Um die Jahreswende 1914/15 stand die deutsche Führung vor neuen Entscheidungen. Reichskanzler und Generalstabschef betrachteten „die ganze Situation doch als sehr ernst und schwierig"
Unter dem Eindruck dieser Mitteilung der OHL mußte Bethmann Hollweg befürchten, daß der Krieg, wenn er nicht gar infolge von militärischen Rückschlägen eine „im gan-zen für uns ungünstige Wendung" nehme, sich zumindesten entscheidungslos hinziehen würde
auswirken. Es wurde die große Sorge des Reichskanzlers, daß es erst zu Friedensverhandlungen kommen würde, wenn die Mittelmächte im Zustand der Erschöpfung gezwungen wären, die Bedingungen der Gegner anzunehmen
Das Kriegsziel der Selbstbehauptung So blieb den Mittelmächten nach Ansicht des Reichskanzlers „als Chance nur, daß der Krieg wegen allgemeiner gegenseitiger Erschöpfung ohne ausgesprochene militärische Niederlage der einen oder der anderen Partei aufhört“. „Das Ergebnis des Krieges würde sich dann für uns im Wesentlichen auf die aller Welt demonstrierte Tatsache reduzieren, daß selbst die größte feindliche Koalition uns nicht niederzwingen kann"
„Nach der gesamten militärischen Lage", so betonte Bethmann Hollweg als Preußischer Ministerpräsident in der Staatsministerialsitzung vom 28. November 1914
Es gehört zum Wesen solcher Aussagen, daß sie von der jeweiligen Vorstellung über die Machtverhältnisse beeinflußt werden. Das gilt sowohl für zu erstrebende Ziele wie auch für Verzicht und Resignation. Zudem sah sich der Kanzler jeweils veranlaßt, solche Erklärungen in die Sprache der Siegeszuversicht zu kleiden, selbst wenn das angewandte Vokabular nicht ganz dem Inhalt der Mitteilung entsprach. Die Gesamtlage könne als gut angesehen werden und berechtige zu der Hoffnung auf den endgültigen Sieg, sagte er den Ministern auch am 28. November 1914. Aber selbst in diesen Klang mischen sich Töne des Ausgleichfriedens. So, wenn er auch in dieser Sitzung die von den Deutschen besetzten Gebiete in Nordfrankreich und Belgien als ein „Faustpfand" bezeichnet, das, nach der Interpretation im Räsonnement
So bietet sich denn hier eine Grundüberzeugung Bethmann Hollwegs dar, die unbeschadet situationsbedingter Modifikationen und taktischer Rücksichtnahme im auch weiteren Verlauf des Krieges zum Ausdruck kommt. „Wenn wir diese Übermacht bestehen und entwicklungsfähig herauskommen, so haben wir gewonnen", erklärte er am 30. Oktober 1916 im Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten
„Sicherungen", „Garantien" und der Frieden Wie aber ist unter diesen Umständen zu erklären, daß der Kanzler wiederholt — und zwar im internen Schriftverkehr wie auch in Reichstagsreden — die Forderung nach einem Frieden erhoben hat, der dem Deutschen Reich „Sicherungen" und „Garantien" und Entschädigung für die gebrachten Opfer bringen sollte? Die Formel findet sich zuerst, wie wir schon hörten, in einer Weisung, die der Reichskanzler am 12. September 1914 aus dem Hauptquartier für die Behandlung eines amerikanischen Vermittlungsangebotes an den in Berlin amtierenden Unterstaatssekretär gab: „Wir können nur Frieden annehmen, der wirklich Dauer verspricht und uns vor neuen Über-fällen unserer Feinde schützt. Wenn wir jetzt das amerikanische Vermittlungsangebot annehmen, würde uns dies von unseren Gegnern nur als Schwäche gedeutet und von unserem Volke nicht verstanden werden. Denn das Volk, das solche Opfer gebracht hat, verlangt Garantien für Sicherheit und Ruhe."
Bei all diesen Äußerungen zur Kriegszielfrage lassen sich jedoch taktische Motive erkennen.
Die Sprachregelung für die Beantwortung des amerikanischen und des dänischen Vermittlungsangebotes hatte den — ja auch ausgesprochenen — Zweck, den Eindruck der Schwäche zu kompensieren, den eine Bereitschaft Deutschlands zum Frieden beim Gegner hervorrufen konnte. Und die Rücksicht auf die allgemeine Stimmung in Deutschland verrät seine Bemerkung im Räsonnement, daß der Ausgang des Krieges, wie er ihn erwarte, „zwar nicht ohne friedenswirkende und entwicklungsfördernde Folgen bleiben, zunächst aber dem Volke als durchaus ungenügender Lohn für so ungeheure Opfer erscheinen würde"
Was die Formel von den „Garantien und Sicherungen" für Bethmann Hollweg bedeutete, zeigen als ein instruktives Beispiel die Umstände, unter denen er am 7.
April 1915 darüber im Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten sprach, wie auch Erläuterungen, die er dort und einige Tage später in einer Sitzung des Preußischen Staatsministeriums gegeben hat. Damals kursierten Gerüchte über Friedensabsichten der Reichsregierung. Es war die Rede von einem Separatfrieden mit Rußland, von einem Festhalten an der „Utopie eines anzubahnenden freundschaftlichen Verhältnisses mit Frankreich" und schließlich von der „Möglichkeit“ eines Friedensschlusses mit England
Wie Bethmann Hollweg den Vorstoß im Bundesratsausschuß pariert hat, kann als typisch für die Taktik angesehen werden, mit der er das Kriegszielproblem behandelte. In seiner Antwort an Hertling
Diese Worte wiegen um so schwerer, als sie, wenn auch vielfach verklausuliert und relativiert, keineswegs dem entsprachen, was die Zuhörer verlangten. Und sie erweisen sich als um so ernster als Bethmann Hollweg auch in der Auseinandersetzung mit der dritten OHL die Kontinuität seiner Haltung und Taktik erkennen läßt. Eine angebliche Äußerung von ihm, daß Deutschland das Erzbecken von Briey-Longwy vielleicht nicht behalten könne, nahmen Hindenburg/Ludendorff zum Anlaß, um in einem Schreiben des Feldmarschalls an den Reichskanzler vom 31. Dez. 1916 „Zweifel an Euere Exellenz grundsätzlicher Stellungnahme" zu äußern und um Mitteilung der „territorialen Mindesforderungen" zu bitten, die selbst auf die Möglichkeit der Kriegsverlängerung hin durchgesetzt werden sollten
So erklärte er auch 1917 der OHL wiederholt als „vornehmlichste Aufgabe" der deutschen Politik, im Laufe von Verhandlungen „alle diejenigen Elemente auszunutzen, die eine Spaltung der Koalition herbeiführen können, die uns jetzt gegenübersteht"
Das Kriegsziel eines neuen Staatensystems Ungeachtet der taktischen Bedingungen, unter denen die Äußerungen Bethmann Hollwegs zur Kriegszielfrage zu verstehen sind, bedeutete doch auch der Kampf um die Selbstbehauptung des Reiches für ihn, daß er eine Umgestaltung und Neuordnung der Machtverhältnisse im Staatensystem erstrebte. Auch ohne daß er ein Programm konkreter Kriegsziele gehabt hätte, war es das Wunschbild dieses Reichskanzlers vom Kriegsausbruch bis zu seinem Rücktritt, daß Deutschland aus diesem Krieg in einer Position hervorginge, in der es gesichert gegen künftige Angriffe und Übergriffe sei und politisch und wirtschaftlich mehr Bewegungsfreiheit habe. Auch Bethmann Hollweg stand unter dem unmittelbaren Eindruck des politischen Erlebnisses seiner Generation und zudem der Erfahrungen seiner Außenpolitik, die der Kriegsausbruch nun so drastisch bestätigt hatte: daß die Deutschen in ihrer kontinentalen Mittellage, und nunmehr noch tatsächlich vom Weltmeer abgeschnitten, auf Verbesserung ihrer politischen Lebensbedingungen angewiesen seien. Noch im Rückblick seiner Memoiren berief er sich darauf, daß die Nation 1914 zu den Waffen geeilt sei „nicht nur, um die Heimat vor Zerstörung zu bewahren, sondern auch in der Hoffnung, die Schranken niederlegen zu können, mit denen feindliche Mißgunst und Neid ihre friedliche Entwicklung einzuengen bestrebt gewesen waren."
Aber die zu erkämpfende politisch-wirtschaftliche Position und etwa eine „verstärkte strategische Sicherheit" brauchen nicht unbedingt durch eine territoriale Machterweiterung geschaffen zu werden. Nicht an zu engen Grenzen habe Deutschland gekrankt, sondern dar-an, „daß es dauernd von einer überlegenen Koalition bedroht wurde." Von diesem Alp und dem des damit drohenden Krieges befreit, könne es „seine Stärke auch innerhalb unveränderter Grenzen ausleben"
Es liegt im Wesen des Krieges, daß er den Kriegführenden die Gelegenheit bietet, durch Einsatz des militärischen Machtinstruments das zu gewinnen, was allein mit Mitteln der Diplomatie nicht zu erreichen war. Für die Ententemächte hieß das einmal nachzuholen, was ihnen die Staatskunst Bismarcks 1866/71 verwehrt hatte. Es galt jetzt die Machtverschiebung einer „deutschen Revolution" zu revidieren, wie Disraeli im Februar 1871 in einer Unterhausrede die deutsche Nationalstaatsgründung genannt hat, die ein größeres politisches Ereignis sei als im vorhergehenden Jahrhundert die Französische Revolution. Zudem brachte der Krieg jedem Partner die Chance, ein besonderes Ziel der nationalen Geschichte zu gewinnen: für die Franzosen Elsaß-Lothringen, für die Russen Konstantinopel und die Meerengen und die Zertrümmerung des Habsburger Staates, für die Engländer schließlich die Gelegenheit, unter dem Schlagwort der „Zerstörung des preußischen Militarismus" die maritime Herausforderung durch den deutschen Schlachtflottenbau zu beseitigen. Wenn die englische Politik auf dem Wiener Kongreß dafür gesorgt hatte, daß der preußischen Armee die Wacht am Rhein anvertraut wurde, so erforderte es nunmehr das Gesetz der „balance of power" einen Machtzuwachs Deutschlands zu verhindern.
Auch den Deutschen brachte der Appell zu den Waffen ein positives Kriegsziel. Auch ihnen stellte die Geschichte eine Aufgabe, die sie im Frieden nicht bewältigt hatten. Es galt, eine Lage zu überwinden, wie sie Bismarck in einer Reichstagsrede vom Juni 1882 charakterisiert hat: „daß Millionen Bajonette ihre polare Richtung doch im ganzen in der Hauptsache nach dem Zentrum Europa haben, daß wir im Zentrum stehen und schon infolge un-serer geographischen Lage, außerdem infolge der ganzen europäischen Geschichte den Koalitionen anderer Mächte vorzugsweise ausgesetzt sind."
Die Partner bekamen damit Kräfte frei, um sich den historischen und aktuellen Konflikten in Europa zuzuwenden. Das führte nun aber dazu, daß sie sich zum konzentrischen Druck auf das Deutsche Reich zusammenfanden. Das nicht mehr von der kolonialen Auseinandersetzung mit England abgelenkte Frankreich konnte sich der elsaß-lothringischen Frage und das von der Gefahr eines russischen Vormarsches nach Indien befreite England der deutschen Flottenfrage widmen, und für Rußland ging der Weg nach Konstantinopel über Berlin. Gegenstöße, mit denen die deutsche Politik die gefährliche Umgruppierung in der Staatenwelt aufzuhalten und Pressionsmethoden, mit denen sie das Ententensystem aufzulockern versuchte, hat-ten die Wirkung, daß dieses sich mehr und mehr verfestigte und noch mehr seine Spitze gegen die Mittelmächte richtete. Die reagierten dann mit militärischen Rüstungen, so mit der deutschen Flottenpolitik, bis schließlich ihre verfehlte Politik in der Julikrise eine Kettenreaktion von Bündnishilfen der Entente-partner auslöste, die sich ebensowenig gegenseitig verlieren wollten wie Deutschland den österreichisch-ungarischen Bundesgenossen.
So war der Versuch der deutschen Staatsführung, die feindliche Koalition durch einen Sonderfrieden mit einer der Flügelmächte zu sprengen, nicht nur ein unmittelbar militärisches Anliegen. Er hatte nicht nur den Zweck, eine Front zu entlasten und den Rücken frei zu bekommen, um an anderen Fronten stärker auftreten zu können: Dieser Politik lag vielmehr der tiefere Gedanke zu Grunde, damit die „Einkreisung" zu beseitigen, die nach der Ansicht des Kanzlers zu den entscheidenden Ursachen des Krieges gehörte, und wenn sie erhalten bliebe, den Keim eines neuen Krieges mit wiederum ungünstiger Ausgangslage für Deutschland erhielt. Die Kriegszielpolitik Bethmann Hollwegs mit dem Bemühen, die feindliche Front durch Verständigung mit einem der Gegner aufzulösen, war auf eine Umgruppierung in der Staatenwelt gerichtet und auf eine Neuordnung der Machtverhältnisse, die der deutschen Politik wieder eine freiere Bewegung ermöglichte, wie sie sie vor der Bildung der französisch-russischen Militärallianz, der entente cordiale und der englisch-russischen Verständigung gehabt hatte. Seine Hauptaufgabe, erklärte Bethmann Hollweg in der Konferenz mit den Vertretern der Industrie am 8. Dezember 1914 nach der Aufzeichnung Stresemanns