Unterrichtsmodell für einen Lehrgang der Politischen Weltkunde Das Wort Modell ist in seinem bescheidensten Sinn zu nehmen, nämlich als ein möglicher Entwurf unter vielen, nicht als Muster oder Vorbild, sondern als Hinweis, wie man gerade diesen Gegenstand behandeln könnte. Wenn ein Unterrichtsentwurf glaubwürdig sein soll, müssen Erfahrungen in ihn eingegangen sein, keine zufälligen, sondern in der theoretischen Besinnung gleichsam gefilterte Erfahrungen. Aber der Entwerfende muß auch die Freiheit haben, einen Idealplan zu entwickeln, eine Utopie, von der man hoffen kann, daß sie wirksam wird, auch wenn sie sich nicht verwirklicht. In diesem Schwebezustand zwischen sorgfältig geprüfter Erfahrung und begründeter Utopie muß sich ein Modell für den Geschichtsunterricht halten, sonst wird es Anweisung und Rezept und lähmt die Phantasie.
Wir gehen davon aus, daß das Thema für ein Tertial lautet: „Die Sowjetunion, ihre Geschichte, ihr System, ihre politische Zukunftsplanung". Gefragt wird dann nach ihren Ursprüngen und historischen Bedingungen, nach ihrer politisch-gesellschaftlichen Struktur und nach der Theorie, mit der sie sich selbst begründet und die Zukunft der Welt entwirft. Wenn man mit fünf Tertialen in U I/O I rechnet, so scheint der Zeitraum dem Thema angemessen. Der hier skizzierte Unterrichts-gang ist als eine Einführung gedacht, er soll lediglich den Grund legen für das Verständnis des Ganzen. Dabei liegt der Akzent auf der Geschichte, aber Struktur und Theorie bleiben stets im Blickfeld.
Ein Unterrichtsmodell kann nicht den Stoff darstellen, auch nicht in der äußersten Verkürzung. Es geht vielmehr um die Fragen, sie geben die Richtung an, sie bilden die Achsen, sie holen die Antworten herein, sie streifen wie Scheinwerfer das Gelände ab. Mit den Fragen läßt sich eine Art Koordinatensystem entwerfen, einige Fächer darin möchte ich anschaulich und detailliert ausfüllen, andere mit ihrem Inhalt nur andeuten: man wird auch feststellen, daß manche Fächer leer bleiben. Es ist die Kürze der Zeit — und die Freiheit des Lehrers. In der Methode der Befragung liegt dann das Exemplarische, nicht im Gegenstand, der in der Geschichte immer nur sich selbst repräsentiert.
Es geht also darum, den Ansatz zu finden, die Methodiker nennen es den „Einstieg". Er hat immer etwas Beliebiges, persönliche, unverbindliche Erfahrungen sprechen mit. Ein Lehrer bedient sich nicht gern der „Einstiege", die er nicht selbst gefunden hat. Aber es gibt Maßstäbe für seine Brauchbarkeit: es muß sich um eine Situation, einen Vorgang, einen Tatsachenkomplex, einen historischen Moment handeln, von dem viele Fragen ausgehen, ein Gelenk gleichsam, von dem sich die Masse geschichtlichen Stoffes in Bewegung setzen läßt, in geordnete Bewegung. Es liegt nahe, hier das Jahr 1917 zu wählen, das Entscheidungsjahr, das unsere politische Gegenwart, die Ordnung und Unordnung unserer Welt bestimmt. Wir sind vom Zwang eines zweiten Durchgangs durch die Geschichte befreit — das ist viel, man muß es nur nutzenl — vom Zwang der chronologischen Anordnung also. Die Gegenstände ordnen sich anders, wenn sie mit den Kategorien der Gegenwartsdeutung erfaßt werden, auch wenn wir im strengen Sinne geschichtlich denken — wir wollen sehen, wie.
Es lieg ferner nahe, aus dem Epochenjahr 1917 einen Vorgang herauszugreifen, der konkret-anschaulich, bedeutsam und beziehungsreich ist, zugleich Ergebnis einer früheren und Keim einer künftigen Entwicklung. Die Einzelheiten lassen sich transparent machen, so daß eine Analyse der Situation möglich ist. Die Quellen sind zugänglich und verständlich; zur Beant-Mit dem Abdruck dieses Aufsatzes wird die Veröffentlichung der Vorträge abgeschlossen, die auf der von der Bundeszentrale für Heimatdienst in der Akademie für politische Bildung, Tutzing/Obb. veranstalteten Tagung gehalten worden sind (s. auch „Aus Politik und Zeitgeschichte" B 46/62 und B 6/63). wortung der Fragen müssen den Schülern ein paar Bücher bereitstehen, einige Kapitel daraus genügen für die erste Information
Die Ausgangssituation Es handelt sich um Lenins Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof in Petersburg am Abend des 3. April 1917, um seine sofort gehaltene Ansprache an die Soldaten, Matrosen und Arbeiter und um die „Aprilthesen“, die er am folgenden Tage einer Parteikonferenz vorträgt. Die Szene in Petersburg ist häufig geschildert worden. Das Sowjet-Komitee hatte einige tausend Arbeiter und Soldaten für den festlichen Empfang mobilisiert. Im „Zarenzimmer" des Bahnhofs erwartet ihn eine Delegation des Petersburger Sowjets, und ihr Vorsitzender Tscheidse, vor dem Lenin „wie vor einem völlig unerwarteten Hindernis“ stehenbleibt, hält die Begrüßungsansprache, verdrießlich dreinschauend und in belehrendem Ton: „Genosse Lenin, im Namen des Petersburger Sowjets und der ganzen Revolution begrüßen wir Sie in Rußland . . . Wir sind der Meinung, daß die Hauptaufgabe der revolutionären Demokratie jetzt in der Verteidigung unserer Revolution gegen alle Anschläge, von innen wie von außen, besteht. Wir glauben, daß dieses Ziel nicht Zwietracht, sondern den Zusammenschluß der demokratischen Reihen verlangt. Wir hoffen, daß Sie gemeinsam mit uns diese Ziele verfolgen werden."
Der Berichterstatter — der Abschnitt ist den Aufzeichnungen des parteilosen, außenstehenden N. Suchanov entnommen — erzählt weiter: „Lenin stand da, als ob das, was hier um ihn geschehe, nicht das Geringste mit seiner Person zu tun hätte. Dann wandte er sich von der Begrüßungsdelegation völlig ab und sagte: Teure Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in Euch die siegreiche russische Revolution, die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen ... Der räuberische imperialistische Krieg bedeutet den Beginn des Bürgerkriegs in ganz Europa . . . Die Morgenröte der weltweiten sozialistischen Revolution hat schon begonnen . . . Die russische Revolution, von Euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution! ” Man muß die Situation in Petersburg nach den Februartagen, also nach dem Zusammentritt der Provisorischen Regierung, der spontanen Bildung von Arbeiter-und Soldatenräten und nach der Abdankung des Zaren genau kennen, die Machtverhältnisse also, aber auch die psychologische Stimmung der neugebildeten Organe und der Massen, den Stolz auf die „unblutige, die strahlende Revolution", die Hoch-stimmung, die Erwartung, um ermessen zu können, was es bedeutet, daß Lenin nicht den vollzogenen Umsturz hochleben läßt, sondern die kommende sozialistische Weltrevolution.
Was bedeutet die Abwendung von dem menschewistischen Vorsitzenden des Petersburger Sowjets und die unerwartete Ansprache an die Massen noch am gleichen Abend? Es gibt da zuerst eine Reihe von Fragen, die die momentane Situation erhellen, etwa diese:
Was erwartete man im April 1917 von Lenin — oder was fürchtete man? Lenin war von seinem Exil in Zürich mit Erlaubnis Bethmann-Hollwegs und der OHL durch Deutschland gereist, auf Grund eines sonderbaren Vertrages, den die deutsche Regierung mit der Redaktion einer Emigranten-Zeitung über die Exterritorialität eines Eisenbahnwagens abgeschlossen hatte. Daß man von seiner Propaganda die weitere Zersetzung der russischen Front erhoffte, die Entlastung im Osten also, war nach der Kriegserklärung der USA verständlich. Lenin benutzte diese Bereitschaft, allerdings für ein weiter gestecktes Ziel. Zwei entgegengesetzte politische Pläne kreuzten sich damals in einem Punkt, sagt Trotzki in seinen Lebenserinnerungen, dieser Punkt war ein plombierter Wagen. (Man könnte nun nach den Alliierten fragen, die mit Trotzkis Heimreise von Amerika vor eine ähnliche Frage gestellt waren, ihn erst einsperrten und ihn wohl auf Grund einer Interpellation der Provisorischen Regierung dann doch reisen ließen.) Was erwartete oder fürchtete man in Rußland von ihm? Hier war faktisch die Staatsgewalt geteilt zwischen der bürgerlich-liberalen Provisorischen Regierung und dem Petersburger Sowjet, einem spontan geschaffenen Parlament auf Grund wilder Wahlen in den Betrieben und den Regimentern, das mit seinem Exekutivkomitee eine Art Nebenregierung darstellte; sie überwachte die Maßnahmen des liberalen Kabinetts unter dem Fürsten Lwow. Kerenski gehörte ihm als einziger Vertreter der sozialrevolutionären Gruppen an.
Das politische Programm der Provisorischen Regierung war zunächst die Fortführung des Krieges an der Seite der Alliierten, auf deren wirtschaftliche und finanzielle Hilfe man angewiesen war, später eine Bodenreform auf Grund der Beschlüsse einer noch zu bildenden Konstituante, im ganzen eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild. Lenin, der seit zehn Jahren in der Emigration war, und die kleine Gruppe seiner bolschewistischen Anhänger wurden hier nicht sehr ernst genommen.
In den Sowjets hatten die Sozialrevolutionäre (die politischen Nachfahren der Narodniki — wer sind sie?) die Mehrheit. Lenin hatte sie in seinen Schriften erbittert bekämpft. Dann waren da die Menschewiki, strenge, rechtsstehende Marxisten, und die bolschewistischen Sozialisten, bei denen es einen rechten und einen linken Flügel gab — das Bild ist verwirrend genug. Fedor Stepun schildert in seinen Erinnerungen das revolutionäre Parteienchaos nach der ersten Phase der Revolution sehr eindringlich, das Kapitel wäre zu lesen
In der entscheidenden Frage: Weiterführung des Krieges oder nicht? schwankte die Mehrheit der Sowjets. In der Agrarfrage war sie entschiedener als die Provisorische Regierung, scheute aber den Bruch mit ihr. Warum wünschte sie ein vorläufiges Zusammengehen mit den Konstitutionellen und Demokraten, den soge-nannten Kadetten? Hier muß man die Theorie kennen, die Prognose I Das marxistische Dogma von den Entwicklungsphasen und von der Notwendigkeit einer bürgerlichen Revolution hemmte den revolutionären Elan. (Die genaue Kenntnis des Kommunistischen Manifestes wird hier vorausgesetzt.) Was die Führung des Petersburger Sowjets von Lenin erwartete, hat Tscheidse in seiner Begrüßung ausgesprochen.
Aber gab es die „revolutionäre Masse“, die über den Erfolg der Februarrevolution hinaus-drängte zur kommunistischen Weltrevolution? Trotzki beweist, daß es sie gab, Lenin setzt ihre Existenz voraus, denn er spricht sie gleich bei seiner Ankunft an. Die Frage muß für uns vorläufig offenbleiben — wir, d. h. wir im Klassenzimmer, wissen einfach zu wenigl — die Frage, ob es sie wirklich schon gab oder ob sie im Laufe des Sommers 1917 erst entstand und wer sie ins Leben gerufen hat. Man muß sich hüten vor der billigen Erklärung: Propaganda! Es ist eine Kernfrage der revolutionären Theorie sowohl wie der historischen Wirklichkeit.
Und nun Lenins Antwort auf die Situation, die er Anfang April in Rußland vorfand: Es sind die „Aprilthesen", die eine Entscheidung enthalten, die unsere politische Gegenwart bestimmt, weil sie verwirklicht worden sind. Er proklamierte sie am Tag nach seiner Ankunft, brachte also die Analyse der revolutionären Situation fertig mit, nach zehnjähriger Emigrantenexistenz und auf Grund ganz unzureichender Informationen durch die Zürcher Presse! Er hatte sie schon in den „Briefen aus der Ferne" formuliert
Wir fragen uns: gab es Vorübungen für solche Analysen, etwa am Modell, am Anschauungsmuster? Gab es Proben und Generalproben für die revolutionäre Entscheidung der verantwortlichen Intelligenz? Der unmittelbare Willensakt und die Perfektion seiner theoretischen Begründung lassen darauf schließen: die Generalprobe war die Revolution von 1905. Man müßte sie genau kennen, um die Vorgänge und die Motive der Handelnden im Jahre 1917 zu verstehen.
Die Aprilthesen lauteten kurz zusammengefaßt: Keine Unterstützung der Provisorischen Regierung (d. h. Kampfansage dem bürgerlichen Kabinett), kein Zugeständnis an die sogenannten „Vaterlandsverteidiger" (d. h.den Krieg auf jeden Fall beendigen, um die Hände frei zu haben für den unvermeidlichen Bürgerkrieg), Beschlagnahme des Grundbesitzes und Aufteilung unter die Bauern mit Hilfe der örtlichen Sowjets, Kontrolle der Arbeiter über Produktion und Verteilung der Güter.
Wie ungeheuerlich diese Vereinfachung aller Probleme in der Krisensituation des Früh-jahres 1917 war, läßt sich erst verstehen, wenn man die Lage Rußlands außen-und innenpolitisch genau analysiert hat. Eine Ahnung davon gewinnt man aus der Wirkung Lenins auf seine Freunde und Feinde. Allen erscheint er als Phantast, der nach zehnjähriger Abwesenheit die russischen Verhältnisse nicht mehr kenne, er habe den Marxis-mus verraten, der wilde Zerstörer Bakunin sei in ihm auferstanden. Im Allrussischen Sowjet, der im Juni in Moskau tagt, macht seine Rede auf alle den Eindruck einer „großartigen Abstrusität"
An dieser Stelle müßte man die Ereignisse des Sommers 1917 im Vorblick überschauen: Die gescheiterte Kerenski-Offensive, die Bauernrevolution, die Juli-Krise, den Kornilow-Putsch, zuletzt die Oktober-Revolution, die im wesentlichen so ablief, wie Lenin und Trotzki sie entworfen hatten — im Vorblick, eigentlich nur, um den Fragen das nötige Gewicht zu geben, die nunmehr zu stellen sind.
Die Konzeption dieses Entwurfs ist folgende: Wir sind von einer Entscheidungssituation ausgegangen und haben an einer Quelleninterpretation erfahren, welche Faktenzusammenhänge zu ihrer Deutung herangezogen werden müssen. Dabei ist die Frage nach der russischen Gesellschaft noch unbeantwortet geblieben, aus guten Gründen. Die Begriffe müssen nämlich erst mit konkreten Vorstellungen gefüllt sein, und dazu brauchen wir die Historie. Wir haben das Ergebnis der Oktoberrevolution skizziert und kommen später zu dem Jahr 1917 zurück, das über die Zukunft Rußlands entscheidet.
Vorerst fragen wir: Warum war die liberale Demokratie der Kerenski-Regierung nicht lebensfähig? Nur, weil es ihren Führern an Energie und Einsicht in die ökonomische und soziale Situation Rußlands fehlte? Gab es schon eine liberale Tradition in Rußland, ein politisch bewußtes Bürgertum? Oder hat Lenins Eingreifen die Ansätze zu sozialen Reformen, eine beginnende Stabilisierung der demokratischen russischen Republik verhindert? Trotzki stellt selber die Frage; welche Entwicklung würde die Revolution genommen haben, wenn Lenin im April 1917 Rußland nicht erreicht hätte? Es gibt da die Kette von Zufällen, daß es ihm gelang — er selber hatte allen Ernstes damit gerechnet, daß ihn die neuen Machthaber in die Peter-Pauls-Festung bringen würden. Trotzki gibt eine bemerkenswerte Ant-wort, sie ist streng marxistisch: der einzelne kann nicht Schöpfer eines revolutionären Prozesses sein, die Diktatur des Proletariats hätte sich aus der ganzen Situation von selber ergeben. Aber Lenin war ein großes Glied in der Kette: die Diktatur war nicht möglich ohne die Partei (die Elite, die Berufsrevolutionäre), diese Partei mußte ihre Mission erst erkennen, dazu war Lenin notwendig, Lenin, der keine Zufallserscheinung, sondern „Produkt der gesamten russischen Geschichte" ist
Der Weg in die Geschichte
Ich habe mit diesem Fragenbündel zeigen wollen, daß uns jeder Versuch zum Verständnis des Schicksalsjahres 1917 in die russische Vergangenheit zurückweist. Der gängige Geschichtsunterricht wahrt diese Kontinuität nicht. Wenn wir nach den Ursachen und Bedingungen der französischen Revolution forschen, greifen wir weit in die Geschichte des monarchischen Systems in Frankreich zurück und erkennen in den Staatstheorien der Aufklärung von Locke bis Rousseau das ideologische Fundament der großen Umwälzung. Für die Ereignisse von 1917 fehlt diese Verwurzelung in der russischen Geschichte, sie fehlt, meine ich, in dem Geschichtsbild, das die Schule vermittelt. Aber zurück zu der Gesamtkonzeption. Wenn man, wie hier vorgeschlagen wird, von den Ereignissen des Jahres 1917 ausgeht, deren Gegenwartsbedeutung nicht begründet werden muß, steht das russische 19. Jahrhundert unter einem anderen Aspekt.
Es geht dabei aber auch um einen pädagogischen Vorteil, ganz einfach um die Fragehaltung der Geschichte gegenüber, die ja keineswegs selbstverständlich ist. Allen didaktischen Überlegungen muß die Unterrichtssituation gegenwärtig sein, sie greifen sonst ins Leere. Man kann sie nicht festlegen — obwohl das in Erfahrungsberichten und Ratschlägen aus der Schulpraxis ständig, aber mit wenig Nutzen versucht wird — man kann sie nur allgemein charakterisieren als das dialogische Verhältnis zum Gegenstand. Schon in der Wahrnehmung des Erstaunlichen steckt es, Verwunderung ist ein unartikulierter Fragezustand, ein Grundgefühl von „wie war es möglich"? Nur in diesem Medium können Einsichten gewonnen werden.
Wie war es möglich, daß der Umsturz der Gesellschaftsordnung in Rußland so spät kam? Seit 60 bis 70 Jahren waren alle nur denkbaren Modelle entworfen! Warum gelang er 1917, aber anders als die meisten ihn wollten oder voraussahen? Gab es eine revolutionäre Tradition, und wer waren ihre Träger? Es gibt viele Fragen dieser Art. Wir brauchen die Geschichte.
Es gibt da mehrere Möglichkeiten: man kann, von der Analyse einer politischen Situation ausgehend, nach den Motiven der Handelnden fragen und wird zu der ideologischen Linie geführt, die auf Marx, aber auch auf russische Revolutionstheoretiker zurückgeht. Man kann in der Schule auch die Biographien von Lenin und Trotzki hinzunehmen, ihre Erfahrungen in Rußland, in Sibirien, das Leben in der Emigration, die Studien, Pläne, Entwürfe, im gan-zen also die Existenz des Berufsrevolutionärs und ein großes Stück Parteigeschichte.
Aber man sollte auch weiter zurückgreifen, auf Peter den Großen, Katharina, Pugatschovs Bauernaufstand, Alexander I. und die Berührung mit dem Westen. Im Zusammenhang muß das 19. Jahrhundert behandelt werden, das große Jahrhundert für die russische Geschichte, das hier dieselbe Bedeutung hat wie die Renaissance für Italien, das 16. Jahrhundert für Spanien, das 17. und 18. Jahrhundert für Frankreich. Unsere Geschichtsbücher sehen es unter dem westeuropäischen Aspekt und schneiden es bei Gelegenheit an: bei der Heiligen Allianz, beim Krimkrieg, bei Bismarcks Bündnispolitik, beim ersten Weltkrieg. Aber so entsteht kein Bild. Es wird auch eine Schicht der russischen Wirklichkeit kaum angerührt, die für das Verständnis der neueren russischen Geschichte unentbehrlich ist: es ist der fast hundertjährige Kampf der russischen Intelligenz gegen die Autokratie und für die Angliederung an das freie Europa. Der Kulturphilosoph Weidle sagt von dem russischen Geschichtsbewußtsein dieses Jahrhunderts, daß es keinen unbedrohten Augenblick, keinen Augenblick des Gleichgewichts, gegeben habe, in dem nicht die Erinnerung an die Revolution Peters des Großen und das Vorausahnen der kommenden Revolution lebendig gewesen sei
Die revolutionäre Intelligenz in Rußland Es gab im Rußland des 19. Jahrhunderts zwei Grundüberzeugungen: die offizielle, vom Zarentum und die Bürokratie vertretene, daß Rußland das Bollwerk gegen Umsturz und Anarchie sei, und die inoffizielle der russichen Intelligenz, daß es die historische Mission des russischen Volkes sei, der Welt die künftige gerechte Gesellschaftsordnung zu schenken. Die erste hatte Geltung in den europäischen Kabinetten, die zweite wurde in Europa nur durch die große russische Literatur bekannt, allenfalls durch Emigrantenkreise, deren politischen Einfluß man aber nicht hoch einschätzte.
Wir fragen jetzt nach der Entstehung der „Intelligentsia“, dieser eigentümlichen geistigen Gemeinschaft, die sich über alle Standesschranken hinweg gebildet hatte und für die es kein vergleichbares soziologisches Modell im übrigen Europa gab. Es sind da die folgenden historischen Ursachen zu nennen: die kühnen und alsbald enttäuschten Hoffnungen einer jungen Generation, die unter Alexander I. im Krieg gegen Napoleon die westeuropäische Staatsidee kennengelernt hatte, die Erbitterung nach der Unterdrückung des DekabristenaufStandes von 1825, der sich nun als das Fanal einer Freiheitsbewegung — gewaltig überschätzt — in das Bewußtsein eingräbt, der Druck des zaristischen Systems unter Nikolaus I., die Verzögerung allen Fortschritts, die erzwungene Passivität, weil es keinen Raum gab für staatsbürgerliche Betätigung und sozialpolitische Initiative, und das in weiten Kreisen des gebildeten Adels verbreitete Schuldgefühl wegen der Leibeigenschaft, deren Nutznießer man war und die doch das humane Bewußtsein beleidigte. In den Erinnnerungen von Tolstoi, Dostojewski, Krapotkin, in Gogols und Turgenjews Romanen ist das nachzulesen, wie überhaupt die russische Literatur eine sozialgeschichtliche Quelle von hoher Bedeutung ist.
Der Begriff „Intelligentsia" bezeichnete in Rußland nicht so sehr große oder spezielle Bildung, sondern eine bestimmte Gesinnung
Wir sind hier bei dem Gespräch zwischen den Westlern und den Slavophilen, den Rationalisten und den Romantikern, und haben es auf die kürzeste Formel gebracht, auf ein Grundmuster, das noch in den sozialistischen Parteispaltungen von 1917 erkennbar ist. Solche Grundmuster klar herauszustellen, ist für das geschichtliche und politische Verständnis sehr wichtig. Die logische Folgerung lautet: wenn Rußland noch keine herrschsüchtige und besitzgierige Bourgeoisie, keine kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hat, dann ist es geradezu prädestiniert, die sozialen Ideen zu verwirklichen, in seiner Rückständigkeit liegt sein Heil und seine Berufung
Herzen, 1812 in Petersburg geboren und in adliger Familie ausgewachsen, wurde als 14jähriger von der Hinrichtung der Dekabristen tief erschüttert (wie später Lenin von der Hinrichtung seines Bruders). Er studiert Mathematik und Naturwissenschaften, liest Hegel und St. Simon, wird 1834 verhaftet, lebt bis 1842 in der Verbannung und geht 1847 als radikal-sozialistischer Westler und Anhänger Feuerbachs in die Emigration. Er hat Rußland nie wieder betreten. Vom Paris Louis Philippes enttäuscht, über die Habgier des Bürgertums und die Korruption in Frank-reich empört, geht er nach Italien — es ist das Italien Garibaldis und Mazzinis, ein romantisches Verschwörermilieu vor Ausbruch der Revolution, das ihm besser gefällt und das Hoffnungen erweckt auf eine gewandelte Zukunft. In Rom erfährt er von der Februarrevolution und eilt nach Paris, gerade rechtzeitig, um bald darauf die Juni-Schlacht mitzuerleben, den Sieg der Reaktion und die Wahl Louis Napoleons zum Präsidenten. Er flüchtet nach Genf und beobachtet von hier aus den Zusammenbruch der Freiheitsbewegungen in Deutschland, Österreich und Italien. 1848 ist die große Wende für Westeuropa, aber auch ein Entscheidungsjahr für die politischen Überzeugungen der russischen Intelligenz. Herzen schreibt jetzt seine Briefe „Vom anderen Ufer"
Herzen also schreibt am 25. August 1849 an Georg Herwegh: „Ein freidenkender Mensch, der sich nicht vor der Gewalt beugen will, hat in ganz Europa keine Zuflucht mehr, ausgenommen das Verdeck eines Schiffes, das nach Amerika absegelt". Aber eigentlich war ihm das nicht ernst. Nicht er, sondern der Deutsche Carl Schurz, mit dem er später in London zusammentraf, hat diese Folgerung aus den enttäuschten Hoffnungen gezogen. Herzen fährt fort: von dem sich zersetzenden, abgelebten Europa sei nichts mehr zu erwarten, so wenig wie früher vom Rom der Kaiserzeit. Aber der kluge Römer sah auf die Barbaren und schrieb ein Buch über die Sitten der Germanen. Den Barbaren gehörte damals die Zukunft. So gebe es auch jetzt zwei Schauplätze, auf denen sich die soziale Umgestaltung der Welt vorbereite, Amerika und ein Land von jugendlicher Kraft und Wildheit, Rußland. Es sei das Rußand des bäuerlichen Kollektivs, der Landgemeinde, das den Widerspruch zwischen individuellem und sozialem Recht schon gelöst habe, mit dem die westliche Welt nicht fertig werde.
Generationen junger Russen stimmten Herzen zu, sahen im Volk den Träger des Heils, fühlten sich ihm gegenüber schuldig und versuchten es bildend und aufklärend auf eine höhere Stufe zu heben. Die Narodniki, junge Intellektuelle, die ins Volk gehen, berufen sich später auf ihn.
Wenn wir das „europäische Gespräch" in seinem Umfang andeuten wollen, so muß Moses Hess noch zu Worte kommen, der den Zionismus später erdachte, der Herzen damals aber im Sinne von Karl Marx widerspricht, und auf der anderen Seite Thomas Carlyle, der den Despotismus dem allgemeinen Wahlrecht vorzieht und als höchste Tugend des russischen Volkes seinen bedingungslosen Gehorsam preist. Eine Vorübung in politischer Anthropologie wäre das, wenn man die Entscheidung und die Zielsetzung der Gesprächspartner in der Situation Europas um die Mitte des 19. Jahrhunderts bedenkt, also im Europa, dessen Kurs nun bald von Bismarck, Cavour, Napoleon III. und immer noch von Nikolaus I. gesteuert wird, und in dem eine zerstreute, polizeilich verfolgte Gruppe von Emigranten ihre politischen Phantasien in eine ferne Zukunft wirft.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Narodniki Wir gehen bei diesem Abschnitt von den Fakten aus und fragen zuerst: wie sah das Reformwerk Alexanders II. aus und wie verwandelt es die russische Gesellschaft?
Wie sah es aus? Es gab damals etwa 21 bis 22 Millionen Leibeigene, sogenannte „Revisionsseelen", in Rußland. Sie werden zivilrechtlich frei, die Güter bleiben Eigentum der Grundherren. Der den Bauern zur Nutzung überlassene Landanteil konnte käuflich erworben werden, es gab staatliche Kredite, in einer Frist von 49 Jahren waren jährlich sechs Prozent des Bodenwertes abzuzahlen. Die Fronarbeit war vorläufig von den auf „Zeit Verpflichteten" weiter zu leisten.
War das den Umständen nach die einzig mögliche Art der Befreiung, war viel oder war wenig damit geschehen? Ließen sich die Folgen nicht voraussehen? Das Bauernlegen, da der zinsfreie Landanteil zu klein war, die Proletarisierung des Bauernstandes, die Zinsknechtschaft für ein halbes Jahrhundert? Seit der Befreiung sind die Bauern in Gärung, sie haben auf unentgeltliche Ackerlose gehofft und warten nun hartnäckig darauf, daß der Zar ihnen das Land, das sie bearbeiten, schenken werde. Der Zar, nicht die Grundbesitzer, denn das Land ist von Gott und gehört dem Zaren, daß ist die uralte Überzeugung der russischen Bauern.
Und nun die Folgen für die damals durch ausländisches Kapital künstlich aufgetriebene russische Industrie (die strukturelle Anomalie der russischen Wirtschaft, ein Begriff, der zu klären ist): Die mangelnde Kaufkraft der Landbevölkerung (vgl. Verbrauchsziffern von Baumwolle, Zucker usw. im Vergleich zu anderen europäischen Ländern)
Soll man folgern, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft eine Quelle des Unheils war? Sie hat ja auch die Narodniki auf den Plan gerufen, die Volksaufklärer und Volksaufwiegler, eine Bewegung, die später Terroristengruppen ausbildet, die den Zarenmord proklamieren. Der „Zarbefreier" Alexander II. wurde 1881 ermordet, nachdem man ihm förmlich den Krieg erklärt hatte.
Aber bedeutete die zivilrechtliche Befreiung der Bauern so wenig? Und wer waren die Narodniki, denen sie nicht genügte? Wir sind hier bei dem eigentlichen Problem der russischen Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts.
Wie kann man es entwickeln und woran läßt es sich darstellen? An den Memoiren des Fürsten Peter Krapotkin z. B., der ein bedeutender Gelehrte, Geologe und Arktisforscher, war und ein überzeugter Sozialist wegen der Überempfindlichkeit seines sozialen Gewissens, ein friedlicher Anarchist, der den Terror ablehnte. Was Leibeigenschaft bedeutet, erfährt man bei der Schilderung seines Elternhauses im Moskauer Adelsviertel, in dem es eine Dienerschaft von über 50 Leibeigenen gab, Kammerdiener, Kutscher, Handwerker, eine eigene Hauskapelle — keine ungewöhnlich grausame Behandlung, aber leibliche Hörigkeit mit aller Erniedrigung und allen menschlichen Konflikten, die daraus entstehen. Als die Leibeigenen freigelassen werden, bleibt im Dienst seines Vaters freiwillig
Die Aufhebung der Leibeigenschaft bedeutete viel, aber sie kam zu spät. Sklavenbesitz wirkt demoralisierend; unter den Adligen der russischen Intelligenz hat die Verstrickung in das kollektive Unrecht lebenslange Schuldgefühle hervorgerufen.
Und in die Generation des sechziger und siebziger Jahre, die Narodniki. Es sind Studenten, junge Adlige, Kleinbürger, Frauen, Popensöhne, wie Tschernyschewski, — die Intelligentsia kennt keine Standesschranken — die als Lehrer und Ärzte auf die Dörfer gehen. Die Zahl der Analphabeten betrug damals in Rußland noch 89 Prozent. An den Univer-sitäten war die revolutionäre Organisation „Land und Freiheit" entstanden, darin liegt das Programm: alles Land dem Volk, das das Land bearbeitet. Zuerst also Bildung und Aufklärung des Volkes, das noch in dem dumpfen, von der orthodoxen Kirche sorgfältig behüteten Wahn dahinlebt, daß nur der Zar ihm helfen könne. Dann aber die unverzügliche Verwirklichung der absoluten Gerechtigkeit im sozialen Leben, Enteignung des Grundbesitzes, Kollektivbewirtschaftung, Werkstätten und Fabriken auf produktiv-genossenschaftlicher Basis analog zur kommunistischen Ordnung des Dorfes, also ein Neuaufbau von unten her mit Hilfe des Volkes, das man idealisierte, wie es schon die Slavophilen getan hatten. Die russische Dorfgemeinde (der Mir)
wurde mit der Lehre Fouriers verbunden;
während der Franzose für seine Utopien aber philanthropisch gesinnte Millionäre brauchte, schien im zurückgebliebenen Rußland die Grundlage schon gegeben. Als Bauern und Handwerker verkleidet, trugen die Narodniki ihre Propaganda in die Dörfer. 1874 machten sich mehr als 2 000 junge Männer und Frauen auf, kein revolutionärer Plan lag dieser Bewegung zugrunde, es war eine spontane Improvisation, die meisten wurden verhaftet. Utopisten waren sie, Nihilisten und Idealisten, obwohl naiven sie sich zu Materialismus bekannten, von sozialer Schwärmerei erfüllt, von einer eigentümlich gnadenlosen Askese geprägt, uneigennützig, von Mitleid getrieben, zu jedem Opfer bereit. Als sie die trügerische Illusion eines Volksaufstandes erkennen, aber erst dann, greifen sie zum Terror und zum Attentat — ein Leben für das Glück von Millionen. Eine Illusion auch das. Erst der totale Mißerfolg ihres Unternehmens, dann der in Rußland eindringende Sozialismus marxistischer Prägung hat sie über die Vergeblichkeit ihrer Hoffnungen belehrt.
Warum gehört das Phänomen des revolutionären Nihilismus und Terrorismus — man könnte paradoxerweise auch sagen: der großen Mitleidsbewegung der ins Volk Gehenden — in das Bild der russischen Geschichte, das wir zum Verständnis des heutigen Rußlands brauchen? Berdjajew hat die Zusammenhänge dargestellt und die eigentümliche Seelenlage dieser Generation untersucht, die sich opfert für eine künftige radikale Umgestaltung des menschlichen Daseins, die sie allein durch eine neue Gesellschaftsordnung erreichen will. Alle Grundmotive, die in der bolschewistischen Revolution führend und siegreich geworden sind, seien im revolutio-nären Nihilismus der sechziger Jahre schon vorhanden: die Feindschaft gegen Religion und Metaphysik, der Ersatz der absoluten Moral durch einen sozialen Utilitarismus, die Vorherrschaft der Naturwissenschaften und der politisch-ökonomischen Disziplinen, die Unterdrückung des persönlichen inneren Lebens durch die Forderung der sozialen Ordnung
Die meisten sind in den Kerkern des zaristischen Rußlands oder bei der Zwangsarbeit in Sibirien zugrundegegangen, einige verlassen nach 20jähriger Haft das Gefängnis so gläubig, wie sie es betreten haben. Wera Figner, eine junge Adelige und Medizinstudentin, hatte das Attentat auf Alexander II. mit vorbereitet und büßte es 20 Jahre in der Festung Schlüssel-burg; sie erzählt ihr Leben in dem Erinnerungsbuch „Nacht über Rußland". Auch Tschernyschewski, der 19 Jahre in sibirischen Zwangsarbeitslagern verbrachte, in Gefängnissen, wie sie Dostojewski in den „Erinnerungen aus einem Totenhause" schildert, gehört zu ihnen. Er hatte vorher Rußland das Buch geschenkt, das jahrzehntelang die revolutionäre Jugend erzieht. Es ist der Roman einer sozialen Utopie mit der bezeichnenden Überschrift „Was tun?" Es lohnt sich, einige Kapitel zu lesen, die das Bild des „neuen Menschen" entwerfen, alle Typen des „neuen Menschen", seine ganze Stufenfolge; dabei nimmt er auch den Berufsrevolutionär vorweg, den es noch gar nicht gab, Rachmetow, den adligen Grundbesitzer, der seine Kaste verläßt und mit Bauern und Arbeitern lebt. Der Roman ist allegorisch verschlüsselt, er hätte sonst im Jahre 1863 nicht erscheinen können. (Es ist nicht ohne Reiz, den Entwurf des „neuen Menschen" heute, nach genau 100 Jahren, mit den Menschen des Sowjetstaates zu vergleichen, also Tschernyschewski mit Darstellungen von Arthur Koestler und Klaus Mehnert). Tschernyschewski war die bedeutendste Gestalt unter den Narodniki; Berdjajew nennt seine Vita „ein christliches Leben im Namen des nihilistischen Zieles" — wobei man bedenken muß, daß Nihilismus und eschatologischer Zukunftsglaube in Rußland eine tiefe innere Beziehung haben.
Auch der Anarchist Bakunin hofft auf den großen Aufstand der Bauern zur Befreiung Rußlands, aber auf den kühnen, gesetzlosen Aufruhr, der aus der Weite der Wälder und Steppen hervorbricht und die Gefängnisse öffnet. Ein französischer Barrikadenkämpfer sagte von Bakunin, der an der Februarrevolution in Paris teilnahm: „Welch ein Mann! Am ersten Tag der Revolution ist er unschätzbar, aber am zweiten muß man ihn einfach erschießen.“ Obwohl ihn Lenin zweifellos hätte erschießen lassen, ein Element Bakunin steckte auch in ihm, das hatten seine Parteifreunde 1917 richtig erkannt.
Man gewinnt keine Vorstellung von Bakunin ohne seine Lebensgeschichte, die umfaßt auch die Geschichte des revolutionären Europa im 19. Jahrhundert und ist zugleich, samt seiner „Beichte" an den Zaren, so charakteristisch russisch, daß sie dem Westeuropäer wie ein phantastischer Roman erscheint.
Ich habe mit all diesen Details, die sich ja in das Koordinatensystem der Grundfragen einordnen lassen und die Begriffe mit konkretem Inhalt füllen, nur die Anregung geben wollen, die Biographie, den Roman, die Memoirenliteratur in den Geschichtsunterricht aufzunehmen, als häusliche Lektüre, als Sonderausgabe und Gruppenarbeit im Sinne einer inneren Differenzierung des Unterrichts. Die Freude an der eigenen Entdeckung ist dabei gar nicht zu überschätzen.
Die Antwort von Marx und Engels Wir wollen die Ergebnisse kurz zusammenfassen, um die Basis für eine neue Frage zu gewinnnen, die uns dann näher an die bolschewistische Revolution heranführt:
Die Bauernbefreiung von 1861 hatte zur Proletarisierung des Bauernaufstandes erheblich beigetragen, allerdings auch schon zu einer Differenzierung geführt: es gab eine kleine Schicht wohlhabender und eine breite Masse verarmter Bauern und Landarbeiter. Obwohl es ständig kleine Bauernrevolten gab, wie übrigens seit Jahrhunderten, hatte die Agitation der Narodniki keinen Erfolg gehabt. Die Bauern waren nicht revolutionär, sondern sie waren landhungrig. Ein Industrieproletariat entstand in Rußland erst während der siebziger und achtziger Jahre in Petersburg und Moskau. Revolutionär war die russische Intelligenz, aber sie war unsicher geworden, sowohl was die „Sozialisierung des Landes" wie die sich als unwirksam erweisende Methode der terroristischen Akte anging. Anfang der sechziger Jahre hatte Bakunin das „Kommunistische Manifest" ins Russische übersetzt, 1872 erschien das „Kapital" in russischer Sprache. Plechanow, der aus der Narodniki-Bewegung hervorgegangen war, gründete 1833 in Gent die erste marxistische Partei Rußlands. Das Problem, das bei der Berührung mit Karl Marx alle russischen Revolutionäre bewegte, war folgendes: kann Rußland seinen eigenen Weg gehen oder muß es mit dem übrigen Europa erst das Schicksal des Kapitalismus teilen? (Wir wissen, welche Rolle diese Frage noch nach der Februarrevolution von 1917 spielt).
Im Jahre 1881 schrieb Vera Sassulitsch einen Brief aus der Schweiz an Karl Marx. Ihr Attentat auf einen General und der Schwurgerichtsprozeß, der die Zustände in russischen Gefängnissen enthüllt hatte und mit einem Freispruch endete, hatte Widerhall in den westlichen Staaten gefunden. Der Brief der jungen Sozialistin kennzeichnet die russische Situation und enthält die entscheidende Frage; wir können uns eine bessere Quelle für den Geschichtsunterricht nicht wünschen
Oder die Bauerngemeinde hat sich schon zersetzt, sie ist untergangsreif. Dann bleibt den Sozialisten nur die Berechnung, in wie-viel Jahrzehnten das Land der Bauern in die Hände der Bourgeoisie übergehen wird und zu welchem Zeitpunkt der Kapitalismus in Rußland dieselbe Stufe erreicht haben wird wie in Westeuropa. Dann ist vorläufig nur die Agitation unter den städtischen Arbeitern möglich, zu denen sich die in die Industrie abgewanderten landlosen Bauern gesellen. Also was ist zu tun?
Das ist nicht nur eine Frage nach dem Zeitpunkt und nach der Methode der revolutionären Aktion, sondern auch nach der Einschätzung des Bauernstandes. Auf welcher Entwicklungsstufe befindet sich Rußland? will Vera Sassulitsch wissen, ist es seiner besonderen Lage nach reif oder nicht?
Es ist gut, das einmal gründlich durchdenken zu lassen und die vermutliche Antwort von Marx (die Kenntnis des Kommunistischen Manifestes wird ja vorausgesetzt!) erraten zu lassen. Es gibt mehrere Brietentwürte von Marx, die Rolle der Pythia war schwierig.
In der Vorrede zu einer neuen russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests, die 1882 in Genf erschien, haben Marx und Engels eine gemeinsame Antwort gegeben, sie ist nicht ausweichend, aber sie ist konditional und lautet: „Wenn die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so daß beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen".
Es war ohne Zweifel die Überzeugung von Marx, daß Rußland aus eigener Kraft keine Revolution siegreich zu Ende führen könne, sondern nur zusammen mit einer Arbeiterrevolution des kapitalistisch reifen Westens.
Eine Anweisung, wie man sich verhalten müsse, hat Marx nicht gegeben, nach wie vor blieben mehrere Wege offen.
Die „Generalprobe" von 1905 Ich kann den Unterrichtsgang jetzt nur noch skizzieren, es kommt nunmehr auf folgendes an:
1. auf die Wandlung in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur Rußlands in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts (Industrialisierung, Proletariat in den Großstädten, Streikbewegungen, Bauernrevolten) und 2. auf Lenins Analyse der Situation und sein Aktionsprogramm.
Es ist in der sibirischen Verbannung entstanden und liegt schon 1897 fest. Es lautet, auf die einfachste Formel gebracht: Aufstand des Industrieproletariats und Bauernkrieg. Aber die Sozialisten, als die führenden Intellektuellen, müssen dem Arbeiter das noch fehlende Klassenbewußtsein entgegentragen, dazu ist eine Partei nicht von Gesinnungsgenossen, sondern von geschulten Berufsrevolutionären zu schaffen, eine Art Generalstab, der Proletariat und Bauerntum als kämpfende Armeen und als Massenbasis in den Dienst der Revolution stellt. (Was ist hier marxistisch, was ist neu, wie hat es sich in der revolutionären Theorie und in der Erfahrung vorbereitet? Der „Leninismus" zeichnet sich ab.) 1902 erscheint Lenins Schrift „Was tun?" Sie enthält die ideologische Grundlage der späteren bolschewistischen Partei. Wir erinnern uns: 1862 hatte Tschernyschewski an eine scharfsinnige Charakteristik der gesellschaftlichen Schichten auch die Frage geknüpft „Was tun?" und sie mit einer sozialen Utopie beantwortet, die von den Wissenden und Führenden, den professionellen Revolutionären, zu schaffen sei. 1881 fragte Vera Sassulitsch: was ist unter diesen Umständen in Rußland zu tun?
Die eigentliche Lehre, was zu tun sei, erhielten alle Richtungen in Rußland erst durch die Ereignisse des Jahres 1905. Trotzki nennt sie den Prolog zu den beiden Revolutionen von 1917. „Der Prolog enthielt alle Elemente des Dramas, nur nicht bis ans Ende geführt"
Der unglücklich verlaufende Krieg gegen Japan, die Massendemonstration vor dem Winterpalais am „blutigen Sonntag" (9. Januar), mit Kirchenfahnen und Zarenbildern unter Führung eines Popen — der Minister Witte hielt sie zuerst für eine Prozession —, dann der Befehl an die Truppe zu schießen, das Blutbad. Der Zarenmythos ist zerstört. Jetzt die Rufe nach einer Konstitution bei den Liberalen, den Professoren der Universitäten, den Industriellen, dem gebildeten Bürgertum, das kurze Zeit mit dem Proletariat sympathisiert. Die Partei der Kadetten bildet sich. Aber die Masse geht ihre eigenen Wege, die Arbeiter-streiks dehnen sich über ganz Rußland aus, der erste Sowjet der Arbeiterdeputierten wird gebildet, und die Idee eines Rätestaates taucht auf. Auf dem Lande Bauernrevolten, Plünde-* rungen, Morde, wilde Enteignung und Verteilung von Ackerland. Politische Forderungen vertreten die Bauern nur unter dem Einfluß von agitierenden Intellektuellen. Die Schwarz-meer-Flotte meutert (Panzerkreuzer Potjomkin). Endlich gibt der Zar seinen liberalen Beratern nach, verspricht im Oktober-Manifest eine Duma mit größeren Rechten und bürgerliche Freiheit. Damit ist der Elan des Generalstreiks gebrochen, die revolutionären Gruppen spalten sich, die Forderung des Bürgertums ist erfüllt.
Und nun die Reaktion: Eine Pogrombewegung gegen die Juden erschüttert Südrußland — es ist das bekannte Ablenkungsmanöver des zaristischen Regimes — sie wird offen von der Polizei unterstützt. Zuletzt schlagen die Truppen, die durchweg zarentreu geblieben sind, einen bewaffneten Arbeiteraufstand in Moskau nieder. Die Duma wird aufgelöst, die Versprechungen des Oktober-Manifestes werden Stück um Stück zurückgenommen; was bleibt, ist eine Scheinkonstitution. Die Bolschewisten haben später die Revolution von 1905 die „Generalprobe" genannt, sie war offensichtlich mißlungen. Aber die Abstraktionen hatten sich, wie Trotzki sagt, mit sozialem Stoff gefüllt. Was lehrte die Revolution? Ich würde versuchen, diese Frage erst einmal durch die Schüler beantworten zu lassen. Es ist die Analyse am Modell, die offene Fragesituation. Man muß von Fakten ausgehen, sie an den Theorien prüfen, die Linien weiterziehen. Es ist eine Probe auf das inzwischen gewonnene historische Verständnis, auf die Fähigkeit, politische und gesellschaftliche Strukturen zu sehen und die Motive der Handelnden zu erkennen. Eine gegebene Situation, keine erdachte und zeitlose, die Situation Rußlands im Jahre 1905, erregend und aktuell, weil wir im Bewußtsein das Jahr 1917 und sein unwiderrufliches Ergebnis haben, zugleich fern, distanziert wie alles Geschichtliche, so daß wir uns hineindenken müssen.
Was also lehrte dieser Ablauf von Ereignissen oder besser: wen lehrte er was? Es gibt drei Analysen der Revolution, die unternommen wurden, als sie sich auf dem Höhepunkt befand und das Ende noch nicht abzusehen war; die Beteiligten wußten weniger als wir. Sahen sie das Entscheidende, behielten sie mit ihren Folgerungen recht, für die nächste Zukunft recht oder für eine fernere Zukunft recht?
Die eine Stellungnahme ist in der Denkschrift des Grafen Witte an Nikolaus II. vom 9. Ok21 tober 1905 enthalten, sie mahnt den Zaren, rechtzeitig die bürgerlichen Freiheiten zu gewähren und sich an „die Spitze der Bewegung zu stellen". Reform oder Revolution sei die Parole. „Die Schrecken der russischen Revolution werden alles übertreffen, wovon die Geschichte berichtet. Es ist möglich, daß durch ausländische Einmischung das Reich in Stücke zerrissen wird. Man wird versuchen, die Ideale des theoretischen Sozialismus zu verwirklichen ... sie werden die Familie zerstören, das religiöse Leben vernichten, das Eigentum beseitigen und alle Rechtsgrundlagen untergraben"
Witte vertritt eine gemäßigt reformerische Richtung, die das Zarentum stützen möchte und später in Stolypins Reformwerk weitergeführt wird.
Im Mai 1905 hatten die Menschewiki auf ihrem Parteitag in Genf, die Bolschewiki in London (seit 1903 waren sie getrennt) die mit äußerster Spannung verfolgten Ereignisse bereits analysiert und ihr Aktionsprogramm entwikkelt
Der Parteitag der Bolschewiki in London erklärte. dank der besonderen sozialen Struktur Rußlands könne nicht nur der Absolutismus des Zarentums, sondern gleich darauf auch der Kapitalismus der liberalen Bourgeoisie gestürzt werden, wenn sich Arbeiter und Bauern zu einer Koalition der revolutionären Klassen zusammenschlössen. Das sei nur möglich unter der Führung der bolschewistischen Partei, die zum bewaffneten Aufstand aufrufen und die revolutionäre Diktatur errichten müsse, um das Bürgertum auszuschalten und die Landverteilung unverzüglich vorzunehmen. Konstitutionen und Parlamente seien nur ein Deckmantel für den kommenden Verrat der Bourgeoisie an der Revolution und ihren Ergebnissen. (Die Demokratie wurde schon vor 1905 auch als „revolutionäre demokratische Diktatur" bezeichnet.)
Eine dreifache Antwort auf einen geschichtlichen Vorgang! Der Standort der Betrachter, ihre Bindung an Weltanschauung, Tradition, an das politische Wunschbild, wäre zu untersuchen, auch der Grad von Realismus und Irrealismus in der Beurteilung. Ist der Realismus siegreich oder ist es umgekehrt, ereignet sich später gerade das Unwahrscheinliche: der Sieg der kleinsten Gruppe mit dem stärksten Willen oder setzt sich sogar der Wille eines einzelnen durch? Also wieder Trotzkis Frage:
was wäre geschehen, wenn man Lenin verhindert hätte, nach Rußland zu kommen? Was wäre, wenn — eine Frage, die der Geschichtswissenschaft verdächtig ist, die aber das Tor zur geschichtsphilosophischen Besinnung öffnet:
Zwang der Umstände oder Freiheit des Individuums, Gesetz oder Zufall, Vernünftigkeit oder Irrationalität der Geschichte, Determiniertheit oder Offenheit? Aber auch die anthropologische Frage nach dem Menschen, wie er sich selbst versteht, steckt in den Möglichkeiten dieses Gesprächs. — Ausblick Für das Verständnis der Oktoberrevolution, des Rätestaates, der Parteidiktatur, des Bürgerkrieges, der Nep-Politik, der Fünf-Jahres-Pläne ist nun der Grund gelegt. Mehr sollte nicht aufgezeigt werden. Man kann den weiteren Verlauf nicht mit der gleichen Ausführlichkeit behandeln. In den zwanziger und dreißiger Jahren gewinnen die Zusammenhänge der russischen Geschichte mit der deutschen, der europäischen, der Weltgeschichte wachsende Bedeutung. Man wird auch die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des russischen Raumes stellen müssen, etwa nach seinem primären Einfluß auf die Verzögerung der revolutionären Entwicklung und nach seiner späteren Bedeutung für die Verwirklichung des technisierten Staates, worüber uns nur die Länderkunde und die Sozialgeographie belehren können.
In einem letzten Abschnitt wird man das Sowjetsystem als totalitäre Herrschaftsform der freiheitlich-demokratischen Ordnung der westlichen Welt gegenüberstellen, ein Vergleich, der zu den wesentlichen, aber auch zu den schwierigsten Aufgaben der politischen Bildung gehört; denn das Klischee liegt griff-bereit. Hier ist eine Reihenfolge vorgeschlagen, in der der begründende Akt — der Über-gang von der ersten zur zweiten Phase der Revolution — am Anfang, die Vorgeschichte an der zweiten, die Strukturanalyse an der dritten Stelle steht. Wenn auf diese Weise das Sowjetsystem und seine Lebensordnung sich als ein Produkt von spezifisch russischen geschichtlichen Gegebenheiten, von einer modifizierten marxistischen Theorie und den Willensentscheidungen einzelner darstellt, so heißt das nicht, daß man durch die Historisierung eines politischen Phänomens der politisch-ethischen Frage ausweichen dürfe. Man kann es auch gar nicht, denn sie stellt sich an allen Punkten, wo wir Menschen handeln und sich entscheiden sehen, wo soziale Werte verabsolutiert und sittlich-personale mißachtet werden, wo das bonum particulare sich an die Stelle des bonum commune setzt. Sie stellt sich bei den Narodniki so gut wie bei dem Autoritäts-und Polizeiregime Nikolaus I. und dem Entschluß der Bolschewisten, die alten herrschenden Klassen auszurotten um des künftigen Glückes aller willen. Es ist deshalb wichtig, in dem dritten Teil des Unterrichts-ganges, der hier nicht mehr skizziert ist, nicht nur die Ordnungsfaktoren von Staat, Partei, Gesellschaft und Wirtschaft darzustellen und sie mit westlichen Einrichtungen zu vergleichen, sondern an Beispielen menschlicher Existenz und menschlicher Grunderfahrungen die Lebensbedingungen im totalitären Staatsgefüge zu verdeutlichen.
Uns stehen dafür die Berichte westeuropäischer Intellektueller zur Verfügung, die den Wahrheiten des Kommunismus zuerst begeistert zustimmten, bis sie sich der fundamentalen Lüge gegenübersahen, die auch die Wahrheiten wieder aufhebt. Eine solche Konfrontation läßt sich nachvollziehen, wenn wir etwa die Gespräche lesen, die Ignazio Silone mit russischen Kommunisten der Stalin-Ara führt, oder den Lebensbericht Arthur Koestlers oder das Tagebuch Andre Gides von seiner Rußlandreise 1936; denn hier geht es nicht um eine theoretische Auseinandersetzung zwischen politischen Doktrinen, sondern um die existentielle Erfahrung des Sowjetsystems, es geht auch um den Aufruhr des Gewissens, wie er von Louis Fischer und Stephen Spender in der bekannten Sammlung von Dokumentarberichten geschildert wird
Es scheint mir für den Unterricht wichtig, nicht dem Systemdenken zu verfallen und gleichsam den Menschen aus der Geschichte der Menschheit auszuschließen (Tocqueville). Darum dieser Ansatzpunkt, die Analyse der totalitären Staats-und Lebensordnung muß sich anschließen. Obwohl es viele nützliche Publikationen für den Geschichtsunterricht gibt, ist die grundlegende didaktische Auswahl und Gestaltung des schwierigen Stoffes noch nicht geleistet; das beweisen die dürren Kapitel unserer Geschichtsbücher.
Dieser Entwurf behandelt nur den ersten Teil des Tertial-Lehrgangs mit einiger Ausführlichkeit, der weitere Verlauf wurde lediglich angedeutet. Im ganzen ist es ein Vorschlag, wie man es machen könnte. Was die Quellen, die der Veranschaulichung dienenden Episoden und die Querschnitte durch eine Zeitsituation angeht, so sind alle möglichen Variationen denkbar. Eins scheint mir verbindlich zu sein: daß der Zusammenhang bei der wichtigsten Epoche der russischen Geschichte gewahrt bleibtl Konzentration der Bildung ist nicht so zu verstehen, daß künstliche Querverbindungen zu anderen Fächern geschaffen werden — das ist seit den Richertschen Reformplänen immer nur appellativ geblieben, und das hat seine guten Gründe! — sondern daß die innerhalb des Geschichtsunterrichts, aber auch in anderen Fächern verstreuten Fakten und Einsichten gesammelt und um eine größere Aufgabe konzentriert werden, eine Aufgabe, die der Erhellung unserer Gegenwart dient. Hier müßten also Einsichten aus der russischen Literatur, der Staatsphilosophie, der Geographie, der Gesellschaftswissenschaft, der Religionsphilosophie dazu beitragen, das Phänomen der bolschewistischen Revolution und des Sowjetstaates begreiflich zu machen Es gibt sicher noch eine Reihe anderer Aufga benbereiche, deren natürlichen inneren Zusammenhang man herstellen könnte, wenn die entscheidenden Fragen gefunden sind, die die Antworten provozieren. Die Chronologie der europäischen Geschichte ist keine natürliche Ordnung, für das „verspätete Rußland" schon gar nicht.
Eine theoretische Erörterung, wie bei unserem Gegenstand politik-wissenschaftliche, historische, soziologische und geographische Methoden und Ergebnisse zusammenkommen, schien mir überflüssig, weil es sich von der richtig begriffenen Aufgabe her von selbst versteht, mit welchem wissenschaftlichen Rüstzeug wir sie lösen müssen.
Ein Unterrichtsmodell, bei dem von den Schülern so wenig die Rede ist — könnte man einwenden. Aber das meiste ist in geschichtlichen Arbeitsgemeinschaften erprobt, und die vielen Fragen, wenn auch einfacher formuliert, gingen stets zwischen Schülern, Lehrer und Gegenstand hin und her.