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Das Parteiprogramm der SED | APuZ 17/1963 | bpb.de

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APuZ 17/1963 Das Parteiprogramm der SED aus politik und Zeitgeschichte Artikel 1

Das Parteiprogramm der SED

Alois Riklin

1. Am 6. Parteitag (15. — 21. 1. 1963) hat sich die SED nach 17jährigem Bestehen und nach drei mißglückten Versuchen ihr erstes Parteiprogramm gegeben.

2. Das Programm hält weitgehend die antiquierten Vorstellungen über den Kapitalismus formell aufrecht. Trotzdem, fügt man verschiedene kleine Mosaikstücke zusammen, scheinen sich doch die Konturen eines neuen, veränderten Kapitalismusbildes abzuzeichnen, welches das alte, verstaubte Bild allmählich übertönen könnte. Entsprechend dem Programm der KPdSU übernimmt das SED-Programm die Thesen von der Relativierung der Verelendungstheorie und von der Möglichkeit des zeitweiligen Wachstums der kapitalistischen Produktion. In Präzisierung des sowjetischen Programms verkündet das SED-Programm die These von der Vermeidbarkeit des Krieges zwischen den kapitalistischen Staaten. Im Gegensatz zum sowjetischen Programm warnt das Programm der SED vor einer Unterschätzung der Stärke des Kapitalismus, verzichtet es auf die These von der Beschleunigung des sozialistischen Aufbaus in den Volksdemokratien, scheut es sich vor der Prognose der unmittelbar bevorstehenden wirtschaftlichen Überrundung des kapitalistischen durch das sozialistische Welt-system und beschäftigt es sich ausführlich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 3. Das SED-Programm modifiziert die Formationstheorie, indem es die zweite Etappe des sozialistischen Aufbaus vorerst in zwei Unter-etappen zerlegt. Es fälscht die am 5. Parteitag (1958) in Angriff genommenen Ziele und steckt sie nachträglich zurück. Um trotzdem einen Erfolg melden zu können, erfindet die SED den neuen Begriff „endgültiger Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse". Genaugenommen müßte sich die SED zur Zeit in der zweiten Unteretappe der zweiten Etappe des sozialistischen Aufbaus befinden. Im Gegensatz zu den Beschlüssen des 5. Parteitags und zum nationalen Dokument wagt es die SED in ihrem Programm nicht mehr, vom „Sieg des Sozialismus in der DDR" überhaupt nur zu sprechen. Und im Gegensatz zum so

I. Ergebnis

VII. Anhang 1. Vergleich zwischen den Programmen der SED und der KPdSU: Einleitung:

wjetischen Programm wagt sie es nicht, den Abschluß der gegenwärtigen Etappe des sozialistischen Aufbaus terminmäßig festzulegen. 4. Während sich das SED-Programm im Gegensatz zum sowjetischen Programm in der Kritik des (jugoslawischen) Isolationismus zurückhält, nimmt es in der Auseinandersetzung Moskau—Peking, wenn auch ohne Namen zu nennen, eindeutig zugunsten der Sowjetunion Stellung.

INHALT I. Ergebnis II. Entstehung III. Vorläufer und Vorbilder IV. Ideologische Aspekte V. Außenpolitische Aspekte VI. Innenpolitische Aspekte VII. Anhang 5. Das außenpolitische Hauptziel der SED ist die internationale Anerkennung der „DDR" und die Legalisierung der Spaltung Deutschlands, Die SED empfiehlt die Legalisierung der Spaltung als ersten Schritt zur Aufhebung dei Spaltung. 6. Die Stellungnahme zum Berlinproblem ist nach Form und Inhalt zurückhaltend. Der Friedensvertragsvorschlag und die Berlinvorschläge werden weder in ultimativer Form noch als besonders dringlich noch überhaupt als eigentliche Forderungen vorgetragen. Die früher übliche Formulierung „Abschluß eines deutschen Friedensvertrages und Lösung der West-Berlin-Frage auf dessen Grundlage" ist weggefallen. Es wird nicht mit einem Separat-vertrag gedroht, noch wird überhaupt nur die Möglichkeit eines Separatvertrages angedeutet. Im Gegensatz zum nationalen Dokument ist nichts zu lesen von einer Entmilitarisie-rung, nichts von einer Neutralisierung West-Berlins. Und im Gegensatz zum nationalen Dokument wird die Behauptung, West-Berlin liege auf dem Territorium der „DDR", nicht wiederholt. Mit dieser Zurückhaltung wird offensichtlich der neuen Berlintaktik Chruschtschows der Weg geebnet. Trotzdem dürfte es sich nicht um einen endgültigen strategischen, sondern lediglich um einen zeitbedingten taktischen Rückzug handeln. Diese Deutung ergibt sich fast zwingend aus der bedeutsamen Äußerung Chruschtschows: Deutscher Friedensvertrag vor Abrüstung!

7. Das SED-Programm lehnt eine Wiedervereinigung vor dem Sieg der sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik kategorisch ab. Die sozialistische Revolution in der Bundesrepublik soll sich „friedlich", das heißt ohne Bürgerkrieg, nach dem Beispiel der „DDR“ vollziehen. Bis zur Wiedervereinigung empfiehlt das Programm für das Verhältnis zwischen „den beiden deutschen Staaten" den ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Klassenkampf in Form der friedlichen Koexistenz. Für die geeignetste Form der friedlichen Koexistenz in Deutschland hält die SED eine „Konföderation der beiden Staaten" unter eventueller Beteiligung West-Berlins. Im Gegensatz zum nationalen Dokument ist im SED-Programm die Möglichkeit, im Rahmen einer Konföderation eine „vernünftige Regelung" des innerdeutschen Reiseverkehrs zu begünstigen, nicht erwähnt. Bis zur sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik soll der vollständige Aufbau des Sozialismus und der allmähliche Über-gang zum Kommunismus „unabhängig von der Entwicklung im westdeutschen Staat" in Angriff genommen werden. Jedoch ist die radikale Rücksichtslosigkeit gegenüber der Entwicklung in der Bundesrepublik, die im nationalen Dokument kam, zum Ausdruck im SED-Programm eine abge um Nuance -schwächt.

8. Im Gegensatz zum Beschluß des 5. Parteitags (1958) und zum Siebenjahrplan 1959— 1965 ist im SED-Programm vom überflügeln der Bundesrepublik, von Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung und Preissenkung nicht mehr die Rede. Der Lebensstandard der Bundesrepublik und der Sowjetzone sind jetzt überhaupt keine vergleichbaren Größen mehr, weil der Lebensstandard der Zone nicht allein vom persönlichen Verbrauch, sondern zudem von den sozialistischen Errungenschaften bestimmt werde. Die neue Devise heißt: Bei gleichem Lohn und höheren Preisen mehr arbeiten!

9. Die Neueinschätzung des Kapitalismus, der Verzicht auf termingebundene Prognosen, die Verschiebung des Sieges des Sozialismus auf unbestimmte Zeit, die Zurückhaltung in der Berlinfrage, das Schweigen über den früheren Plan des wirtschaftlichen Überholens der Bundesrepublik, die meisten Abweichungen vom sowjetischen Programm — all das läßt sich auf eine einzige Wurzel zurückführen:

eine skeptischere, wenn auch durchaus nicht pessimistische Beurteilung der Potenz des sozialistischen Lagers im allgemeinen und der Sowjetzone im besonderen, zugleich eine realistischere, wenn auch durchaus nicht realistische Beurteilung der Zustände im „kapitalistischen Lager". Diese Verschiebung in der Lagebeurteilung ist nach einem Jahr außenpolitischer Mißerfolge für die Sowjetunion und wirtschaftlicher Rückschläge für die Sowjetzone verständlich.

10. Eine Folge dieser veränderten Lagebeurteilung ist die stärkere Herausstellung des Primats der Innenpolitik vor der Außenpolitik. Dies geht als Grundtendenz aus dem Programm deutlich hervor. Der Vorrang der Innenpolitik ergibt sich auch aus anderen Gründen, die nicht im Programm stehen. Die Machthaber der Sowjetzone sind ohne sowjetische Unterstützung so schwach, ihre Unpopularität bei der eigenen Bevölkerung so groß, ihre wirtschaftlichen Sorgen so überschattend, ihr Prestige im sozialistischen Lager so angeschlagen und ihr moralischer Ruf in der nichtkommunistischen Welt so verdorben, daß ihnen nur die Wahl bleiben kann, entweder die Zone wenigstens aus der wirtschaftlichen Misere zu befreien oder doch wohlverdiente zu noch das Schicksal Stalins erleiden. Ob das Programm der SED geeignet ist, die politische und wirtschaftliche Dauer-krise der Sowjetzone zu beheben, sei dahingestellt. Eines ist sicher: das Programm ist so düster, so bar jedes revolutionären Schwungs, so voll billigen Selbstlobs, überdrüssiger Wiederholungen, peinlichen Pathos'

und ermüdender Längen, daß es absolut ungeeignet ist, irgend jemanden zu begeistern, geschweige denn die Bevölkerung der Zone für das Regime der SED einzunehmen. Am 6. Parteitag hat sich die SED ihr erstes Parteiprogramm gegeben. Daß die SED fast siebzehn Jahre lang eine Partei ohne Programm war, erscheint auf den ersten Blick erstaunlich, wird aber bei einem Rückblick auf die Parteigeschichte verständlich.

Als die KPD nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründet wurde, hatte sie kein Interesse, ihre langfristigen Ziele in einem Programm bloßzulegen. Sie bemühte sich vielmehr, ihre eigentlichen Absichten hinter einem bürgerlich-demokratischen Anstrich zu verbergen. Der Gründungsaufruf vom Juni 1945 forderte dementsprechend die Vollendung der bürgerlich-demokratischen „Umbildung" (nicht Revolution!) von 1848 und verkündete verheißungsvoll, daß es nach Auffassung der KPD falsch wäre, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen.

Auch der 1. Parteitag (1946), an dem KPD und SPD zur Sozialistischen Einheitspartei vereinigt wurden, war nicht der geeignete Zeitpunkt, ein Parteiprogramm zu diskutieren, kam doch die Vereinigung ohnehin nur durch offenkundigen Zwang von Seiten der sowjetischen Besatzungsmacht zustande. Die im Dezember 1945 gebildete Studienkommission der beiden Parteien deren Aufgabe in der Klärung des Wesens und des Programms der Einheitspartei bestand, war anscheinend nicht in der Lage, ihren Auftrag auszuführen. Jedenfalls wählte der Parteitag eine neue Programmkpmmission, die bis zuni 2. Parteitag ein Programm vorlegen sollte In den „Grundsätzen und Zielen" die vom Vereinigungsparteitag verabschiedet wurden, blieb die Kernfrage des ideologischen Standorts der SED ungeklärt. Wenn im Parteiprogramm der SED nun behauptet wird, die Vereinigung sei auf marxistisch-leninistischer Grundlage vollzogen worden, so handelt es sich um eine Geschichtsfälschung. Die formelle Umformung der SED zu einer „Partei neuen Typus" auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus erfolgte erst auf der 1. Par-1) teikonferenz (1949), nachdem der ideologische Widerstand der ehemaligen Sozialdemokraten gebrochen war.

Auf dem 2. Parteitag (1947) wurde kein Programm vorgelegt. In der Entschließung des Parteitags hieß es, daß die „Grundsätze und Ziele" bis zur Schaffung eines Parteiprogramms weitergelten

Ein Vorstoß am 3. Parteitag (1950) verlief ebenfalls im Sande. Obwohl damals in einer Entschließung festgestellt wurde, daß die vom 1. Parteitag verabschiedeten „Grundsätze und Ziele" überholt seien und „die Grundsätze sowie das Ziel der Partei jetzt präzis formuliert werden" müßten wurde dem 4. Parteitag (1954) kein Programmentwurf vorgelegt. Die Gründe dafür, daß die Ausarbeitung eines Parteiprogramms bis 1958 stillschweigend ad acta gelegt wurde, sind leicht erkennbar: Der Aufstand vom 17. Juni 1953, der Tod und die Verurteilung Stalins, die Ereignisse in Ungarn und Polen, die Machtkämpfe und Säuberungen in Moskau und Pankow, die schwankend-unschlüssige sowjetische Deutschlandpolitik — all das stand einer Fixierung von verhältnismäßig langfristigen innen-und außenpolitischen Zielen im Wege.

Als der 5. Parteitag (1958) das Zentralkomitee der SED beauftragte, eine Programmkommission einzusetzen und bis zum 6. Parteitag einen Programmentwurf vorzulegen lagen die Dinge auf Grund der innerparteilichen Stabilisierung und der zielbewußten außenpolitischen Aktivität günstiger, um so mehr, als auch die KPdSU nach langem Zögern ein neues Parteiprogramm vorbereitete, die SED folglich mit einem unverfänglichen, von höchster Stelle autorisierten Muster rechnen konnte.

Dieses Musterprogramm wurde im Oktober 1961 vom XXII. Parteitag der KPdSU angenommen. Ein Jahr später billigte das Zentralkomitee der SED an seiner 17. Tagung (3. — 5.

II. Entstehung 10. 1962) den Entwurf des SED-Programms 8) .

Abbildung 2

Im Gegensatz zum Entwurf des neuen Parteistatuts 9), den das Zent 1962) den Entwurf des SED-Programms 8) .

Im Gegensatz zum Entwurf des neuen Parteistatuts 9), den das Zentralkomitee an der gleichen Tagung genehmigte, wurde der Programmentwurf vorerst nicht veröffentlicht. Noch einmal hatten sich in letzter Minute Schwierigkeiten eingestellt: der chinesischindische Grenzkrieg, die Kubakrise und die noch andauernden Diskussionen in Moskau über die Reform der Wirtschaftslenkung. Erst nachdem sich die Entwicklung in Kuba und in Asien einigermaßen übersehen ließ, nachdem Ulbricht nochmals mit Chruschtschow persönlich in Moskau Besprechungen geführt (Anfang November) und nachdem das Novemberplenum des Zentralkomitees der KPdSU zur Frage der Wirtschaftslenkung Stellung genommen hatte (19. 1962), wurde der Programmentwurf am 23. 11. 1962 mit siebenwöchiger Verspätung veröffentlicht 10). Die „große Volksbefragung", die-der Veröffentlichung eines solchen Dokuments sonst regelmäßig zu folgen pflegt, blieb diesmal anscheinend aus. Mindestens wußten die sowjetzonalen Zeitungen, denen man zugute halten darf, daß sie in solchen Dingen bestimmt nicht unbescheiden sind, beinahe nichts über Diskussionen zu berichten. Am 18. 1. 1963 verabschiedete der 6. Parteitag der SED das Programm. Der endgültige Text wurde am 25. 1. 1963 veröffentlicht 11). Er weist im Vergleich zum Entwurf gegen hundert zum Teil nicht unwesentliche Änderungen auf. Stärkere Berücksichtigung erfahren in der endgültigen Fassung die Jugend (4 Zusätze), die Frauen (3 Zusätze) und der Sport (3 Zu-sätze). Der Terminus „Mittelschicht" zur Bezeichnung einer bestimmten soziologischen Gruppe wurde ausgemerzt (2 Änderungen).

Neu ausgenommen wurde ein Absatz über die „Hauptreserven" der Volkswirtschaft, die Forderung nach einheitlicher Leitung der Forschung sowie das Postulat nach Mitverantwortung der Handelsorgane für die Qualität der Produktion und umgekehrt der Produzenten für den Absatz der Waren. Neu ist ferner die Erwähnung der im Spreewald ansässigen Sorben als Aushängeschild für die Gleichberechtigung einer nationalen Minderheit in der Sowjetzone und umgekehrt der Vorwurf an die Adresse der deutschen „Großbourgeoisie", nationale Minderheiten unterdrückt zu haben. Der Absatz über die staatliche und gesellschaftliche Kontrolle wurde neu formuliert, wobei in der endgültigen Fassung die Mißstände, die durch die Kontrolle bekämpft werden sollen, beim Namen genannt werden, nämlich: Bürokratismus, Schönfärberei, Berichtsfälschung, Vergeudung gesellschaftlichen Eigentums und Amtsmißbrauch. Neu formuliert wurde ferner fast der ganze Abschnitt über die sozialistische Rechtsordnung. Dabei fällt vor allem auf, daß der gegen alle Regimegegner gerichtete, pauschale Strafverschärfungsgrund, der solange gelten sollte, als die westdeutschen „Imperialisten mit aggressiven Handlungen und verbrecherischen Störmaßnahmen" gegen das Zonenregime aufträten, in der endgültigen Fassung gestrichen wurde. Weitere Änderungen finden an anderen Stellen dieser Analyse Erwähnung»

III. Vorläufer und Vorbilder

Abbildung 3

Wenn die SED bisher auch kein eigentliches Programm besaß, so gibt es doch programmähnliche Erklärungen und Beschlüsse, die als Vorläufer des neuen Programms bezeichnet. werden können. Dazu zählen vor allem die bereits erwähnten „Grundsätze und Ziele" von 1946, die übrigens im Programm erwähnt sind, aber auch die Beschlüsse der 1. und 2. Parteikonferenz (1949/1952) und des 5. Parteitags (1958).

Betrachtet man die SED als Nachfolgeorganisation der KPD, was zwar nicht dem Namen, wohl aber der Sache nach zweifellos zutrifft, so müssen auch die Progiamme der KPD von 1919 und 1930 sowie der bereits erwähnte programmatische Gründungsaufruf vom 11. 6. 1945 als Vorläufer bezeichnet werden.

Als Vorbild für das Programm der SED diente, wie bereits erwähnt, das dritte Programm der KPdSU von 1961 Ein Vergleich zwischen diesen beiden Dokumenten beweist, daß sich die SED nicht nur im Aufbau (cf. An-hang 1), sondern sehr oft auch durch wortgetreues Abschreiben fast sklavisch an das sowjetische Muster gehalten hat. Es ist da-her nicht verwunderlich, wenn im neuen Statut der SED die „internationale Gültigkeit" des sowjetischen Programms — des „komUnterschiede Manifests des 20. Jahrhunderts", wie es im SED-Programm heißt — verankert ist. Allerdings gibt es auch Unterschiede, — innenpolitischer Art, die im Vor-Unterschiede, der Sowjetunion beim Aufbau des Kommunismus gründen, — Unterschiede außenpolitischer und ideologischer Art, die darauf zurückzuführen sind, daß die Zeit seit der Verkündung des sowjetischen Programms nicht stehen geblieben ist —, schließlich die als „nationale Besonderheiten", mitunter vielleicht aber auch als Meidiese gelten können. Soweit Unterschiede erwähnenswert erscheinen, werden sie in den folgenden systematischen Teil der Analyse eingearbeitet. Gerade weil sich die SED so sklavisch an das sowjetische Muster gehalten hat und die Unterschiede folglich kaum zufällig sein können, wird es vielleicht doch aufschlußreich sein, die Nuancen der Formulierungsunterschiede aufzuspüren.

Abgesehen vom Parteiprogramm der KPdSU anerkennt die SED im Programm auch die

Verbindlichkeit der Beschlüsse der beiden Kommunistenkonzile von 1957 und 1960.

Eine gewisse Doppelspurigkeit ergibt sich aus dem Nebeneinanderbestehen des soge-nannten nationalen Dokuments von 1962

und des Programms der SED. Nun ist zwar das nationale Dokument das gemeinsame Programm aller in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Parteien und Massenorganisationen der SBZ, während das SED-Programm für eine dieser Parteien bestimmt ist. Doch dieser Unterschied ist im Kern lediglich formaler Natur, was schon daraus hervorgeht, daß der „Gesetzgeber" in beiden Fällen das Zentralkomitee der SED ist. Das nationale Dokument ist das Programm der SED für die Nationale Front, die von der SED gelenkt wird. Soweit sachliche Unterschiede zwischen den beiden Dokumenten bestehen, werden sie ebenfalls in den folgenden systematischen Teil der Analyse eingearbeitet. Ähnlich wie das sowjetische Programm der SED als Vorbild diente, so dürfte das SED-Programm der illegalen KP in der Bundesrepublik als Vorbild dienen Vorerst hat die KPD für das Jahr 1963 eine „programmatische Erklärung" angekündigt.

IV. Ideologische Aspekte

3. Schematische Darstellung des sowjetischen Entwicklungsmodells:

1. Neueinschätzung des Kapitalismus: Obwohl das SED-Programm weitgehend die antiquierten Vorstellungen über den Kapitalismus übernimmt und ihm nach wie vor jede Chance zum überleben kategorisch abspricht, enthält es doch auch einige Ansätze, die auf eine etwas realistischere Beurteilung des Kapitalismus hindeuten. So wird die These bestätigt, daß die Verelendung des Proletariats unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht absolut zu sein brauche. Bestätigt wird ferner das Zugeständnis, daß die Produktivkräfte trotz des Niedergangs des kapitalistischen Systems nicht völlig stillstehen und daß die kapitalistische Produktion in bestimmten Zeitabschnitten wachse. Beide Thesen, die Relativierung der Verelendungstheorie wie die Möglichkeit des Wachstums der kapitalistischen Produktion, sind 1959 in die Sowjetideologie eingegangen und auch im sowjetischen Parteiprogramm festgehalten. Im Vergleich zum Programm der KPdSU geht jedoch das SED-Pro-gramm um eine Nuance weiter, indemS von der Möglichkeit des raschen Wachstums der kapitalistischen Produktion spricht und davor warnt, die Stärke des Kapitalismus zu unterschätzen:

„Es wäre verkehrt, die Kraft des Imperialismus und seine Fähigkeit zu unterschätzen, an bestimmten Abschnitten der ökonomischen Kampffront aktiv anzugreifen." Von einer solchen Warnung ist im sowjetischen Parteiprogramm nichts zu lesen. Andererseits ist das SED-Programm bei der Beurteilung des Fortschritts im sozialistischen Lager skeptischer als das sowjetische, indem es erstens die These, daß sich der Aufbau des Sozialismus in den Volksdemokratien kraft Existenz der Sowjetunion beschleunige, und zweitens die Prognose, daß das sozialistische Weltsystem „schon in nächster Zeit das kapitalistische Weltsystem im Gesamtumfang der Industrie-und Agrarproduktion"

überholen werde, nicht übeinimmt.

Es scheint, daß diese Neueinschätzung des Kapitalismus und deren Rückwirkung auf das sozialistische Lager sehr stark von der EWG-Diskussion her beeinflußt ist. In der Tat beschäftigt sich das SED-Programm ziemlich ausführlich mit der EWG, während sie den Verfassern des sowjetischen Programms noch nicht erwähnenswert erschien. Das SED-Programm ist ein neues Indiz dafür, daß der EWG-Schreck den Kommunisten seit einem Jahr ziemlich tief in den Knochen sitzt. Im wesentlichen bestätigt es die Thesen, die am 26. 8. 1962 in der Prawda veröffentlicht wurden Die EWG wird als eine internationale staatsmonopolistische Organisation, als ein Instrument des Neokolonialismus, als ökonomische Basis der NATO in Westeuropa, als ein gegen das sozialistische Weltsystem gerichtetes Unternehmen, vor allem nachdrücklich aber — wie könnte es anders sein! — als ein Instrument der westdeutschen Monopolisten zum Ausbau ihrer politischen, ökonomischen und militärischen Hegemonie über Westeuropa geschildert. Die EWG sei ein Beispiel für den Mißbrauch der objektiven, durch die hohe Entwicklung der Produktivkräfte bedingten Tendenz zur Internationalisierung des Wirtschaftslebens. Während das sowjetische Programm die Hauptwidersprüche innerhalb des kapitalistischen Lagers noch zwischen einzelnen Staaten sieht, wird jetzt ein neuer Widerspruch entdeckt: der Widerspruch zwischen den USA und Europa. Die Quelle dieses neuen und tiefen Widerspruchs sei der Tatbestand, daß sich das ökonomische Potential Westeuropas demjenigen der USA nähere. Interessant ist aber vor allem die These, die EWG und andere internationale staatsmonopolistische Organisationen seien nunmehr die Hauptform der imperialistischen Auseinandersetzung um die Aufteilung des kapitalistischen Weltmarktes, „da ein Krieg zwischen den führenden imperialistischen Mächten angesichts der Stärke des sozialistischen Weltsystems und aller Friedenskräfte in der Welt die Existenz des Imperialismus überhaupt in Frage stellen würde".

Die These von der Vermeidbarkeit der Kriege zwischen kapitalistischen Staaten ist zwar nicht neu; denn sie ist in den Chruschtschow'

schen Thesen von der Vermeidbarkeit des atomaren Weltkriegs und des lokalen Kriegs mitenthalten. Die Auseinandersetzung um die Chruschtschow-These beschränkte sich jedoch bisher auf die Frage, ob Kriege zwischen kapitalistischen Staaten vermeidbar seien. Im SED-Programm ist nun erstmals ausdrücklich von der Vermeidbarkeit des Krieges zwischen kapitalistischen Staaten die Rede. Im Programm der KPdSU hieß es lediglich, daß die Partei gegen Kriege zwischen den kapitalistischen Staaten sei. Aus der Spätschrift Stalins

geht hervor, daß diese Frage bereits zu Beginn der fünfziger Jahre in Moskau diskutiert wurde. Stalin hat damals (1952) die Genossen zurechtgewiesen und kategorisch verkündet, daß Kriege zwischen den kapitalistischen Staaten unvermeidlich seien.

Im Widerspruch zur Lehre von der Vermeidbarkeit des Krieges hieß es im Programmentwurf, die westdeutschen Monopolkapitalisten setzten sich Ziele, „die zum Krieg führen müssen".

Und an einer anderen Stelle wurde der westdeutschen Außenpolitik vorgeworfen, einen Kernwaffenkrieg zu riskieren, „der für die Bevölkerung Westdeutschlands unvermeidlich zur nationalen Katastrophe werden muß". In der endgültigen Fassung des Programms sind diese „chinesischen" Häresien im Sinne Chruschtschows korrigiert.

Man fragt sich, ob es auf lange Sicht möglich ist, an der Peripherie der Ideologie herumzuflicken und früher einmal „unfehlbare" Glaubenssätze zurechtzustutzen, ohne das Wesen der Imperialismustheorie anzutasten und das Unfehlbarkeitsdogma in Frage zu stellen. So oder so läßt sich aber der Verlust an Glaubwürdigkeit kaum vermeiden.

2. Modifizierung der Formationstheorie:

Man geht kaum fehl, die Formationstheorie als eine der schwächsten Stellen der Sowjetideologie zu betrachten. Diese Feststellung trifft vor allem auf die beiden letzten Formationen, die kapitalistische und die sozialistischkommunistische, zu. Der Grundirrtum liegt nach Boris Meissner darin, daß — entgegen den Vorstellungen von Marx — Herrschaft nicht ein Unterfall des Eigentums an Produktionsmitteln ist, daß sich der Zustand der Herrschaftslosigkeit nicht mittels einer Übergangsdiktatur herstellen läßt und daß durch Vereinfachung der Arbeitsverrichtungen der Staat noch nicht entbehrlich wird. Die Entwicklung des Sowjetstaates selbst hat das Dilemma zwischen Utopie und Realität, das sich notwendigerweise aus diesem Grundirrtum ergeben mußte, aufgezeigt. Aber die Ideologen haben das Dilemma nicht gelöst, indem sie die Utopie aufgaben, sondern sie haben immer neue Vorbedingungen für die Verwirklichung der kommunistischen Idealgesellschaft erfunden oder aber den Schein als Wirklichkeit vorgegeben. Sie haben unter anderem die beiden letzten Formationen in Phasen und Etappen aufgeteilt und waren so in der glücklichen Lage, von Zeit zu Zeit Erfolgsmeldungen durchzugeben. Wenn wir uns hier mit dieser Frage beschäftigen, so geschieht es einerseits deshalb, weil das SED-Programm ohne Kenntnis der Phasenlehre unverständlich ist, anderseits aber auch, weil verschiedene Kommentatoren die Ansicht vertreten haben, die SED hätte eine neue Etappe erfunden.

Die Unterteilung der kapitalistischen Formation bietet, so wie sie das SED-Programm vornimmt, nichts Neues. Der Kapitalismus durchläuft danach zwei Stadien, zunächst das Stadium des vormonopolistischen Kapitalismus, dann das Stadium des Imperialismus. Der Imperialismus wird als höchste und letzte Stufe des Kapitalismus bezeichnet und in zwei Etappen aufgeteilt, die Etappe des Monopolkapitalismus und die Etappe des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Laut Programm ist . Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg in die letzte Etappe eingetreten. In Überschneidung zu dieser ersten Gliederung wird die allgemeine Krise des Kapitalismus in drei Etappen aufgeteilt. Das SED-Programm stellt — entsprechend dem sowjetischen Programm — fest, daß die Krise des Kapitalismus bereits in die dritte Etappe eingetreten sei. In beiden Programmen ist die Charakterisierung dieser dritten Etappe ebenso nebulös wie die zeitliche und sachliche Abgrenzung von der zweiten Etappe. Nachdem der Beginn der ersten Etappe der Krise des Kapitalismus mit der Entstehung des Sowjet-staates und der Beginn der zweiten Etappe mit der Entstehung des sozialistischen Lagers angesetzt wird, bietet sich den Ideologen am ehesten das Ende der kapitalistischen Einkreisung (verkündet 1958) und der endgültige Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion (verkündet 1959) als Anfangstermin der dritten Etappe an.

In Übereinstimmung mit dem sowjetischen und im Widerspruch zum jugoslawischen Programm lehnt die SED die Möglichkeit einer friedlichen Evolution vom Kapitalismus zum Sozialismus ab. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus sei nur durch Revolution möglich.

Die kommunistische Formation wird in zwei Phasen aufgeteilt: die Phase des Sozialismus, in der das Leistungsprinzip gilt, und die Phase des Kommunismus, in der das Bedürfnisprinzip gilt. Der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus soll sich allmählich, das heißt nicht revolutionär vollziehen. Er soll in allen sozialistischen Ländern „mehr oder weniger gleichzeitig" vor sich gehen. Die letzte Prognosewird allerdings durch den beliebig dehnbaren Zusatz „innerhalb einer historischen Epoche" mehr oder weniger aufgehoben. Das SED-Programm anerkennt die Sowjetunion als Entwicklungsmodell für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus in allen sozialistischen Ländern. Dabei sind jedoch — laut SED-Programm — sowohl beim Aufbau des Sozialismus als auch beim Aufbau des Kommunismus nationale Besonderheiten zu berücksichtigen. Im einzelnen lassen sich aus dem Programm der SED folgende Etappen des sozialistischen Aufbaus in der SBZ herauskristallisieren:

1949— 1950 Antifaschistisch-demokratische Ordnung.

1951— 1957 Schaffung der Grundlagen des Sozialismus.

1958 Grundlagen des Sozialismus geschaffen.

1958— 1962 Ausbau der ökonomischen Basis, Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse. (Der Entwurf des neuen Statuts der SED verwendet — entsprechend dem Siebenjahrplangesetz von 1959 und im Gegensatz zum Programm — den Terminus: entfalteter Aufbau des Sozialismus).

1962 Endgültiger Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse. 1963—? Vollständiger und umfassender Aufbau des Sozialismus. In dieser Darstellung stecken zwei Unkorrektheiten:

1. Der Beschluß, mit der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus zu beginnen, wurde — wie auch der Beschluß des 5. Parteitags (1958) nochmals bestätigte — anläßlich der 2. Parteikonferenz im Juli 1952 gefaßt

Im Programm wird nun der Beginn der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus zeitlich mit dem Anlaufen des ersten Fünfjahrplans in Übereinstimmung gebracht, also um eineinhalb Jahre vordatiert. 2. Der 5. Parteitag (1958) beschloß, durch die „Vollendung" des sozialistischen Aufbaus den Sozialismus zum „Sieg" zu führen Auch das nationale Dokument sprach noch von „Vollendung" und „Sieg" des Sozialismus. Das Programm jedoch gibt der Etappe, die auf die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus folgte, einen anderen Namen. Es verschweigt, daß die Partei von 1958 bis 1962 „vollenden" und „siegen" wollte. Es steckt die Ziele des 5. Parteitags nachträglich auf „festigen", „ausbauen" und „entfalten" zurück.

Man ist geneigt, dieses Jonglieren mit Begriffen als Spiegelfechterei und nichts weiter abzutun. Aber man würde dabei übersehen, wie wichtig die hinter dem Parteijargon verborgenen Tatbestände im Selbstverständnis der Kommunisten sind. Und man würde sich vielleicht eine Chance entgehen lassen, daraus wertvolle Rückschlüsse auf das Prestige der „DDR" im sozialistischen Lagerund auf ihre Abhängigkeit von der Sowjetunion abzuleiten. Was uns hier vor allem interessieren muß, ist die Frage, ob die SED tatsächlich eine neue Etappe erfunden hat, indem sie sich im Programm den „vollständigen und umfassenden Aufbau des Sozialismus" zum Ziel setzt. Ein Vergleich mit dem sowjetischen Entwicklungsmodell (cf. Anhang 2 und 3) zeigt, daß der Terminus „vollständiger und umfassender Aufbau des Sozialismus" tatsächlich neu ist. Doch aus der unterschiedlichen Benennung allein kann noch nicht auf die Einführung einer neuen Etappe geschlossen werden, da die Perioden vor und nach dem Sieg des Sozialismus im sozialistischen Lager nicht einheitlich bekannt werden. Da in der Sowjetzone zwar die Verwirklichung der sozialistischen Grundlagen, noch nicht aber der Sieg des Sozialismus verkündet wurde, muß angenommen werden, daß sich die Sowjetzone in jener Periode befindet, die im sowjetischen Modell als zweite Etappe des sozialistischen Aufbaus gilt. Neu ist deshalb nur, daß das Programm und das Statut der SED diese Periode in zwei — sagen wir einmal — Unteretappen aufteilt: eine erste, in der „gefestigt" und „ausgebaut"

(bzw. „entfaltet") wird, und eine zweite, in der „vervollständigt" und „umfaßt" wird.

Einige Kommentatoren haben eine Analogie zwischen den Programmen der KPdSU und der SED sehen wollen, insofern das sowjetische Programm den „umfassenden Aufbau des Kommunismus" und das SED-Programm den „umfassenden Aufbau des Sozialismus" zum Ziele habe. Das ist nicht richtig. Abgesehen davon, daß im Selbstverständnis der Sowjetideologen eine Analogie zwischen der ersten Etappe des kommunistischen Aufbaus und der zweiten Unteretappe der zweiten Etappe des sozialistischen Aufbaus kaum bestehen dürfte, liegt ein Übersetzungsfehler vor. Sämtliche deutschen Textausgaben des sowjetischen Parteiprogramms — die westlichen wie die östlichen — übersetzen nämlich den eindeutigen Ausdruck razvernutoe irrtümlich mit „umfassend", statt mit „entfaltet". Der Fehler läßt sich schon 1958 feststellen, als Chruschtschow erstmals vom „entfalteten Aufbau des Kommunismus" sprach

Der Grund, weshalb die SED eine neue „Unteretappe" einführte, liegt auf der Hand. Sie hatte am 5. Parteitag den Mund zu voll genommen, indem sie den Sieg des Sozialismus und die wirtschaftliche Überrundung der Bundesrepublik unmittelbar in Aussicht stellte. Sie mußte am 6. Parteitag ein neues Ziel verkünden, um nicht von den unerreichten Zielen zu sprechen. Und sie mußte einen Erfolg mel-den. Diese Erfolgsmeldung bestand in der Verkündung des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse, und zwar des endgültigen Sieges. Endgültiger Sieg bedeutet die Irreversibilität des Sieges, das heißt, es ist für die Kapitalisten unmöglich, das Rad zurückzudrehen. Endgültiger Sieg bedeutet nicht vollständiger Sieg, womit die umfassende Verwirklichung im Innern angesprochen wird, ohne daß dafür die definitive Absicherung nach außen notwendig ist. Wie die Sowjetunion im Jahre 1936 den vollständigen und im Jahre 1959 den endgültigen Sieg des So-zialismus verkündete, so meldet die SED den endgültigen, noch nicht aber den vollständigen Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Das SED-Programm gibt keine klare Auskunft, wieso der Sieg des Sozialismus noch nicht verkündet werden konnte, überhaupt ist auf Grund des gegenwärtigen Standes der Formationstheorie nicht ganz klar, an welche Voraussetzungen der Sieg des Sozialismus im einzelnen gebunden ist. Sicher ist, daß zu diesen Voraussetzungen die Vollkollektivierung der Landwirtschaft und die — zumindest annähernd — vollständige Einführung sozialistischer Eigentumsformen in der gesamten Volkswirtschaft gehört. Beide Voraussetzungen sind in der Sowjetzone noch nicht erfüllt: In der Landwirtschaft wird zwar der größte Teil des Grund und Bodens gemeinsam durch Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) bewirtschaftet, die Produktionsmittel (Boden, Geräte, Maschinen, Vieh) sind jedoch erst teilweise vergesellschaftet; 15 Prozent des gesellschaftlichen Gesamtprodukts werden — laut Programm — noch nicht unter sozialistischen Produktionsverhältnissen geschaffen. Einen Grund nennt das Programm selbst, wenn auch nur andeutungsweise: den passiven Widerstand der Bevölkerung. Das Programm stellt nämlich fest, daß die Überreste alter Ideologien usw. unter den Bedingungen einer gespaltenen Nation länger erhalten bleiben, daß aber die ideologisch-politisch-moralische Geschlossenheit des ganzen Volkes Voraussetzung für die Verwirklichung des umfassenden sozialistischen Aufbaus sei. Als in einer der seltenen Diskussionen über das Parteiprogramm diese Frage angeschnitten wurde war die Antwort, Voraussetzung für den Sieg des Sozialismus in der „DDR" sei das allseitige Überholen des Kapitalismus in der Arbeitsproduktivität. Diese Begründung steht im Widerspruch zu dem Tatbestand, daß kein Land, in dem der Sieg des Sozialismus bisher verkündet wurde, vorher irgend jemanden wirtschaftlich überholen mußte. Im SED-Programm findet diese Begründung keine Stütze.

Dort heißt es lediglich, daß die materielle Basis für den mehr oder weniger gleichzeitigen Übergang der sozialistischen Länder zum Aufbau des Kommunismus (nicht zum Sieg des Sozialismus!) darin bestehe, die kapitalistischen Länder im absoluten Umfang der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion zu überflügeln.

Wie dem auch sei: jedenfalls ist die Verkündung des Sieges des Sozialismus für die SED zur Prestigefrage geworden, nachdem dies in drei Volksdemokratien, darunter ausgesprochene Entwicklungsländer — nämlich in Bulgarien (1959) in der CSSR (1960) und in Rumänien (1960) — bereits geschehen ist. Um so mehr fällt auf, wie vorsichtig das Programm diese Frage umgeht. Man hat den Eindruck, daß irgend jemand mit dem Rotstift das Programm bearbeitet hat und überall dort, wo sinn-und traditionsgemäß vom Siege des Sozialismus die Rede sein sollte, diesen Begriff gestrichen hat. Der Ausdruck „Sieg des Sozialismus in der DDR’ " kommt jedenfalls im Programm — im Gegensatz zum nationalen Dokument — kein einziges Mal vor, — was als Beweis dafür gelten kann, daß es sich um ein heißes Eisen handelt. Erst recht fehlen Termine, bis zu denen der umfassende Aufbau des Sozialismus abgeschlossen oder der Sieg des Sozialismus verkündet werden soll. Die Ziele, die 1958 noch so nah winkten, sind in unbestimmte Ferne entrückt worden. Im Gegensatz zum sowjetischen Programm, das die Überflügelung der USA in der gesamten Pro-Kopf-Produktion bis zum Jahr 1970 und die Verwirklichung der Grundlagen des Kommunismus bis zum Jahr 1980 verspricht.

3. Kampf gegen Häretiker und Schismatiker Im Vergleich zum sowjetischen Programm wird dieser Aspekt im SED-Programm nur am Rande gestreift. Natürlich enthält es allgemeine Floskeln über den Kampf für die Einheit des sozialistischen Lagers und gegen Dogmatismus, Revisionismus, Sektierertum und Nationalismus. Auffallend ist, daß die gegen Jugoslawien gerichtete These, daß der isolierte, von der Weltgemeinschaft der sozialistischen Länder losgelöste Aufbau des Sozialismus unmöglich sei, im SED-Programm nicht übernommen ist, — ein Unterschied, der die im vergangenen Jahr vorangetriebene Annäherung zwischen Moskau und Jugoslawien widerspiegelt. Entsprechend dem sowjetischen Programm fehlen direkte Angriffe auf bestimmte sozialistische Länder. Die Stellungnahme für Moskau und gegen Peking schimmert jedoch an verschiedenen Stellen mittelbar durch, in den überschwenglichen Lobeshymnen auf die Sowjetunion und in der Anerkennung der Führerstellung Moskaus. Das Programm bezeichnet die Sowjetunion als das „Bollwerk des Marxismus-Leninismus", als „Prüfstein für die Politik der kommunistischen und Arbeiterparteien und der sozialistischen Länder". Weg und Ziel der Sowjetunion bedeute „Leninismus in Aktion".

V. Außenpolitische Aspekte

Das SED-Programm geht von der im Ostblock zur Zeit gültigen außenpolitischen Lagebeurteilung aus, wonach sich das internationale Kräfteverhältnis zugunsten des sozialistischen Lagers verschoben hat.

Das Hauptgewicht der außenpolitischen Teile des Programms liegt auf der deutschen Frage. Als Hauptziel der Außenpolitik der SED erweist sich die internationale Anerkennung der „DDR". Dieses Ziel steht hinter den Vorschlägen zur Berlinfrage, zur deutschen Frage und zur Gestaltung der Beziehungen mit den „kapitalistischen" Staaten sowie den Entwicklungsländern. Dieses Ziel kommt schließlich auch im „Anspruch" auf Mitwirkung der „DDR" in den Vereinten Nationen zum Ausdruck. 1. Berlin Zur Lösung der Berlinfrage schlägt das SED-Programm die Beseitigung der „NATO-Stützpunkte" in West-Berlin, die Aufhebung des Besatzungsregimes in West-Berlin und die Umwandlung West-Berlins in eine Freie Stadt vor. Zusammen mit dem Abschluß eines deutschen Friedensvertrages würde die Verwirklichung dieser drei Vorschläge laut Programm „günstige Voraussetzungen für eine Annäherung der beiden deutschen Staaten", das heißt für die Anerkennung der „DDR" durch dieBundesrepublik, schaffen. Das Programm schlägt ferner die Herstellung eines Minimums von korrekten Beziehungen und Vereinbarungen zwischen der „DDR" und West-Berlin vor, was selbstverständlich auch wieder die Anerkennung der „DDR" voraussetzen würde. Berlin könnte an einer deutschen Konföderation teilnehmen, zu deren Aufgaben die Herstellung und der Ausbau der Beziehungen zwischen der „DDR" und West-Berlin gehören würde; an den Ausbau der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und West-Berlin im Rahmen der Konföderation ist nicht gedacht. Vergleicht man diese Vorschläge mit den früheren Verlautbarungen der SED zur Berlin-frage, so fallen nicht nur die zurückhaltende Formulierung, sondern auch erhebliche sachliche Abstriche auf. Weder der Friedensvertragsvorschlag noch die Berlinvorschläge werden in ultimativer Form, ja sogar nicht einmal als Forderungen vorgetragen. Das Programm stellt lediglich fest, daß die Verwirklichung dieser Vorschläge günstige Voraussetzungen für eine Annäherung der beiden deutschen Staaten schaffen würde. Der Abschluß eines Friedensvertrages wird nicht als dringlich dargestellt. Die früher übliche Formulierung „Abschluß eines deutschen Friedensvertrages und Lösung der West-Berlin-Frage auf dessen Grundlage" ist weggefallen. Es wird nicht mit einem Separatvertrag gedroht, noch wird überhaupt nur die Möglichkeit eines Separatvertrages angedeutet. Im Gegensatz zum nationalen Dokument ist nichts zu lesen von einer Entmilitarisierung, nichts von einer Neutralisierung West-Berlins. Und im Gegensatz zum nationalen Dokument wird auch die Behauptung, West-Berlin liege auf dem Territorium der „DDR" nicht wiederholt.

Was steckt dahinter? Mußte die SED die früher so selbstsicher vorgetragenen Berlinpläne begraben? Handelt es sich um einen endgültigen Rückzug, bei dem die SED versucht, das Gesicht zu wahren? Oder handelt es sich tatsächlich nur um einen vorübergehenden taktischen Rückzug?

Sicher ist, daß das neue SED-Programm auf die gegenwärtige Berlinpolitik Chruschtschows abgestimmt ist. Diese Annahme wird durch die Äußerungen Chruschtschows vor und während des 6. Parteitags der SED bestätigt. Chruschtschow selbst hat in seiner Rede vor dem Parteitag den Abschluß eines Friedensvertrags für nicht mehr so dringlich bezeichnet, und zwar mit der interessanten Begründung, daß die Ziele des mit den Worten „Friedensvertrag" und „Freie Stadt" umschriebenen Programms durch den Bau der Mauer teilweise verwirklicht worden seien. Das SED-Programm ebnet aber vor allem dem neuen Berlinvorschlag Chruschtschows den Weg, der vorsieht, entweder die in Berlin stationierten Truppen aus dem NATO-Verband, dem sie nicht angehören, zu lösen und dem Kommando der Vereinten Nationen zu unterstellen oder die Truppen der drei Westmächte durch Truppen anderer Mitgliedstaaten der UN zu ersetzen. Aus diesem Grunde ist die Forderung nach Entmilitarisierunng West-Berlins, das heißt die Forderung nach dem Abzug der westlichen Truppen, im Programm nicht enthalten. Und aus dem gleichen Grunde wird „nur" die Beseitigung der NATO-Stützpunkte und des Besatzungsregimes vorgeschlagen. Chruschtschow nennt seinen neuen Berlin-vorschlag — wie übrigens auch die früheren — einen Kompromiß. In Wirklichkeit setzt auch der neue Vorschlag voraus, daß die Westmächte in jedem Fall die Rechtsgrundlage ihrer Präsenz in Berlin aufgeben.

Man wird gut tun, sich in diesem Zusammenhang auch die Äußerung Chruschtschows zu merken, daß ein Abrüstungsabkommen erst nach Unterzeichnung des deutschen Friedensvertrags möglich sei.

Nimmt man diese jüngsten Äußerungen Chruschtschows zur Erklärung des SED-Programms hinzu, so drängt sich die folgende hypothetische Deutung auf: Chruschtschow braucht eine Atempause. Er schiebt den Friedensvertrag vorerst auf die lange Bank. Die alten Berlinvorschläge gibt er nicht auf, aber ei versucht sie in Raten zu realisieren. Mit der Politik „Deutscher Friedensvertrag vor Abrüstung" versucht er zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits hat et eine Ausrede dafür, daß er noch nicht abrüsten will. Anderseits könnte es ihm vielleicht auf diesem Umweg endlich gelingen, außerhalb des sozialistischen Lagers Staaten zu finden, die bereit wären, einen Friedensvertrag mitzuunterzeichnen, weil diese Staaten an der Abrüstung interessiert sind, weil sie ungeduldig werden und schließlich sagen: „Einigt euch doch endlich über Berlin, damit wir in der Abrüstung weiterkommen! Und versucht es doch so lange, als Chruschtschow seinen . Kompromißvorschlag'noch aufrecht erhält!"

Es wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Illusion, anzunehmen, daß Chruschtschow auf Grund des Kubaschocks oder aus irgendwelchen andern Gründen seine Berlinpläne ad acta gelegt hätte und daß es sich bei der im SED-Programm geübten Mäßigung um mehr als bloß einen vorübergehenden taktischen Rückzug handelt.

2. Deutschland Wie das nationale Dokument, so lehnt auch das SED-Programm jede Wiedervereinigung vor der sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik ab. Im Parteideutsch wird das so ausgedrückt, daß die Wiedervereinigung ohne gesicherten Frieden und ohne vorherige Ausschaltung des Imperialismus und Militarismus in der Bundesrepublik unmöglich sei. Die Beseitigung des Imperialismus und die Sicherung des Friedens können aber nur durch die sozialistische Revolution erreicht werden.

Die Sowjetideologie unterscheidet zwei Arten der sozialistischen Revolution, eine „friedliche" (ohne Bürgerkrieg) und eine „nichtfriedliche" (mit Bürgerkrieg) Für die Bundesrepublik empiehlt das SED-Programm die friedliche sozialistische Revolution ohne Bürgerkrieg. Sie soll nach dem Vorbild der SBZ auf dem Wege einer Einheitsfront der sozialdemokratischen, kommunistischen, christlichen und parteilosen Arbeiter durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang bezeichnet das Programm die Arbeiterklasse als die „entscheidende" gesellschaftliche Kraft zur Überwindung des Imperialismus in der Bundesrepublik, die illegale KPD als die „konsequenteste" antiimperialistische und nationale Kraft und die Gewerkschaften als die „günstigste Basis" für die Herstellung der Einheitsfront. Das Zustandekommen einer Einheitsfront werde begünstigt durch das sprunghafte Anwachsen der Kosten für die Rüstung und für die neokolonialistische Politik (gemeint ist die Entwicklungshilfe), die auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt würden. Davon abgesehen empiehlt die SED zur Schaffung der Einheitsfront das folgende Aktionsprogramm: — Kampf gegen die atomare Aufrüstung in der Bundesrepublik, — Kampf für die Sicherung des Friedens, — Kampf für Lohnerhöhung, — Kampf für gleiche Entlohnung der Frau, — Kampf gegen Teuerung, — Kampf gegen Ausbeutung, —• Kampf für demokratische Rechte, — Kampf für Koalitions-, Versammlungs-und Pressefreiheit, — Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung. Mit anderen Worten: Die Kommunisten versuchen um einen, zunächst im Hintergrund agitierenden, kommunistischen Kern herum Mitläufer zu scharen, indem sie teils, auch vom westlichen Standpunkt aus gesehen, vernünftige oder doch vertretbare politische For26) derungen, teils, vom Standpunkt jedes Lohn-empfängers aus gesehen, verlockende wirtschaftliche Forderungen unterstützen. Und sie rechnen damit, daß sich im Laufe der sich über Jahre erstreckenden permanenten Agitation irgendwann einmal eine Krisensituation ergibt, bei der sie überraschend die entscheidenden Schlüsselpositionen in Griff bekommen. Um die Zeit bis zur Wiedervereinigung, bzw. bis zur sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik, zu überbrücken und abzukürzen, empfiehlt das SED-Programm den ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Klassenkampf in Form der friedlichen Koexistenz. Die Anwendung des Prinzips der friedlichen Koexistenz auf das Verhältnis zwischen „den beiden deutschen Staaten" ist nicht so selbstverständlich, hatte sich doch die SED in den ersten Jahren nach der Proklamierung der friedlichen Koexistenz als Grundprinzip der sowjetischen Außenpolitik (1956) dagegen gesträubt, mit der Bundesrepublik in friedlicher Koexistenz zu leben Als die „geeignetste Form" der friedlichen Koexistenz betrachtet die SED die deutsche Konföderation, das heißt einen Staatenbund der beiden deutschen Staaten unter eventueller Mitbeteiligung West-Berlins. Als Aufgaben und Ziele der Konföderation werden genannt:

— Dauerhafte Sicherung des Friedens, — Durchführung des Friedensvertrags, — Verbot der Kernwaffen und Kernwaffenträger in Deutschland, — Stufenweiser Abbau der militärischen Verpflichtungen der beiden deutschen Staaten gegenüber der NATO bzw.dem War-schauer Pakt, — Militärische Neutralität Deutschlands, — Völlige Abrüstung in Deutschland, — Koordinierung der Mitwirkung der beiden deutschen Staaten in den internationalen Organisationen, — Herstellung und Ausbau normaler Beziehungen zwischen den deutschen beiden Staaten sowie zwischen der „DDR" und West-Berlin.

Das bereits im nationalen Dokument nur sehr vage formulierte Zugeständnis, daß im Rahmen einer Konföderation eine „vernünftige Regelung des Reiseverkehrs zwischen den beiden deutschen Staaten" getroffen werden könnte, ist im SED-Programm ganz weggefallen. — Die Konföderation könnte eingeleitet werden durch die Herstellung eines „Minimums von korrekten Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten", das heißt durch die Anerkennung der „DDR"

seitens der Bundesrepublik.

Während der Übergangszeit soll der Aufbau des Sozialismus und der Übergang zum Kommunismus in der „DDR" weiter vorangetrieben werden, und zwar „unabhängig von der Entwicklung im westdeutschen Staat". Die Stärkung der „DDR" und der umfassende Aufbau des Sozialismus in der „DDR" wird — laut Programm — wesentlich zur Beseitigung des Imperialismus in Westdeutschland beitragen.

Die SED schreibt sich die historische Mission zu, durch den umfassenden Aufbau des Sozialismus in der „DDR" die Grundlage für den Sieg der sozialistischen Revolution in der Bundesrepublik zu schaffen. Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der „DDR" wird als die grundlegende Bedingung für die Lösung der nationalen Frage und für die Wiedervereinigung bezeichnet. Immerhin ist die radikale Rücksichtslosigkeit gegenüber der Entwicklung in der Bundesrepublik, die im nationalen Dokument zum Ausdruck kam, im SED-Programm etwas gemildert, insofern nämlich, als die SED „bei allen Entscheidungen über weitere Schritte in Richtung auf den Kommunismus sorgfältig erwägen" will, daß die „günstigsten Bedingungen" für den Aufbau des Sozialismus und den Übergang zum Kommunismus in der „DDR" nach der Überwindung des Imperialismus in Westdeutschland und im Rahmen einer Konföderation gegeben seien. Aus dieser mildernden Einschränkung eine Umkehrung des Grundsatzes, daß der Aufbau des Sozialismus in der „DDR" unabhängig vom Entwicklungsstand der Bundesrepublik zu Ende geführt werde, hineinzuinterpretieren, ist jedoch nicht gerechtfertigt.

3. Kapitalistisches Lager:

Die SED wünscht normale Beziehungen der „DDR" mit allen kapitalistischen Staaten auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz, das heißt die Anerkennung der „DDR" durch die kapitalistischen Staaten. Durch friedliche Koexistenz und friedlichen Wettbewerb entstünden günstigere innere Bedingungen für die sozialistische Revolution in den kapitalistischen Staaten. Das sozialistische Lager sei entschlossen, dem Imperialismus auf dem Gebiet der Wirtschaft die Hauptniederlage zuzufügen. An konkreten außenpolitischen Plänen unterstütze die SED:

— den Abschluß eines Nichtangriffspaktes zwischen der NATO und den Warschauer Pakt-Staaten, — die Auflösung aller Militärblocks, — die Einstellung des Kalten Krieges, — die Einstellung der feindlichen Haßpropaganda, — jeden „vertretbaren" Beitrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger internationaler Kontrolle.

4. Entwicklungsländer:

Im Vergleich zum sowjetischen Programm, das der nationalen Befreiungsbewegung ein eigenes Kapitel widmet, sind die Hinweise zu diesem Thema im SED-Programm spärlich. Die SED will die nationale Befreiungsbewegung und die Neutralitätspolitik der jungen Nationalstaaten unterstützen. Sie verspricht ihnen solidarische Hilfe. Sie behauptet, daß die Entwicklungsländer in der Sowjetunion ihr Vorbild sähen. Sie gesteht die Absicht, die „neokolonialistische" Politik der Bundesrepublik gegenüber den Entwicklungsländern zu „durchkreuzen". Und sie wiederholt schließlich ihren Wunsch auf gleichberechtigte Zusammenarbeit der „DDR" mit den Entwicklungsländern, das heißt auf Anerkennung der „DDR" durch die neuen Staaten.

5. Sozialistisches lager:

Während für die Beziehungen zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Staaten das Prinzip der friedlichen Koexistenz gilt, für findet die Beziehungen innerhalb des sozialistischen Lagers das Prinzip des sozialistischen Internationalismus, das heißt ein hegemonial-imperiales Prinzip der Unterordnung unter den Führungsanspruch der Sowjetunion Anwendung. Bei der Aufzählung der Grundsätze, die dem Prinzip des sozialistischen Internationalismus untergeordnet sind, fällt auf, daß im sowjetischen Programm der Grundsatz des gegenseitigen Vorteils fehlt, daß er im SED-Programm jedoch enthalten ist. Will die SED damit zum Ausdruck bringen, daß sie die Zusammenarbeit zwischen der „DDR" und der Sowjetunion nach dem Grundsatz des-gegenseitigen Vorteils gestaltet haben möchte, was in Anbetracht der wirtschaftlichen Ausbeutung der Sowjetzone durch die Sowjetunion an sich verständlich wäre?

Bemerkenswert sind die Pläne für die Reform und den Ausbau des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), die im SED-Programm angedeutet sind und die, wenn sie verwirklicht werden, zu einer wirtschaftlichen Spaltung des sozialistischen Lagers führen müssen. Zwar wird auf lange Sicht an einen „einheitlichen Wirtschaftsorganismus" im Rahmen des gesamten sozialistischen Systems gedacht. Vorerst soll dies jedoch nur im Rahmen des RGW verwirklicht werden. Zu diesem Zweck werden die folgenden Pläne genannt:

— Ausarbeitung einheitlicher Volkswirtschaftspläne, — Aufstellung einer zusammenfassenden Bilanz, welche als Grundlage für den seit Jahren diskutierten gemeinsamen Perspektivplan des RGW dienen könnte.

— Schaffung gemeinsamer internationaler Institutionen für Forschung, Entwicklung und Konstruktion, — Schaffung gemeinsamer wirtschaftspolitischer Organe, Annäherung Wirtschaften, — der nationalen — Internationale Arbeitsteilung, — Ausgleich des Entwicklungsniveaus der verschiedenen Staaten.

VI. Innenpolitische Aspekte

1. Rückläufige Wirtschaftspolitik:

Im Jahre 1958 hatte die SED angekündigt, die „DDR" werde den Lebensstandard der Bundesrepublik in 1 200 Tagen überholen. In den Beschlüssen des 5. Parteitags hatte sich die SED als „ökonomische Hauptaufgabe" das Ziel gesteckt, die Bundesrepublik im Pro-Kopf-Verbrauch aller wichtigen Lebensmittel und Kon-sumgüter zu überholen Im Rechenschaftsbericht an den 6. Parteitag hat Ulbricht dieses Ziel in gewundenen Formulierungen annulliert Das Programm schweigt darüber.

Im Siebenjahrplan für 1959— 1965 hatte die SED Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung und Preissenkungen versprochen. Jetzt ist von Lohnerhöhung nicht mehr die Rede. Die Arbeitszeitverkürzung wird „von der überplanmäßigen Steigerung der Arbeitsproduktivität und von der Senkung des Krankenstandes"

abhängig gemacht. Das heißt so viel wie, daß auch dieses Versprechen in der Versenkung verschwindet. An Stelle von Preissenkungen wird eine Änderung des Preissystems angekündigt, die auf eine Preiserhöhung hinausläuft. Fazit: Bei gleichem Lohn und höheren Preisen mehr arbeiten! Die SED nimmt für ihren eigenen Machtbereich genau jene Maßnahmen in ihr Programm auf, gegen die sie im gleichen Programm die Arbeiter in der Bundesrepublik zum Kampf aufruft (cf. oben S. 13). Kein Wort über die gegenwärtige Wirtschaftskrise in der Sowjetzone. Kein Wort darüber, daß an Stelle der großmäuligen Versprechungen die Lebensmittelrationierung wieder eingeführt wurde. Die Bevölkerung der Sowjetzone muß es als offenen Hohn empfinden, wenn im Programm behauptet wird, daß durch die sozialistische Revolution die Ursachen von Wirtschaftskrisen beseitigt werden. Oder wenn es im Programm heißt, der Lebensstandard der Bürger der „DDR" werde „nicht allein vom persönlichen Verbrauch bestimmt, sondern auch davon, daß die Werktätigen die Macht ausüben und als freie Bürger einer freien sozialistischen Gesellschaft über große Rechte und Möglichkeiten auf allen Gebieten verfügen".

Das Programm erwähnt zwar auch Schwierigkeiten, mit denen die SED beim wirtschaftlichen Aufbau zu kämpfen hatte. Es nennt unter diesen Schwierigkeiten die schlechte Ausgangslage, bedingt durch die in der Sowjetzone — im Vergleich zu Westdeutschland — bedeutend größeren Kriegsschäden, durch die Übernahme veralteter kapitalistischer Produktionsstätten, durch die Reparationsleistungen an die Sowjetunion und durch die als Folge der Spaltung Deutschlands entstandenen Disproportionen. Das Programm erwähnt ferner, daß die Kollektivierung der Landwirtschaft „gegen den Widerstand reaktionärer Kräfte im Dorf" erkämpft werden mußte. Als der eigentliche Bösewicht werden aber auch hier wieder der westdeutsche Imperialismus und Militarismus angeprangert, der durch systematische Störtätigkeit die Wirksamkeit der ökonomischen Gesetze des Sozialismus behindert habe. Die westdeutschen Imperialisten hätten „jahrelang auf Kosten der Bürger -der DDR riesige Profite aus dem Bestehen offener Grenzen" gezogen. Durch den Bau der Mauer seien nun die ökonomischen Störversuche des Imperialismus zum Scheitern gebracht worden.

Daß die Wirtschaftskrise sich seit dem Mauerbau noch verschlimmert hat, unterschlägt das Programm.

Dieser Versuch, den Bau der Mauer zu rechtfertigen, ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sich die SED damit selbst das Hauptargument zur Rechtfertigung zukünftiger wirtschaftlicher Mißerfolge genommen hat.

Das Prestige und die Führerstellung Ulbrichts stehen auf dem Spiel, wenn es ihm in den nächsten Jahren nicht gelingt, die wirtschaftliche Misere in der Sowjetzone zu beseitigen.

Noch ein anderer Abstrich am wirtschaftlichen Programm der SED ist bedeutsam. Infolge der Abhängigkeit der Sowjetzone vom Handel mit der Bundesrepublik ist die Bundesrepublik in der Lage, bei einer Störung des Berlinverkehrs durch Kündigung des Interzonenhandelsabkommens einen Druck auszuüben. Sie hat das im Jahre 1960 mit Erfolg getan. Seither redete Ulbricht sehr viel von der „Störfreimachung"

der Wirtschaft der „DDR". Sie sollte durch eine „enge Wirtschaftsgemeinschaft" mit der Sowjetunion erreicht werden. Im Programm ist von „Störfreimachung" und „enger Wirtschaftsgemeinschaft" nichts mehr zu lesen.

Offenbar wollte Moskau nichts davon wissen.

2. Totalitäre Bildungs-und Kulturpolitik: Alles, was den Menschen beeinflussen kann, muß darauf ausgerichtet sein, den neuen sozialistischen Menschentyp zu formen. Der Staat hat die Aufgabe, „die Vermittlung und Aneignung eines wissenschaftlichen materialistischen Weltbildes" zu fördern. Die Armee hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, „daß alle Angehörigen der bewaffneten Kräfte klassenbewußte sozialistische Kämpfer werden". Der Künstler hat die Aufgabe, den Menschen im Geiste des Sozialismus moralisch zu verändern. Die Schule hat die Aufgabe, „die Jugend zu bewußten Erbauern des Sozialismus zu erziehen". „Die politische und weltanschauliche Erziehung der Schüler ist das Prinzip aller Unterrichtsfächer." Die ganztägige Bil-düng und Erziehung soll weiterentwickelt werden. Als Schwerpunkte der ideologischen Arbeit hat sich die SED vorgenommen:

— die Vertiefung des sozialistischen Patriotismus und des sozialistischen Internationalismus, —• die sozialistische Einstellung zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum, — die Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung, — die Entlarvung der reaktionären bürgerlichen Ideologie.

Ein pikantes Detail: Im Programmentwurf hieß es, das Bildungsmonopol der herrschenden Klasse sei in der „DDR" beseitigt. In der endgültigen Fassung jedoch heißt es, das Bildungsmonopol der kapitalistischen Klasse sei beseitigt. Also doch Bildungsmonopol der herrschenden, das heißt der sogenannten Arbeiterklasse? 3. Staat und Partei:

Auch in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus bleibt der Staat das „Hauptinstrument" des sozialistischen Aufbaus. Seine Hauptaufgaben werden im wirtschaftlich-organisatorischen und kulturell-erzieherischen Bereich gesehen. Neu ist die Ankündigung einer Änderung des Wahlsystems, welches die Erneuerung von mindestens einem Drittel der Abgeordneten in den Volksvertretungen bei jeder Wahl gewährleisten soll. Neu ist ferner die Ankündigung, daß „nach und nach . . . einige staatliche Aufgaben in die Verantwortung der gesellschaftlichen Organisationen übergehen" sollen. Vom Plan einer Verfassungsreform, der nach westlichen Pressemeldungen in der Zone zur Zeit diskutiert wird, ist im Programm nichts zu finden, obwohl Ulbricht die Verfassung von 1949 schon am 5. Parteitag als überholt bezeichnet hatte Je-31) denfalls sieht das SED-Programm lediglich neue Gesetzbücher des Zivil-, Straf-und Familien-rechts vor, nicht aber eine neue Verfassung. Die SED übernimmt im Programm den vom XXII. Parteitag der KPdSU eingeführten Begriff des „Volksstaates" und kündigt an, daß sich im Verlauf des umfassenden Aufbaus des Sozialismus und des späteren Übergangs zum Kommunismus die Diktatur des Proletariats allmählich zum Volksstaat entwickle. Marx hatte sich über-diesen Begriff ziemlich abfällig geäußert. Er meinte, man komme „dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Wortes Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher": der Staat der Übergangsperiode zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft könne nichts anderes sein „als die revolutionäre Diktatur des Proletariats".

Im Programmentwurf hatte sich die SED — getreu nach sowjetischem Vorbild — bereits zur Volkspartei, genauer zur „Partei des ganzen Volkes" erhoben, steckte jedoch diese Formulierung inzwischen in der endgültigen Fassung wieder auf „Partei des werktätigen Volkes" zurück.

4. Entstalinisierung:

Zum Problem Entstalinisierung enthält das Programm lediglich allgemein gehaltene Beteuerungen, die SED sei gegen den Personen-kult und für die Kollektivität der Leitung, und sie setze sich mit den dogmatischen ideologischen Auffassungen auseinander, die zur Zeit des Personenkults gepflegt worden seien. Das SED-Programm folgt darin dem sowjetischen Programm, das eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenfalls mied.

2. Zur Genesis der sowjetischen Formationstheorie:

Die formationstheoretische Erfassung des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus hat sich erst im Verlauf der Entwicklung der Sowjetunion, vor allem im letzten Jahrzehnt, herausgebildet. Wenn sich die sowjetischen Ideologen gerade in den letzten Jahren intensiver als früher mit diesem Problem beschäftigt haben, so dürften zwei ideologische Auseinandersetzungen den unmittelbaren Anstoß dazu gegeben haben.

Die erste Auseinandersetzung drehte sich um eine Rede Molotows, die der damalige erste stellvertretende Ministerpräsident und Außenminister am 8. 2. 1955 vor dem Obersten Sowjet gehalten hatte Die Gegner Molotows fanden in dieser Rede eine Formulierung, die den Eindruck erwecken konnte, als seien in der Sowjetunion erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen. In der Zeitschrift „Kommunist" erschien im Herbst 1955 ein Artikel in dem betont wurde, die Partei lege größten Wert darauf, „daß die gegenwärtige Etappe des Kampfes um den Kommunismus richtig, marxistisch beurteilt wird. Daher zeigt sie die theoretische Unhaltbarkeit und politische

Schädlichkeit von Versuchen, auf die gegenwärtige Periode Formulierungen und Definitionen zu übertragen, die sich auf eine längst hinter uns liegende Etappe beziehen, und die Sache so darzustellen, als seien bei uns erst die Grundlagen des Sozialismus geschaffen. Eine derartige Behauptung ignoriert die Realität, schmälert die gewaltigen wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Errungenschaften der Sowjetgesellschaft und unserer Ordnung".

Im gleichen Heft veröffentlichte die Zeitschrift einen Brief Molotows in dem dieser Selbstkritik übte, die „fehlerhafte Formulierung" zurücknahm und sie als „theoretisch falsch und politisch schädlich" verurteilte.

Die zweite Auseinandersetzung fand drei Jahre später zwischen Moskau und Peking statt Im August 1958 beschloß das Zentralkomitee der KPCh, durch die Gründung von Volkskommunen „das Tempo des sozialistischen Aufbaus zu beschleunigen" und „den Übergang zum Kommunismus aktiv vorzubereiten" Im gleichen Beschluß bezeichnete das ZK die Volkskommune als „die beste Organisationsform für die Verwirklichung des Sozialismus und für den allmählichen Übergang zum Kommunismus." Das ZK stellte ferner fest, daß die Verwirklichung des Kommunismus in China keine Frage der fernen Zukunft mehr sei. Mit diesem Beschluß mißachteten die chinesischen Kommunisten das sowjetische Vorbild, indem sie sich über die sowjetische Etappeneinteilung des sozialistischen Aufbaus und über die sowjetische Form der Kollektivierung hinwegsetzten. Sie stellten damit den politischen Hauptzweck der sowjetischen Formationstheorie in Frage: die Allgemeingültigkeit des sowjetischen Entwicklungsmodells. Die Sowjetideologie hält nach wie vor an diesem Grundsatz fest

„Die Grundprinzipien des sozialistischen Aufbaus, die der Wirtschaftspolitik in der UdSSR zugrunde lagen, gelten für alle Länder, die den Sozialismus ausbauen."

Die Genesis der formationstheoretischen Erfassung des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus beginnt bei Marx, auf den die Unterteilung der kommunistischen Formation in zwei Phasen — eine erste, in der das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen", und eine zweite, höhere Phase, in der das Prinzip „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" gilt — zurückgeht Lenin hat die erste Phase im Jahre 1917 auf den Namen „Sozialismus" getauft Im Verlauf der Entwicklung der Sowjetunion wurde der Aufbau des Sozialismus in Etappen unterteilt, deren systematische Einordnung jedoch im allgemeinen erst nachträglich vorgenommen wurde. Die erste Etappe des sozialistischen Aufbaus begann mit dem ersten Fünfjahrplan (1929 bis 1932), dessen Ziel in der „Schaffung des Fundaments des Sozialismus" bestand. Im Beschluß der 17. Parteikonferenz der KPdSU (1932) wurde festgestellt, daß der Aufbau des Fundaments des Sozialismus „vollendet" sei Für die zweite Etappe des sozialistischen Aufbaus, die mit dem zweiten Fünfjahrplan (1933— 1937) begann, wurde erst später der Terminus „Errichtung des Sozialismus im wesentlichen" erfunden. Sie fand ihren Abschluß mit der Verkündung des „Sieges des Sozialismus". Die erste Äußerung, daß der Sozialismus in der Sowjetunion gesiegt hätte, ist in der Rede Molotows anläßlich des 17. Parteitags der KPdSU (1934) zu finden Stalin jedoch sprach zu dieser Zeit erst davon, daß das Fundament des Sozialismus errichtet sei Man darf annehmen, daß damals noch keine Klarheit herrschte, welche Bedeutung dem Unterschied zwischen „Fundament des Sozialismus" und „Sieg des Sozialismus" in der sowjetischen Formationstheorie später beigemessen werden sollte. Molotow wiederholte die These vom Sieg des Sozialismus im Jahre 1935 in zwei Reden anläßlich des 7. Sowjetkongresses Stalin selbst sprach erstmals im Jahre 1936 am 8. Sowjetkongreß vom Sieg des Sozialismus In der gleichen Rede präzisierte Stalin den Begriff „Sieg des Sozialismus" dahin, daß der Sozialismus „im wesentlichen" errichtet sei Das heute verbindliche Lehrbuch der Sowjetideologie bescheinigt, daß der Sozialismus in der Sowjetunion Mitte der dreißiger Jahre „im wesentlichen" aufgebaut gewesen sei Mit dem Sieg des Sozialismus wurde der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus abgeschlossen Erst seit diesem Zeitpunkt befindet sich die Sowjetunion in der Phase des Sozialismus. Mit dem Anlaufen des dritten Fünfjahrplans (1938-1942) begann eine neue Etappe des sozialistischen Aufbaus: die Etappe der „Vollendung des Aufbaus des Sozialismus und des allmählichen Übergangs zum Kommunismus" Offiziell beschlossen wurde der Eintritt in diese neue Etappe am 18. Parteitag (1939) Durch den Weltkrieg geriet der sozialistische Aufbau ins Stocken. Erst der 19. Parteitag (1952) brachte eine neue Erfolgsmeldung. Im Parteistatut das vom Parteitag verabschiedet wurde, heißt es, daß der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft „gesichert" sei und daß die „Hauptaufgabe" der Partei nunmehr darin bestehe, „durch den allmählichen Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus die kommunistische Gesellschaft auszubauen". Am 21. Parteikongreß (1959) verkündete Chruschtschow den „vollständigen und endgültigen Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion" Er gab ferner bekannt, daß die Sowjetunion jetzt in die Etappe des „entfalteten Aufbaus des Kommunismus" eintrete. Das Ziel dieser Etappe bestehe in der „Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus". Das vom XXII. Parteitag (1961) verabschiedete Parteiprogramm ging noch einen Schritt weiter, indem es den Abschluß des entfalteten Aufbaus des Kommunismus bis zum Jahre 1980 prophezeit Das bedeute, so fährt das Programm fort, daß bis zum Jahre 1980 die kommunistische Gesellschaft „im wesentlichen" errichtet sein werde. Die Aufgabe der anschließenden Etappe werde dann die „Vollendung" des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft sein. Boris Meissner hat bereits darauf hingewiesen daß es sich hier um einen ähnlichen Fehler handeln dürfte, wie er im Jahre 1955 Molotow zum Vorwurf gemacht wurde, indem die „Schaf50) fung der Grundlagen des Kommunismus" mit der „Errichtung der kommunistischen Gesellschaft im wesentlichen" gleichgesetzt, somit die zweite Etappe des kommunistischen Aufbaus übersprungen werde. Die Darstellung des Parteiprogramms verletzt in der Tat nicht nur die Analogie zum sozialistischen Aufbau; sie steht auch mit dem von den sowjetischen Formationstheoretikern aufgestellten Aufbauplan in Widerspruch Man braucht deshalb nicht überrascht zu sein, wenn die Darstellung des Parteiprogramms später korrigiert werden sollte, um so mehr, als die KPdSU im Jahre 1980 ziemlich sicher dankbar sein wird, mit diesem Vorwand die Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft nochmals verschieben zu können.

Im Ergebnis läßt sich die dargestellte Entwicklung auf die folgende Zeittabelle reduzieren:

1929— 1932 Schaffung der Grundlagen des Sozialismus.

1932 Grundlagen des Sozialismus geschaffen.

1933— 1936 Errichtung des Sozialismus im wesentlichen.

1935/36 (Vollständiger) Sieg des Sozialismus.

1938— 1958 Vollendung des Aufbaus des Sozialismus und allmählicher Übergang zum Kommunismus.

1959 Vollständiger und endgültiger Sieg des Sozialismus.

1959— 1980 Entfalteter Aufbau des Kommunismus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Text in: Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien, Berlin (Ost) 1946.

  2. Carola Stern: Porträt einer bolschewistischen Partei, Köln 1957, S. 31 f.

  3. Protokoll des Vereinigungsparteitages der SPD und KPD, Berlin (Ost) 1946.

  4. Text in: Die SED, Beschlüsse der gemeinsamen Parteileitungen der SPD und KPD mit Vertretern der Bezirke am 26. 2. 1946 in Berlin, Berlin (Ost) 1946.

  5. Protokoll der Verhandlungen des 2. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1947, S. 545.

  6. Protokoll der Verhandlungen des III Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1951, II/S. 267

  7. Protokoll des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1959, II/S. 998.

  8. Neues Deutschland vom 23 11 1962.

  9. Neues Deutschland vom 25. 1 1963.

  10. Text bei: Boris Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S. 143— 244.

  11. Text in: Neues Deutschland vom 27. 3. 1962.

  12. Die KPD besitzt zur Zeit kein eigentliches Programm. Sie hat im Jahre 1956 das Programm zur nationalen Wiedervereinigung Deutschlands von 1952 widerrufen und im Jahre 1960 ein Aktionsprogramm beschlossen, das jedoch nicht als eigentliches Programm anzusprechen ist.

  13. Ost-Probleme 24 (1962) S. 738— 748.

  14. Stalin-Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Stuttgart 1952, S. 32— 37.

  15. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU, a. a. O., S. 65.

  16. Protokoll des V. Parteitages, a. a O., II/S. 1340

  17. Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Band IV, Berlin (Ost) 1954, S 70— 78

  18. Protokoll des V. Parteitages, a. a. O., II/S. 1329— 1416.

  19. Neues Deutschland vom 19. 11. 1958 (Sonderbeilage).

  20. Neues Deutschland vom 14. 12. 1962.

  21. Ost-Probleme 18 (1959) S. 574.

  22. Ost-Probleme 13 (1960) S 410— 412.

  23. Prawda vom 23. 8. 1960.

  24. cf. zum Beispiel: Das Parteiprogramm der KPdSU, a. a. O., S. 169 f.

  25. cf. Hans Schimanski: Sozialismus auf Stottern, Einige ideologische Aspekte des Parteiprogramms der SED, in SBZ-Archiv 24 (1962) S. 3781

  26. Boris Meissner: Außenpolitische Theorie und Völkerrechtsdoktrin der Sowjetunion, in; Internationales Recht und Diplomatie 3/4 (1960) S XII; ders ; Das Verhältnis von Partei und Staat im Ostblock, in: Die Sowjerunion in Europa, Vorträge, Wiesbaden 1962, S 44— 63.

  27. Protokoll des V Parteitages, a a O., II/S. 1357.

  28. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil I, 56 (1959) S. 703 ff.

  29. Protokoll des V. Parteitages, a. a. O., I/S. 50— 52. Marx/Engels: Ausgewählte Schriften, Berlin (Ost) 196010, II/S. 24 f.

  30. Ost-Probleme 8 (1955) S. 316— 324.

  31. Ost-Probleme 44 (1955) S. 1702— 1709.

  32. Ost-Probleme 44 (1955) S. 1700.

  33. cf. Klaus Mehnert: Peking und Moskau, Stuttgart 1962, S. 439— 477; Boris Meissner: Rußland unter Chruschtschow, München 1960, S. 248— 254; Stefan Yowev: Die ideologischen Gegensätze zwischen Chruschtschow und Mao Tse-tung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung DAS PARLAMENT, B 26/60 v. 29. 6. 1960.

  34. Ost-Probleme 21 (1958) S. 695— 698.

  35. Politische Ökonomie, Lehrbuch, Hrsg. Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Berlin (Ost) 19603, S. 403.

  36. Marx/Engels, a. a. O., S. 17.

  37. Lenin: Ausgewählte Werke, Berlin (Ost) 1959 5, n/S. 42 f.

  38. Kommunisticeskaja Partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK, Moskwa 1954, III/S. 149.

  39. Der Sozialismus siegt, Berichte und Reden auf dem 17. Parteitag der KPdSU (B) Januar/Februar 1934, Zürich (o. J.), S. 461.

  40. Stalin: Bericht über die Arbeit des ZK der KPdSU (B) auf dem 17. Parteitag, Moskau 1934, S. 62.

  41. Sowjetunion 1935, Reden und Berichte, Moskau—Leningrad 1935, S. 72/101/116.

  42. Stalin: Fragen des Leninismus, Berlin (Ost) 19514, s. 616/623/645.

  43. a. a. O., S. 622.

  44. Grundlagen des Marxismus-Leninismus, Lehrbuch, Berlin (Ost) 1960 5, S. 746.

  45. a. a. O., S. 653; Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin (Ost) 1960 3, S. 632.

  46. Politische Ökonomie, a. a. O., S. 479 f.

  47. Kommunisticeskaja Partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i resenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK, a. a. O., S. 340. *

  48. Text bei: Boris Meissner, Die Kommunistische Partei der Sowjetunion vor und nach dem Tode Stalins, Frankfurt a. M. 1954, S. 56— 64.

  49. Referat vom 27. 1. 1959 „über die Kontrollziffern für die Entwicklung der UdSSR in den Jahren 1959 bis 1965 (Text bei: Meissner, Rußland unter Chruschtschow, a. a. O., S. 553— 634).

  50. Meissner, Das Parteiprogramm der KPdSU, a. a. O., S. 188.

  51. a. a. O., S. 70.

  52. cf.den Artikel von Stepanjan in: Ost-Pro bleme 21 (1960) S. 646— 651.

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Alois Riklin, Lic. iur., geb. 9. 10. 1935 in St. Gallen (Schweiz), wiss. Mitarbeiter im Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie) Köln.