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Abfall vom Kommunismus Die Bücher der „Enttäuschten" | APuZ 15/1963 | bpb.de

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APuZ 15/1963 Rußland mit westlichen Augen gesehen Abfall vom Kommunismus Die Bücher der „Enttäuschten"

Abfall vom Kommunismus Die Bücher der „Enttäuschten"

Konstantin A. Jelenski

Motive der intellektuellen Mitläufer Untersucht man die Gründe, wärmn westliche Intellektuelle vom sowjetischen Kommunismus angezogen wurden, und die Gründe, die so viele dazu führten, mit dem Kommunismus zu brechen, so fällt auf, daß die marxistische Theorie praktisch keine Rolle dabei spielte, überzeugte westliche Marxisten schlossen sich rasch der trotzkistischen oder der sozialdemokratischen Opposition an, und selbst die, die in der kommunistischen Partei blieben wie Gramsci, Ernst Bloch oder Georg Lukacs, standen häufig bis zu ihrem Tode, ihrem erzwungenen Schweigen oder freiwilligen Exil am Rande des Ketzertums. Der Kommunismus zog die Menschen aus moralischen oder psychologischen, nicht aber aus philosophischen Gründen an. In seinem Buch Stalins Russia and the Crisis in Socialism schlägt Max Eastman vor, die Menschen, die sich vom Kommunismus angezogen fühlen, in drei Hauptgruppen einzuteilen: „Erstens die Rebellen gegen Tyrannei und Unterdrückung, deren Denken sich um den Begriff der Freiheit des Menschen bewegt; zweitens diejenigen, die sich aus einer Mischung aus religiösem Mystizismus und animalischem Herdentrieb nach menschlicher Solidarität sehnen — also solche, die der Idee der Verbrüderung aller Menschen anhängen; und drittens diejenigen, deren Sorge der Leistungsfähigkeit (efficiency) und einer rational aufgebauten Organisation gilt — eine rein verstandesmäßige Sorge, die sich in Krisenzeiten zu einer wahren Leidenschaft für Planung auswachsen kann. Das Anti-Krieg-Motiv war in verschiedenen Färbungen an allen drei Einstellungen beteiligt. Und jede Einstellung enthielt meist als untergeordneten Faktor das Motiv, das bei den anderen an erster Stelle stand."

Die Zahl der westlichen Intellektuellen, die sich mit der russischen Revolution von ihren ersten Anfängen an sofort und begeistert solidarisch erklärten, war verhältnismäßig gering. Jedenfalls aber gehörten sie alle — John Reed, Ignazio Silone, Max Eastman — der ersten Kategorie an; die Idee der Freiheit und Gerechtigkeit war der Beweggrund, der ihre Einstellung bestimmte. Silone schrieb:

„In jedem marxistischen Arbeiter bildet der Gerechtigkeitssinn die stärkste Grundlage seiner sozialistischen Überzeugung." Und Max Eastman: „Bei denen, die die marxistische Bewegung aufbauten und bei denen, die sie in Rußland zum Siege führten, war jener Akt der Befreiung das zentrale Motiv. Sie waren, obwohl das heute von manchen gerne vergessen wird, fanatische Rebellen gegen Unterdrückung."

Andererseits fällt die große Zahl der Links-intellektuellen auf, die sich gleichgültig verhielten gegenüber der russischen Revolution in ihren Anfangsstadien, damals als sie noch die Errichtung einer Arbeiter-und Bauernrepublik zu versprechen schien und mit der Vorstellung von universaler Freiheit gleichgesetzt werden konnte; diese Intellektuellen schlugen sich erst später auf die Seite der UdSSR, als der objektive Beobachter die anti-freiheitlichen Folgen der totalitären Parteiherrschaft und die anti-universalen Aspekte des „Sozialismus in einem Lande" bereits zu erkennen vermochte. Das läßt sich nur dadurch erklären, daß Maxim Gorki, Romain Rolland, Andre Gide, Malcolm Cowley mehr Sinn für den Solidaritäts-und Verbrüderungsgedanken der Revolution hatten als für die ihr notwendig innewohnende Freiheitsidee, und daß weiter Sidney und Beatrice Webb, John Dewey oder Harold Laski von ihrem Trieb zur „Leistungsfähigkeit und einer rational aufgebauten Organisation" bestimmt wurden. Darüber hinaus gibt es natürlich noch eine „marxistische" Erklärung für diese verspäteten Bekehrungen. Für viele bürgerliche Intellektuelle des Westens, so stark linksgerichtet sie auch gewesen sein mögen, bedeutete die russische Revolution von 1917 unter dem Gesichtspunkt ihrer universalen Ziele eine unmittelbare Bedrohung ihrer Klassenprivilegien, an die sie sich im Unterbewußtsein noch immer klammerten. Als es sich deutlich herausgestellt hatte, daß die Revolution auf das ferne Rußland beschränkt blieb, als das Schlagwort vom „Sozialismus in einem Lande“ in Umlauf kam, wurde es selbst für Millionäre wie Nancy Cunard ganz ungefährlich, ihren Tagtraum von der Revolution mit ihrer bevorzugten Lebensform zu versöhnen.

Diese Vielschichtigkeit der moralischen und psychologischen Beweggründe, die die westlichen Intellektuellen zu Anhängern einer revolutionären Überzeugung machten, ermöglicht es uns, auch den äußerst komplizierten Charakter des entgegengesetzten Prozesses der Desillusionierung besser zu verstehen, den die Ehrlicheren oder die Sensibleren und die geistig Selbständigeren unter ihnen früher oder später durchliefen.

Ein „Kronstadt“ löst den Abfall aus In seinem Beitrag zu „Ein Gott der keiner war’ schildert Louis Fischer, wie die rücksichtslose Unterdrückung der meuternden Matrosen von Kronstadt im März 1921 (früher hatten diese Matrosen als Helden der Revolution gegolten) Alexander Berkmann über den wahren Charakter des Leninismus die Augen öffnete. Von da an benutzt Fischer das Wort „Kronstadt" als Symbol für das jeweilige Ereignis, an dem die gefühlsmäßige Bindung des Kommunisten oder des Mitläufers an die Kommunistische Partei und an die UdSSR zerreißt. In diesem Sinne hat es viele „Kronstadts" gegeben, die sich nicht nur auf einzelne, sondern auf Generationen von Kommunisten ausgewirkt haben: Trotzkijs Exil, die große Hungersnot, der achty-Prozeß des Jahres 1928, Stalins reaktionäre Verordnungen auf dem Gebiet der Erziehung und der Rechte der Frau, seine Wiederherstellung der Privilegien für Armee und Beamtenschaft, seine Rückkehr zum Nationalismus, die großen Moskauer Schauprozesse der Jahre 1936— 38 und die darauf folgenden Säuberungen, der Molotow-Ribbentrop-Pakt, der Überfall auf Finnland, die Ausstoßung Titos, die Prozesse gegen Rajk und Slansky, die „ÄrzteVerschwörung“ und bis in die neueste Zeit hinein das letzte große „Kronstadt“ — die Unterdrückung der ungarischen Revolution. Auch hat es vor kurzem „umgekehrte Kronstadts" gegeben: Chruschtschows geheime Rede und den XXII. Parteitag, an dem viele gefühlsmäßige Bindungen an den Kommunismus und an die UdSSR zerbrachen, und zwar nicht, weil bei diesen Gelegenheiten bisher unbekannte Verbrechen enthüllt worden wären, sondern weil für manche Menschen die Anziehungskraft des Kommunismus gerade darin bestand, daß sie von diesen Verbrechen wußten und sie im Namen der „historischen Notwendigkeit" geheimhielten.

Zögern zwischen Verlust des Glaubens und offenem Bruch In einem gewissen Sinne liegt das überraschende nicht darin, daß so viele Kommunisten ihrem „Kronstadt" erst so spät begegneten, sondern daß sie sich überhaupt entmutigen ließen, nachdem sie die große Lüge des Systems einmal akzeptiert hatten. Es ist ein bekanntes Phänomen der Psychologie des Glaubens, daß der Glaubende sein Bekenntnis, sei es religiöser oder politischer Natur, rechtfertigt, obwohl es Tatsachen gibt, die diesem Bekenntnis zu widersprechen scheinen. Bei den Kommunisten aber erhält dieser Vorgang der Selbstrechtfertigung eine ungewöhnliche Bedeutung, weil es zu den Besonderheiten des Kommunismus gehört, alle absoluten moralischen oder geistigen Werte abzulehnen. Der Kommunismus ist letztlich der Glaube an einen historischen Prozeß, der die Menschheit zur klassenlosen Gesellschaft führt. Hierbei ist die Partei die treibende Kraft, die allein in der Lage ist, dieses letzte Ziel zu verwirklichen. Solange diese Grundvorstellung bejaht wird, solange der absolute Wert des Zieles und die Rolle der Partei bei seiner Verwirklichung akzeptiert wird, ist es schwer einzusehen, warum nicht jedes Verbrechen, jeder scheinbare Verrat am revolutionären Ethos, der hier und jetzt begangen wird, im Gesamtrahmen dieser Philosophie gerechtfertigt werden kann. Und es ist in der Tat so, daß viele Kommunsten und Mitläufer weiterhin ein „Kronstadt" nach dem anderen rechtfertigen. Der totalitäre Charakter des sowjetischen Staates wurde durch die „kapitalistische Einkreisung" gerechtfertigt; die Verbrechen, die Deportationen, die Konzentrationslager und die Säuberungen wurden durch das Recht des „Proletariats" gerechtfertigt, jedes verfügbare Mittel im Namen des absoluten Endzieles zu benutzen; die Fälschung der Geschichte, die Erniedrigung der Kunst, der ganze Unsinn des partijnost' wurde im Namen des notwendig „monolithischen“ Charakters der Partei akzeptiert. Auch hat der Bruch des Einzelnen mit dem Kommunismus nur selten eine logische Grundlage gehabt. In der gesamten Literatur der Desillusionierten gibt es nur wenige Fälle, in denen Menschen sich gegen den Kommunismus auflehnten, sobald sie entdeckten, daß Theorie und Wirklichkeit in Sowjetrußland nicht übereinstimmten. Und in diesen wenigen Fällen handelt es sich um Menschen, die die Grundsätze des kommunistischen Denkens niemals ganz begriffen haben — zum Beispiel eine Anarchistin wie Emma Goldman oder einen sentimentalen Puritaner mit freiheitlichen Sehnsüchten wie Andre Gide. In fast allen anderen Fällen — bei Max Eastman, Victor Serge, Ignazio Silone, Boris Souvarine, Arthur Koestler, Manes Sperber, Louis Fischer — war es ein langsamer Vorgang ähnlich wie eine wachsende Übelkeit, die schließlich so unerträglich wird, daß manchmal ein ganz geringfügiger Zwischenfall genügt, um den endgültigen Bruch herbeizuführen. Dieser charakteristische Vorgang kann folgendermaßen beschrieben werden: zum äußeren Bruch kommt es meist erst nach einer gewissen Zeit, wenn der Glaube aufgehört hat zu existieren; eine weitere Zeitspanne vergeht zwischen dem äußeren Bruch und der objektiven Über-prüfung und Neubewertung vergangener Erfahrungen. Als Boris Souvarine sein monumentales Buch Stalin schrieb, hielt er sich selbst immer noch für einen Leninisten; lange Jahre sollten vergehen, ehe er entdeckte, daß die Wurzel des Übels in Lenins Begriff des demokratischen Zentralismus lag.

Es gibt viele Zeugnisse dafür, daß der Gläubige sich weigert aus unleugbaren Tatsachen Schlüsse zu ziehen, weil er seinen Glauben schützen möchte. Ein interessantes Beispiel dafür bletet die Schilderung des Sachty-Sabotage-Prozesses des Jahres 1928 durch zwei Augenzeugen: Eugene Lyons und Louis Fischer. Beide waren offensichtlich beunruhigt durch die selbsterniedrigenden Geständnisse der Angeklagten, durch die brutalen Methoden des Staatsanwalts Krylenko und durch die vielen Widersprüche. Was sie aber beide zutiefst erschütterte, war die Aussage eines gewissen Muskin. Eugene Lyons schreibt darüber: „Der Regisseur des Prozesses hatte den größten Fehler begangen, als er dieses gehetzte Geschöpf aus dem Dunkel seiner Zelle zerrte und in das grelle Lampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit stellte. Erstens war Muskin zu offensichtlich eingeschüchtert und gequält.

Zweitens war er der lebende Beweis dafür, daß sich andere — Gott weiß wie viele Dutzende oder Hunderte — auf Grund ähnlicher Beschuldigungen in den Händen der GPU befanden, wenn sie auch nicht auf der Anklagebank saßen. Krylenko hatte einen Fehler begangen . . . Ein weiterer Blitz, der den Hintergrund ein wenig erhellte, mit dem sich die Gedanken der Menschen mehr beschäftigten als mit dem Prozesse selbst." Der Sachty-Prozeß löste bei Lyons eine „erschöpfende Selbst-prüfung" aus: „Ich war davon ausgegangen, daß die Revolution nichts falsch machen kann, da selbst ihre Verbrechen durch ihren mystischen Auftrag gerechtfertigt sind. Im Laufe des Prozesses aber geschah irgend etwas — ich konnte den Finger noch nicht darauf legen —, was diese mystische Annahme ins Wanken brachte." Lyons kam zu folgenden Schlüssen: 1.der Prozeß war „vorwiegend das Produkt der Regiekunst der sowjetischen Herrscher"; 2. „der Prozeß beruhte auf Massen-verhaftungen, erzwungenen Geständnissen, gewissenlosen und unmenschlichen Methoden des dritten Grades"; 3. mit diesem Prozeß „trug eine von der uneingeschränkten Macht berauschte Gruppe ihre neue Stärke zur Schau". Dennoch war die Zeit für den endgültigen Bruch noch nicht reif. „Ich erinnere mich, daß ich diese Schlußfolgerungen innerlich gezogen hatte“ schreibt Lyons, „Schlußfolgerungen, von denen ich einige tief und unsichtbar begrub, weil sie mich daran gehindert hätten, der Revolution zu dienen. Wenn russische oder nichtrussische Bekannte ähnliche Schlußfolgerungen äußerten, schrie ich sie nieder." Louis Fischer berichtet in ähnlicher, ebenso eindrucksvoller Weise von dem Prozeß und auch er hebt Muskins Aussage hervor. Auch er gesteht: „Ich bemerkte diese Phänomene, begriff aber nicht, daß sie den Beginn eines Verfalls bezeichneten, der in der großen Lüge und dem großen Schweigen von heute endete." Die Zeitspanne zwischen dem tatsächlichen Verlust des Glaubens und dem offenen Bruch hat noch einen anderen Aspekt. Die am hartnäckigsten gehegte kommunistische Illusion ist die, die Partei könne nur von innen beeinflußt werden. Wie stark auch das Gefühl der Auflehnung sein mag, die „logische" Haltung verlangt, daß der Kommunist ausharrt und den Endsieg der Revolution auf Weltebene abwartet in der Hoffnung, ihren Gang beeinflussen zu können, wenn die Herrschaft des Proletariats einer Arbeiterdemokratie gewichen ist.

1934 hatte Arthur Koestler alle Illusionen über die Wirklichkeit des Kommunismus und der Sowjetunion verloren, aber er trat erst 1938 aus der Partei aus. Bei Ignazio Silone war diese Zeitspanne noch länger, nämlich von 1924 bis 1931. Und selbst Max Eastman, der Marxist aber nicht Mitglied der Kommunistischen Partei war, wartete zwei Jahre, ehe er sich entschloß, die Wahrheit über Rußland zu sagen.

Der Beitrag der E x k o m m u n i s t e n zur Entlarvung des Kommunismus Ignazio Silone sagte einmal scherzend zu Togliatti: „Der Endkampf wird zwischen Kommunisten und Exkommunisten stattfinden." Es ist bemerkenswert, daß dieser Ausspruch selbst als Scherz weitgehend an Aktualität verloren hat, seitdem viele Enthüllungen über die stalinistische Tyrannenherrschaft von den sowjetischen Machthabern selbst bestätigt worden sind. Aber auch wenn es keinen „End- kampf" gibt, der eigentliche Kampf, der grundsätzliche Dialog hat bis 1956 tatsächlich zwischen Kommunisten und Exkommunisten stattgefunden, zwischen den Verteidigern der totalen Lüge und den wenigen Menschen, die in der Lage waren, nicht nur die Lüge, sondern sogar ihren „Mechanismus" zu entlarven. Kritik von der Rechten oder der demokratischen Linken haben die Kommunisten nie wirklich befürchtet, aber sie konnten es nicht ertragen, von denen, die sich wirklich aus-kannten, entmythisiert und bloßgestellt zu werden. Und gerade dieses — die von innen erworbene Kenntnis nicht nur der Realitäten des sowjetischen Lebens, sondern auch der kommunistischen Mentalität — war der wesentlichste Beitrag der „desillusionierten" Schriftsteller. Darüber waren sie sich klar. In seiner Einleitung zu „Ein Gott der keiner war" zitiert Richard Grossman Arthur Koestler, der ihm sagte, die englischen Sozialisten mit ihrem sachlich-kühlem Antikommunismus seien taub gegen die Kassandrarufe der Exkommunisten: „Schließlich sind wir, die Exkommunisten, die einzigen in Eurem Lager, die aus einer echten Kenntnis des Problems heraus sprechen", sagte Koestler. In seiner aufschlußreichen Erklärung des Mechanismus der Moskauer Prozesse'schreibt Max Eastman: „Meine Sicht der Dinge ist so eng verbunden mit meinen persönlichen Erfahrungen, mit der Mentalität des . geweihten'Bolschewisten, daß ich das einem westlichen Menschen nur schwer erklären kann/Diejenigen, die das wahre Wesen des Stalinismus erklären konnten und wollten, wurden weder von der Rechten noch von der Linken verstanden. Die Macht des sowjetischen Mythos über viele Linksintellektuelle, die ihre Hoffnungen auf die russische Revolution gesetzt hatten, ist wohl bekannt und verständlich. Aber auch denen, die von der Revolution selbst abgestoßen worden waren, fiel es ihrerseits schwer, die Methoden des sowjetischen Systems zu verstehen. So weist Max Eastman zum Beispiel darauf hin, daß sich viele Antikommunisten von den Moskauer Prozessen täuschen ließen: „Meiner Ansicht nach glauben viele Liberale diese phantastischen Geschichten, weil sie sich immer noch vorstellen, daß irgend etwas im Wesen des . Bolschewismus'solche Schandtaten erklärt oder mindert." Und er fügt hinzu: „Diese Taten sind von jedem Standpunkt aus kriminell, bestialisch und entartet, aber vom bolschewistischen Standpunkt sind sie, wenn das möglich ist, noch schlimmer als von dem der üblichen Vernunft oder Moral." Die Entwicklung des Stalinismus rief — besonders während des Krieges — eine neue Erscheinung hervor — den „Mitläufer auf der Rechten". Bei ihm war der Beweggrund nicht die Gleichsetzung Sowjetrußlands mit dem revolutionären Mythos; der Anziehungspunkt lag vielmehr in den unverhohlen reaktionären Seiten des Stalinismus — im „Vaterländischen Krieg", in der Glorifizierung der Zaren und der reaktionären Generäle, in der Wiedereinführung einer Rangordnung in der Armee, im Burg-frieden mit der Religion. Viele konservative Industriemagnaten und Generäle, anglikanische und katholische Geistliche entdeckten mit Vergnügen, daß die UdSSR nationalistischer und „ordentlicher" war als ihre eigenen Länder, und fielen auf die Theorie vom „Ewigen Rußland" herein, die durch die Entdeckung Custines durch amerikanische Diplomaten begünstigt wurde. Dabei verloren sie das komplizierte Verhältnis zwischen Ideologie und Wirklichkeit in Sowjetrußland und die wesentlichen Merkmale einer totalitären Diktatur völlig aus den Augen.

Schon im Jahre 1924 schildert Emma Goldman, nachdem ihr Buch My Disillusionment in Russin in England veröffentlicht worden war, in einem Brief an Alexander Berkman eine Situation, wie sie allen aktiven Exkommunisten noch jahrelang begegnen sollte: „Der Bolschewismus ist den fortschrittlichen Leuten tief unter die Haut gegangen... und sie scheuen sich, irgend etwas dagegen zu unternehmen, während diejenigen, die nicht von dem Gift infiziert worden sind, zu der reaktionären Gruppe gehören, der man sich nicht zugesellen kann". Das Entsetzen, das auch nur die Erwähnung der Namen Silone, Orwell, Koestler bei den Stalinisten und ihren Mitläufern hervorzurufen pflegte, ist uns allen noch er-innerlich. Die Visionen der Schriftsteller GeorgeOrwell und Arthur Koestler Die Bücher der Enttäuschten können nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Zunächst gibt es die unmittelbaren Zeugnisse, die Berichte von Augenzeugen wie My Dis-iliusionment in Russin von Emma Goldman, I wns n Soviel Worker von Andrew Smith, Proletnrinii Journey von Fred E. Beal, Assignment in Utopin von Eugene Lyons, Hexen-sabbatvon Alex Weissberg, Andre Gides Retour de l'URSS gehören zu dieser Kategorie, wenn auch die Wirkung von Gides Buch mehr auf seinem Ruf als Schriftsteller als auf dem Inhalt des Buches beruhte. Ferner gibt es politische und historische Aufsätze wie Boris Souvarines Stnline, (Paris 1935), Max Eastmans Stalins Russin, Victor Serges Russin Twenty Years Alter. Und schließlich gibt es Romane und Kurzgeschichten. Einige davon — die Romane von Ignazio Silone und Manes Sperber, die Kurzgeschichten von Victor Serge — behandeln das moralische und psychologische Dilemma des Revolutionärs, der sieht, wie die Revolution von innen verraten wird.

Andere aber — besonders die Werke von George Orwell und Arthur Koestler — haben mehr zur Enthüllung der Grundeigenschaften des Stalinismus beigetragen als Augenzeugenberichte und Aufsätze. Der revolutionäre Mythos war so stark und die Gleichsetzung der Sowjetunion mit diesem Mythos so vollständig, daß einfache Tatsachen und objektive Analyse nicht dagegen aufkamen.

Es ist das Verdienst von Orwell und Koestler, daß sie die wesentlichen Eigenschaften des Stalinismus nicht nur verstanden, sondern sie auch von den üblichen menschlichen Beweggründen, dem historischen Untergrund, von allem, was im sowjetischen Leben noch „normal" war, gelöst haben. Einer abstrakten, utopischen, auf falschen Voraussetzungen beruhenden Vision stellten sie eine ebenso abstrakte apokalyptische Vision entgegen, die auf einer zwar partiellen, aber im wesentlichen richtigen Analyse beruhte. Den „sakralen" Charakter des sowjetischen Mythos zerstörten sie nicht. Sie begriffen die magnetische Anziehungskraft der Sowjetunion, aber bei der Erklärung dieser „Sirenenstimme" sprachen sie vom Gorgonenhaupt. Orwells Fnrm der Tiere (Zürich 1946) mit dem Schlagwort „Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als die anderen" hat wahrscheinlich mehr als irgendeine historische oder soziologische Erklärung dazu beigetragen, der öffentlichen Meinung im Westen ein Getühl für die einzigartige stalinistische Verbindung von egalitärem Mythos und neuen Privilegien zu vermitteln. Ähnlich sind die Besonderheiten der sowjetischen Semantik und die Art und Weise, wie Stalin es fertigbrachte, selbst die geheimsten Gedanken seiner Untertanen bis zu einem gewissen Grade zu kontrollieren, nur von den „Experten" verstanden worden, bis die aufschlußreichen Symbole „Neusprache" und „Zwiedenken“ diese Phänomene einem breiten Leserpublikum zum Bewußtsein brachten.

Der Unterschied zwischen der Wirksamkeit einer objektiven und tiefgreifenden Analyse durch einen ehrlichen „Experten" und einer sehr viel freieren, aber auch sehr viel erregender dargestellten Version der gleichen Tatsachen durch einen großen phantasiereichen Schriftsteller tritt nirgendwo so klar hervor wie bei der Deutung der Moskauer Prozesse. Man kann es heute kaum glauben, aber der sowjetische Betrug hatte damals selbst bei freien und geistig überlegenen Intellektuellen einen gewaltigen Erfolg. Gleichgültig wie „surrealistisch" die Prozesse geführt wurden, viele Menschen im Westen konnten sich einfach nicht vorstellen, daß Männer, die bei Verstand waren, sich angesichts des Todes zu Verbrechen bekennen konnten, die sie nicht begangen hatten. Koestlers Sonnenfinsternis verdanken wir es, daß die grundlegende Dialektik der Säuberungsaktionen im Westen endlich verstanden wurde. Heute aber wissen wir, daß Koestler durch die Betonung einer realen Seite der Moskauer Geständnisse, und zwar der interessantesten und für einen Nichtkommunisten unverständlichsten, daß man nämlich nicht nur das Leben, sondern die Menschenwürde um der Partei willen opfern könne, diesen Geständnissen eine finstere Würde verliehen hat, die sie an sich nicht unbedingt besaßen. Es ist ein weiter Weg von Rubaschows Version zu Chruschtschows Erzählung von jenen ruhigen Datschas, die einigen Angeklagten versprochen wurden, wenn sie ihre imaginären Verbrechen gestanden; „die Datschas lagen unter der Erde", fügte er mit makabrem Humor hinzu. Aber als Max Eastman in seinem, mehrere Jahre vor Koestlers Sonnenfinsternis erschienenen Buch Stalins Russin seine Version der Prozesse brachte, die der historischen Wahrheit, wie wir sie jetzt sehen, sehr viel näher kommt, konnte seine Analyse die Phantasie des Westens nicht fesseln: das Buch blieb nur eine der vielen Deutungen des Stalinismus. Es ist übrigens bemerkenswert, daß Koestlers Sonnenfinsternis zwar eine schreckenerregende Seite der kommunistischen Technik enthüllte, diese Seite aber so großartig zu schildern wußte, daß nicht alle Leser abgestossen wurden. Viele junge französische Intellektuelle gestanden später, daß sie nach der Lektüre von Koestlers Buch Kommunisten geworden seien. Das ist nicht so seltsam, wie es zunächst erscheinen könnte. Der westliche Linksintellektuelle leidet seit langem an einem Komplex des Besiegten, an einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Mann der Tat. Während des ganzen 19. Jahrhunderts sind alle revolutionären Bewegungen besiegt worden; die Bolschewisten waren die ersten, die einen Erfolg errangen und ihn festigen konnten. Diese Tatsache verlieh ihnen eine unvergleichliche Autorität in den Augen der „Intelligentsia“, die allerdings danach zu fragen vergaß, ob dieser Erfolg nicht durch die Preisgabe gerade jener Werte erreicht worden sei, in deren Namen die Revolution stattgefunden hatte.

Die Anziehungskraft des Kommunismus. Erläuterungen am Beispiel der französischen Intellektuellen

Die stalinistische Macht über die Intellektuellen hat sich nirgendwo und niemals so stark ausgewirkt wie in Frankreich in der Zeit zwischen der Befreiung und der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Eine genauere Untersuchung dieser Zeit kann uns zu einem besseren Verständnis der besonderen Dialektik des Rausches und der Desillusionierung verhelfen.

Die französische Intelligentsia sah im Jahre 1944 in den Kommunisten die Helden und Märtyrer der Widerstandsbewegung: sie waren „le Parti des Fusilles". Aus der Widerstandsbewegung hervorgegangen und von Anfang an durch Aragon und Elsa Triolet beherrscht, zog das . Comite National des Ecrivains alle liberalen und linksgerichteten Schriftsteller zu sich heran. Einige Mitläufer aus der Vorkriegszeit, die zur Zeit der Moskauer Säuberungsaktionen oder deutsch-so-wjetischen Paktes vom Stalinismus abgestoßen worden waren, stießen wieder dazu; so konnte die Monatszeitschrift Europe mit Jean Cassou, Georges Friedmann und Martin-Chauffier im Redaktionsstab wieder erscheinen.

Die revolutionären Intellektuellen der Vorkriegszeit Malraux, Camus, Naville, Rousset waren neutral, wenn nicht sogar freundlich gesonnen. Sartre war der einzige Intellektuelle von größerer Bedeutung, der sich zu dieser Zeit auf eine direkte Polemik mit den Kommunisten einließ, aber er beschränkte sich auf abstrakte Themen wie den Materialismus. Auch der kommunistischen Intelligenz fehlte es nicht an Begabungen. Aragons Prestige blieb weiterhin groß, wenn auch zweideutig; von anderen führenden Dichtern war Eluard Parteimitglied, Rene Char und Francis Ponge standen der Partei sehr nahe; Claude Roy und Roger Vailland waren wertvoller Nachwuchs aus der mittleren Generation, und unter den Jüngsten befanden sich hervorragende Köpfe wie Edgar Morin, Jean Duvignaud, Antelme und Mascolo.

Als die französischen Philosophen nach dem Kriege Hegel und den jungen Marx wieder-entdeckten, schlug die intensive Beschäftigung mit Geschichte und Dialektik selbst die Sorbonne in ihren Bann. Die bekanntesten Vertreter sind Sartre und Merleau-Ponty, aber auch Kojeva, Lucien Goldmann und Georges Bataille genossen in den Kreisen von Saint-Germain-de-Pres großes, wenn auch weniger in die Augen springendes Ansehen. Der um das Jahr 1945 heranreifende französische Intellektuelle verschrieb sich verständlicherweise einer besonderen Form von „existentialistischem Marxismus". Sartres Existentialismus vertrat ursprünglich den tiefsten Stand des zeitgenössischen Nihilismus. Er war von Stalin gefesselt und strebte nach einer neuen positiven Weltanschauung, sowohl seine Grundauffassung, daß die Welt keine objektive Bedeutung (keine „Essenz") besitze und daß sie nur der düstere Schauplatz einer absurden Existenz sei, ihn zu seiner Konzeption des „engagements" führte. In einem 1946 veröffentlichten Aufsatz erklärte Sartre, warum er sich weigere, das materialistische Glaubensbekenntnis anzunehmen. „Fall auf die Knie und Du wirst glauben , sagt Pascal. Wenn ich nur auf die Knie zu fallen brauchte und wenn ich durch dieses Opfer das Glück der Welt sicherstellen könnte, würde ich zweifellos zustimmen. Aber es geht um mehr als das:

um den Verzicht aller auf das Recht freier Kritik, zur Wahrheit. Man sagt mir, das alles werde uns später zurückgegeben werden; aber wie kann ich diesem Versprechen trauen, das im Namen von Grundsätzen gegeben wird, die selbstzerstörerisch sind?" Aber wenn auch Sartre Pascals intellektuellen Verzicht ablehnte, so war das „engagement", das er vorschlug, nur eine neue Form der berühmten „Wette“

Pascals über die Existenz Gottes; es postulierte den „fortschrittlichen" und „revolutionären" Charakter der Sowjetunion.

Der Erfolg dieses Begriffes (und des geistigen Vorgangs, den er implizierte) beruhte darauf, daß er den Problemen, mit denen sich die linksgerichtete Intelligenz der späten vierziger Jahre hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Kommunismus auseinanderzusetzen hatte, vollkommen entsprach. In seinem Buch Ten Winters legt Franco Fortini dar, wie der Kommunismus der zwanziger Jahre „proletarische Intellektuelle" hervorbrachte und wie die „engagierten Intellektuellen" der vierziger Jahre sich in den neuen stalinistischen Rahmen einfügten, über diese letzte Periode bemerkt Edgar Morin in seinem 1959 erschienenen Buch Autocritique: „Der Begriff des . engagement'stammte aus der Militärpsychologie, und der intellektuelle Stalinismus war in Wirklichkeit eine auf das Zivilleben übertragene militärische Psychose: alle Probleme wurden in Formeln des Gehorsams und der Leistungsfähigkeit ausgedrückt. Außerdem drükte . engagement'in Sartres Sinn ein dunkles Streben nach dem disziplinierten Leben der stalinistischen Partei aus, in dem die Qualen des nihilistischen Gewissens sich lösen konnten." Die ersten geistigen Bündnisse im Paris der Nachkriegszeit muten heute erstaunlich an. Der erste Redaktionsstab von Les Temps Modernes brachte Raymond Aron, Jean Paulhan und Sartre zusammen. Das Rassemblement Democratique Revolutionnaire wurde im Frühjahr 1948 von Camus, Sartre, David Rousset und Gerard Rosenthal gegründet. Aber das war vor den neuen Enthüllungen über sowjetische Konzentrationslager, Titos Ausstoßung durch Stalin und dem Rajk-Prozeß in den Jahren 1948 und 1949, die eine neue Umgruppierung der französischen Linken hervorriefen.

Bekenntnisse des geistigen Versagens Die Diskussion über die Existenz sowjetischer Konzentrationslager wurde durch zwei aufeinanderfolgende Beleidigungsprozesse — Krawtschenko gegen Lettres Fran(; aises und Rousset gegen Wurmser — aus dem Dunkel des Gewissens des einzelnen in das grelle Licht der Gerichtsverhandlung gerückt. Es ist kennzeichnend, daß es ein alter Revolutionär wie David Rousset und ein früherer militanter Kommunist wie Camus waren, die entrüstet reagierten und der Wahrheit zu ihrem Recht verhalfen, während Merleau-Ponty und Sartre Gefangene ihres „engagement" blieben. Ein kürzlich erschienener Aufsatz von Sartre („Merleau-Ponty Vivant" in einer Merleau-Ponty gewidmeten Sondernummer von Les Temps Modernes) enthält ein bemerkenswertes, wenn auch unfreiwilliges Bekenntnis des geistigen Versagens.

In einem nicht gezeichneten Leitartikel in Les Temps Modernes vom Januar 1950 gab Maurice Merleau-Ponty die Existenz der Zwangsarbeit in der UdSSR zu, schrieb aber: „Wenn die Kommunisten die Lager und die Unterdrückung hinnehmen, so deshalb, weil sie die klassenlose Gesellschaft erwarten... Niemals hat ein Nazi sich mit solchen Ideen geplagt wie die Anerkennung des Menschen durch den Menschen, Internationalismus, klassenlose Gesellschaft. Es ist zwar richtig, daß diese Ideen durch den heutigen Kommunismus nicht getreulich ausgeführt werden . . ., aber sie sind noch ein Teil davon... Wir haben noch die gleichen Werte wie ein Kommunist... Wir mögen finden, daß er sie kompromittiert, wenn er sie mit dem heutigen Kommunismus in Verbindung bringt. Aber es sind unsere Werte, und wir haben andererseits mit vielen Gegnern des Kommunismus nichts gemeinsam ... Die UdSSR ist grosso modo auf der Seite der Kräfte, die gegen die uns bekannten Formen der Unterdrückung kämpft." Nach dem Erscheinen dieses Aufsatzes erhielt Sartre folgenden Brief von Jean Bloch-Michel:

„Wie ist es möglich, daß Sie nicht verstehen, daß die sowjetische Wirtschaft Sklaven-Arbeitskräfte braucht und jedes Jahr sytematisch Millionen unterernährter, ausgebeuteter Arbeiter einzieht?"

„Diesen Brief zeigte ich Merleau-Ponty", schrieb Sartre 1961, „der ihn nicht überzeugend fand; wir sahen darin berechtigte Leidenschaft, Gründe des Herzens, aber keine Vernunft. Wäre er logisch besser begründet, von wirklichen Tatsachen und Argumenten unterbaut gewesen, hätte er uns nicht vielleicht bekehren können?" Aber was ist mit den Tatsachen, mit den Argumenten von Eleanor Lipper und Margarete Buber-Neumann, von Alex Weissberg und Joseph Scholmer, was ist mit den Beweisen, die Roussets Comite International contre les Regimes Concentra-

tionnaire im Jahre 1948 veröffentlichte — alles Dinge, die Sartre und Merleau-Ponty ebenso bekannt waren wie Bloch-Michel?

Die Ausstoßung Titos rief den ersten ernsten Bruch in der französischen Intelligenz der Nachkriegszeit hervor. Jean Cassou, Clara Malraux, Jean Duvignaud waren die ersten französischen „Titoisten". Die stalinistischen Antworten klingen heute unglaubwürdig. So zum Beispiel der denkwürdige Satz Courtades: „Wenn ich sage, Titos Regime sei mit dem Francos vergleichbar, spiele ich nicht mit Worten. Ich kann durch eine marxistische Analyse beweisen, daß das jugoslawische Regime ein faschistisches Regime ist."

Der Rajk-Prozeß fand in Frankreich ein besonders starkes Echo, weil eine Gruppe ungarischer kommunistischer Intellektueller, Pressekorrespondenten und Kulturattaches wie Francois Fetjo und Szekeres, die sich zu dieser Zeit zur Flucht entschlossen hatten, enge Beziehungen zu französischen Kommunisten und Linksintellektuellen unterhielten. Ein hervorragender Aufsatz von Fetjo in Esprit brachte endgültige und unwiderlegbare Beweise für den wahren Charakter des Prozesses. In seiner Autocritique untersucht Morin eine sehr merkwürdige Erscheinung: Selbst die kommunistischen Intellektuellen, die überhaupt keine Zweifel über das wahre Wesen der Moskauer Prozesse der dreißiger Jahre hegten, brachten es fertig, sich gegen alle Beweise, gegen Vernunft und Wahrscheinlichkeit von Rajks und Kostoffs „Schuld" zu überzeugen. Esoterische Auslegungen lieferten nicht mehr die notwendigen Garantien. In den späteren Stadien des Stalinismus genügte es nicht, die Verbrechen mit der „historischen Notwendigkeit" zu rechtfertigen, es genügte nicht mehr, die Lügen zu rechtfertigen, man mußte sie glauben. Ein überlegener, zynischer Kommunist wie Courtade kehrt aus Budapest zurück und ist von Rajks Schuld überzeugt, und es gelingt ihm auch, seine Gewißheit sonst so klugen Köpfen wie J. -F. Rolland und Claude Roy zu übermitteln. Die geistige Position von Schriftstellern, die nur im Rahmen esoterischer und sophistischer Auslegungen Kommunisten bleiben konnten, wurde immer unhaltbarer. Sie findet klassischen Ausdruck in jenem 1952 erschienenen monumentalen Werk von Dionys Mascolo Le Commumsme; in diesem geistig subtilen, literarisch hervorragenden und in manchem schlichtweg absurden Buch schildert Mascolo auf mehr als fünfhundert Seiten das Dilemma seines Milieus: man kann nichts anderes sein als Stalinist, aber man kann nicht Stalinist sein. Oder: es ist widerlich, Stalinist zu sein, aber es ist noch widerlicher, Antistalinist zu sein.

Der Mythos wurde von den Sowjets selbst zerstört Kein Wunder, daß der Chruschtschow-Bericht wie ein Donnerschlag auf die französischen Kommunisten und „fortschrittlichen" Intellektuellen wirkte. Sie versuchten, seine Wirkung mit der Erklärung zu mildern, seine Argumentation sei nicht „marxistisch". Das Bild des blutrünstigen, tyrannischen, ungeheuerlichen Stalin sei nicht marxistisch (allerdings bemühten sie sich gar nicht zu erklären, wieso ein vergöttlichter, allwissender Stalin marxistisch sei), daher habe Stalin weder blutrünstig noch ein Ungeheuer sein können.

In Frankreich, mehr als irgendwo sonst in der Welt, erhielt der stalinistische Mythos den Todesstoß vom sowjetischen Block selbst; viele junge französische Intellektuelle reagierten ähnlich wie Edgar Morin, der schrieb: „Vielen Stalinisten und Fortschrittlichen war der Chruschtschow-Bericht eine Lehre, weil er Tatsachen authentisch bestätigte, die um so weniger glaubhaft erschienen, als sie bisher nicht so sehr ignoriert, als vielmehr als unwürdige antisowjetische Verleumdungen bestritten worden waren. Was mich betrifft, so waren mir die meisten dieser Tatsachen bekannt — nicht alle. Ich hätte mir den Völkermord an den Minderheiten, die Vernichtung der jiddisch-sprechenden Intelligenz nicht vorstellen können. Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß Folterung zu einer systematisch ausgeübten, von Stalin in einem Rundschreiben von 1938 dekretierten Methode werden könnte. Alle unsere inneren Dramen, unsere Betrachtungen über Sonnenlinsternis, Merleau-Pontys Humanisme et Terreur wurden zum Kinderspiel. Wir suchten nach ausgeklügelten psychologischen und soziologischen Auslegungen; zum Teil waren sie zweifellos richtig, aber wesentlich war, daß Menschen körperlich gefoltert wurden." „Nützliche Irrtümer"

und „schädliche Wahrheiten"

Die zentrale Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, die etwa von 1926 bis zum Tode des Diktators dauerte, befaßte sich mit zwei Problemreihen; die erste betraf das eigentliche Wesen des sowjetischen Regimes, die zweite seine künftige Entwicklung. Diese Probleme hingen zusammen, da das Urteil vieler über die UdSSR nicht einmal durch die volle Aufklärung über Konzentrationslager und Säuberungsaktionen beeinflußt wurde, solange sie noch glaubten, daß die Sowjetunion die revolutionären Kräfte auf ihrem Wege zur klassenlosen Gesellschaft weiterhin verkörpere. In diesem Zusammenhang machten westliche Kommunisten und Mitläufer vom „Zwiedenken" in den verschiedensten Formen Gebrauch. Die naivste, für die weniger hochstehenden Kämpfer und Anhänger des Left-Book-Club charakteristische Form kam in der blinden Weigerung zum Ausdruck, irgendeine für die Sowjetunion nachteilige Tatsache anzuerkennen. Dafür gibt Stephen Spender ein Beispiel in seinem Beitrag zu Ein Gott der keiner war. Er fragte eine Gruppe kommunistischer Schriftsteller, ob ihnen bestimmte düstere Tatsachen über kommunistische Methoden bekannt seien. „Wenn Ihr sie ignoriert", sagte er, „wenn Ihr sie selbst unter Kameraden abstreitet, werde ich zu der Ansicht kommen, daß ich es nicht verantworten kann, in einer Partei zu bleiben, deren Mitglieder die Handlungen, die sie begeht, nicht kennen. Wenn Ihr sie jedoch zugebt, aber gleichzeitig den Standpunkt vertretet, daß sie in der Öffentlichkeit abgestritten werden müßten, so werde ich Eure Einstellung vielleicht akzeptieren, da sie mir jedenfalls ernst zu nehmen erscheint." Stephen Spender stieß auf blinde Weigerung, die Tatsachen anzuerkennen, was in diesem Fall entweder auf einer abergläubischen Angst vor der Zensur oder aber auf der kommunistischen Gewohnheit beruhen mochte, selbst im innersten Kreise zu lügen. Die kompliziertere Form des Zwiedenkens — die Tatsachen zuzugeben, zugleich aber den Standpunkt zu vertreten, daß sie nicht bekannt werden dürften — war charakteristisch für viele intellektuelle Mitläufer. Das bekannteste Beispiel war die Polemik zwischen Sartre und Camus über die Existenz der Zwangsarbeit in der UdSSR.

Der stalinistische Mythos ist in sich zusammengefallen, sogar die einbalsamierte Mumie hat das Mausoleum verlassen. Die blinden und naiven Kommunisten und Mitläufer haben gelernt, daß das, was sie für den „Aufbau des Sozialismus" hielten, mit den Mitteln einer noch nie dagewesenen Terrorherrschaft zustandegebracht wurde, während die weniger Einfältigen heute wissen, daß dieser Terror nicht eine „historische Notwendigkeit", sondern einfach ein Mißbrauch der Macht war.

Erst jetzt haben sich die Kommunisten auf einen komplizierten Vorgang der Überprüfung eingelassen, der letztlich auf eine Bestätigung dessen hinausläuft, was schon Goethe gesagt hat:

Eine „schädliche Wahrheit“ sei nützlich, weil sie nur vorübergehend schädlich sein könne und dann zu weiteren Wahrheiten führe, die immer nützlicher werden müßten; und umgekehrt sei ein „nützlicher Irrtum" schädlich, weil er nur im Augenblick nützlich sein könne und dann zu anderen Irrtümern führen müsse, die zunehmend schädlich werden müßten.

Männern wie Silone, Koestler, Sperber und all den führenden Kommunisten, die sich entschlossen, die Stimme zu erheben und der „schädlichen Wahrheit" den Vorrang vor dem „nützlichen Irrtum"

zu geben, schulden wir Dank. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Robert J. Alexander:

Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Joseph M. Bochenski:

Der freie Mensch in der Auseinandersetzung zwischen West und Ost Karl Dietrich Bracher:

Wissenschaft und Widerstand Frhr. Hiller von Gaertringen: „Dolchstoß“ -Diskussion und , Dolchstoß" -Legende im Wandel von vier Jahrzehnten Hans Herzfeld:

Zur Problematik der Appeasement-Politik Wanda Kampmann:

Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System der Sowjetunion Erich Kosthorst:

Von der Gewerkschaft zur Arbeitsfront und zum Widerstand Gerhard A. Ritter, Ernst Schräpler, Ulrich Dübber:

Hundert Jahre deutsche Arbeiterbewegung Helmut Wagner:

Der verratene Idealismus Egmont Zechlin:

Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Konstantin A. Jelenski, Angehöriger des Redaktionsstabes der Pariser Monatszeitschrift „Preuves“.