Die Haltung der deutschen Gewerkschaften ist nach Beendigung des ersten Weltkrieges durch ein neugewonnenes Machtgefühl gekennzeichnet. Es ist das Selbstbewußtsein, das politische Selbstbewußtsein von Verbänden, die eben jetzt, in der Konsequenz der Novemberrevolution, aus der ersten Phase ihrer Geschichte, einer nur widerwillig geduldeten Existenz, in ihre zweite Phase einrücken — als eine nunmehr voll legitimierte, ja bald schon mythisierte Ordnungskraft, die von vie-len Zeitgenossen zur republikanischen Hauptbastion hypostasiert wird und von der man noch eineinhalb Jahrzehnte später, in den Jahren 1932 und 1933, eine tatbereite Verteidigung der Demokratie vielerorts sich erwartet hat. Die Gewerkschaften haben jedoch zur Überraschung vieler ohne bemerkenswerten Widerstand vor Hitler kapituliert und sind von der sogenannten Deutschen Arbeitsfront (DAF) nahezu reibungslos aufgesogen worden, womit das Ende des zweiten Kapitels der Gewerkschaftsgeschichte scharf markiert ist. Die Enttäuschung der damals in die Gewerkschaften gesetzten Erwartungen klingt in man-chen Publikationen der letzten Jahre deutlich nach
Diese angenehme Enttäuschung so gut wie jene unangenehme weist unseren Fragen eine Richtung, der wir nachgehen wollen. Um so mehr als die Gewerkschaften sich ihrerseits in ihrem Selbstverständnis keineswegs nur mehr als Arbeitsmarktpartei, sondern zunehmend als eine gewichtige politische Größe ansahen. Offenbar liegt hier ein echtes historisches Problem vor, dessen Erhellung nicht nur Licht auf Ort und Funktion der Gewerkschaften in der Weimarer Gesellschaft allgemein, sondern speziell auf ihr Verhältnis zu Staat und Politik, zur Nation auch, zu werfen vermöchte. Bestimmt diese Fragestellung den Hauptteil des Aufsatzes, so wird im Zusammenhang damit in einem Schlußstück zu erörtern sein, ob, gegebenenfalls in welcher Weise repräsentative Gewerkschaftsführer aus dem Erlebnis des totalitären Staates Folgerungen für eine künftige Neugestaltung der Gewerkschaften gezogen haben. Bei all dem muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß für wichtige Komplexe der beiden Fragenbereiche die Quellenlage noch immer unzulänglich ist
Sieht man die Gewerkschaften unter wirtschaftlichem Aspekt, dann sind sie, nach Goetz Briefs, „ein Preis-und Konditionenkartell mit Angebotskontingentierung."
Das Gesetz, nach dem sie angetreten, der Impetus zur stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft vornehmlich durch Lohnvereinbarungen, bleibt für die Gewerkschaften wirksam, doch wird mit Kriegsende ihr Aufgaben-und Wirkungsbereich erheblich erweitert und damit auch ihr Habitus verändert. In diesem Zusammenhang wird besonders die institutioneile Verankerung dieser Funktionserweiterung in der Weimarer Verfassung bedeutungsvoll Zwar konnten die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft von den Unternehmern schon längst nicht mehr negiert werden, zwar waren die Gewerkschaften im Laufe des Krieges praktisch schon zu Partnern des Staates geworden, sichtbar im vaterländischen Hilfsdienst seit dem Dezember 1916; doch war die rechtliche Anerkennung ihrer faktischen Stellung nur zögernd gewährt, die noch immer prekäre Koalitionsfreiheit
So waren also die Gewerkschaften staatlich anerkannte und gesetzlich geschützte Organe der Sozialordnung und der Volkswirtschaft geworden. In dem Maße, in dem entgegen dem klassischen kapitalistischen Modell der Staat zunehmend für die Gestaltung der wirtschaftlichen Bedingungen und sozialen Verhältnisse sich verantwortlich weiß, waren die Gewerkschaften in ihrem neuen legislativ gesicherten Status damit auf den Staat verwiesen. Das will besagen sie waren als die eben definierten Interessenverbände nicht mehr nur allgemeine politische Faktoren, insofern wirtschaftliche und soziale Fragen im modernen Staat immer auch schon eine politische Qualität haben; die Gewerkschaften waren jetzt mehr als je zuvor konkret auf diesen Staat hic et nunc, auf die Nation hingeordnet.
Gewiß hatte die Weimarer Nationalversammwerkschaftshaltung schaftliche Positionen reagiert. Aber die staatliche Legalisierung war doch mehr als nur die zwangsläufige Wirkung eines mechanischen Massendrucks
Haben die deutschen Gewerkschaften diesen Befund in ihr Selbstverständnis richtig ausgenommen und künftig entsprechend wirklichkeitsgerecht gehandelt?
Wir sprachen eingangs von einem wachsenden politischen Selbstbewußtsein der Gewerkschaften, das zunächst als unbestimmtes Kraftgefühl wirksam war. Zu untersuchen bleibt die artikulierte Stellungnahme zum neuen Staat sowie die Art des staatsbezogenen praktischen Handelns. Dabei müssen wir nun unterscheiden nach den großen Richtungsgewerkschaften, die für das deutsche Gewerkschaftswesen charakteristisch waren; wir beschränken uns hier auf die größten, die so-genannten freien und die christlichen Gewerkschaften.
Die freien Gewerkschaften
Die freien Gewerkschaften, seit frühestem eng der Sozialdemokratie verbunden, hatten sich bisher wie diese als eine Kampfgruppe der Arbeiterbewegung verstanden, deren gemeinsames strategisches Ziel der von Marx entworfene Sozialismus war. Demgemäß sahen sie sich als ein Klassenkampforgan ebenso wie die sozialdemokratische Partei, mit dem Unterschied freilich, daß die freien Gewerkschaften sich von vornherein pragmatisch mit der gegnerischen Arbeitsmarktpartei der Unternehmer einließen, um immer von neuem soziale Kompromisse auszuhandeln. Dieser Pragmatismus einer alltäglichen Praxis setzte sich als das Lebensprinzip der Gewerkschaften schließlich um so mehr dem revolutionär sozialistischen Vokabular entgegen, als sich die Erfolge häuften und sich der soziale Standard des Arbeiters zusehends besserte. Die sozialistischen Gewerkschaften führten sozusagen eigenhändig die Verelendungstheorie ad absurdum. Dementsprechend wurde die orthodoxe sozialistische Ideologie zuerst in den Gewerkschaften entthront, von hier aus griff der Prozeß einer langsamen Entideologisierung auf die Sozialdemokratie als der politischen Vertretung der Arbeiterschaft über. So ist mit Recht gesagt worden, der Revisionismus sei gewerkschaftlicher Provenienz. Das bewußte Verhältnis zum Staate blieb jedoch auch bei den freien Gewerkschaften zwiespältig. Der Staat, auch derjenige, der dem gewerkschaftlichen Pragmatismus die Basis gab, mit dem man sich von Fall zu Fall arrangierte, galt prinzipiell weiterhin als zu liquidierender Klassenstaat, der durch die Herrschaft der Arbeiterklasse ersetzt werden sollte. Diesem Generalziel einer absolut zu setzenden Arbeiterschaft wollten auch die freien Gewerkschaften mit den ihr eigenen, bewährten Mitteln sozialer und wirtschaftlicher Pression dienen. Die internationale Solidarität der Klassengenossen hatte über nationalen Verbindlichkeiten zu stehen. Der kapitalistische Staat konnte, so verstand sich auch der frei-gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, kein Vaterland sein.
Kaum war jedoch der Krieg 1914 ausgebrochen, als sich die freien Gewerkschaften, noch vor dem Votum der sozialdemokratischen Partei, für die Nation entschieden. Sie hielten an dieser Entscheidung während des ganzen Krieges hindurch fest. „Die Rücksichtnahme der freien Gewerkschaften auf das Nationalgefühl ging so weit, daß sie ihren Mitgliedern internationale Gewerkschaftsabkommen verheim5 lichten."
Wie wurde ein solches ideologiewidriges Verhalten möglich? Sicher hat die nationale Dynamik alle ideologischen Barrieren einfach überspült; das schlichte Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit und vaterländischer Not-gemeinschaft erwies sich als radikaler denn alles andere. Und doch haben jene Stimmen, die von gewerkschaftlichem Opportunismus reden, nicht gänzlich unrecht. Es gibt vergleichbare Ereignisse, die nachdenklich stimmen: die christlichen Gewerkschaften, staats-bejahend und monarchiefreundlich von Beginn an, hatten noch am 29. und 30. Oktober 1918 unter Hinweis auf die vorbildliche Sozialpolitik dem deutschen Kaiser wie der Monarchie im ganzen eine Gefolgschaft durch dick und dünn zugeschworen
So kann es auch nur dem Außenstehenden befremdlich erscheinen, wenn die christlich-nationalen Gewerkschaften 1918/19 schnell bereit waren, in den von ihnen grundsätzlich abgelehnten, revolutionsgeborenen Arbeiter-und Soldatenräten mitzuarbeiten 13).
Für die Gewerkschaften war eine solche Mitarbeit kein Sacrificium intellectus, sondern gewohntes Agieren. Dieser eingeborene Pragmatismus hat später auch die Vorgänge des Frühjahres 1933 mitbestimmt. Wir werden darauf zurückkommen.
Bei allem Gewicht des skizzierten gewerkschaftlichen Pragmatismus ist die Option der sozialistischen Gewerkschaftsführung für das Vaterland am 2 August 1914 jedoch eine nationale, keine gewerkschaftliche Tat gewesen. Gewerkschaftliche Tendenzen mochten unterschwellig mitwirken, den Einsatz für die Landesverteidigung erleichtern, entscheidend war das elementare nationale Gefühl. Seitdem war die Nation in das gewerkschaftliche Bewußtsein ausgenommen, und das Erlebnis nationalen Zusammenstehens prägte sich tief ein. Das zeigte sich im Zusammenbruch 1918, das zeigte sich in der Reaktion auf den Versailler Vertrag, das zeigte sich besonders im nationalen Engagement der freien Gewerkschaften in Oberschlesien und im Ruhrkampf.
Doch war damit das Verhältnis zur Nation im Bewußtsein noch keineswegs voll geklärt, war die Zuordnung zu Klassenkampf und Internationale theoretisch noch offen. Die Frage nach der innergewerkschaftlichen Auseinan-dersetzung mit diesem Problem hat historisch ein um so größeres Gewicht, als die sogenannten nationalen Verbände in der Weimarer Republik mehr und mehr Anhänger gewannen und schließlich, um in ihrer Terminologie zu sprechen, als nationale Bewegung über diesen „marxistischen Koloß" obsiegten.
Man kann zumindest sagen, daß die freien Gewerkschaften den Prozeß der nationalen Klärung weiter vorangetrieben haben als die sozialdemokratische Partei, der gegenüber sie sich auf ihrem ersten Nachkriegskongreß 1919 ohnehin ein neues Stück verselbständigten. In der repräsentativen Gewerkschaftszeitschrift
Unter solchem Aspekt wird von Lothar Erdmann (Chefredakteur der zentralen Gewerkschaftszeitschrift und Theodor Leipart sehr nahestehend) auch der Heidelberger Programmentwurf der SPD (1925) mit den Ausführungen über den internationalen Sozialismus entschieden kritisiert. Der Sozialismus habe übernational und national zu sein. Die internationale Solidarität finde grundsätzlich und tatsächlich ihre natürlichen Grenzen in der Vertretung der Gesamtinteressen der Nation
Wie weit diese Bewußtseinsklarheit vom Redaktionsstab der führenden Gewerkschaftszeitschrift und der Gewerkschaftsspitze auch in die breite Mitgliederschaft durchgedrungen ist, läßt sich schwer absehen. Sicher erfuhr der Klärungsprozeß von oben nach unten eine abnehmende Beschleunigung, einmal wegen der größeren Beharrungskraft der Basis, zum anderen aber auch wegen des Einflusses widerstreitender Tendenzen, die teils aus der Gewerkschaft selbst kamen, teils aus der Sozialdemokratischen Partei stammten, deren festes Wählerreservoir die freien Gewerkschaften ja ohnehin darstellten. Die Partei löste sich schwerer und weitaus langsamer von ihren ideologischen Wurzeln. So viel ist festzustellen: eine nationale Empfänglichkeit war in den freien Gewerkschaften gegeben, und sie darf für die Interpretation der gewerkschaftlichen Haltung 1933 eben-falls nicht außer acht gelassen werden
Für den gewerkschaftlichen Funktionär des Mittelbaus und für den gewerkschaftlichen Alltag blieb der Klassenkampfgedanke bestimmend.
Und nach ihm waren der gegenüberstehenden Arbeitsmarktpartei Konzession auf Konzession zu entringen, jede Konzession als Stufe neuer Machterhöhung zu benutzen und schließlich der Gegner nicht nur aus den sozialen, sondern auch aus den politischen Machtpositionen zu verdrängen
Als verhängnisvolle Wirkung solcher Zweispältigkeit ergab sich ein unklares Verhältnis zum konkreten Staat der Weimarer Republik, obwohl dieser die Gewerkschaften sehr gefördert hatte.
Die freien Gewerkschaften bejahten die Weimarer Demokratie, das ist nicht zu leugnen; bei näherem Zusehen erweist sich diese Staatsbejahung aber als ideologisch und verbandsegoistisch gehemmt.
„Und dieser Staat wird bejaht, weil im gegenwärtigen Stadium die konzessionierten Rechte nur gesichert erscheinen, solange die Weimarer Republik selbst besteht. Schutz und Bejahung des Staates sind Schutz und Verteidigung der eigenen gewerkschaftlichen Machtpositionen im gegenwärtigen Staat."
Kurz vor der Machtergreifung kommt der Gewerkschaftsvorsitzende Leipart darauf zurück, um zu beweisen, daß sich die Gewerkschaften niemals an eine Regierung bänden
Im ganzen freilich hatten die Gewerkschaften einigen Grund, auch in dem ihnen gegenüber so großzügigen Weimarer Staat auf der Hut zu bleiben: Der Kapp-Putsch hatte die Gefahr einer Restauration ihnen anschaulich vor Augen geführt; die Unternehmer hatten in der Ruhr-Krise versucht, den zum Symbol der sozialen Errungenschaften gewordenen 8-Stunden-Tag anzutasten; im Eisenkonflikt 1928 die staatliche Schlichtung zu annullieren.
Es mochten also Klassenstaatsassoziationen nicht gänzlich unverständlich sein. Aber die Gewerkschaften gaben ihrerseits im norma-len Alltag oft selbst provozierend schlechte Beispiele: Sie nutzten die im Oktober 1923 eingeführte staatliche Schlichtung bei Tarifauseinandersetzungen weidlich aus, indem sie ihre Lohnforderungen so in die Höhe trieben, daß kein freier Kollektivvertrag zustandekommen konnte und der staatliche Schiedsspruch unumgänglich wurde. Das brachte stets einige Prozente an Lohngewinn mehr ein, als man bei dem üblichen Aushandeln zwischen den Arbeitsmarktparteien hätte erwarten können, führte aber naturgemäß zur Verschärfung der Spannungen mit den Unternehmern, die nicht ohne weiteres auf das Konto naturgegebener Klassengegensätze abzubuchen waren.
Eine weitere Versteifung der Fronten trat ein, als die Gewerkschafteil auf ihrem Hamburger Kongreß 1928 ein Aktionsprogramm zur Um-Wandlung des Wirtschaftssystems in eine Wirtschaftsdemokratie vorlegten. Man wollte nunmehr ansetzen zur „Neugestaltung der Gesellschaft". Dazu gehört, so wurde damals in Hamburg ausgeführt, „daß alle einzelnen Anstrengungen und sozialen Kämpfe durch den einheitlichen Willen und alle Teilforderungen durch einen Grundgedanken zusammengefaßt werden. Aus diesem Bedürfnis entsteht nun das Programm der Wirtschaftsdemokratie: durch Demokratisierung der Wirtschaft zum Sozialismus"
Wenn schon die christlichen Gewerkschaften zu den vorgebrachten Plänen kritisch anmerkten, dieses Konzept der Wirtschaftsdemokratie intendiere nicht die Überwindung, sondern die Beherrschung der kapitalistischen Wirtschaft durch die Gewerkschaften, bedeute „nichts anderes als die Erweiterung gewerkschaftsorganisatorischer Macht"
Bevor wir jedoch das Verhalten der Gewerkschaften in der. krisengeschüttelten Schlußphase der Weimarer Republik erörtern können, müssen wir uns noch die reale Stärke der Gewerkschaften vor Augen führen.
Das Machtgefühl der Gewerkschaften war nicht nur durch die institutionell gefestigte und legalisierte Stellung, durch die Erweiterung der Funktionen, durch die Mitwirkung in Arbeitsrecht und Sozialversicherung, sondern auch und nicht zuletzt durch den gewaltigen Mitgliederzuwachs bedingt. Der Mitgliederstand der freien Gewerkschaften stieg von 1, 2 Millionen im Jahre 1917 auf 7, 3 Millionen 1919, erreichte 1920 seinen höchsten Stand mit 8 Millionen, sank bis 1924 auf seinen niedrigsten Stand mit 3, 9 Millionen, um dann bis 1932 zwischen 4 und 5 Millionen Mitgliedern zu pendeln. Die christlichen Gewerkschaften hat-ten 1917 rund 290 000 Mitglieder, gewannen 1919 eine Million, gingen 1924 auf 600 000 Mitglieder zurück und blieben fortan etwa auf dieser Höhe stehen. Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften zählten 1920 220 000 Angehörige und hielten von 1924 an einen durchschnittlichen Mitgliederstand von 150 000
Sieht man diese Zahlen zusammen, erkennt man ein bedeutsames Wahlpotential von durchschnittlich 5 bis 6 Millionen Stimmen. Das ist bei rund 40 Millionen Wahlberechtigten ein Sechstel bis ein Siebtel. Da diese Stimmen mit Löwenanteil der SPD, unter den übrigen Parteien vor allem dem Zentrum zugute kamen, ist es nicht verwunderlich, wenn in den Fraktionen der genannten Parteien die Gewerkschaftsvorstände stark vertreten waren und dort ein gewichtiges Wort mitzusprechen hatten, überdies bildeten beide Parteien regelrechte Gewerkschaftsflügel aus, bei der SPD die rechte Seite, beim Zentrum die linke Seite verstärkend. So reichte der lange Arm des voluminösen Gewerkschaftskörpers auch direkt in die Politik hinüber.
So sehr die numerische Stärke ein politisches Kraftgefühl fördern mußte, die Quantitätssteigerung war ambivalent. Die Gewerkschaften waren vor dem Kriege unbestreitbar gut geschulte und disziplinierte Arbeiterschaftskader gewesen, denen Stresemann im April 1919 nachrühmte, sie hätten mehr von Politik verstanden als die akademischen Bürger
Halten wir an dieser Stelle einen Augenblick inne und führen uns die wichtigsten Punkte der bisherigen Darlegungen erneut vor Augen:
Die freien Gewerkschaften als mächtigster Arbeiterinteressenverband standen keineswegs mehr außerhalb der Nation und fühlten durchaus national. Dennoch blieb der begonnene Prozeß nationaler Bewußtseinsklärung ideologisch gehemmt, wurde die Nation als Schicksalsgemeinschaft verschiedener gleichberechtigter Gruppen nicht genügend klar gesehen. Das alte Klassenkampfschema und traditionelle sozialistische Zielvorstellungen griffen weiterhin in die gewerkschaftliche Pragmatik hinein, verschärften ihrerseits die wachsenden Gruppenspannungen und störten auch die volle Bejahung des konkreten Staates, obwohl dieser mehr und mehr zur Schicksalsmacht wurde. Dem Bürgertum wurden die Gewerkschaften nicht nur wegen ihrer permanenten Forderungen zunehmend lästig, sondern als politische Sphinx unheimlich.
Die christlichen Gewerkschaften
Die christlichen Gewerkschaften können jetzt nur noch gestreift werden. Zahlenmäßig weit schwächer als die freien Gewerkschaften, darf man sie jedoch nicht in ihrer Bedeutung unterschätzen, zumal sie ihr Hauptverbreitungsgebiet in den wichtigen westfälischen und rheinischen Industriegebieten hatten und dort dem konkurrierenden Verband nicht erheblich nachstanden
Das Bekenntnis zur Demokratie war als Bekenntnis zum „deutschen Volksstaat“ nicht gleichbedeutend mit einer vollen Anerkennung des Weimarer Staates. Deutsch bedeutet, so hatte Stegerwald auf dem ersten Nachkriegskongreß 1920 ausgerufen, „daß die Form unserer Verfassung, daß unsere Rechtsanschauungen in der deutschen Geschichte; nicht aber in den aus fremden Verfassungen herbeigeholten Paragraphen einer Notverfassung
So standen schließlich alle Gewerkschaftsorganisationen, obschon aus verschiedenen Motiven, diesem Staat innerlich reserviert gegenüber. Was sollte nun werden, wo im Laufe der großen, Ende der zwanziger Jahre anhebenden wirtschaftlichen und politischen Krise die Nationalsozialisten zur kalten Eroberung dieses Staates sich anschickten? Für das traditionelle Gewerkschaftswesen hatten diese Leute bisher keine sonderlichen Sympathien gezeigt. Die Gewerkschaften spürten die Gefahr durchaus. Konnte das reservierte und an die Gewerkschaftsbelange gekoppelte Staatsinteresse ausreichen, eine Verfassung retten zu helfen, die man nicht liebte, von der man sich aber immerhin geschützt wußte? Würden sich die Gewerkschaften gegen einen Diktator zur Wehr setzen, der ihre Privilegien, ihre Stellung antastete? Oder ließ sich bei gutem Willen auch in einem nationalsozialistischen Staat eine Chance für die Gewerkschaften erkennen, für die man die Organisation retten mußte?
Nationalsozialismus und Gewerkschaften, NSBO
In den letzten Jahren ist mehrfach von kompetenter Seite
In „Mein Kampf" billigt Hitler der Gewerkschaftsbewegung die historische Funktion einer notwendigen sozialen Selbsthilfebewegung der Arbeiterschaft zu, die von ihr auch bis etwa zur Jahrhundertwende sinnvoll wahrgenommen worden sei. Von da an sei sie jedoch nur noch „als Ramme des Klassenkampfes"
Ganz offensichtlich ist das hier erkennbare Interesse Hitlers an den Gewerkschaften kein originär soziales, sondern ein national-völ-kisches. Was Ernst Nolte zur Phänomenologie des NS ausgeführt hat, wie sehr nämlich der sachliche Gehalt des Begriffes „Sozialismus" von dem des „Nationalismus" aufgesogen werde
Die sozialpolitische Aufgabe der Gewerkschaften wird in Hitlers Gedankengang also zum Vehikel nationaler Kraft. Diese Funktion bleibt den Gewerkschaften auch im künftigen NS-Staat zugewiesen, doch wird ihr Wirkmodus sich insofern verändern, als sie dort „Bausteine des künftigen Wirtschaftsparlaments bzw.der Ständekammern" sein werden. Der Streik entfällt dann als Kampfmittel, weil der völkische Staat Gerechtigkeit für alle verbürgt und die Unternehmer und Arbeiter im Bewußtsein der Volksgemeinschaft ihre Probleme anstatt in Lohn-und Tarifkämpfen friedlich in Ständekammern und in einem zentralen Wirtschaftsparlament lösen werden. Mit solchen an Othmar Spanns Lehren angelehnten ständischen Perspektiven wird der NS anfangs der dreißiger Jahre sich in einer breiten Bewegung des „konservativen Protestes"
Wenn Hitler dennoch keine nationalsozialistischen Gewerkschaften aufbaut, dann tut er das aus mehreren Gründen nicht, zunächst aus der nüchternen Einschätzung der geringen Chancen, neben den anderen sich durchzusetzen. Eine nationalsozialistische Gewerkschaft sollte nach Hitlers Willen von vornherein auf Ausschließlichkeit eingestellt werden. Denn, so erklärt er mit Nachdruck, „eine nationalsozialistische Gewerkschaft neben anderen ist sinnlos. Denn auch sie muß sich durchdrungen fühlen von ihrer weltanschaulichen Aufgabe und der aus dieser geborenen
Verpflichtung zur Unduldsamkeit gegen andere ähnliche oder gar feindliche Gebilde und zur Betonung der ausschließlichen Notwendigkeit des eigenen Ich. Es gibt auch hier kein Sich-Verständigen und keinen Kompromiß mit verwandten Bestrebungen, sondern nur die Aufrechterhaltung des absoluten alleinigen Rechtes. ’
Die Gewerkschaften, auch die christlichen Gewerkschaften, waren von Natur sehr mißtrauisch gegenüber berufsständischen Ordnungsmodellen — nun noch solche Totalitätsansprüche für eine nationalsozialistische Gewerkschaft innerhalb einer berufsständischen Ordnung! Welche Hoffnungen konnten sich die Gewerkschaftsführer wohl noch machen, wenn sie diese Ausführungen lasen? Sie haben sie aber so wenig gelesen wie fast alle anderen Betroffenen auch. Wir brauchten also Hitlers Darlegungen deswegen kaum zu rekapitulieren, sie waren für die Gewerkschaftler keine Größe, der sie sich gestellt haben. Dennoch muß ein solches Versäumnis auch in diesem Zusammenhang einfach festgestellt werden. Darüber hinaus geht es aber vor allem darum, das nationalsozialistische Verständnis der Gewerkschaftsfrage uns vorzuführen, das sich an Hitlers Autorität orientierte. Wieviel skeptischer hätten die Gewerkschaftsführer erst werden müssen, wäre von ihnen wahrgenommen worden, was Hitler gegen Schluß seines Gewerkschaftskapitels als weiteren Grund für sein Zögern, eigene Gewerkschaften ins Leben zu rufen, angibt: die Über-zeugung nämlich, „daß es gefährlich ist, einen großen politisch-weltanschaulichen Kampf zu frühzeitig mit wirtschaftlichen Dingen zu verknüpfen. Denn hier wird in einem solchen Falle das wirtschaftliche Ringen sofort die Energie vom politischen Kampf abziehen. Sowie die Leute erst die Überzeugung gewonnen haben, daß sie durch Sparsamkeit auch zu einem Häuschen gelangen könnten, werden sie sich bloß dieser Aufgabe widmen und keine Zeit mehr erübrigen zum politischen Kampf..
Als historisches Beispiel für seine These führt Hitler dann die Novemberrevolution an, die, wie er richtig feststellt, nicht von den Gewerkschaften gemacht wurde, sondern sich gegen diese durchsetzte. Und er schließt den Gedanken ab mit dem aufschlußreichen Satz: „Es könnte dann leicht dahin kommen, daß gewerkschaftliche Momente die politische Bewegung lenkten, statt daß die Weltanschauung die Gewerkschaft in ihre Bahnen zwingt. * 44)
Es drängt sich uns die Erinnerung an Lenins These auf, daß die Arbeiterschaft aus eigenen Kräften nur zu einem gewerkschaftlichen Bewußtsein zu gelangen vermöge und deswegen der revolutionäre politische Wille von außen in sie hineingetragen werden müsse. Bei allem Antimarxismus, wie er zum Wesen des NS gehört, wird doch immer wieder eine politische Verwandtschaft sichtbar.
Mit dem Erscheinen des zweiten Teils von „Mein Kampf" war für die NSDAP zwar noch keine volle Klarheit in der Gewerkschaftsfrage gewonnen, doch war der gröbsten Unsicherheit, wie sie sich vordem gezeigt hatt, gesteuert. Sehr bald — 1927 — wurden, von Berlin augehend, nationalsozialistische Betriebszellen gegründet und von Reinhold Muchow, einem Idealisten und begabten Organisator, in einem später für die Reichsorganisation übernommenen Organisationsplan gegliedert. Die einheitliche Reichs-Betriebszellen-Organisation war aber erst im Januar 1931 geschaffen, nachdem im Laufe der sich steigernden Krise nunmehr auch ein stärkerer Zulauf von Arbeitern sich einstellte
Die Gründung der NSBO war nicht auf „Führerbefehl"
erfolgt, man trifft den Sachverhalt eher, wehn man sagt, sie sei von Hitler zugelassen, geduldet worden. Die Gewerkschaftsfrage War eben noch „nicht restlos gelöst"
Der Verband wurde straff hierarchisch nach dem Führer-und Gefolgschafts-System gegliedert wie alle anderen NS-Formationen auch. Sie war seit Mitte 1932 eine Hauptabteilung (VI) der Parteiorganisation, deren Leitung Gregor Strasser innehatte. Damals zählte die NSBO etwas mehr als 100 000 Mitglieder. Jeder in einem Industriebetrieb tätige Nationalsozialist war vorerst verpflichtet, der NSBO beizutreten, und hatte nach ihren Weisungen in seinem Betrieb Parteiagitation zu betreiben. So war die NSBO nicht etwa nur eine der Partei nahestehende, mit ihr gemeinsam operierende Organisation, sondern ein direktes Organ der Partei selbst, keine Gewerkschaft. Auch hier wird wieder eine Verwandtschaft, diesmal eine Verwandtschaft in der Methodik, mit dem kommunistischen Gegenpol erkennbar; die NSBO ist der kommunistischen „Revolutionären Gewerkschaftsopposition" (RGO) nicht unähnlich, wahrscheinlich dieser sogar direkt nachgebildet.
Entgegen späteren schematisierenden Vorstellungen war die NSBO jedoch nicht lediglich ein fremdgesteuertes, mechanisch bewegtes Gebilde, sie nahm im Betriebsalltag durchaus auch ernsthafte gewerkschaftlich-soziale Tendenzen auf, ihr Eigengewicht vergrößerte sich; ja, es wurden von den Gruppen um Gregor Strasser und Reinhold Muchow sogar Sozialrevolutionäre Pläne in sie eingebracht, die in ihrer seit 1931 bestehenden Wochenschrift „Arbeitertum" offen zum Ausdruck kamen, Das „liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem* sollte danach beseitigt, nach Absetzung der „Hyänen der Wirtschaft" die Großindustrie vergesellschaftet werden; die traditionellen Gewerkschaften sollten, ihrer alten Führung entledigt und zu einer Einheitsorganisation umgebaut, ein Pfeiler des schon in Hitlers Buch genannten Ständeparlaments werden. Der umerzogenen Arbeiterschaft gebührte nach der Intention dieser Kreise überhaupt die beherrschende Stellung im neuen Staat
Offenbar schien sich auch in Hitlers Augen der soziale Ballast seines Schiffes zu verstärken, das er vornehmlich vor dem nationalen Wind zu halten gedachte. Um bestimmte Befürchtungen bei den Unternehmern zu zerstreuen, erklärte er am 18. Mai, schon zwei Monate vor Hugenbergs Warnruf, vor einem Kreis von befreundeten Wirtschaftlern, daß er neben den Parteien auch die Gewerkschaften zu beseitigen gedenke
Bis dahin war die NSBO, die nach den März-wahlen getreu ihrem Gleichschaltungskonzept die Gewerkschaften durch gewaltsame Aktionen in ihre Hand bringen wollte, mehrfach zurückgepfiffen worden, zuletzt noch durch einen Erlaß der politischen Zentralkommission der NSDAP vom 7. April 1933, der von Rudolf Heß unterzeichnet war
Die Gewerkschaften in der Phase der Präsidialkabinette
Wenden wir uns nach diesem Exkurs wieder den freien und christlichen Gewerkschaften zu. Wir knüpfen an unsere Feststellung an, daß beide Gruppen mit einem ungefestigten Staatsverhältnis in die große wirtschaftliche und politische Krise hineingingen.
Die ansteigende Wirtschaftskrise nahm ihnen zunehmend Mitglieder, den freien Gewerkschaften einige Hunderttausend, den christlichen Gewerkschaften nahezu im gleichen Verhältnis einige Zehntausend; doch sind diese Zahlen unerheblich. Die sich vergrößernde Arbeitslosigkeit traf sie weitaus schwerer. Viele Gewerkschaftsangehörige waren bald ohne Arbeit
Zugleich mit solcher Belastung sahen sich die Gewerkschaften vor andere schwierige Probleme gestellt. Der Staat, dem sie in den zwanziger Jahren in der Gunst der Verhältnisse so viel sozialpolitische und wirtschaftliche Verantwortung zugebilligt hatten, — dieser Staat war in der Krise nunmehr zu einschneidenden sozialpolitischen Restriktionen gezwungen. Was sich einst günstig für die Gewerkschaften ausgewirkt hatte, etwa der staatliche Eingriff in Form der Schlichtung von Tarifauseinandersetzungen, was einst auch kräftig von den Gewerkschaften ausgenutzt worden war, begann sich nunmehr gegen ihre partikulären Interessen zu kehren. Ja, schließlich begannen sich unter der Kanzlerschaft Papens die sozialpolitischen Pläne der Staatsleitung von den gewohnten gewerkschaftlichen Vorstellungen erheblich zu entfernen, selbst das traditionelle Tarifrecht wurde in Frage gestellt. Was sollten in solcher Lage die Gewerkschaften tun? Ihr Operationsfeld war generell beschnitten, ihre Aktionsfähigkeit war zudem konkret gehemmt, außerdem war die Notlage der gesamten res-publica nicht zu übersehen.
Hatte man sich unter Brüning und seinen Notverordnungen noch durchlavieren können, die freien Gewerkschaften mit einigem Zähneknirschen, die christlichen Gewerkschaften mit weitreichendem Vertrauen für ihren ehemaligen Geschäftsführer (des DGB), so waren mit Papen die Gewerkschaften vor grundsätzliche Entscheidungen gestellt. Damit ist nicht der „Preußenschlag" Papens gemeint, ihn nahm die Gewerkschaftsführung entsprechend dem pragmatischen Gesetz der Bewegung und c’em Legalitätsprinzip ohne tiefere Konflikte hin; gemeint ist die Absicht Papens, u. a. die Stellung der Gewerkschaften im Staat neu zu ordnen. In der Interpretation der Notverordnung „zur Belebung der Wirtschaft" vom 4.
September 1932, nach der die Unternehmer die Tariflöhne unterschreiten durften, wurde den Gewerkschaften offiziell für diesen Fall das Streikrecht bestritten, ihnen die Friedenspflicht auferlegt im Interesse staatlich angegeordneter Maßnahmen zur Rettung des Gan-zen.
Das war die Entscheidungssituation! Dadurch, daß die freien Gewerkschaften auswichen — die christlichen stellten sich vorerst noch nicht —, und dadurch, daß die Regierung Papen sehr bald schon abgelöst wurde, war das grundsätzliche Problem nur aufgeschoben;
die unklare verfassungsmäßige Stellung der Gewerkschaften als privatrechtlicher Verbände mit öffentlich-rechtlichen Funktionen drängte jetzt nach einer Klärung.
In den gleichen Monaten stand das in den Erfahrungen der Krise geborene neue Wirtschaftsprogramm der freien Gewerkschaften, veröffentlicht im Juli 1932, zur Debatte. Die darin erhobene Forderung nach staatlicher Planwirtschaft
Auf keinen Fall ist der Präsidialcharakter der Regierung ein Hinderungsgrund für eine mögliehe Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften und Schleicher gewesen; der „Autoritätsgedanke" wurde von den Gewerkschaften sogar ausdrücklich gebilligt. Bei den christ-lichen Gewerkschaften war der Zug zum star-ken, über Parteien und Interessen stehenden, objektiven und schiedsrichterlichen Staat schon von jeher deutlich
Man hat gesagt, daß in den letzten Wochen vor dem Machtantritt Hitlers das abstrakte Staatsverhältnis der Gewerkschaften also ganz offenkundig vor aller Augen liege
Freilich darf man die Verbindlichkeit solcher Thesen nicht verabsolutieren. Die Geschichte, auch die der Gewerkschaften, ist kein Exercitium logicum. Es ist nicht nur gewerkschaftlicher Pragmatismus, der hier unvermischt zutage tritt; es kündigt sich hier auch ein Einverständnis zu politischen Reformen an, deren der funktionsunfähige Weimarer Staat bedurfte. Die demokratische Republik als Ganzes preiszugeben, dazu waren die Gewerkschaften gewiß nicht leichthin bereit, und das nicht nur aus egoistischen Interessen. Gerade in der Krise, in der dieser konkrete Staat nun auf dem Spiele stand, spürten sie doch stark, wie sehr sie in seiner Geschichte eingewurzelt waren. Das läßt sich ablesen daran, daß die freien Gewerkschaften ihren Kongreß im April 1932 bewußt im Reichstagsgebäude abhielten und diesen Kongreß mit einem dreifachen Hoch auf die Republik abschlossen; das läßt sich gut erkennen auch an der Rede Jakob Kaisers auf dem Düsseldorfer Kongreß der christlichen Gewerkschaften am 19. September 1932.
Ein letztes Stück Unsicherheit aber blieb, und am Ende ließ diese Unsicherheit gegenüber dem. konkreten Weimarer Staat dem gewerkschaftlichen Pragmatismus, der im Blick auf die Erhaltung der eigenen Wirkmöglichkeit gebannt war, die Zügel.
Das Ende der Gewerkschaften
Wer die Geschichte der Gewerkschaften verfolgt, kann sich nicht darüber wundern, daß diese sich nicht der Regierungsübernahme durch Hitler entgegenstellten. Dem, was die Spitzen-verbände aller Gewerkschaften am 28. Januar 1933 in einem gemeinsamen Telegramm an Hindenburg gefordert hatten, eine verfassungsmäßige Lösung der Krise nämlich, — dem war mit dem 30. Januar noch keineswegs widersprochen worden: Hitlers Regierung trat als Präsidialkabinett an wie die vorhergehenden auch. In dieser Weise registrierten die Gewerkschaften die Veränderung auch; der Aufruf der christlichen Gewerkschaften unterscheidet sich darum nicht wesentlich von dem anläßlich des Regierungsantritts Papens
Die Meinung Papens, Hitler und den Nationalsozialismus an der Kandare halten zu können, ist also augenscheinlich nicht nur Ausdruck einer subjektiven Selbstüberschätzung, sondern auch ein Indikator für allgemein atmosphärische Strömungen; das Selbstgefühl der Regierungsmacher findet jedenfalls eine höchst bemerkenswerte Entsprechung in der Lagebeurteilung der Gewerkschaften.
Der Aufruf der freien Gewerkschaften sah die politische Lage zwar als entscheidend verändert an, doch war nach ihm der „Ernstfall", für den man sich abwehrbereit halten wollte, noch nicht gegeben
Das Legalitätsdenken der Gewerkschaften darf nicht als Taktik oder Vorwand interpretiert werden. Es war ihrem Charakter tief eingeprägt und mußte sie dem skrupellosen Gegner gegenüber nahezu wehrlos machen. Als Beispiel für die weltentrückte Ebene, auf der die Gewerkschaften kämpften, sei der Brief genannt, den Leipart nach dem Aufruf Hitlers am 2. Februar 1933 an Hans von Nostiz, den ersten Vorsitzenden der Gesellschaft für soziale Reform, schrieb. Er bat in diesem Briefe von Nostiz darum, „Männer aus den gebildeten Schichten", Nationalökonomen und Historiker zu veranlassen, in einem Offenen Brief die geschichtlichen Lügen und Fälschungen der Hitlerschen Erklärung zurückzuweisen
An solche Hoffnungen klammerten sich die Gewerkschaften erst recht nach den Wahlen; jetzt sahen sie sich erst recht auf absolute Legalität verpflichtet.
Nun blieb nur noch der Weg der Anpassung. Die Gewerkschaften haben auf diesem Wege sehr weitgehende Zugeständnisse angeboten, um die Organisation und ihr soziales Mitwirkungsrecht zu retten. Sie hatten eine Weile Grund, auf eine ständische Ordnung der Dinge zu hoffen, in der ihnen ein Platz bleiben mochte. Schon vor Ende März rangen sie sich in diesem Zusammenhang die Anerkennung einer Staatsaufsicht und die Bereitschaft zu einer Arbeitsgemeinschaft mit den Unternehmern sowie den Verzicht auf jegliche politische Betätigung ab
All diese Versuche, im Spiel zu bleiben — so sehr sie einerseits in der Kontinuität einer lange angebahnten Entwicklung standen, sie trugen doch andererseits die Zeichen zunehmender Gehetztheit an sich. Hier von würdelosem Verhalten der Gewerkschaftsführer zu sprechen, ist verfehlt. Der nationalsozialistische Gegner operierte im Dunkeln und war nicht faßbar; er lavierte wohl auch selbst noch und entschied sich relativ spät, erst in der zweiten Märzhälfte. Demgegenüber haben die Gewerkschaftsführer nicht einmal ungeschickt reagiert, aber die Würfel waren endlich gegen sie gefallen
Das krampfhafte Betonen der nationalen Verdienste durch die freien Gewerkschaften wirkt wie das ängstliche Suchen nach einem nationalen Alibi. Es rächte sich jetzt, daß man die vielfachen Ansätze zur Entideologisierung und nationalen Bewußtseinsklärung nicht weit genug vorwärtsgetrieben hatte. Gerade hier setzte der Nationalsozialismus seinen Hebel nun an und sprengte unter dem Motto des Antimarxismus und der Klassenaussöhnung die immer noch starke Gewerkschaftsfrpnt auseinander. Die „Volksgemeinschaft" war eine wirksame Parole der sogenannten nationalen Erhebung, die nicht einfach als eine nationalsozialisti-sehe Stilisierung abgetan werden kann. So war es verteufelt geschickt von der nationalsozialistischen Führung, den 1. Mai zum großen Versöhnungsfest der Klassen zu machen, den alten Kampftag der Gewerkschaften zum Nationalen Feiertag zu erheben, um am Tage darauf den freien Gewerkschaftsverband als den überlebten Träger des überwundenen Klassenkampfes zu zerschlagen.
Es paßte gut in diesen Rahmen, wenn die Christlichen Gewerkschaften unter Hinweis auf ihren traditionellen nationalen Charakter
Gewerkschaftsbewegung und Widerstand
Mit dem Zusammenbruch der Gewerkschaftsbewegung fiel die ältere Generation ihrer leitenden Männer gänzlich in den Hintergrund. Weder Leipart noch Stegerwald haben im Widerstand eine Rolle gespielt
DHV, einem Freunde Brünings, einen bedeutsamen Kristallisationskern der Widerstandsbewegung bilden.
v Es ist nicht meine Absicht, die Geschichte dieser gewerkschaftlichen Gruppe und ihrer Planungen hier darzustellen; es sei nur noch ein kurzer Blick auf den geistigen Gehalt ihrer Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat gestattet.
Wie sich hier zeigt, zerstörte das äußere Ende der Gewerkschaften keineswegs die geistige Kontinuität, sondern entband den längst im Gange befindlichen geistigen Klärungsprozeß nun vollends.
Die Einheitsgewerkschaft, wie sie unter dem Druck der Verhältnisse im April 1933 von allen Gruppen gebilligt worden war, hatte sich in ihrer Charta zu drei Prinzipien bekannt: 1. Zur „Förderung eines gesunden Staates und Volkes" als der Basis auch des Arbeiterstandes, 2. zur Achtung und Anerkennung der,, religiösen Grundkräfte in ihrer staats-und gesellschaftsaufbauenden Bedeutung", 3. zur parteipolitischen Neutralität.
Diese von dem führenden Theoretiker der Christlichen Gewerkschaften, Theodor Brauer, entworfenen Grundsätze forderten von den freien Verbänden einen zwar nicht unvorbereiteten, aber dennoch recht gewaltsamen Sprung. Es ist sehr daran zu zweifeln, ob sie, wäre die Einheit unter diesem Zeichen damals realisiert worden, mit einem Schlage das ideologische Gepäck tatsächlich hätten abwerfen können, wie es hier von ihnen gefordert wurde. Die Gewichte der Geschichte wogen noch immer schwer, wie wir gesehen haben. Im Zusammenhang damit war es weiterhin zweifelhaft, ob die Christlichen Gewerkschaften ihre traditionellen Vorbehalte gegen die Vereinigung, die Befürchtung vor der Majorisierung durch die sozialistische Mehrheit, wirklich hätten aufgeben und schnell genug das Vertrauen hätten gewähren können, das für eine gedeihliche Zusammenarbeit unerläßlich war. Nach dem Kriege hat sich herausgestellt, wie stark die Spannungen innerhalb der unter neuen Bedingungen geschaffenen Einheitsgewerkschaft auch nach der Erfahrung des totalitären Staates noch waren. In dieser Hinsicht darf man m. E. vergleichen; im übrigen ist die Einheitsgewerkschaft nach dem Kriege aus mehreren Gründen keineswegs als Probe aufs Exempel der Widerstandspläne anzusehen.
Leuschner, Kaiser und Habermann, intensiv unterstützt von der klugen und mutigen Akademikerin Elfriede Nebgen, haben sich zwar gleich mit Beginn ihrer illegalen Zusammenarbeit spontan auf die gewerkschaftliche Einheit verschworen, aber durch die ganzen Jahre des gemeinsamen Wirkens hindurch richtet sich ihre Anstrengung auf die geistige Fundierung dieser Einheit, auf die alles ankam. Was sie selbst instinktiv als Notwendigkeit erfühlten, worin sie sich ihrer selbst auch sicher waren, das bedurfte gründlicher theoretischer Klärung und überzeugender Argumente. Nach mehrjährigem Tasten, nach vielen Gesprächen fanden sie schließlich 1938 in dem damals dreißigjährigen Österreicher Ludwig Reich-hold den Kopf, der die Erfahrung des Zusammenbruchs der Arbeiterbewegung und die des ständestaatlichen Experiments in Österreich eindringlich zu durchdenken begonnen hatte. Im engen Kontakt mit ihm wurde nunmehr das sich von Jahr zu Jahr vertiefende Erlebnis des totalitären Staates gedanklich analysiert und der Ort der Arbeiterschaft im Geschehen bestimmt. Die Argumentation Reich-holds wirkte auf den freigewerkschaftlichen Funktionär und Sozialdemokraten Leuschner so überzeugend, daß er sie zu der seinen machte. Sein Biograph
Ich schließe mit einem kurzen Überblick über einen zentralen Gedankengang dieses leben-digen gewerkschaftlichen Widerstandskreises
Der Zusammenbruch der Arbeiterbewegung ist ein Urteil der Geschichte über sie, die es nicht rechtzeitig vermocht hat, ihr klassenpolitisches Weltbild aufzugeben. Obwohl im Laufe von 100 Jahren faktisch zu einem integrierten Element der Gesellschaft geworden, stand die Arbeiterschaft in ihrer Terminologie noch immer jenseits der konkreten Gesellschaft und trachtete sie aufzuheben, um sie total auf sich hin zu ordnen. Die von der Arbeiterschaft so wesentlich mitverursachte Erstarrung einer geschichtswidrigen Klassengesellschaft hat Kräfte aus allen Schichten, auch aus dem „Proletariat" geweckt, die zum Faschismus übergingen in der Hoffnung, daß dieser die ungeschichtliche Klassengesellschaft überwinde. Sie haben sich über alle soziale Spaltung hinweg wieder als Volk gesucht, sie wollten sich wieder als Volk empfinden und organisieren. Der faschistische totalitäre Staat aber hat das Problem lediglich im Sinne der Mechanik gelöst, in der Gemeinschaften nicht zu leben, sondern nur zu funktionieren vermöchten. Der totalitäre Staat als das gewaltsame Ende der Klassengesellschaft gibt jedoch der Arbeiterschaft die Chance, sich ihrer selbst in der geschichtlichen Wirklichkeit endlich bewußt zu werden und ihre Aufgabe zu erkennen. Indem sie sich der Realität der Geschieh te, dem wirklichen Gehalt ihrer eigenen historischen Erfahrungen als Gewerkschaftsbewegung stellt, ist sie über den totalitären Staat hinausgeführt und wird einen wichtigen Platz in der künftigen, in Freiheit zu gliedernden Gesellschaft einnehmen. Auf keinen Fall darf es zu der in der Emigration gedachten bloßen Wiederherstellung vorfaschistischer Zustände kommen.
Im Blut des gescheiterten Aufstandes vom 20. Juli 1944 sind diese Gedanken und die darauf abgestellten — noch unzureichend be kannten — organisatorischen Planungen ei stickt worden. Die Geschichte hat sich ihnen versagt. Unsere Auseinandersetzung mit ihnen müßte erst noch beginnen.