutschland zu stellen schienen und gleichzeitig die Frage her-einbrach, ob Deutschland einen Weltkrieg gewinnen könne. Dieses Dilemma schlägt sich in den zwei Teilen der Denkschrift nieder, die zwei politische Programme enthält. Sie ist in dieser Mehrdeutigkeit ein typisches Zeugnis der Politik Bethmann Hollwegs, der sein eigenes politisches Urteil vorsichtig in der Wendung der unglücklichsten Eventualität aussprach und alle Gegenpositionen als glückliche aber unwahrscheinliche Eventualitäten aus taktischer Vorsicht und im stillen Neid gegen diesen Mut zur Zuversicht in seine Schriftstücke aufnahm — eine Methode, die er hier noch sehr distanziert durch eine im Anhang beigefügte Denkschrift anwandte und im Räsonnement vom 19. November 1914 viel weitgehender verwirklichte.
Nadi der Marneschlacht Mit der Marneschlacht gingen die zwei Zielsetzungen für den Reichskanzler unwiderruflich verloren: das negative, England aus eigener Kraft die Möglichkeit zum überwältigenden Druck auf Deutschland zu nehmen, und das positive, in Europa sogar mit den Kräften der Demokratie zu neuen Ufern zu gehen, wobei Herrschaft und liberaler Neuanfang, Nationales und übernationales vermengt waren. Von der Mitteleuropaidee wandte er sich in einem Maße ab, daß er, als Falkenhayn mit den gleichen Motiven der Antwort auf den britischen Erschöpfungskrieg sie an ihn herantrug, diesen Gedanken ablehnte in Form und Worten, die nie vermuten lassen, daß das gleiche Ziel genau 12 Monate vorher von ihm formuliert worden war