Die Geschichte der „Dolchstoßlegende" und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der ihr zugrunde liegenden Vorstellung vom deutschen Zusammenbruch im Jahre 1918 ist ein aufschlußreiches Beispiel für Aufgabe, Bedingungen und Auswirkungen zeitgeschichtlicher Forschung. So liegt es nahe, das Thema des Verhältnisses von Geschichte und Gegenwartsbewußtsein gerade an diesem Beispiel aufzunehmen, um damit zugleich zur Erörterung von grundsätzlichen Fragen beizusteuern, denen Hans Rothfels sich im vergangenen Jahrzehnt wiederholt zugewandt hat Während im allgemeinen die Größe der Distanz dem Historiker Probleme aufgibt, muß er sich im Grenzbereich der Zeitgeschichte mit dem Fehlen zeitlicher Distanz — der Aufhebung jener im Gesamtthema ausgedrückten Spannung — auseinanderzusetzen: Ist hier die Wechselwirkung zwischen Gegenwartsbewußtsein und Geschichte nicht so intensiv, daß dadurch die Möglichkeit historischer Forschung in Frage gestellt wird?
In der bisherigen Erörterung unseres Beispiels galt das Interesse fast ausschließlich der einen Richtung der Wechselwirkung, dem „verhängnisvollen Einfluß" der „Dolchstoßlegende" auf die deutsche Geschichte. Nach verbreiteter Ansicht wurde die These, daß der Zusammenbruch im Jahre 1918 allein auf Zersetzung und Verrat zurückzuführen sei, im innenpolitischen Kampf der zwanziger Jahre böswillig mißbraucht; eine falsche Aussage über einen historischen Vorgang wurde dadurch selbst zum „Dolchstoß in den Rücken des neuen Staates" Als ebenso verhängnisvoll gilt, daß die „Dolchstoß" -Vorstellung — von der Propaganda genährt, von den Historikern nicht wirksam genug bekämpft — das deutsche Volk daran gehindert habe, seine historische Lage richtig einzuschätzen, das heißt sich bewußt zu werden, daß Deutschland mit dem Ende des Ersten Weltkrieges in die Rolle einer zweitrangigen Macht verwiesen war.
Die andere Richtung der Wechselwirkung ist bisher nicht näher untersucht worden, die Frage also, was das jeweilige Gegenwartsbewußtsein für Entstehen und Wandlungen der „Dolchstoß" -Vorstellung und für die wissenschaftliche Diskussion bedeutete. Die Parallelität von Legende und Forschung ist dabei für uns von großem Vorteil, da über die Veränderungen, die allein auf das Konto politischer Tendenz oder bewußter Anpassung an Tagesbedürfnisse kommen, die Geschichte der Legende Aufschluß geben kann. Wichtiger ist aber das beiden Bereichen Gemeinsame; mit gewissen Abstufungen dürfte für viele Zeitgenossen, für Historiker wie Propagandisten, gelten, was Fritz Ernst beobachtet hat: man finde nicht selten Menschen, die „bis 1933 mit . Dolchstoß'in Bausch und Bogen operierten", während sie nach 1945 mit der gleichen Entschiedenheit diese Behauptung als „Legende" ablehnten. Doch wird es im folgenden noch um anderes gehen müssen als um Erscheinungen, die man allein auf politischen Opportunismus zurückführen könnte.
Die jüngst mit Recht geforderte umfassende Untersuchung der „Dolchstoß" -Frage — der Vorstellung und der Legende — ist in dem hier gesteckten Rahmen nicht möglich. Obwohl es auch für diesen vorläufigen Versuch unerläßlich ist, einzelne Phasen ihrer Geschichte und insbesondere die Entstehung des Schlagwortes zu untersuchen, und obwohl wir hoffen, auch hierbei über das bisher Bekannte hinauszuführen und manche Irrtümer richtigzustellen, kann daher unser Ergebnis nicht so sehr in abschließenden Antworten für dieses Beispiel liegen als in Fragen, die sich für die grundsätzliche Problematik zeitgeschichtlicher Untersuchungen und Wertungen aus diesem Einzelfall ergeben.
Die gestellte Aufgabe zwingt dazu, sich von den bisher vorherrschenden, an sich durchaus berechtigten Gesichtspunkten einer Vorgeschichte der „Dolchstoßlegende" — wenn nicht gar des Dritten Reiches oder des Zweiten Weltkrieges — zu lösen und zunächst die Situation zu klären, in der das „Dolchstoß" -Bild entstanden ist. Aus dem gleichen Grund sei auch darauf verzichtet, einen kritischen Überblick über die vielfältigen Bedeutungen, die das Schlagwort im Laufe der Zeit erhalten hat, voranzustellen, so nützlich das für eine erste Klärung sein könnte. Ebenso wie der Wandel in der Beurteilung der historischen Vorgänge wird uns auch der Wechsel der Bedeutung des Wortes — sein Schicksal in Politik und Geschichtswissenschaft — später beschäftigen.
Das ,, Dolchstoß'‘-Erlebnis im November 1918
Gehen wir von der Frage aus, wann und wo zum erstenmal öffentlich das Wort „Dolchstoß" auftaucht In einer Versammlung am 2. November 1918 in München rief der Reichstagsabgeordnete der Fortschrittspartei Ernst Müller-Meiningen nach seiner eigenen, durch einen Zeitungsbericht weigehend bestätig-ten Schilderung unter „ohrenbetäubendem Radau" radikaler Sozialisten; „Solange die äußere Front hält, haben wir die verdammte Pflicht zum Aushalten in der Heimat. Wir müßten uns vor unseren Kindern und Kindes-kindern schämen, wenn wir der Front in den Rücken fielen und ihr den Dolchstoß versetzten." Besonders wertvoll ist uns diese bisher nicht genügend beachtete Äußerung weil der Redner die Lage Deutschlands durchaus realistisch schildert, dabei auch ausdrücklich die Verantwortung der Obersten Heeresleitung für das Waffenstillstands-und Friedensangebot festhält, dann aber doch vor der drohenden Revolution des Bolschewismus — Kurt Eisner hatte sie in der Versammlung angekündigt — eindringlich warnt Die Heimat dürfe „unseren Feldgrauen" nicht „das Rückgrat brechen", von ihr sei als Dank für die Opfer der Front der „Schwur" zu fordern, daß sie ihr „nicht in den Rücken falle". Dieses Denken im Sinne des Durchhaltens war nicht vereinzelt und auch keineswegs auf militärische oder nationalistische Kreise begrenzt; am 6. November — einen Tag, nachdem das hier noch gefürchtete Ereignis eingetreten war und dem deutschen Volk bewußt wurde — notierte Gertrud Bäumer „Auflösung — und wir haben doch noch keinen Frieden! Wehrlos werden, wenn es nur noch um Tage der Behauptung gegangen wäre!" Was bei Müller-Meiningen nur eine Befürchtung ausgedrückt hatte, diente schon wenige Tage später zur Feststellung und Bewertung einer inzwischen vollzogenen Tat: am 9. November veröffentlichte die „Deutsche Tageszeitung" einen „Feldpostbrief" in dem ein „bayerischer Soldat" an seine Mutter schreibt, bei allem Pflichtbewußtsein einer Armee könne man nicht erwarten, daß sie „sich gegen einen mehrfach überlegenen Feind erfolgreich weiterschlägt, wenn die Heimat ihr so in den Rücken springt".
Der in diesen Äußerungen enthaltene Vorwurf gilt einer Tat, durch die das Weiterkämpfen verhindert werden sollte. Auch wer auf Grund seiner Kenntnis der Lage bei den Alliierten und seiner Einschätzung ihrer Mentalität im Augenblick des sich ankündigenden Sieges daran zweifelt, daß eine Forsetzung oder Wiederaufnahme des Kampfes irgend et-was an den Waffenstillstandsund den späteren Friedensbedingungen gemildert hätte, sollte Verständnis dafür haben, daß Teile des Feldheeres und des Volkes in der Heimat auf Grund ihrer damaligen Kenntnis die Aussichten eines weiteren Kampfes anders beurteilten und daher aus ihrer Perspektive heraus die revolutionären Ereignisse als ein „In-denRücken-Fallen", als „Dolchstoß", empfanden. Gerade bei harten Kämpfen mit unglücklichem Ausgang wird man immer wieder beobachten können, daß das Bewußtsein, selbst durchgehalten und damit das Schlimmste verhindert zu haben, leicht dazu verführt, die Ursachen für den ungünstigen Verlauf in der schwächesteren Leistung „der anderen" zu suchen. Gilt das schon zwischen Verbänden innerhalb der kämpfenden Truppe, wieviel mehr konnte ein derartiger Vorwurf im Verhältnis der Front zur Etappe und zur Heimat entstehen. Daß er angesichts des unbestreitbaren Unterschieds in den Lebensbedingungen wie der Lebensgefahr schnell zum Vorwurf des „Verrats" wurde, kann nicht verwundern. Wie die Nachricht über die Revolution und ihr Zusammenhang mit dem unmittelbar folgenden Waffenstillstand an der Front erlebt werden konnte, zeigt die Ansprache eines Regimentskommandeurs am Tage des Waffenstillstands:
„Diesen Augenblick, wo der Feind uns vorn an der Gurgel saß" —, so heißt es nach einem Rückblick auf sieben Wochen schwerer Rückzugskämpfe gegen eine täglich wachsende Übermacht —, „benutzten Verräter in der Heimat, von selbstsüchtigen Verführern aufgehetzt, um uns das Messer in den Rücken zu stoßen." Sie hatten die Bahnen und Rheinbrücken besetzt und damit der Front den Nachschub abgeschnitten — das war für das Feldheer „Verrat", nicht obwohl, sondern gerade weil die Lage so verzweifelt war.
In den folgenden Wochen finden wir die Vorstellung und das Wort „In den Rücken fallen" weit verbreitet. So schreibt am 28. November der damalige Major im Generalstab Ludwig Beck in einem Brief „Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die — wie ich jetzt keinen Moment mehr zweifle — von langer Hand vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen." Uber die historische Wirkung dieser Tat sagt er nach einer sehr nüchternen Beurteilung der Lage: „Aber eines hätten wir noch gekonnt bei voller Mitarbeit der Heimat: uns auf einer kürzeren Linie — sei es Antwerpen-Metz oder Lüttich-Metz — erneut zum entscheidenden Widerstand stellen und erneut unseren Gegner vor die Wahl stellen, ob er gleich Frieden machen wollte oder den Krieg noch bis 1919 verlängern." Von ganz anderem Standpunkt aus gebraucht der Kieler Professor der Medizin W. Birk am 18. Dezember in den Blättern der Tübinger Burschenschaft „Derendingia" das gleiche Bild: für ihn ist die Marinemeuterei in Kiel „dem Vaterland in den Rücken gefallen". Dabei erhöht den Wert dieses Zeugnisses für unsere Fragestellung die Tatsache, daß er nicht einseitig gegen die Aufrührer Partei nimmt, sondern seinen Vorwurf auch gegen die leitenden Persönlichkeiten der Marine und das „mit Blindheit geschlagene" Offizierskorps richtet, das „auch in des Vaterlandes Unglück immer nur auf das Wohlleben der eigenen Person bedacht" gewesen sei.
Ein Artikel der Neuen Zürcher Zeitung Stärkere Verbreitung in der Presse fand das „Dolchstoß" -Bild allerdings erst mit ausländischer Hilfe und als Auffassung von Ausländern, die an den innerdeutschen Gegensätzen nicht beteiligt waren. Mitte Dezember 1918 referierte die Neue Zürcher Zeitung über zwei Aufsätze eines britischen Generals über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs und schilderte die Beurteilung dieser Frage in der englischen Öffentlichkeit. Der Artikel des Schweizer Korrespondenten schloß: „Was die deutsche Armee betrifft, so kann die allgemeine Ansicht in das Wort zusammengefaßt werden: sie wurde von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht." Dies war — wie wir gesehen haben — für deutsche Leser kein völlig neuer Gedanke, mußte aber als prägnante Formulierung, noch dazu (wie man glaubte) aus dem Munde eines „urteilsfähigen Feindes" besonders wirken. Es war für sie eine wertvolle Bestätigung, von der gewiß nicht nur der Feldmarschall v. Mackensen sagte, sie sei ihm „leider aus der Seele gesprochen" Daß nicht der General Sir Frederick Maurice, sondern ein Schweizer Journalist die Wendung „von hinten erdolcht" gebraucht hatte, war für den Leser schwer erkennbar bei der Über-nähme als Schlagwort bedeutete der Unterschied im übrigen nicht viel Für die spätere Verbreitung war die (irrtümliche) Berufung auf einen „britischen General" zwar nicht unwichtig, doch sollte man über diesem Irrtum und über dem späteren Mißbrauch nicht den Inhalt des Artikels vergessen: drei Wochen nach dem Waffenstillstand übermittelt ein Schweizer Journalist — ohne große Sympathie für das zusammengebrochene Kaiserreich — als herrschende Ansicht der englischen Öffentlichkeit die Formel „von hinten erdolcht" und schränkt sie auch selbst mit keinem Wort ein.
Der ursprüngliche Inhalt des , Dolchstoß-Vorwurfs
Der Überblick über diese Äußerungen ergibt einige gemeinsame Züge. Zum Bild des „Dolchstoßes" gehört, daß das Opfer vernichtet oder zumindest gelähmt wird.. Eine entsprechende Wirkung auf das Feldheer, dessen Kampfbereitschaft dem Wort der deutschen Unterhändler wenigstens noch etwas Gewicht geben sollte, wird überall vorausgesetzt, wo wir dies oder ein sinngemäßes Wort feststellen können. „Wir haben annehmen müssen", schreibt am 11. November der Major i. G. Jarosch in Kiew in sein Tagebuch „und müssen auch den uns angedrohten , Rechtsfrieden'annehmen. Wer sich selbst wehrlos macht, kann es nicht anders erwarten." Kronprinz Ruprecht von Bayern ist am 10. November der Überzeugung, die Bedingungen wären „nie so schmachvoll und so vernichtend ausgefallen, wüßten unsere Gegner nicht, daß in ganz Deutschland die Revolution zum Ausbruch gelangt ist — eine Revolution im Augenblicke der Verhandlungen mit dem Feinde! Man greift sich an den Kopf, ob solcher Verblendung". Doch wird die Wirkung keineswegs nur von militärischen Führern so eingeschätzt. Max Weber verurteilte die Revolution, weil „sie Deutschland die Waffen aus der Hand geschlagen", dadurch die amerikanische Hilfe für Frankreich entbehrlich gemacht und damit Wilsons mäßigenden Einfluß ausgeschaltet habe. Auch Ernst Troeltsch, der als einer der frühesten Be-kämpfer der Dolchstoßlegende gewiß unverdächtig ist, stellte noch Ende 1918 fest „Schon der Waffenstillstand wäre ohne sie (die Revolution) nicht so entsetzlich gewesen." Mit der Wahl der Bilder „Dolchstoß" oder „In den Rücken fallen" ist in diesen Wochen auch zweifellos der Vorwurf niedriger, ja verräterischer Gesinnung verbunden — auch der Schweizer Journalist läßt keinen Zweifel darüber, daß die britische Öffentlichkeit die deutsche Heimatbevölkerung und insbesondere die Marine wegen ihres Verhaltens verachte. Wer noch unsicher war, ob Schwäche oder Verrat vorlag, wurde von den „Verrätern" selbst oder von ihren Hintermännern belehrt, so, wenn Tschitscherin in einem Aufruf der Sowjetregierung an die Soldaten der Entente am 12. November feststellte „Der preußische Militarismus wurde zermalmt, nicht durch die Geschütze und Tanks des verbündeten Imperialismus, sondern durch die Erhebung der deutschen Arbeiter und Soldaten." Wie-viele wollten die Revolution, nachdem sie Erfolg gehabt hatte, „gemacht" haben! Mit der Einberufung einer „Versammlung der Urlauber und Deserteure Berlins" zum 30. November wurden Drückebergerei und Fahnenflucht nun als verdienstvolle Tat in Anspruc November 27) wurden Drückebergerei und Fahnenflucht nun als verdienstvolle Tat in Anspruch genommen.
Schon tagespolitische Erfordernisse führten zur Suche nach Schuldigen; wer sich behaupten wollte, mußte Kräfte und Methoden der Revolution kennzeichnen. Major Jarosch, für den die sowjetrussischen Vertretungen in Kiew und Berlin schon seit langem „trojanische Pferde" gewesen waren, ist am 10. November überzeugt 28): „Die Drachensaat ist aufgegangen." Auch der Generalstabsoffizier Beck 29), der keineswegs nur „Verrat" für den Zusammenbruch verantwortlich macht, sondern sich über Fehler der deutschen Führung, auch Ludendorffs, und über die unmittelbare und mittelbare Wirkung der elementaren Kriegsnöte durchaus im klaren ist, erklärt doch einen großen Teil der „Mißerfolge seit dem 15. Juli" damit, daß das Heer „in der Heimat seit Monaten revolutionär bearbeitet worden" sei. „Der Gesamtorganismus war nicht mehr gesund, es waren zu viele Bazillen-träger durch den Nachersatz hereingekommen." Für Ernst Troeltsch 30), der die Vorgänge mehr aus der Distanz betrachtete, stand ebenfalls eine Organisation „unzweifelhaft hinter allem", wobei er den „Russen" und den „Unabhängigen" eine große Rolle zu-schrieb. Wer behauptete, das Heer sei seit langem unterwühlt worden, erhielt von der Gegenseite schnell Unterstützung durch einen Wettlauf um die Priorität revolutionärer Aktionen: seit mindestens 1916, so konnte man wiederholt auf dem Allgemeinen Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte vom 16. bis 18.
Dezember hören war für einen revolutionären Umsturz gearbeitet worden.
Wie diese Zeugnisse aus den ersten Revolutionswochen erkennen lassen, entstehen die beiden verwandten Bilder „Dolchstoß"
und „In den Rücken fallen" aus der Beobachtung der Revolution und dem Versuch, ihre Bedeutung für diese Schlußphase des Krieges zu charakterisieren. Mit ihnen soll ausgedrückt werden, daß das Ergebnis der Revolution das Feldheer daran gehindert hatte, im Interesse erträglicher Friedensbedingungen weiterzukämpfen. In diesem Sinne finden wir das Bild bei dem Fortschrittsparteiler Müller-Meiningen, bei den Offizieren Graf Eulenburg und Beck, bei dem Burschenschafter Birk, finden es auch — nach dem Bericht des Schweizer Journalisten — in der britischen Öffentlichkeit. Bei keinem dieser Beispiele stoßen wir auf Illusionen darüber, daß es für Deutschland um mehr gehen konnte als darum, einen erträglichen Frieden zu sichern oder — im Urteil der Engländer — mit Anstand den Krieg zu verlieren.
Der „Dolchstoß" -Vorwurf stand im übrigen — wie gegen unsere bisherige Betrachtung einzuwenden ist — nicht isoliert, sondern im Zusammenhang vielfältiger Überlegungen über die Vorgeschichte der revolutionären Ereignisse und über das Verhältnis von Front und Heimat. Die politische Aktualität dieser Fragen konnte dabei — ohne daß Propaganda, von der später zu sprechen ist, beteiligt sein mußte — zu Unklarheiten und Verwischungen führen. Was das Bild an moralischer Verurteilung ausdrücken sollte, galt auch bald der verräterischen Gesinnung bei vorbereitenden Handlungen, deren Wirkung der eines Dolchstoßes eigentlich nicht gleichgesetzt werden konnte. Und andererseits wurde das Bild — sachlich zu unrecht, doch immerhin erklärbar — auch auf das übertragen, was ähnlich gewirkt hatte, ohne daß Verrat dahinterstand. Die Vorwürfe über ein Versagen der Heimat gehören in diesen Zusammenhang. Zwar wurden sie später meist der „Dolchstoß" -Anklage gleichgesetzt, doch hätte es dafür, daß dieses Bild auftauchte, schon am Vorwurf verräterischer Absicht gefehlt. Das gilt nicht nur für einen Brief Groeners vom 1. November an den Vizekanzler v. Payer in dem er von der „Gefährdung der Kampfkraft unserer Truppen durch die Ereignisse in der Heimat* spricht, oder für seine Äußerungen im Kriegskabinett am 5. November „Was wir von der Heimat erwarten, ist nicht Kritik und Polemik, sondern Stärkung und Stählung von Herz und Seele. Wenn nicht schleuniger Wandel geschieht, richtet die Heimat das Heer zugrunde", und: „Der schlimmste Feind, dessen sich das Heer zu erwehren hat, ist die Entnervung durch die Einflüsse der Heimat, ist der drohende Bolschewismus." Es gilt auch für Feststellungen wie die der Evangelischen Kirchenzeitung vom 20. Oktober „Zusammenbruch hinter der Front — nicht Zusammenbruch unserer Heldenfront. Das ist das erschütternde Ereignis der letzten Tage... Die Heimat hat nicht durchgehalten", und gilt sogar für Ludendorffs böses Wort aus den Tagen seiner Waffenstillstandsforderung „Ich habe aber S. M. gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir so weit gekommen sind. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß." Er dachte hierbei nicht an Verrat, sondern an Schwäche des Verteidigungswillens und Illusionen über eine Verständigungsbereitschaft der Feinde. Aus der gleichen Grundhaltung, die sich im Streit um die Kriegführung bis 1914 zurückverfolgen ließe, hatte Oldenburg-Januschau, der die starken Töne bevorzugte, schon im Februar 1918 gesagt, mit der „niederträchtigen Friedensresolution" sei man „der Armee in den Rücken gefallen". Doch im allgemeinen verurteilte man erst in der zugespitzten Situation im Oktober 1918 „Schwäche" so scharf, und da andererseits diese Vorwürfe — beabsichtigt oder nicht — wie die des Verrats dazu beitrugen, die Verantwortlichkeit für die Niederlage zu verschieben argwöhnten die politischen Gegner hinter jeder Behauptung des „Versagens" auch den Vorwurf des „Dolchstoßes", „Im Felde unbesiegt“
Die Entstehung eines anderen Schlagworts, bei der jedes übelwollen gegenüber den neuen Machthabern von vornherein ausscheidet, kann zeigen, wie die „Dolchstoß" -Vorstellung von der allgemeinen Stimmung der Revolutionswochen begünstigt wurde. Es war keine Ausnahme, sondern entsprach der Regel, als Friedrich Ebert heimkehrenden Truppen am Brandenburger Tor zurief „Kein Feind hat Euch überwunden!" Wie die Formel „In den Rücken fallen" in der Luft zu liegen schien, so drängte sich in der damaligen Situation offenbar auch das Wort „unbesiegt" auf, wenn Vertreter der Heimat Frontsoldaten begrüßten. Unterschiede der politischen Überzeugung zeigten sich allein in Abstufungen dieser einen Formel: sie reichen von der Feststellung, die der Vollzugsausschuß des Soldatenrats bei der OHL am 21. November den Arbeiter-und Soldatenräten der Heimat nahelegte, die Truppen kämen „nicht als Sieger, aber auch nicht als Besiegte" bis zu dem Satz des Kriegsministers Scheüch am 18. Dezember in Berlin:
„Mit dem Willen zum Sieg in den Krieg gezogen, kehrt Ihr, wenn wir auch von einer noch nie gesehenen Übermacht erdrückt wurden, doch als unbestrittene Sieger von der Walstatt zurück!"
Siegfried Kaehler hat in einer kleinen Untersuchung über das Wort „Im Felde unbesiegt" festgestellt, daß man von manchen Truppen „wahrheitsgetreu" sagen konnte, sie seien „nicht besiegt und geschlagen" heimgekehrt, daß also die Badische Vorläufige Volksregierung am 16. November mit Recht die Truppen der Vogesenfront mit diesen Worten begrüßte. Die Suche nach weiteren Beispielen, zu denen auf jeden Fall der aus Deutsch-Ostafrika heimkehrende General v. Lettow-Vorbeck gehören müßte, führt schließlich zu der Gegenfrage, auf welche Truppen das Wort — wenigstens in dem vodergründigen Sinne, in dem es hier gebraucht wurde — eigentlich nicht zutraf. Wo hatten die Gegner Deutschlands denn kriegsentscheidende Siege errungen wie Königgrätz oder Sedan, die damals die Vorstellungen von einem wirklichen Sieg beherrschten?
Wie sich an dieser Gegenprobe zeigt, handelt es sich bei der Formel „unbesiegt" in der damaligen Lage um eine TeilWahrheit, und zwar in doppelter Hinsicht. Wer das Wort auf einzelne Verbände bezieht, vergißt, daß deren Kampf nur in seiner Einordnung in die Gesamtkriegführung des Reichs und seiner Verbündeten sinnvoll war und daß Erfolg oder Mißerfolg daran gemessen werden mußten, was sie im Rahmen der Gesamtausgabe bedeutet hatten. Als Urteil über den Kriegsverlauf liegt dem Wort „unbesiegt" aber außerdem eine Sieg-Vorstellung zugrunde, die dem Charakter des Ersten Weltkriegs — einem Ringen von Völkern und Kräftepotentialen — und seiner möglichen Beendigung nicht mehr entsprach. Nur wenige sahen den Unterschied von Einzelleistung und Gesamtverlauf so nüchtern wie der Generalleutnant Lequis: „Gesiegt haben wir in allen Himmelsrichtungen, den Krieg haben wir verloren." Wir können hier nicht weiterverfolgen, zu welch eigentümlichen Formulierungen es in der Folgezeit kam, wenn man an dem zu einem Kriterium „nationaler Gesinnung" gewordenen Wort „Im Felde unbesiegt" festhalten wollte und doch die Gesamtniederlage Deutschlands nicht übersehen konnte haben uns vielmehr auf die Frage zu beschränken, was dieses Wort zur „Dolchstoß" -Vorstellung beitrug. Zur gleichen Zeit, aber unabhängig vom „Dolchstoß" -Erlebnis der Front entstanden, mußte es unwillkürlich die-se These stärken; der Schluß lag nahe: Wenn das Heer nicht besiegt, Deutschland aber trotzdem wehrlos dem Diktat der Feindmächte preisgegeben war, dann mußte die Schuld oei der Heimat liegen. Auch hier begünstigten Worte der Sieger das ohnehin naheliegende Denken im Optativ der Vergangenheit Churchills Äußerung: „Wir sind nur gerade durchgekommen" unterschied sich in der Unklarheit der Siegesvorstellung kaum von dem Wort, das der Vertraute Ludendorffs, Oberst Bauer öffentlich aussprach Deutsch-land sei „nur um eine Nasenlänge geschlagen" worden — als ob die Entscheidung in einem Weltkrieg mit der in einem Pferderennen, einem auf eine einseitige Einzelleistung fixierten Wettkampf, verglichen werden könnte.
Nach dem tiefen Sturz, als den weite Kreise in Deutschland die Ereignisse seit Anfang Oktober 1918 erlebt hatten, lag es nahe, daß gerade die Deutungen des Geschehens, nach denen die Niederlage Zufall war, Glauben fanden. Hierher gehört neben dem Wunschdenken, mit dem man die verpaßten Siegeschancen Wiederaufleben ließ, auch der Vorwurf gegen „Verräter", deren Tat den Zusammenbruch erst unausweichlich gemacht hatte. Vielleicht wäre manches von dem, was wir bisher kennengelernt haben, im Laufe der Zeit aus der befangenen Sicht des Augenblicks gelöst, wäre die Berechtigung der Vorwürfe überprüft worden, sobald die Gesamtheit der Ursachen des Zusammenbruchs überblickt werden konnte; ebensogut konnten umgekehrt mit der Entfernung von den Kriegsnöten die Illusionen über vergangene Möglichkeiten noch wachsen. Zu ruhiger Überlegung blieb aber gar keine Zeit.
Die , Dolchstoß-Propaganda im Revolutionsjahr 1918/19
Die propagandistische Auswertung der „Dolchstoß" -Vorstellung, zu der schon die zitierte Äußerung des Obersten Bauer im Frühjahr 1919 gehörte, hatte wegen der Wahlen für die Nationalversammlung bereits im Dezember 1918 eingesetzt. Für die Bedürfnisse des poli-tischen Kampfes zurechtgemacht, begegnet uns die These etwa in folgendem Flugblatt
„Deutsches Volk wache auf!
Vergebens faßt Du Dich an den Kopf, wie ist das alles gekommen? Stand nicht unser Heer noch tief in Feindesland, nach den erstmaligen Rückzügen wieder neu gefestigt und abwehrbereit? Sprachen nicht deutliche Anzeichen von wachsender Not der Feinde, winkte nicht in erreichbarer Nähe die Palme eines ehrlichen und ehrenhaften Friedens?
Warum ist es dazu nicht gekommen?
Weil der Blödsinn einer Revolution uns die Waffen aus der Hand schlug und uns wehrlos und machtlos dem Feinde auslieferte . . ." Es war aber nicht nur die neugegründete Deutschnationale Volkspartei, die in dieser Weise gegen die Sozialisten arbeitete. In einem Flugblatt des württembergischen Zentrums heißt es
„Die deutsche Sozialdemokratie hat im Verein mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften die Revolution planmäßig vorbereitet und durchgeführt. Wäre die Revolution nicht gekommen, dann wäre Deutschland jetzt nicht so hilflos . .
Diese Argumentation sprach an, was — wie wir gesehen haben — viele selbst dachten, auch solche, die durchaus nicht vorbehaltlose Verteidiger der alten Ordnung gewesen waren. Das Wort „Dolchstoß" ist noch nicht sehr geläufig, immerhin wird im Wahlkampf zur Nationalversammlung die angebliche Äußerung des „englischen Generals Maurice": „Die deutsche Armee ist von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht worden" wiederholt zitiert Im allgemeinen erscheinen nebeneinander die beiden Grundgedanken: Die Revolution hat Deutschland wehrlos gemacht. Und: Die Front ist seit Jahren von Verrätern unterwühlt worden. Die historische Relevanz der Taten, die man anprangert, wird entsprechend der Art solcher Propaganda gar nicht erörtert: für die Revolution selbst wird die ausschlaggebende Wirkung einfach behauptet, die revolutionäre Zersetzung in der vorangegangenen Zeit wird festgestellt — unter Berufung auf viele Selbstzeugnisse, bei denen eine Äußerung des USPD-Mitglieds Vafer in Magdeburg zu kanonischem Ansehen gelangte —, und es wird dem Wähler überlassen, den Schluß über die Wirkung selbst zu ziehen.
Es dauerte ein knappes Jahr, bis das Wort „Dolchstoß" in der später geläufigen, die beiden Grundgedanken vermischenden Bedeutung allgemein bekannt wurde. Auseinandersetzungen auf verschiedenen Ebenen — im Parlament, in der Presse, in Versammlungen — haben dazu beigetragen. In der Nationalversammlung behauptete am 18. Februar 1919 der Abgeordnete v. Graefe die ausschlaggebende Bedeutung der Revolution für das Ausmaß der Niederlage, indem er die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen am 11. November den Äußerungen des Verteidigungswillens in den Reichstagsreden vom 22. bis 26. Oktober gegenüberstellte. Daß in diesem Zeitraum Österreich-Ungarn und die Türkei kapituliert hatten, schien hiernach mit dem schrittweisen Zurückweichen vor den sich steigernden Bedingungen der Feindmächte nichts zu tun gehabt zu haben. Die Bamberger Erklärung des Alldeutschen Verbandes vom 16. Februar 1919 war noch deutlicher: Der Zusammenbruch falle „gewissenlosen Volksverrätern" zur Last, „die sich offen als seine Urheber bekannt" hätten, sowie den „Regierenden", die nicht den Mut gefunden hätten, „dem drohenden Umsturz entgegenzutreten".
Als Anfang Mai die Empörung über die Friedensbedingungen eine neue Welle der Erörterungen auslöste, war die „Dolchstoß" -These schon so ausgebaut, daß Troeltsch jetzt von einer verbreiteten „Legende" sprechen konnte Die Schrift des Obersten Bauer „Konnten wir den Krieg vermeiden, gewinnen, abbrechen?" der hierfür eine Hauptrolle zukam, war in militärischen Kreisen schnell bekanntgeworden in ihr fand man alles, was Zivilisten für die Not der Gegenwart verantwortlich machen konnte: das Versagen der Regierung gegenüber Mißstimmung, Streiks und Drückebergerei, die „Wühlarbeit der Heimat", die Ara Hertling als „Periode des Winterschlafs", den „moralischen Zusammenbruch der Heimat", die Revolution als „Todesstoß"; und schließlich enthält sie auch die Behauptung, daß bei den „kriegsmüden Völkern" der Entente „kein Mensch die Depression (hätte) aufhalten können". Auch des britischen Gene-33 rals erinnert man sich in diesen Tagen der letzte Angriff Fochs hätte „durchaus nicht zur völligen Vernichtung führen" müssen, „das allein hat, wie General Maurice sehr richtig sagt, der Dolchstoß von hinten besorgt". Wenn dieser Artikel fortfährt: „Etwas ganz anderes ist es ja, den Ursachen nachzugehen, die zu dem Meuchelmorde führten . . dann zeigt dies, daß es dem Verfasser, einem Offizier, noch nicht darum geht, eine „Lebenslüge" seines Standes oder überhaupt des Bürtums aufzubauen.
In den Wochen bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages erscheint das Wort „Dolchstoß" nun oft je deutlicher man die „Folgen der Tat" sah, desto häufiger erhielt das Urteil über sie die Form dieses Bildes; man sah andererseits die These, daß Deutschland habe weiterkämpfen können, bestätigt, als Conrad Haußmann am 12. Mai — natürlich allein, um auf Wilson einen moralischen Druck auszuüben — sagte: Wenn man „am 5. und 9. November gewußt hätte, daß der Friede so aussähe, dann würde unser Heer ... die Waffen nicht niedergelegt und unsere Arbeiter würden ausgeharrt haben". Ludendorff war das Bild dagegen auch jetzt nicht geläufig; offenbar erst nach dem Friedensschluß griff er in einer Unterredung mit dem Chef der britischen Militärmission Sir Neill Malcolm das „stabbed in the back" auf.
Durch solche Einzeläußerungen in Artikeln, Broschüren und Privatunterhaltungen war das Wort noch nicht allgemein bekannt, war noch nicht zur Waffe im politischen Kampf geworden. Dazu kam es im Herbst 1919. Am 29. Oktober zitierte der Abgeordnete v.
Graefe im Plenum der Nationalversammlung am Anfang seiner Rede zum Heeresetat die Äußerungen des „englischen Generals Maurice". Er sprach von dem Bild, das die Sage „als ein immer wiederkehrendes Symbol der deutschen Geschichte vorahnend verkündet habe, und gab der Überzeugung Ausdruck, „der Speer, der von dem Hagen diesem Siegfried von hinten in den Leib gestoßen worden ist", sei von langer Zeit her geschmiedet worden. Am Ende seiner Rede zeigte Graefe die Legende als politische Waffe: „Der Tag wird kommen", verkündete er, „wo das Volk dem Hagen fluchen und sich nach dem Siegfried zurücksehnen wird. Wir bekennen uns schon heute zu Siegfried und seinem Geschlecht und seiner kleinen Nachkommenschaft, der vorläufig noch so schwachen Reichswehr,... und beneiden nicht diejenigen, die sich an dem Pyrhussieg ihres Hagen freuen zu können glauben." Es war nicht böswillige Übertreibung, aber ein bezeichnendes Mißverständnis, als der folgende Redner Graefes angebliche Behauptung zurückwies, „die Armee sei von hinten erdolcht worden, die Revolution habe die deutsche Armee um den Sieg gebracht". Heftige Proteste von rechts: „Wann hat er von Sieg gesprochen?", zeigten, daß einer der schärfsten Vertreter der These gar nicht so weit ging, wie ihm hier von seinen Gegnern unterstellt wurde.
Es war eine fast schwach zu nennende Wiederholung Graefes, als Hindenburg drei Wochen später vor dem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung in einer vor-bereiteten Erklärung seine Klage über den fehlenden Willen zum Siege, über die „heimliche Zersetzung von Flotte und Heer", über die „revolutionäre Zermürbung" mit den Sätzen abschloß: „So mußten unsere Operationen mißlingen, es mußte der Zusammenbruch kommen; die Revolution bildete nur den Schlußstein. Ein englischer General sagte mit Recht: Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.'" Da es für ihn hiernach keines Beweises mehr bedurfte, wo die Schuld lag, führte er auch keinen Beweis dafür an. Und doch gab erst der Name Hindenburg dem Schlagwort das Gewicht, das es zu einer wirksamen Waffe in einem politischen Kampf machte, in dem sich der „siegreiche Feldherr" rechts über den Parteien hielt. In seinen ebenfalls im Herbst 1919 entstandenen Erinnerungen wählte er das geläufige mythologische Bild: „Wir waren am Ende! Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken" — Worte, mit denen er dem deutschen Volk in seinem Testament auch noch 15 Jahre später die Niederlage deutete.
Für die Geschichte der „Dolchstoßlegende", der wir uns nun zuzuwenden haben, bleibt festzuhalten: Es gab viele Menschen — ihre Zahl ist natürlich schwer genauer zu bestimmen —, die den November 1918 in einer Weise erlebt hatten, daß ihnen die Charakterisierung der Revolution als „Dolchstoß" „aus der Seele gesprochen" war; mit solchem Erlebnis verbunden konnten viele die „Dolchstoß " -These guten Glaubens vertreten und übernehmen. Dadurch wird unseres Erachtens die starke Wirkung der Legende besser erklärt als durch die verbreitete Vorstellung, es handele sich bei ihr allein um eine Erfindung politischer Spitzbuben.
Die Dolchstoßlegende in den zwanziger Jahren
Vor den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920, dem Abschluß der Revolutionsjahre und zugleich Beginn „normaler" politischer Verhältnisse, gehörte die voll ausgebildete Dolchstoßlegende zu den häufig gebrauchten Wahlparolen zumindest der Deutschnationalen Volkspartei Ein Flugblatt „Der Dolchstoß von hinten" das die bisher bekannten, wenig beweiskräftigen Einzelbelege zusammenstellte, zeigt mit seinen Schlußsätzen, daß in der Vergröberung des Wahlkampfes der Kreis der angeblichen Täter immer weiter gezogen und die Tat als einzige Ursache des gegenwärtigen Elends herausgestellt wurde: „Die Demokraten und Sozialdemokraten ha-ben die Front erdolcht, sie haben damit über unser Volk den Erzbergerschen Schmach-, Hungerund Mordfrieden gebracht. Unser Elend ist ihr Werk. Gebt die Quittung für den Dolchstoß bei den Wahlen!" Hier wird man gewiß nicht mehr von gutem Glauben sprechen wollen — bei allem Verständnis dafür, daß die Anpassung an die vermeintlichen Bedürfnisse der verabscheuten Massenagitation zunächst zu Mißgriffen führen konnte. Unter den Blüten, die der Eifer bürgerlicher Wahlkämpfer im Lande trieb, ist für uns ein Stuttgarter Exemplar besonders aufschlußreich. Eine Sonderbeilage der Süddeutschen Zeitung ° verarbeitete alle bekannten Einzelbehauptungen in das Frage-
und Antwortspiel einer „Schulprüfung im Jahre 2000": Die Schüler Max und Karl kennen nach acht Jahrzehnten nicht nur den Ausspruch des britischen Generals Maurice und den des vor dem Untersuchungsausschuß auf ihn sich berufenden Hindenburg, nicht nur den großsprecherischen USPD-Führer Vater in Magdeburg und das naive Eingeständnis enttäuschter Hoffnungen durch Conrad Haußmann in der Nationalversammlung, sie verurteilen auch scharf die Schwäche der früheren Reichskanzler und die Illusionen des Prinzen Max. Der Lehrer kann zusammenfassen, „daß die demokratisch-sozialistische Regierung am Unglück des Versailler Friedensvertrages und damit am Unglück Deutschlands schuldig ist. Dies hat auch die Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten einhellig festgestellt". Indem der Parteistandpunkt des Jahres 1920 in ein Schulzimmer des Jahres 2000 verlegt wird, versucht man ihm den Anschein geläuterter Wahrheit zu verleihen.
Das Schlagwort des „Dolchstoßes" wurde, wie bei seiner Mehrdeutigkeit nicht wunder neh-men kann, in den folgenden Jahren je nach der politischen Entwicklung gegen wechselnde Ziele gerichtet. Die bürgerliche Rechte verlagerte den Schwerpunkt der Angriffe bald deutlich nach links. Hatte das Wort „Dolchstoß der Heimat" sich bei ihr bisher auch gegen die Regierung — also Bethmann Hollweg und seine Nachfolger — gerichtet, die zu wenig für die Stärkung der deutschen Kraft und nichts gegen Defaitismus und zersetzende Propaganda getan hätten, so tritt diese Kritik — vielfach ja Selbstkritik der bisher führenden Schichten — bald zurück. Dies mag mit der Konsolidierung der innerdeutschen Verhältnisse Zusammenhängen und mit der Möglichkeit, eine politische Ordnung ähnlich der vor 1914 wieder anzustreben. Andererseits hatte wohl auch die nun einsetzende kritische Auseinandersetzung mit dem Schlagwort, die uns im folgenden sowohl als Teil des politischen Kampfes wie als Anstoß für die Forschung zu beschäftigen hat, das Ergebnis, daß man den Vorwurf direkt nur noch gegen die Gruppen richtete, denen man verräterische Gesinnung und aktive Beteiligung zutraute. Die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen sozialistischen Strömungen zu unterscheiden, war allerdings im bürgerlichen Lager Deutschlands noch nie stark ausgebildet, und in diesem Fall kam ein parteipolitisches Ereignis hinzu, das die „historischen" Unterschiede noch verwischte: 1922 vereinigte sich die SPD mit Teilen der bisherigen Unabhängigen Sozialdemokraten, zu denen Männer wie Dittmann gehörten, den man für die Revolutionierung der Marine verantwortlich machte. Allein die Tatsache dieses Zusammenschlusses wurde der SPD als nachträgliche Billigung des „Verrats" ausgelegt
Aus dieser Lage heraus wird die heftige Reaktion verständlich, welche die beiden „Dolchstoß " -Nummern der Süddeutschen Monatshefte unmittelbar vor den Wahlen im Mai 1924 auslösten. Gegen eine Sammlung von Quellen und Berichten über „die bewußt und absichtlich auf die Zertrümmerung der deutschen Wehrmacht gerichteten Handlungen hinter der Front" war an sich nichts einzuwenden, wenn sie auch der SPD angesichts ihrer neuen Vereinigung unbequem sein mußte. Mit dem Schlagwort „Dolchstoß" und seiner bildlichen Darstellung — das Titelblatt des Aprilheftes zeigte einen getöteten Soldaten, dem ein Riesendolch im Nacken steckte — wurde jedoch erneut der Streit aufgerührt, ob der „Dolchstoß" die tödliche Wirkung, die in den Heften selbst vereinzelt behauptet und im übrigen stillschweigend unterstellt wurde, tatsächlich gehabt habe.
Obwohl das Bild sich nur auf die eigentlichen Täter bezog, fühlten sich auch Gruppen getroffen, die selbst überzeugt waren, national im Sinne der jetzigen Ankläger gehandelt zu haben. Der mit dieser Veröffentlichung zusammenhängende Beleidigungsprozeß im Herbst 1925, der das Schlagwort noch einmal hochspielte, hatte dann immerhin das Ergebnis, daß die beteiligten Vertreter der „Dolchstoß" -These sie nur noch auf die USPD, nicht mehr auf die SPD anwandten und daß sie deren Tat nicht mehr — wie es einer wörtlichen Auslegung des Bildes entsprochen hätte — als die einzige, sondern nur als eine von mehreren Ursachen des Zusammenbruchs ansahenG Noch wichtiger für die Zerstörung des Bildes war, daß sie an der tödlichen Wirkung nicht mehr festhielten
„Nicht darauf kommt es an, ob die Handlungen gewirkt haben, sondern es kommt darauf an, ob es Handlungen waren, die vom Standpunkt der Moras und Ehre eines Volkes zu rechtfertigen waren." Was die politische Agitation aus dem Augenblickseindruck der Revolutionswochen gemacht hatte — die Verallgemeinerung zur Deutung des umfassenden historischen Vorgangs —, war damit als unhaltbar aufgegeben. Andererseits hatte die moralische Verurteilung neue Nahrung erhalten: es konnte weiterhin behauptet werden, daß Deutsche an der Zersetzung der deutschen Kampfkraft planmäßig gearbeitet und ohne jede Rücksicht auf nationale Inter-essen den Abbruch des Kampfes hatten erzwingen wollen.
Wie die Ergebnisse dieses Prozesses, so mußten auch die Arbeiten des von 1919 bis 1928 tagenden Untersuchungsausschusses des Reichstages mäßigend auf die politische Agitation wirken; und die Wahlpropaganda der Deutschnationalen im Jahre 1928 räumte diesem Vorwurf dann auch nur noch geringen Platz ein Dagegen spielt er in der fortan wichtigeren nationalsozialistischen Agitation eine erhebliche Rolle, allerdings mit etwas anderem Inhalt. Die Haltung der NSDAP war auch in dieser Frage durch Hitlers Buch „Mein Kampf" bestimmt, in dem er zwar auch die „Verräter" hart verurteilt, aber mit gleicher Schärfe der Regierung vorwirft, sie habe versagt. Aus seiner Sicht war die Niederlage des Kaiserreichs „verdient". Das Wort „Dolchstoß" kommt in dem umfangreichen Buch nicht vor, nur an einer Stelle klingt die Vorstellung an — aber auch hier wendet er sich mindestens ebenso stark gegen die leichtfertige Fehleinschätzung der marxistischen Gefahr durch den Kaiser und die Reichsleitung: „Kaiser Wilhelm II. hatte als erster deutscher Kaiser den Führern des Marxismus die Hand zur Versöhnung gereicht, ohne zu ahnen, daß Schurken keine Ehre besitzen. Während sie die kaiserliche Hand noch in der ihren hielten, suchte die andere schon nach dem Dolche." Auf die „Dolchstoß" -Wirkung, die für die Gegenwart kaum noch bedeutsam war, kam es Hitler nicht an, dagegen geißelte niemand schärfer als er die verräterische Gesinnung der Marxisten, seiner politischen Gegner Das in seiner Vieldeutigkeit geeignetere Schlagwort „Novemberverbrecher" gab in der Propaganda der NSDAP vor 1933 die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des deutschen Elends — nicht selten mit dem „Im Felde unbesiegt" verbunden zu einer Behauptung, die selbst Ludendorff, Bauer und Graefe nicht aufgestellt hatten: im November 1918 sei der „Sieg zum Greifen nahe gewesen"
Wie stark auch diese wirksam unters Volk gebrachten Parolen zur Verhetzung in den Jahren vor 1933 und damit zur Schwächung der den damaligen Staat tragenden Kräfte, auch zu einer illusionären Beurteilung der deutschen Lage beigetragen haben, die Bedeutung dieses Faktors für die Auflösung der Weimarer Republik sollte doch auch nicht überschätzt werden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die nationalsozialistische Propaganda neben dem historischen „Dolchstoß" genügend Anklagen aus der politischen Gegenwart enthielt, die in ihren Augen geeignet waren, die sozialistischen und demokratischen Gegner herabzusetzen und dem deutschen Volk klarzumachen, daß es von solchen Politikern die Rettung nicht erhoffen könne. Vor allem aber sollte uns die Kenntnis der mannigfachen „inneren" Ursachen für die „Auflösung der Weimarer Republik", die wir der Forschung des vergangenen Jahrzehnts verdanken, vor einem ähnlichen Irrtum bewahren, wie er der „Dolchstoßlegende" selbst zugrunde liegt: . zersetzende Parolen zu den Hauptursachen für den Zusammenbruch eines Staates zu rechnen. Nach unserer heutigen Kenntnis könnte man die Legende statt dessen einordnen als ein Symptom für die tiefer-liegenden Ursachen der inneren Zerrissenheit des Volkes das allerdings ohne Zweifel selbst zur Verschärfung beitrug.
Auswirkungen der Dolchstoßlegende während des Dritten Reichs
Nach dem 30. Januar 1933 wechselt die Propaganda Hitlers die Angriffsrichtung. Die „Novemberverbrecher" zu bekämpfen, war bald nicht mehr nötig; daran zu erinnern, daß damals ein „Unrecht" geschehen sei — wie es monarchistische Kreise taten —, konnte sogar unbequeme Folgen haben, es begünstigte die Forderung, das verletzte Recht wiederherzustellen. Gerade gegenüber dieser Tendenz trat nun die andere Seite der These wieder stärker hervor: der schon im „Mein Kampf" erhobene Vorwurf gegen die „Schwäche" der kaiser-lichen Regierung im Weltkrieg, der vor 1933 wenig eingebracht und zudem die zeitweiligen Verbündeten von Harzburg verärgert hätte. Daß der Zusammenbruch nicht unverdient gekommen war, sprach Hitler nun immerhin wieder bei einer Gedenkfeier aus, bei der man eine Stellungnahme zum 9. November 1918 erwarten konnte: alljährlich am Abend des 8. November im Münchener Bürgerbräukeller Im Ausblick auf die Zukunft versicherte er den Alten Kämpfern, daß er ähnliche Fehler in einem Kriege nicht machen werde — davon sollte das deutsche Volk überzeugt sein Der Aufbau des totalitären Systems mit der Überwachung aller noch vorhandenen oppositionellen Strömungen gab der Führung des Dritten Reichs und ihrer Anhängerschaft die Gewähr dafür, daß in Zukunft ein „Dolchstoß" nicht mehr möglich war. Das Wort „Zersetzung der Wehrkraft", das die gemeinten Erscheinungen besser traf, zog als neuer Tatbestand des Kriegsstrafrechts eine wirksame Konsequenz aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges die Androhung der Todesstrafe auch für derartige „Zersetzung" war eine einprägsame Warnung, die jeden Volksgenossen an seine Pflicht erinnerte, selber die Wehrkraft des deutschen Volkes zu erhalten und zu stärken.
Ein vorbeugender Erfolg im Sinne Hitlers isl in den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges nicht zu leugnen. Erst seit 1942 wurde Hitlers Machtstellung stärker von „Zersetzung" bedroht In einem System, das darauf angelegt ist und mit zunehmender Ausweitung seiner Fronten immer mehr darauf angewiesen zu sein glaubt, alle Kräfte in den Dienst des Krieges zu stellen, kann jedes Zurückbleiben hinter den geforderten gemeinsamen Anstrengungen als „Verrat" empfunden werden Mit dem Wandel der Kriegstechnik in Richtung auf „absolute", „totale" Waffen kam jedoch ein ganz neuer Maßstab in die Beurteilung von Sabotage der Kriegsproduktion:
im Wettlauf um die Wunderwaffen, von denen so viel gesprochen wurde, konnten vereinzelte Sabotageakte und Verrat von Produktionsplänen und -Stätten eine wirkliche oder vermeintliche Siegeschance zunichte machen, an die man auch dann noch glauben konnte, wenn alle üblichen Anzeichen einer Niederlage — große Verluste (auch ganzer Armeen), Lähmung des Verkehrs und der Produktion konventioneller Waffen, Schutzlosigkeit gegen herkömmliche Angriffe —-gegeben waren. Die Sorge vor einer zweiten „Dolchstoßlegende", die bei allen Planungen der Widerstandsgruppen sich meldete wird vor diesem Hintergrund der nationalsozialistischen Propaganda besonders verständlich. Während so die Überzeugung, dem neuen Deutschland müsse das Verhängnis einer zweiten Legende mit innerer Verfeindung und Selbsttäuschung erspart werden, die Widerstandskämpfer zu zusätzlichen und zum Teil hemmenden Vorkehrungen zwang, hatte die Gegenseite sich von der alten Vorstellung, 1918 habe allein der Dolchstoß den Zusammenbruch herbeigeführt, schon lange gelöst. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Attentats vorn 20. Juli 1944 spricht Hitler im Rund-funk zwar von einer kleinen Gruppe, die geglaubt habe, „wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken führen zu können", und die For-mel wird in den folgenden Tagen oft wiederholt Doch im Haß gegen die jetzigen „Verräter" konnte Himmler die alte Legende zum Jahre 1918 geradezu umkehren: am 3. August 1944 erwähnte er vor den höchsten Führern der Partei in einer Anklage gegen den General-stab „eigenartige Erscheinungen" in der militärischen Führung während des Ersten Weltkriegs, die nur als Verrat gedeutet werden könnten und denen er eine ausschlaggebende Wirkung für den Zusammenbruch zuschrieb während man früher „selbstverständlich" in der Propaganda die Revolution als „Aufstand der Untermenschen . . ., der Deserteure, der Juden, der Asozialen, der Kriminellen" „absolut in den Vordergrund" geschoben habe. Also nicht mehr allein „Dolchstoß der Heimat" gegen die Front oder Zersetzung durch bolschewistische Propaganda, auch nicht nur Schwäche der Führungsschicht oder Illusionen gegenüber den Wilsonschen Lockungen, sondern Verrat des Generalstabs.
Das Schlagwort ist jetzt also nur noch ein Mit-tel der Propaganda ohne inneren Zusammenhang mit der Beurteilung des Zusammenbruchs von 1918. Die Tat des 20. Juli wird mit dem „Dolchstoß" offenbar nur verglichen, um das Gefühl nationaler Solidarität anzusprechen, das nach damals verbreiteter Ansicht 1918 mit verhängnisvollen Folgen verletzt worden war. Indem ein Gelingen des Attentats -— nach seinem Scheitern — einem „Dolchstoß" gleichgestellt wurde, erhöhte man außerdem Hitlers Bedeutung für den Sieg Deutschlands — man bezeichnete ihn gewissermaßen als das Lebenszentrum der Nation — und nährte zugleich die erwünschte Vorstellung von einem kleinen verächtlichen, außerhalb der Volksgemeinschaft zu denkenden Täterkreis. Nach dem Zusammenbruch erweitert sich dagegen — wie 1918 — bei den Anhängern des beseitigten Systems die Bedeutung des Wortes. Wie in der Novemberrevolution das Suchen nach Ursachen des Zusammenbruchs schnell vom „Dolchstoß der Revolution" zum „Dolchstoß" zersetzender Propaganda in den vorangegangenen Jahren führte, so nach 1945 vom 20. Juli über Akte von Sabotage oder Spionage mit vermeintlich kriegsentscheidender Bedeutung zur psychologischen Stärkung des Feindes und psychologischen Schwächung der deutschen inneren Front Entsprechend den Forderungen eines totalitären Systems wird dabei Verrat am Maßstab „totaler" Hingabe an den „Führer", eine Schädigung der Kampfkraft am Maßstab „totaler" Ausnutzung des Kriegspotentials gemessen, zu dem auch die seelischen Kräfte jedes einzelnen gehören.
Demgegenüber gehört es in der breiten deutschen Öffentlichkeit nach 1945 zum politischen Dogma, daß die These vom „Dolchstoß im Jahre 1918" eine Legende sei, deren Verbreitung schweren Schaden angerichtet hat. Die Persönlichkeiten, die sich jetzt vorwiegend für die undankbare Aufgabe des Wiederaufbaus zur Verfügung stellten, glaubten aus ihrer Erfahrung vom Ende der Weimarer Republik die verhängnisvolle Schädigung der Demokratie durch diese Legende zu kennen; wer sie noch vertreten hätte, wäre — auf Grund eines verständlichen Kurzschlusses — in den Verdacht antidemokratischer Tendenzen gekommen. Diese Wen-dung zu grundsätzlicher Verurteilung einer lange anerkannten Ansicht hängt in vielfältiger Weise mit den Erfahrungen zusammen, die das deutsche Volk seit 1933 gemacht hatte; darauf ist im folgenden zurückzukommen. Der Begriff „Dolchstoßlegende" verflacht aber nun selbst im häufigen Gebrauch zu einem Schlagwort, das mit dem Wort der zwanziger Jahre nur noch die Absicht gemein hat, jede Kritik an einer unpopulären, aber notwendigen Politik als böswillig und gefährlich für die innere Geschlossenheit einer bedrohten Gemeinschaft zu kennzeichnen, ob es sich nun um Angriffe auf die deutsche Bundesregierung wegen ihres Verhaltens gegenüber den Deutschlandnoten Stalins im Frühjahr 1952 oder um Kritik an Präsident Kennedy wegen seiner Zurückhaltung in den Tagen nach dem 13. August 1961 handelt.
Die wissenschaftliche Überprüfung der „Dolchstoß" -These in den zwanziger Jahren
Doch haben wir uns nun dem Weg zuzuwenden, den die wissenschaftliche Behandlung des „Dolchstoß" -Problems seit 1919 genommen hatte. Dem Historiker fiel die Aufgabe zu, die aus dem Erlebnis der Revolution entstandene Deutung — die der politische Agitator freudig aufgegriffen hatte, weil sie ihm im Kampf um die Wählerstimmen Erfolg versprach — zu überprüfen, indem er seine Fragen stellte und auf Grund eines dementsprechend gesammelten Materials beantwortete. Für solche Arbeit war das Klima der ersten beiden Jahrzehnte wenig günstig, weder in den Jahren bis 1933, als die Deutung des Zusammenbruchs wegen ihrer Aktualität heftig umstritten war, noch in der Zeit nach 1933, in der der „Dolchstoß" als ein Dogma der herrschenden Partei galt.
Einige der ersten Arbeiten standen sogar unmittelbar unter dem Einfluß der Politik, es waren Gutachten für den Untersuchungsausschuß des Reichstags, dem im Rahmen seiner Arbeit über die Ursachen des Zusammenbruchs auch die Aufgabe zugefallen war, den 1922 verstärkten Streit um den „Dolchstoß" zu beendigen. Bei der Auswahl der Bearbeiter —• General v. Kuhl, Oberst Bernhard Schwertfeger, Professor Hans Delbrück, Dr. Ludwig Herz, Simon Katzenstein — hatte auch ihre vermutliche Stellung zum Problem eine Rolle gespielt, und bei der Diskussion ihrer Gutachten mußten manche Äußerungen der Ausschußmitglieder den Eindruck verstärken, daß es sich um eine politische Streitfrage handelte: oft genug schlug der Parteistandpunkt durch, wenn auch die proportionale Beteiligung der Fraktionen die Gewähr bot, daß eine einseitige Sicht nicht dominierte. Unter diesen Umständen ist der Zweifel berechtigt, ob hier überhaupt wissenschaftlich gearbeitet werden konnte.
Entscheidend für den Wert der Arbeit war, daß der Ausschuß seine Einstellung grundsätzlich änderte. Schon die Nationalversammlung hatte den ursprünglichen Plan, nach dem ein Staatsgerichtshof einen Schuldspruch fällen sollte, nicht verwirklicht, sondern den Ausschuß mit dem Auftrag eingesetzt, zu bestimmten Fragen „Feststellungen" zu treffen. Wichtiger war noch, daß sich auch bei den Mitgliedern an Stelle der „ursprünglichen Absicht, nach Schuldigen zu suchen", das Ziel durchsetzte, „die historischen Grundlagen für die Beurteilung der Dinge durch die kommenden Geschlechter" zu schaffen Die größte Belastung für eine wissenschaftlich fruchtbare Arbeit eines derartigen Gremiums bestand jedoch darin, daß dem Reichstag am Ende der Beratungen ein Beschluß vorgelegt werden sollte, dem unvermeidlich eine politische Bedeutung zukam. Aber nachdem der Ausschuß sich darüber klargeworden war, daß Mehrheitsbeschlüsse über historische Fragen nur begrenzten Wert haben konnten näherte er sich den Formen historischer Forschung, für die eine Darlegung der Parteistandpunkte — auch durch die Mitglieder des Ausschusses — Quellenwert hatte, insbesondere wenn es um die Klärung der herrschenden Auffassungen und Motive ging. Johann Viktor Bredt zeigte Vorteil und Nachteil fehlender Distanz: es sei schon viel, wenn der Ausschuß „das erforsche und festhalte, was aus der Nähe besser erkannt werden kann als aus der Ferne". Möglichkeiten und Grenzen der Arbeit unter derartigen Umständen waren ihm voll bewußt:
„Wir sind heute gewissermaßen im zweiten Stadium und können schon daran denken, unsere eigenen Erlebnisse im Rückblick zusammenzufassen und zu bewerten. Die originalen Urkunden und unmittelbaren Aufzeichnungen erscheinen uns schon als Quelle der historischen Erkenntnis, und die gewonnene Entfernung ermöglicht schon eine Verbindung dieses Materials mit der eigenen Beobachtung. Die heutige Anschauung aber wird der kommenden Geschichtsschreibung auch wieder nur als Quelle der Erkenntnis dienen." Auch die —-gewiß nicht unproblematische — Möglichkeit und Auswirkung der zeitgeschichtlichen Forschung, die sie von der Arbeit über andere Epochen unterscheidet, wird gesehen: direkt oder indirekt, durch Fragen und durch Ergebnisse, die noch lebenden Akteure zu Äußerungen zu veranlassen, Quellen also nicht nur zu erschließen und auszuwerten, sondern auch zum Fließen zu bringen Zeugen verhörte der Ausschuß allerdings nur selten und für wenige Bereiche; dagegen bilden seine Verhandlungen selbst ein eindrucksvolles Beispiel für die Chancen wie für die Gefahren einer historischen Forschung, die sich das politische Engagement der Beteiligten dienstbar zu machen versteht, aber ständig in Gefahr ist, von ihm mißbraucht zu werden.
Die Auseinandersetzung mit dem „Dolchstoß" belebte die erheblich breiter angelegten Arbeiten über die Ursachen des Zusammenbruchs stark, war aber auch eine Gefahr für sie. Obwohl sich bald herausgestellt hatte, daß das Bild fragwürdig war, und deshalb vorgeschlagen wurde, das Wort „auszumerzen" tauchte es als populäre Abkürzung doch immer wieder auf. Die übersteigerte These, die selbst nur ein Ergebnis politischer Propaganda war — die Behauptung, die Revolution habe einen Sieg vereitelt, die revolutionäre Agitation allein habe den Zusammenbruch verursacht — wurde allerdings nicht ernsthaft vorgebracht. Der eigentliche Gegenstand der Diskussion war die schwächere These, die wir als Erlebnis der Revolutionswochen bei Persönlichkeiten ganz verschiedener Richtung festgestellt haben — die Revolution habe ein Weiter-kämpfen für erträgliche Waffenstillstands-und Friedensbedingungen unmöglich gemacht, Agitation und Streiks hätten erheblich zum Absinken der Kampfkraft beigetragen. Für sie wurden die Fragen präzisiert und ein großer Teil des damals verfügbaren Materials aufgearbeitet. Einige Mißverständnisse wären vermieden worden, wenn sich der Vorschlag des Abgeordneten Philipp durchgesetzt hätte, von „Dolchstoß" nur im Zusammenhang mit dem Ereignis der Revolution zu sprechen, für die zersetzende Propaganda dagegen das Bild der „Vergiftung" zu wählen. Mit dieser Unterscheidung, der übrigens jetzt auch Hindenburg im Unterschied zu seiner Aussage von 1919 zustimmte hätte man sich noch mehr dem Sprachgebrauch des November 1918 genähert, als Beck von „Bazillenträgern" schrieb, Groener zur Abwehr „Serumspritzer" zu den Truppenteilen schickte.
Es war ein Erfolg wissenschaftlichen Bemühens, daß Anhänger wie Gegner der These sich sowohl über das Vorhandensein wie über den Umfang der Gruppen, die revolutionäre Propaganda betrieben hatten und die einen Frieden um jeden Preis hatten erzwingen wollen, weitgehend einig wurden. Doch blieb dies Ergebnis auch im Rahmen dessen, was beide Seiten politisch erreichen wollten oder zugestehen konnten: wer die Wirkung des „Dolchstoßes" bestritt, konnte unbesorgt die Existenz solcher Gruppen zugeben; ihr Nachweis genügte andererseits denen, die ihre Tätigkeit nicht nur als schädlich, sondern auch als verwerflich verurteilten. Es lag an solchen politischen Absichten, aber auch an grundsätzlichen Unterschieden der Geschichtsauffassung, wenn in der eigentlich wichtigen Frage, welche Wirkung diese Tätigkeit auf den Kriegsverlauf und auf den Abschluß des Waffenstillstands und Friedens gehabt habe, keine Einigkeit erzielt werden konnte. In dieser Frage verfingen sich Ausschußmitglieder und Gutachter auch immer wieder in der Argumentation von Anklage und Verteidigung. Wenn der Sachverständige Herz auf den Widerspruch hinwies, der in den beiden Fas-sungen der These liege, „zu sagen, daß ein Heer durch Agitation so verseucht gewesen sei, daß es geschlagen wurde, und zugleich zu sagen, trotz dieser Zersetzung der Kampffähigkeit des Heeres hätte man weiterkämpfen müssen und können“, dann konnte er damit gewiß zwei überspitzte Propagandathesen des politischen Gegners in Frage stellen, lenkte aber zugleich von den Problemen ab, deren Klärung hätte weiterführen können. Politische Rücksichten verhinderten schließlich auch, daß die Ergebnisse des Ausschusses in seiner Entschließung voll zur Geltung kamen. Da der Reichstag im Frühjahr 1928 vor Neuwahlen stand und eine Diskussion im Plenum den Ertrag der achtjährigen Arbeit wieder gefährdet, wenn nicht zerstört hätte, waren alle Beteiligten daran interessiert, daß ein einstimmiger Beschluß zustande kam, der seinerseits nur durch Neutralisierung der Streitpunkte erreicht werden konnte. Nimmt man jedoch Gutachten und Protokolle als Ganzes, dann ist der Ertrag nicht gering, wenn ihm auch die volle Auswirkung auf die Öffentlichkeit in der erhitzten Atmosphäre der folgenden Jahre versagt war. Die Frage, die der Geschichtswissenschaft durch das Erlebnis der Revolutionsmonate und seine Formulierung in einem Schlagwort gestellt wurde, war zumindest indirekt beantwortet: die einseitige Deutung des Zusammenbruchs, die sich viele Menschen während der Revolution aus zeitbedingter Perspektive zurechtgelegt hatten, mußte abgewandelt, andere wichtige Mitursachen mußten anerkannt werden. Soweit die „Dolchstoß" -Vorstellung auf dieser Auffassung beruht hatte, war sie widerlegt.
Zwei Werke entgegengesetzter Richtung führten noch im Jahre 1928 die Diskussion über die Ergebnisse hinaus, mit denen der Ausschuß sich hatte begnügen müssen. Während Arthur Rosenberg als Frucht seiner Mitarbeit im Untersuchungsausschuß eine Geschichte der „Entstehung der deutschen Republik 1871 bis 1918" schrieb, in der er die „Dolchstoß" -These nur gelegentlich und stets mit negativem Vorzeichen erwähnte und im übrigen indirekt widerlegte präzisierte Hans Herzfeld mit dem Thema „Die deutsche Sozial-demokratie und die Auflösung der nationalen Einheitsfront im Weltkrieg" eine der Fragen, mit denen die damalige Diskussion noch vertieft werden konnte. Er bezeichnete klar die Schwächen im Verfahren des Untersuchungsausschusses und des Münchner Amtsgerichts: das Problem, „wieweit Kräfte aus dem eigenen Schoße der Nation aktiv und bewußt zu dem Zusammenbruch Deutschlands im Kriege beigetragen haben", sei dadurch verdunkelt worden, daß man „dieser Teilfrage nach einem der Gründe der nationalen Kata-strophe die Frage nach der Summe aller ihrer Gründe" entgegengehalten habe. Außerdem warnte er davor, aus „Verantwortung gegen den lebenden Staat" „die Erkenntnis der Sache" politischen Bedürfnissen unterzuordnen, das hieße in diesem Fall: „vorhandene Gegensätze der Gegenwart" zu „mildern" oder „offenzuhalten". In seiner eigenen Untersuchung, die die politische Wirksamkeit aller sozialdemokratischen Gruppen einbezog, wurde weder das Versagen der Reichsleitung noch die Wirkung der elementaren Kriegsnöte übersehen; trotzdem kam die Formulierung des Ergebnisses dem „Dolchstoß" -Bild in beiden Bedeutungen sehr nahe: Der „Stoß", den die revolutionäre sozialistische Politik „in jahrelangem Ringen dem deutschen Kampfwillen zu versetzen gesucht hat und schließlich mit dem abschließenden Erfolg der Revolution vor dem Feinde versetzt hat", habe seine Wirkung getan. Dieses Urteil, das von den Vertretern der gemäßigten „Dolchstoß“ -Thesen als wissenschaftliche Bestätigung aufgefaßt werden konnte, maß das Verhalten der Revolutionäre unerbittlich an den Pflichten nationaler Solidarität; die Folgerung, daß von dieser Politik geschichtlich „nur die lähmende Zersetzung der deutschen Widerstandskraft" geblieben sei, entsprach einer verbreiteten politischen Überzeugung der Zeit.
Die Arbeiten von Herzfeld und Rosenberg bezeichnen zusammen den Stand der Diskussion in den Jahren vor 1933. Auch Friedrich Meineckes Feststellung, die These sei „eine tendenziöse Karikatur des Hergangs" mit einem „Körnchen Wahrheit", ließ nach wie vor Raum für unterschiedliche Ansichten, welche Bedeutung dem „Dolchstoß" nun wirklich zukomme Die Überformung der Dolchstoßlegende in der NS-Geschichtsauffassung Während des Dritten Reiches war die „Dolchstoß “ -These nicht Gegenstand eingehender Untersuchung; in allgemeinen Darstellungen wurde sie meist übernommen wenn auch gelegentlich indirekt eingeschränkt. Im Schluß-band des amtlichen kriegsgeschichtlichen Werkes, der sich auch für 1918 fast ausschließlich auf operative Entscheidungen und Ereignisse sowie auf die Beziehungen zwischen OHL und Reichsleitung beschränkt, findet sich lediglich an zwei Stellen ein Satz mit dem Wort „Dolchstoß" fast als wollten die Verfasser einer Pflicht der Pietät genügen oder ihr nationales Gewissen beruhigen. Die Probleme eines „Dolchstoßes" sind dabei (wie in dem ganzen Werk) so wenig behandelt, daß die These weder gestützt noch — wie behauptet —unausgesprochen widerlegt wird. Auch für eindeutig nationalsozialistische Geschichtslehrbücher stand die „Dolchstoß" -These keineswegs im Mittelpunkt. Ein Grundriß, der an einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt erarbeitet wurde führte den Umschwung der militärischen Entscheidung, die im Frühjahr 1918 „auf des Messers Schneide" gestanden habe, auf das Eintreffen frischer amerikanischer Truppen zurück, eine Wirkung der „marxistischen Propaganda" auf die Front stellte es erst für die Zeit nach dem 8. August 1918 fest, als „Aussicht auf einen militärischen Sieg" nicht mehr bestanden habe. Nicht anders hat-ten früher die Gegner der These argumentiert. Als Kapitelüberschrift erscheint dann zwar „Der Dolchstoß in den Rücken des im Felde unbesiegten deutschen Soldaten", doch faßt sie entsprechend dem nationalsozialistischen Verständnis der „landesverräterischen Tätigkeit der überstaatlichen Mächte" sehr verschiedenartige Ursachen der Niederlage zusammen: Die Friedensresolution als gemeinsame Tat der „freimaurerischen, marxistischen und politisch-katholischen Kräfte", die Herrschaft der „jüdischen Finanzmacht" über die deutsche Wirtschaft, deren Auswirkungen — „die Verknappung der Lebensmittel und das Schieber-und Kriegsgewinnlertum" — den Siegeswillen ebenso zermürben wie „die jüdische Gedankenwelt", die sich in Pazifismus, zersetzenden Flugschriften, Organisierung der Fahnenflucht, Streiks und Erpressung der preußischen Wahlrechtsreform äußert.
Der Wandel der Maßstäbe und der Fragestellung zwischen 1930 und 1950
Vergleichen wir nach diesem Blick auf eine nationalsozialistisch überformte „Dolchstoß" -These ihre letzte freie Erörterung vor 1933 mit den Stellungnahmen seit 1945, dann stoßen wir auf Unterschiede der Betrachtungsweise, die unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung von Geschichte und Gegenwartsbewußtsein unser besonderes Interesse verdienen. Daß die Legende ganz in den Vordergrund der wissenschaftlichen Erörterung rückte wie schon in den der publizistischen, ist leicht zu verstehen und soll uns dabei nicht näher beschäftigen: das Erlebnis der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs stellte neue Aufgaben und warf neue Schuldfragen auf, deren Beantwortung die Historiker voll in Anspruch nahm. So wurde in der Neubesinnung jener Jahre die Geschichte der „Dolchstoßlegende" zum Beispiel einer historisch verhängnisvollen Verfälschung der Sprache ohne deren Korrektur das politischhistorische Denken nicht gesunden konnte. Für den „Dolchstoß" selbst, auf dessen Erörterung in der Zeit nach 1945 sich der Vergleich beschränken soll, hatte das zur Folge, daß er eigentlich nur noch dann vom Lichtkegel eines Scheinwerfers aus dem Dunkel herausgeholt wurde, wenn dieser für die Vorgeschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs eingesetzt war. Daß er unabhängig von dieser fragwürdigen, von Mißverständnis und bösem Willen genährten Nachwirkung ein Jahrzehnt lang ein Anstoß oder wenigstens ein Gesichtspunkt wissenschaftlicher Diskussion gewesen war, schien vergessen zu sein.
Ein erster Vergleich der vor 1933 und nach 1945 vorherrschenden Urteile erinnert an den gleichzeitigen Wandel in der Beurteilung der deutschen Weltpolitik vor 1914, auf den Peter Rassow 1951 hingewiesen hat eine ältere Auffassung habe in der Umgestaltung einiger europäischer Großmächte zu Weltmächten einen Vorgang gesehen, an dem Deutschland ganz selbstverständlich teilzunehmen hatte, so daß sein Straucheln auf einzelne nachweisbare Fehler der deutschen Politik zurückgeführt werden konnte, während eine neuere Auffassung das Weltmachtstreben Deutschlands zwar als subjektiv durchaus berechtigt anerkenne, sein Scheitern aber mit dem Vorhandensein objektiv vorhandener Hindernisse erkläre. In ähnlicher Weise hat sich das Urteil über die innerdeutsche Entwicklung gewandelt. Während lange Zeit die „nationale Einheitsfront" als selbstverständliches und erreichbares Ziel galt, das nur aus subjektivem Versagen gegenüber dieser Aufgabe — Fehlern der einen, Verrat der anderen Seite — nicht erreicht wurde, scheint sich nun eine Auffassung durchzusetzen, die das Streben nach dieser Einheitsfront und deren Erhaltung zwar als durchaus verständliches Ziel ansieht, ihr Nichterreichen vor 1914 und ihren raschen Verfall danach aber aus gleichsam objektiven Gegebenheiten der politisch-sozialen Struktur Deutschlands erklärt. Die Beurteilung des „August 1914" bietet gewissermaßen die Gegenprobe: Galt er vielen Zeitgenossen als der ideale Zustand des deutschen Volkes, der nach langen Irrungen endlich erreicht und nur durch böse Kräfte wieder zerstört worden war, so findet man heute die Tendenz, in ihm einen — von den meisten gewiß als vorwiegend glücklich beurteilten — Ausnahmezustand zu sehen, der nur unter den besonderen Umständen einer plötzlich aufgetauchten Gefahr erreicht werden konnte und vorübergehend die inneren Spannungen überdeckt hatte, die den deutschen Staat gefährdeten und die nachhaltig zu bannen in der von Bismarck geschaffenen Ordnung nicht möglich gewesen war.
Sofern es sich hier um eine andere Einschätzung der Chancen für die erwähnten beiden Ziele deutscher Politik handelt — für die Steilung als Weltmacht wie für die nationale Einheitsfront im Kriege —, ist das Erlebnis des Dritten Reiches daran beteiligt. Hitler hatte vieles erprobt, was der mit dem Schicksal hadernden Generation nach 1918 immer nur eine Möglichkeit gewesen war, auf die verzichtet zu haben nachträglich Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Politik erregen konnte — ob wir nun an radikale außenpolitische Ziele oder an die konsequente Organisation des Volkes für den Krieg und im Kriege denken. In einer Betrachtung der Geschichte Deutschlands al National-, Verfas-sungs-und Kulturstaat ht es jüngst Theodor Schieder als „mögliches Fazit aus den Erfahrungen unserer Generation" bezeichnet, ganz allgemein „die Unvollendetheit ohne Hoffnung auf Vollendung als die Grundkategorie unserer Geschichte" hinzunehmen. Gegenüber dieser Tendenz stellt sich von unserem Beispiel her die Frage, wo für den Historiker die Grenze liegt zwischen einem zulässigen, ja fruchtbaren Einbeziehen späterer Erfahrungen, die seine Einsicht in die Möglichkeiten einer historischen Situation vertiefen, und anachronistischen Maßstäben auf Grund unzulässiger Analogieschlüsse.
Der Wechsel der Betrachtungsweise hängt jedoch enger mit einer veränderten Fragestellung zusammen. Heute interessiert nicht mehr in erster Linie Schuld und Versagen der im Ersten Weltkrieg wirkenden Generation, sondern das Verhältnis von „gesellschaftlichen Bewegungskräften" und „staatlich-politischer Ordnung" und seine Bedeutung für Stärke und Nachlassen der Leistung im Kriege. Die Fruchtbarkeit dieser neuen Sicht erweist sich — wie hier eingefügt werden kann — auch daran, daß wir mit ihr zugleich jene Erscheinung besser verstehen können, die bei einer isolierten Prüfung der „Dolchstoß" -These überhaupt nicht erfaßt würde, obwohl sie zu den Vorgängen im November 1918 wesenhaft dazugehört: die eigentümliche Lähmung, mit der die führenden Schichten den revolutionären Ereignissen gegenüberstanden. Offenbar haben in der damalige Lage auch sie unter der Spannung der unausgetragenen Gegensätze gelitten, hat auch ihnen die volle Überzeugung von der Gerechtigkeit der bestehenden Ordnung gefehlt, die ihnen die Kraft gegeben hätte, sich über die „mysteriösen" Schießverbote hinwegzusetzen und jene „wenigen Kompanien" zu bilden, die — wie es im historischen Optativ bald formuliert werden sollte — „dem ganzen Spuk ein Ende machen" konnten. Vergleichen wir diese Frage nach der politisch-sozialen Struktur Deutschlands und ihrer Auswirkung auf die Kampfkraft im Kriege mit dem Ausgangspunkt und dem Gang der Erörterungen um den „Dolchstoß", dann be-* stätigt sich an diesem Beispiel der „Dreischritt", in dem sich nach Hermann Heimpels Beobachtung die historische Forschung „fast gesetzmäßig" von der Schuldfrage über die Ursachenfrage zur Strukturfrage zu bewegen pflegt Da sich in diesem Fortschreiten neben einer auch politisch bedingten Tendenz zu sozialgeschichtlicher Vertiefung ganz allgemein eine innere Dialektik der modernen Geschichtswissenschaft zu äußern scheint, die von dem Erreichen neuer Standorte, dem Gewinnen neuer Perspektiven bestimmt wird und sich auch an der Behandlung althistorischer und mediaevistischer Themen in den letzten Jahrzehnten nachweisen ließe, interessiert uns der Anteil des einzelnen Historikers besonders. Zum ersten Schritt zumindest, der Frage nach der Schuld, gehört eine starke innere Anteilnahme, die häufig mit der Erlebnisnähe des Zeitgenossen und der in ihr sich politisch stellenden Schuldfrage zusammenhängt. Eine wissenschaftliche „Dolchstoß" -Diskussion, die solchen Schuldvorwurf zum Gegenstand hatte, konnte entstehen, weil auch Historiker hier zunächst nach Schuld fragten, andere sie bestritten. Nach vier Jahrzehnten finden wir eine veränderte Sicht: das Einbeziehen der gegnerischen Gesichtspunkte hat, sofern es nicht bei dogmatisch verhärteter Auffassung blieb, bei den zeitgenössischen Historikern zu einer Distanzierung von ihrer ursprünglichen Ansicht geführt, bei den nachgewachsenen Generationen zu einem distanzierten Bemühen um Verständnis der untersuchten Haltungen. „Das politische Ja und Nein zu den Figuren des Dramas" scheint sich — wie Karl Dietrich Erdmann es als Ergebnis zeitgeschichtlicher Arbeit fordert — „in ein wissenschaftliches Verstehen" zu verwandeln, „das nach den Gründen fragt, warum die Menschen so verschieden handeln, und sich nicht scheut vor dem Vorwurf, daß alles verstehen alles verzeihen heiße"
Dieser Dreischritt, der sich mit dem wechselnden zeitlichen und inneren Verhältnis des Forschers zu einer zeitgeschichtlichen Frage als schrittweise Distanzierung von der eigenen Auffassung vollziehen kann, verschränkt sich allerdings in diesen Jahrzehnten mit einer Umschichtung der Werte, die allein „unserer" Zeitgeschichte zugehört. An einem vergleichbaren Beispiel, der Widerstandsbewegung gegen Hitler im Zweiten Weltkrieg, sei zunächst gezeigt, was es für deren Beurteilung bedeuten konnte, daß in den vergangenen Jahrzehnten „die Rangordnung der Werte sich zurechtrückte und ethisch-religiöse Postulate an Stelle politisch-säkularisierter wieder an die oberste Stelle traten" Äußerlich betrachtet und vom Standpunkt der jeweiligen Staatsführung aus beurteilt haben „Dolchstoß" und Widerstand gemeinsame Züge, und in ihrer Bedeutung für den Kriegsverlauf und das Kriegsende werden sie selbst von so entgegengesetzten Richtungen wie der westdeutschen und der sowjetzonalen Geschichtswissenschaft annähernd gleich eingeschätzt: beide messen ihnen einen gewissen Einfluß bei, jedoch keinen entscheidenden. Beim Urteil über ihre innere Rechtfertigung zeigt sich die Abkehr vom Maßstab national-staatlicher Loyalität, der dem früheren Urteil über den „Dolchstoß" zugrunde lag. Der Widerstandsbewegung gegen Flitler wird in der westdeutschen Geschichtswissenschaft allgemein zugebilligt, daß sie sich bei ihren Aktionen •— auch denen, die formal einem „Dolchstoß" gleichgesetzt werden könnten — an Werten orientierte, die den Vorrang verdienten vor dem Herrschaftsanspruch Hitlers, der sich auch bei verbrecherischen Maßnahmen auf eine bedingungslose nationale Loyalitätspflicht berief. Die sowjetzonale Geschichtswissenschaft mißt nicht in gleicher Weise an den Werten von Recht und Menschlichkeit; sie beurteilt den Widerstand nur positiv, sofern sie in ihm einen „Kampf der friedliebenden Arbeiterklasse gegen den Faschismus" sehen kann.
In der Beurteilung des „Dolchstoßes" unterscheiden sich die beiden Richtungen dagegen nicht nur durch eine andere Wertordnung. Die marxistisch-leninistischen Historiker rühmen den Kampf der Revolutionäre von 1918, allerdings nicht als „Dolchstoß", sondern vorwiegend als ein Zeichen wachsenden proletarischen Bewußtseins. Obwohl sie diese Aktionen als „Einfluß der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" mit einer Sorgfalt registrieren, über die sich jeder Anhänger der „Dolchstoßlegende" gefreut hätte, wird die Frage nach ihrer Wirkung auf die Kriegsleistung und den Bestand des Kaiserreiches — dem „Dolchstoß" — meist überhaupt nicht ge-stellt, da die Niederlage des „deutschen Imperialismus" als der Verkörperung der „reaktionärsten, überlebtesten gesellschaftlichen Kräfte" und als eines Verfechters der „menschenfeindlichsten Ziele" „gesetzmäßig und unvermeidbar" war. Allein an ihrer Bedeutung für die Revolution interessiert, nicht dagegen an ihrem Einfluß auf den deutschen Staat, hat man bisher trotz des häufigen Nachweises einer „revolutionären Massenbewegung" deren „Dolchstoß" -Wirkung nicht näher untersucht und sie auch nicht als „verdienstvoll" herausgestellt Nur sofern man einen bürgerlichen Mißbrauch dieser Fragestellung verhindern will, geht man überhaupt auf sie ein.
In Wirklichkeit sind die nichtmarxistischen Historiker jedoch von dieser Art des Urteilens weiter entfernt, als es eine die bewußte Parteilichkeit voraussetzende Geschichtswissenschaft für möglich hält. Sie verurteilen die revolutionäre Agitation und Aktion nicht mehr wie in den zwanziger Jahren — die Maßstäbe, die solchem Urteil zugrunde lagen, gelten nun als Selbstaussage der behandelten Zeit —, sie preisen sie aber auch nicht, wie es als Folge einer opportunistischen Sympathie für die überlebende Partei denkbar wäre. Ein Vergleich mit den früheren Arbeiten zeigt, daß ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu den Vorgängen entstanden ist, eine Distanz, und zwar nicht vorwiegend zeitlicher, sondern sachlicher Art. Einer der Grün-de dafür ist gewiß, daß die Forderung nationalstaatlicher Loyalität, deren Vorrang eine Voraussetzung des „Dolchstoß" -Streites war, infolge ihrer Überspannung im totalitären System ihre Kraft verloren hat; und insofern ist die erwähnte Umschichtung der Werte auch an dieser Veränderung beteiligt.
Wichtiger sind allerdings wohl doch die machtpolitischen Veränderungen. Die Frage einer Selbstbehauptung Deutschlands als Großmacht, um die es noch 1918 ging, hat überhaupt jene Aktualität verloren, die eine wertende Stellungnahme fordert oder zu ihr verleitet; durch den Verlauf des Zweiten Weltkriegs ist sie endgültig verneint worden.
Während Anfang der dreißiger Jahre, ja noch 1942 eine Entwicklung, die die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918 rückgängig gemacht hätte, zumindest für möglich gehalten wurde — das Geschehen also im Bewußtsein vieler Zeitgenossen noch an der geschichtlichen Wirklichkeit dieser Entscheidung „herumbosselte" —, ist sie heute für uns ein „Fait accompli". Wünsche oder Befürchtungen können aus einer Beschäftigung mit diesen Vorgängen nicht mehr entstehen, denn die heutigen Entscheidungen fallen auf einem anderen, durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges geschaffenen Niveau.
Aus solcher Distanz würde eine Wiederaufnahme des Themas, deren Bedingungen und Möglichkeiten wir uns abschließend bewußt zu machen haben, die „Dolchstoß" -These von vornherein in die Untersuchung der politischsozialen Ordnung eingliedern, könnte sich ihr als einer Aussage der einen beteiligten Partei dann aber auch in ganz anderer Weise als bisher zuwenden. Das sei hier am „Dolch-stoß" -Bild vorläufig skizziert: Die Vorstellung von einem Täter und einem von ihm getöteten Opfer widerspricht so stark dem äußeren, im Weltkrieg lange bewußt genährten Bild des gemeinsam kämpfenden Volkes, daß sich die Frage aufdrängt, was ihr Auftauchen über das Bewußtsein von der politisch-sozialen Lage Deutschlands am Ende des Ersten Weltkriegs aussagt. Weit hinaus über die Vorwürfe des „Flaumachens", die sich bis in den Herbst 1914 als eine Vorformung des „Dolchstoß" -Erlebnisses zurückverfolgen ließen, wird mit dem Bild der Zerfall der geforderten unerläßlichen Einheit festgestellt und damit die Einsicht in die Niederlage ausgedrückt. Der Augenblick, in dem dies den politisch Mitlebenden bewußt wurde, trat zu verschiedenen Zeitpunkten zwischen dem 29. September und 11. November und in ganz verschiedenen Situationen ein — jeweils dann, wenn sie erkannten, daß ihr bis dahin oft schwer aufrecht erhaltener Wille zum Durchhalten sich dem Willen zum Einlenken oder den durch diesen geschaffenen Verhältnissen beugen mußte. Diesen Augenblick spiegeln selbst die Erinnerungen von Männern, die von ihren Gegnern in die Nähe der „Novemberverbrecher" gestellt wurden: Prinz Max von Baden schreibt über die „Aufrührer auf der Flotte", sie hätten „der nationalen Verteidigung das Rückgrat gebrochen" Groener mußte sich dieser Einsicht wenige Tage später beugen, als die Unruhen sich immer weiter ausbreiteten. Es bedarf keiner Phantasie, sich die Situationen für dieses Erlebnis vorzustellen: für die Offiziere, die sich zum Kampf in der Heimat anboten, war es der ablehnende Bescheid mit Rücksicht auf die revolutionäre Situation, für andere das Schießverbot, für die noch kämpfende Truppe meist die Nachricht über Revolution und Waffenstillstand. Für einen ausländischen Beobachter dagegen konnte es der Augenblick sein, als er erkannte, daß die für noch widerstandsfähig gehaltenen Deutschen aufgaben.
Anmerkungen zum Problem der Distanz in der zeitgeschichtlichen Forschung
Die neue Distanz bringt nicht nur den Vorteil unabhängigerer Beurteilung, sie bedeutet auch, daß der Historiker sich aus einer stark veränderten Umwelt heraus um ein Verständnis der Vorgänge bemühen muß und kann. Anders als die unmittelbar Beteiligten überblickt er die weitere Entwicklung: das lenkt die Aufmerksamkeit auf die siegreichen Kräfte und kann in Frage und Ergebnis zu deren Überschätzung führen. Die Formen, zu denen sich der politische und militärische Kampf inzwischen entwickelt hat, schärfen seinen Blick für deren erste Ansätze, die den Zeitgenossen des Jahres 1918 noch nicht vertraut waren, schwächen aber auch sein Gefühl für die damalige Wirksamkeit von Normen, die heute als überholt gelten. Daß der letzte Reichskanzler der Monarchie eine Revolutionierung der feindlichen Bevölkerung unter dem Gesichtspunkt „politischer Reinlichkeit" für höchst bedenklich ansah mag im Zeitalter des Kalten Krieges und revolutionärer Kampfführung Erstaunen erregen, der Historiker des „Dolchstoßes" wird sich jedoch klarmachen müssen, daß 1918 solche Auffassung nicht selten war. In ähnlicher Weise könnte es das Verständnis beeinträchtigen, wenn der heutige Ost-West-Gegensatz unmittelbar einer Interpretation der damaligen Sorge vor der bolschewistischen Gefahr zugrunde gelegt würde oder die heutige Eingliederung der Staaten in übernationale Organisationen den Maßstab beeinflußte, an dem das damalige Handeln im Sinne einer Selbstbehauptung des deutschen Nationalstaats beurteilt wird.
Diese letzte Phase im Wandel des Verhältnisses zum „Dolchstoß", in der sich die besonderen Bedingungen zeitgeschichtlicher Forschung offenbar verflüchtigen, veranschaulicht uns also zwei Arten von Distanz. Die eine, vorwiegend zeitlich bestimmte wird erkennbar, sobald ein unmittelbares Verständnis der Vergangenheit nicht mehr möglich ist, sobald es notwendig wird, sich in die vergangene Zeit „hineinzuversetzen". Die Übereinstimmung, deren Verlust wir hier beobachten, beruhte auf einer Gemeinsamkeit in den Grundanschauungen der Zeit; sie umfaßt daher alle Bereiche gleichzeitiger geschichtlicher Wirklichkeit. Zeitliche Nähe ist für sie entscheidend, das Kriterium des Begriffs Zeitgeschichte im Sinne eines Zeitver-hältnisses. Die Reichweite solcher Übereinstimmung läßt sich jedoch nicht mit einer feststehenden Zahl von Jahren angeben, wie es bei einer formalen Auslegung der Bezeichnung „Epoche der Mitlebenden''möglich sein müßte; auch sie unterliegt vielmehr dem geschichtlichen Wandel, oder genauer: sie hängt von dessen Tempo ab.
Die zweite Art Distanz unterscheidet sich von der ersten in gleicher Weise wie der Begriff Current History von dem der Contemporary History: entscheidet im einen Fall das Zeitverhältnis, so im andern der „Aggregatzustand" des geschichtlichen Geschehens, um das wir uns bemühen. Nur gegenüber einem abgeschlossenen Wirkungszusammenhang besteht eine Distanz, aus der heraus es möglich ist, ein Geschehen nicht nur in seinem äußeren Verlauf zu erfassen, sondern in seinen Wirkungen zu deuten. Diese heute zum „Dolchstoß" gewonnene Distanz fehlte 1930 und noch 1942, und zwar nicht, weil noch zahlreiche Akteure des Jahres 1918 lebten oder weil die Quellen nur begrenzt zugäng-lieh waren ” — Faktoren, die gewiß zu den Erschwerungen zeitgeschichtlicher Arbeit gehören —, sondern weil die mit „Dolchstoß"
bezeichneten Taten zwar nicht in ihrem äußeren Verlauf, aber in ihrer historischen Bedeutung noch „im Fluß" waren — dem Einfluß gegenwärtiger Entscheidungen ausgesetzt, für die es andererseits selbst etwas bedeutete, ob die „Dolchstoß" -These anerkannt oder verworfen wurde. In dieser Form der Gegenwärtigkeit von Vergangenem, die sich von der dem Historiker vertrauten unterscheidet, ist es vor allem begründet, wenn Aussagen über Zeitgeschichte — gemessen an der Aufgabe historischer Erkenntnis — nur vorläufig gemacht werden können. Mit der ihr gegenüber gebotenen Erkenntnishaltung nähert sich die zeitgeschichtliche Forschung den anderen Wissenschaften, deren Gegenstand menschliche Wirksamkeit in der eigenen Gegenwart ist; mit diesen teilt sie auch die besondere Verantwortlichkeit, die mit jeder Aussage über gegenwärtiges Geschehen verbunden ist.