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Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen | APuZ 12/1963 | bpb.de

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APuZ 12/1963 Praxis der Partnerschaft Spannungen im Bündnis Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen Atlantica Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft

Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen

Malcolm W. Hoag

Ziel der amerikanischen Politik: keine neuen Atommächte Die Weigerung Amerikas, Frankreich bei der Entwicklung seiner atomaren Eingreifverbände zu unterstützen, ist auch amerikanischerseits ständig kritisiert worden. Sollten wir nicht versuchen, uns mit General de Gaulle zu einigen und dabei Informationen über Fern-lenkwaffen und die Lieferung von Raketen-teilen für die Zusammenarbeit auf einem anderen militärischen oder politischen Gebiet einzutauschen? Dafür setzt man sich auch in zunehmendem Maße ein. Die Fürsprecher einer solchen Politik behaupten, daß Frankreich von einer eigenen „Force de Frappe" nicht mehr weit entfernt ist, trotz unserer oppositionellen Haltung, die in offiziellen Kreisen Frankreichs Verbitterung hervorgerufen und das französische Programm verlangsamt und verteuert hat. Diese Verbitterung und die hohen Kosten haben zur Folge gehabt, daß Frankreich nicht nur eine geringere Bereitschaft gezeigt hat, sondern auch weniger in der Lage war, gemeinsame Vorhaben zu unterstützen, wozu auch die Bereitstellung modern ausgerüsteter französischer Divisionen für die NATO und das Einverständnis mit der Stationierung amerikanisch kontrollierter Atomwaffen auf französischem Hoheitsgebiet gehörten. Das wird als die unangenehme Folge der amerikanischen Politik bezeichnet, zumal sie den einen sehr geschätzten Hauptverbündeten belasten, den anderen aber nicht. Wenn wir schon Großbritannien für sein BomberKommando Skybolt-Raketen zur Verfügung stellen sollen, warum sollen wir dann nicht auch auf irgendeine vergleichbare Weise Frankreich helfen? — Besonders wenn Frankreich dafür zahlt und somit dazu beiträgt, die Schwierigkeiten in unserer Zahlungsbilanz zu beheben!

So argumentieren die Kritiker, und zwar mit erheblichem Nachdruck. Viel wichtiger aber als die Wirkung der amerikanischen Rüstungspolitik auf die französisch-amerikanischen Beziehungen sind die großen Ziele dieser Politik: Verhinderung und nicht Beschleunigung der zahlenmäßigen Ausweitung der Atommächte. Aus diesem Grunde haben wir bisher konsequent allen Möchtegern-Aspiranten unsere eine Überzeugung entgegengehalten: „Wer eine unabhängige Atommacht werden will, der soll es alleine machen. Der Weg dahin ist bestimmt lang und kostspielig. Und wozu das?" Wie schmerzlich dieser Weg für die Franzosen gewesen ist, das wird hoffentlich ein warnendes Beispiel für alle anderen sein. Wir bedauern die schweren Lasten, die Frankreich bedrücken, und wir bemühen uns, diesen Druck durch jeden Kompromiß, der mit den Grundsätzen unserer Rüstungspolitik noch vereinbar ist, zu erleichtern. Aber wir können nicht daran denken, diese Politik grundsätzlich aufzugeben. Eine solche Handlungsweise würde nämlich den Zynikern recht geben, die erklären, daß Starrköpfigkeit sich auszahle, und würde darüber hinaus andere Völker nur anspornen, sich ähnlich kostspielige Atomprogramme zu leisten, in der Erwartung, daß wir sie dann mit Militärhilfemitteln wieder aus der Misere herausholen. Der wahre Prüfstein für die Richtigkeit unserer Politik gegenüber Frankreich liegt in dem Verhalten der anderen, ob sie nämlich Frankreichs Beispiel nachahmen oder nicht.

Die amerikanische Konzeption der atomaren Kriegführung Es läßt sich nicht behaupten, daß die amerikanische Rüstungspolitik ideal gewesen sei oder daß die vielen Fürsprecher dieser Politik eine konsequente Konzeption von NATO und Atomwaffen zum Ausdruck gebracht hätten. Wahrscheinlich haben wir Frankreich mehr als nötig brüskiert, jetzt aber sollten wir es besser machen und eine in sich geschlossene politische Gesamtkonzeption formulieren. Da einige der Auswirkungen dieser Politik unerfreulich für unsere Alliierten sein werden, kommt es besonders darauf an, diese Auswirkungen in den Gesamtrahmen der westlichen Verteidigung zu stellen. Dort, wo wir unnachgiebig erscheinen, müssen wir klarstellen, daß unser Widerstand nicht einfach nur Gedankenlosigkeit oder Starrköpfigkeit bedeutet. So müssen wir uns also um andere konstruktive Möglichkeiten bemühen, die im Gegensatz zu einer unabhängigen nationalen Abschreckungswaffe den berechtigten französischen Interessen entsprechen, ohne dabei das, was wir für unsere echten gemeinsamen Interessen halten, auf unannehmbare Weise aufs Spiel zu setzen.

Manche Kritiker scheinen sich aber nicht darüber klar zu sein, wie sehr doch unsere Politik zur Verteidigung Europas konsequent und in sich geschlossen ist. Was wir zu unserer Einstellung in der Frage der Atomwaffen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen, mag lückenhaft sein, es steckt aber sehr viel mehr dahinter, als man gemeinhin erkennt, was allerdings demjenigen, der aufmerksam die Erklärungen zur Verteidigung und die Reden Präsident Kennedys und der Minister Rusk und McNamara liest, offenbar wird. Verantwortungsbewußte Kritiker unseres Widerstandes gegen die Ausweitung der atomaren Bewaffnung auf andere Staaten können sich dieser These ebensowenig verschließen wie sie die offiziell verkündete oder stillschweigend praktizierte französische These übergehen können. Die entscheidenden Fragen sind also: Wodurch wird ein Eingreifverband zur Abschreckungswaffe? Wie und unter welchen Umständen soll eine Atomstreitmacht eingesetzt werden, um einen bestimmten Staat von einer bestimmten Handlung abzuhalten?

Ein hervorstechendes Merkmal der amerikanischen Auffassung besteht darin, daß die Atomwaffe nur zur unmittelbaren Vergeltung eines Atomangriffs oder nur dann eingesetzt werden soll, wenn sich für die Verteidigung der freien Welt keine andere Möglichkeit mehr bietet. Wir haben keineswegs jeder atomaren Initiative abgeschworen. Unsere Politik verbietet uns nicht unbedingt, den ersten Schlag zu führen, wie dies einige Strategen vorgeschlagen haben. Aber die Abkehr von der simplen Konzeption einer massiven Vergeltung, wie sie noch im Jahre 1954 gültig war, ist ebenso eindeutig wie natürlich. Es kann keineswegs als Feigheit bezeichnet werden, wenn man davor zurückschreckt, die atomare Vernichtungsgewalt zu entfesseln, solange noch andere Verteidigungsmöglichkeiten bestehen. Es ist vielmehr ein Gebot der Klugheit angesichts der Tatsache, daß sich Verqeltung und Wiedervergeltung gegenseitig nur allzu leicht zu maßloser Zerstörung steigern können. Und es bedeutet nicht mehr als politische Umsicht, wenn selbst diejenigen, die wir verteidigen wollen, die Atomwaffen nicht nur als Mittel zu ihrer Verteidigung, sondern möglicherweise auch als Instrument zu ihrer eigenen Vernichtung ansehen. Aus diesem Grunde haben wir uns ständig für eine starke Ausrüstung mit konventionellen Waffen eingesetzt, gerade um den Punkt, an dem wir gezwungen sind, als erste zur Anwendung der Atomwaffen zu greifen, möglichst weit hinauszuschieben. Und doch darf man die konventionellen Waffen nicht im Gegensatz zu den Atomwaffen sehen, denn dem Feind wird unsere Drohung mit nuklearer Vergeltung wahrscheinlich viel glaubwürdiger erscheinen, wenn er erst einmal einen starken Schild von konventionellen Streitkräften bei einem eindeutigen Großangriff durchbrechen muß.

Deswegen befürworten die Vereinigten Staaten eine NATO, die eine vollständige Abschreckungsmacht darstellt, statt einer NATO, die nur auf einer atomaren Abschreckung basiert. Das bedeutet eine Verstärkung der konventionellen Seite der Verteidigung. Wenn unsere Alliierten die Beschränkung ihrer Mittel ins Feld führen, dann schlagen wir eine Konzentration auf die bisher vernachlässigten Schildstreitkräfte vor. Eine Abzweigung von Mitteln für eine Reihe von nationalen Atomstreitkräften scheint uns ein schwerwiegender Fehler zu sein, wo doch die Mängel der Schildstreitkräfte so offen zu Tage liegen. Frankreich zum Beispiel wendet für die Entwicklung seiner „Force de Frappe" etwa ein Prozent seines Bruttosozialproduktes auf. Dennoch ist der finanzielle Aspekt eindeutig von sekundärer Bedeutung. Wenn die militärische Funktion der französischen Eingreifverbände eindeutig auf unsere eigene strategische Abschreckungswaffe abgestimmt wäre, dann brauchten wir uns in demselben Maße derselben Aufgabe weniger zu widmen, wie Frankreich sich ihrer mehr annimmt. Tatsächlich aber scheint es so zu sein, daß die französische „Force de Frappe" geradezu zu einer offenen Disharmonie mit unserer Konzeption führt. Militärisch besteht die Gefahr, daß sie der Wirksamkeit unserer atomaren Abschreckung Abbruch tut; politisch gesehen untergräbt sie das Vertrauen der Alliierten in diese atomare Abschreckung. Unterstützung der Atomrüstung Frankreichs würde andere Anwärter auf den Plan rufen Die Mitglieder der NATO müssen sich darauf verlassen können, daß ihre Verbündeten die Verpflichtung zur Verteidigung eines jeden von ihnen, der möglicherweise angegriffen wird, erfüllen werden. Je größer die Bedrohung, desto notwendiger ist die Vertrauensbasis. Frankreich hat nun aber offen seine Zweifel daran zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinigten Staaten wirklich ihre Vergeltungswaffe auch dann einsetzen werden, wenn sich ein sowjetischer Angriff ausschließlich auf Europa beschränkt — und sei er auch noch so überwältigend und vernichtend. Die schreckliche Logik, die sich daraus ergibt, ist allgemein bekannt; weil nämlich ein groß angelegter atomarer Schlag das Risiko des Selbstmordes einschließt, muß es unglaubwürdig erscheinen, daß irgendein Staat einen solchen Schlag führen wird, ohne daß sein eigenes Gebiet angegriffen wurde. Deshalb also wird sich ein entschlossener Gegner nicht von einem Angriff auf unsere Verbündeten abschrecken lassen. Zweifellos hat dieses Argument etwas für sich, nur wird in dieser Formulierung das Problem auf irreführende Weise vereinfacht und darf deswegen nicht unwidersprochen bleiben. Wenn die Verteidigung des eigenen Heimatgebietes nämlich der einzige überzeugende Anlaß für eine atomare Vergeltung sein soll, dann kann gerade die französische Atomstreitmacht nicht als glaubwürdiger Schutz gegen Angriffe auf Deutschland, die Türkei oder andere Länder angesehen werden. Auf diese Weise werden die NATO-Mitglieder wieder auf den Weg der Selbstverteidigung zurückgedrängt, während sie daneben zwar noch einen gewissen Zusammenhalt für die kollektive Verteidigung mit konventionellen Waffen wahren werden, auf die es zwar auch in erheblichem Maße ankommt — aber lange nicht in so entscheidender Weise.

Die Bundesrepublik wird allgemein als das Land genannt, das wahrscheinlich in der nächsten Zeit Hilfe für den Aufbau einer eigenen Atomstreitmacht deswegen fordern wird, weil es sich in einer exponierten Situation befindet und ein großes Machtpotential darstellt. Nichts erregt die Leidenschaften in ganz Europa mehr als eine solche Möglichkeit. Die Erinnerungen an zwei Weltkriege wie auch die Furcht vor den unvermeidlichen Reaktionen der Sowjets lassen die Ablehnung einer Entwicklung in dieser Richtung angeraten sein. Darüber hinaus besteht immer die Möglichkeit, daß die ungelösten Probleme Berlins, der Wiedervereinigung, der Grenzziehung sowie Unruhen in Ostdeutschland eine Gewaltanwendung auslösen, auch wenn die Sowjets es gar nicht wollen. Und eine solche Gewaltanwendung kann sich nur zu leicht ausdehnen, besonders in Situationen, wo Drohungen und Gegendrohungen aufeinander folgen. Soll man angesichts dieser Lage die Verfügungsgewalt über strategische Atomwaffen in die Hände Deutschlands legen, einem Gebiet, wo sich Ost und West so unmittelbar und bedrohlich wie nirgends sonst gegenüberstehen? Sollten die Vereinigten Staaten einer deutschen Atommacht zustimmen, so würden sie damit stillschweigend eingestehen, daß die gewaltige Abschreckungsmacht in ihren eigenen Händen aufgehört hat, überzeugend zu wirken. Selbst wenn ein solcher Schritt strategisch sinnvoll wäre, würde sich darüber ein Sturm des Protestes bei den Völkern und politischen Parteien Großbritanniens und der skandinavischen Länder erheben, und mit Sicherheit würde eine derartige Reaktion nicht auf diese Länder beschränkt bleiben. Wenn man den Sowjets helfen will bei ihrem Bemühen, die NATO aufzuspalten — hier bietet sich eine ausgezeichnete Möglichkeit. Und wie steht es nun mit den kleineren NATO-Mächten, die möglicherweise einer nationalen Atomstreitmacht noch ablehnender gegenüberstehen oder die praktische Durchführbarkeit eines solchen Programmes selbst bei großzügiger Hilfe für unwahrscheinlich kalten? Wie sollen die nun verteidigt werden? Hinzu kommt, daß wir alle anderen Verbündeten deklassieren würden, wenn wir uns den Anschein gäben, als stimmten wir dem französischen Postulat zu, daß nur der Besitz einer „Force de Frappe“ einen bevorzugten Platz in der Allianz garantiert. Kann man sich ein besseres Mittel denken, um eine Allianz zum Auseinanderbrechen zu bringen, in der alle Mitglieder vom gleichen Stolz und gleichen Selbstbewußtsein getragen sind?

Abkehr von der Strategie des massiven G e g e n s c h 1 a g e s Der Fall, mit dem wir uns hier in erster Linie zu beschäftigen haben, ist der eines auf Europa beschränkten, aber mit solcher Wucht vorgetragenen Angriffs, daß der NATO-Schild zerschlagen und der Einsatz amerikanischer strategischer Atomwaffen notwendig wird. Die Frage ist nun: würde mit einem amerikanischen strategischen Gegenschlag zu rechnen sein, wenn man davon ausgeht — wie wir es hier tun —, daß das amerikanische Heimatgebiet nicht auch zugleich von diesem Angriff betroffen wurde? Zwar stellt ein auf Europa beschränkter umfassender sowjetischer Angriff eine Möglichkeit dar, mit der kaum zu rechnen ist; in Westeuropa aber wird sie am allermeisten gefürchtet. Sie bedeutet daher den entscheidenden Test für unsere atomare Politik. Diejenigen, die Zweifel in unsere Entschlossenheit setzen, unsere atomare Abschreckungsmacht in dem vorstehend dargelegten Fall einzusetzen, müssen wir zuerst und vor allen Dingen mit Nachdruck auf unsere einmal gegebene Zusage verweisen, daß wir uns nämlich als Teil der NATO, und nicht als außen-stehend, betrachten, und unsere Handlungsweise spricht für unsere Worte. Unsere militärische Anwesenheit in Europa ist nicht einfach nur eine Geste. Ein wirkungsvoller sowjetischer Überraschungsangriff auf Westdeutschland würde wahrscheinlich mehr amerikanischen als deutschen Soldaten das Leben kosten, und mit Sicherheit mehr Amerikanern als Franzosen. Der unverzügliche Einsatz unserer in Europa stationierten Atomwaffen wäre in einem solchen Fall dann wohl kaum noch zu umgehen.

Von größter Bedeutung bei der Einschätzung der Glaubwürdigkeit eines amerikanischen atomaren Gegenschlages ist die Tatsache, daß uns die Reichhaltigkeit der strategischen Mittel einer großen, nicht einer kleinen Atommacht zu Gebote steht. Im Gegensatz zu der allgemeinen Überzeugung besteht nämlich ein großer Unterschied zwischen beiden.

Der Unterschied liegt nicht so sehr in der größeren Zahl der uns zur Verfügung stehenden Vergeltungsmittel, obwohl die Zahl auch eine Rolle spielt. Viel wichtiger ist nämlich, daß sie besser geschützt sind und daß die Planung für ihren Einsatz und die laufende Überwachung viel besser durchdacht und ausgebaut ist. Natürlich sind wir in der Lage und könnten auch alle Mittel in einem einzigen großen Schlag einsetzen, wie dies der allgemeinen Vorstellung entspricht. Ein solcher Schlag hätte zum Ziel, die sowjetische Vergeltungskraft so weit wie möglich auszuschalten, wobei aber zugleich auch sehr, sehr viele russische Zivilisten der Zerschlagung des sowjetischen Vergeltungspotentials mit zum

Opfer fallen würden. Aber im sowohl eigenen Interesse als auch, weil uns eine solche Handlungsweise aus moralischen Gründen widerstrebt, ist es gut möglich, daß wir einen anderen Weg wählen. Die Fülle unserer strategischen Möglichkeiten setzt uns in die Lage, unter den verschiedenen taktischen Maßnahmen zu wählen. Jede einzelne von ihnen stellt eine so furchtbare Bedrohung der sowjetischen Interessen dar, daß auch dann eine vollständige Abschreckungswirkung erreicht wird, wenn wir uns selbst großer Zurückhaltung befleißigen. Kleinere und weniger durchgebildete Systeme atomarer Macht können nur dann als ernst zu nehmende Abschreckung hingestellt werden, wenn damit die Ankündigung verbunden ist, daß der Vergeltungseinsatz so brutal und blutig wie möglich erfolgen wird. Da das „Ausradieren" der Städte gemeinhin als relativ einfach angesehen wird, muß eine kleine unabhängige nationale Atommacht auf diesen Zweck abgestellt sein. Der Gedanke, die Städte in einem großen, allgemeinen Atomkrieg zu schonen, mag zwar manchen als Ketzerei erscheinen, eine große Atommacht aber kann sich eine solche Konzeption schon leisten.

Hierin liegt das Neue der amerikanischen Politik, die vor allem den NATO-Mitgliedern verständlich gemacht werden muß. Verteidigungsminister McNamara hat am 16. Juni 1962 in Ann Arbor unverblümt zum Ausdruck gebracht: „Das militärische Hauptziel eines atomaren Krieges, der sich aus einem Groß-angriff gegen die Allianz entwickelt, muß die Vernichtung der militärischen Streitkräfte des Gegners, nicht aber die seiner Zivilbevölkerung sein."

Vorteile e i n e r S t r a t e g i e der abgestuften Vergeltung Warum sollen bei einem amerikanischen Atomangriff, ausgelöst durch einen massiven Überfall auf Europa, die sowjetischen Städte geschont werden? Die Antwort ist ebenso einfach wie umwälzend für die bisherige strategische Konzeption. Unsere äußerste Macht zur Abschreckung liegt darin, daß wir die Städte des Feindes sozusagen als Geiseln in der Hand halten und daß der Feind das auch weiß. Das Druckmittel, das uns mit diesen Geiseln dem Gegner gegenüber zu Gebote steht, stellt für uns einen Vorteil dar, den wir keineswegs leichtfertig aus der Hand geben dürfen. Wir wollen selbstverständlich den Feind hinsichtlich seiner ihm nach unserem Angriff etwa noch verbliebenen Vergeltungsmöglichkeit zur Zurückhaltung zwingen. Eine solche Zurückhaltung erzwingen am sichersten dadurch, daß wir dem Feind unmißverständlich vor Augen führen, daß der Großteil seiner Zivilbevölkerung immer noch ein Faustpfand in unserer Hand darstellt und nur dann überleben wird, wenn er sich selbst zurückhält. Bei unserer großen und gesicherten strategischen Macht können wir trotz eines ersten militärischen Gegenschlages noch soviel in Reserve halten, um die Städte des Gegners ständig mit totaler Vernichtung zu bedrohen.

Wenn man sich nun fragt, was die Sowjetunion davon abhalten könnte, schon zu Beginn der Feindseligkeiten einen Angriff auf europäische Städte zu führen, so muß die Antwort wie folgt lauten: a) Es ist kaum vorstellbar, daß die Sowjetunion das Risiko auf sich nehmen würde, blindlings einen umfassenden Angriff gegen Europa zu führen, ohne gleichzeitig auch zu versuchen, die Vereinigten Staaten kampfunfähig zu machen (in diesem Fall ändert sich die Prämisse unserer Diskussion von Grund auf), b) Wenn die Russen überhaupt willens sein sollten, das Risiko irgendeines Angriffes auf sich zu nehmen, dann müssen sie zwangsläufig Westeuropa als den Preis ansehen, den es zu gewinnen gilt, nicht aber als ein Ziel, das man in Schutt und Asche legt.

Wenn wir die militärischen Kommandozentralen, die sich in Städten befinden, unberührt lassen, so birgt dies für uns natürlich ein Risiko in sich, weil es den Gegner in die Lage setzt, einen Vergeltungsschlag zu führen. Andererseits ist dies vielleicht der einzige Weg, der politischen Führung des Feindes die Möglichkeit zu geben, von der Vergeltung ganz abzusehen oder sie zumindest einzuschränken. Wir brauchen die relativen Vor-und Nachteile einer solchen Politik nicht dadurch im voraus festzulegen, daß wir uns für nur einen Vergeltungsplan entscheiden. Indem wir uns aber eine Politik zu eigen machen, die die Städte zunächst verschont, können wir uns immer noch eine Abschreckungsmacht in Hinterhand halten, statt von vornherein davon auszugehen, daß, wenn überhaupt ein Atomkrieg einmal ausgebrochen ist, die Abschreckung selbst wenigstens völlig versagt hat. Daß es uns ernst ist mit diesem Element der amerikanischen Politik, ist damit bewiesen, daß wir Milliarden Dollar zur Anschaffung der erforderlichen Mittel aufwenden.

Bei der Darlegung dieser neuartigen Möglichkeit unserer atomaren Politik ist es angezeigt, den terminus technicus „Gegenschlag" (Counterforce) ganz fortfallen zu lassen. Bislang bedeutete dieser Begriff den allumfassenden Schlag, wobei die Zerstörung der Städte mehr als ein zusätzlicher Erfolg, denn als ein Nachteil galt. Die Gegner der traditionellen Gegenschlag-Theorie sagen voraus, daß sich die Aussichten auf eine volle Wirksamkeit eines solchen Gegen-schlages immer mehr verflüchtigen. Und da man nicht mehr mit Überzeugung davon ausgehen kann, daß eine solche Aktion auch nur annähernd hundertprozentig wirksam sein wird, lehnen sie die Gegenschlag-Theorie als brauchbare Strategie überhaupt ab. Doch in dem Maße, in dem die Vergeltungskapazität des Feindes der klassischen Gegenschlag-Strategie gegenüber immer weniger verwundbar wird, nimmt die Bedeutung der Strategie der Verschonung der Städte nicht etwa ab, sondern nimmt vielmehr an Wichtigkeit zu. Wenn sich eine Nation eindeutig darüber im klaren ist, daß ein totaler Schlag gegen den Feind eine unerträgliche Vergeltung nach sich ziehen wird, dann muß das Ziel seiner Strategie nicht in erster Linie darauf gerichtet sein, die Vergeltungskapazität des Gegners zu schmälern, als vielmehr darauf, den Feind zur Zurückhaltung in der Anwendung eben dieser Kapazität zu zwingen. Es ist gut möglich, daß sie sich dazu entschließt, dieses Ziel durch einen beschränkten militärischen Gegenangriff zu erreichen — selbst dann, wenn große Teile der gegnerischen Streitkräfte als unverwundbar angesehen werden — als immerhin noch die beste Möglichkeit in einer ohnehin nahezu verzweifelten Situation.

Der neue Aspekt einer möglichen amerikanikanischen Atomstrategie beruht auf der Überlegung, was eben nicht angegriffen werden soll. Die Ansichten darüber, was im einzelnen wirklich getroffen werden kann, mögen sich ändern, obwohl der gesunde Menschenverstand die Annahme nahelegt, daß in keinem Falle die Gesamtheit der militärischen Angriffsobjekte sich wahrscheinlich einheitlich aus entweder sehr leicht oder sehr schwer zu zerstörenden Zielen zusammensetzen wird. Sie werden zu jeder Zeit gemischt sein. Betrachten wir nur dasjenige strategische Vergeltungsprogramm, über das wir am besten Bescheid wissen, nämlich das amerikanische. Jetzt und noch in absehbarer Zukunft sind darin ebenso ungeschützte, unbewegliche Elemente enthalten, die voraussichtlich verwundbar sein werden, wie auch solche, die voll geschützt oder entsprechend beweglich sind. Zweifellos werden darin auch Elemente enthalten sein, die man noch für unverwundbar hält, die sich aber dann leider doch als verwundbar herausstellen. Wenn sich der Feind nicht in geradezu märchenhaft besserer Kondition befindet, wird es einem Angriff gegen ihn, der die Städte zunächst schont, nicht an wichtigen Zielen fehlen.

Bei unserer Fähigkeit, nicht nur auf die militärische Stärke des Feindes, sondern auch auf seinen politischen Willen einzuwirken, steht nicht Präsident Kennedy, sondern Chruschtschow vor der Entscheidung, entweder sich zurückzuhalten oder „Selbstmord" zu begehen. Die Möglichkeit, sich einem solchen Dilemma gegenüber zu sehen, bedeutet für die Sowjets an sich schon eine außerordentliche Abschreckung vor einem Angriff auf Europa. Wenn man die Möglichkeit beiseite läßt, daß die sowjetischen Führer blind oder wahnsinnig seien, dann macht dies allein schon einen massiven Angriff auf Europa höchst unwahrscheinlich. Aber selbst, wenn ein solcher Angriff erfolgen sollte, würde eine amerikanische Erwiderung (response), die die sowjetischen Städte verschont, die beste sich dann noch bietende Chance darstellen, um auch noch nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten eine gewisse Abschreckungsmöglichkeit in Reserve zu haben. Dadurch können wir einen enormen Druck auf die sowjetische Regierung ausüben, um diese dazu zu bewegen, die Rote Armee und ihre Fernlenkwaffen zurückzuhalten und damit den Fortbestand ihrer Gesellschaft sicherzustellen.

Eine unabhängige Force de Frappe wäre nur für eine Vernichtungsstrategie geeignet Wenn Amerika nun aber einerseits die äußerstmögliche Abschreckung gewährleisten kann (die überzeugende Drohung mit unbegrenzter Vernichtung) und dazu auch noch die einzige wirkliche Hoffnung bietet, einem Atomkrieg noch vor der Schwelle der Massenvernichtung Einhalt zu gebieten (die Fähigkeit, durch eigene Zurückhaltung bei der Auswahl der Angriffsziele einen entscheidenden Druck auf den Feind auszuüben), dann müßten andererseits vor allem die Europäer sicher gehen wollen, daß diese Abschreckungsmethode auch wirklich funktioniert. Aber können denn unsere strategischen Streitkräfte diese Aufgabe erfüllen, wenn gleichzeitig die „Force de Frappe" das tut, wozu sie vermutlich geschaffen worden ist, nämlich die Zerstörung sowjetischer Städte, während sich im gleichen Augenblick unsere Streitkräfte bemühen, eben diese Städte zu schonen? Gäbe es dann für die sowjetische politische Führung noch einen Grund, sich Zurückhaltung aufzuerlegen? Würden sie in ihrer Wut und Bestürzung, vorausgesetzt sie seien am Leben geblieben, noch Zeit zu besonnener Überlegung haben? Der Erfolg der vorstehend erläuterten Strategie hängt entscheidend davon ab, wie fest man die Einsatzkontrolle über alle Angriffsverbände in der Hand hat, eine Kontrolle, die so beschaffen und koordiniert sein muß, daß sie die größtmögliche Druckwirkung gewährleistet, wenn dem Feind gleichzeitig Bedingungen gestellt werden. Die nukleare Politik der NATO, auf militärischem sowohl als auch auf politischem Gebiet, erfordert gerade das, was General de Gaulle in aller Öffentlichkeit so herabsetzt, nämlich Integration. Eine Welt, in der es so furchtbare Waffen gibt, ist für etwas anderes einfach zu klein.

Ein, totaler Krieg ist unwahrscheinlich. Es ist auch möglich, daß die französische „Force de Frappe" künftig einmal sich an NATO-Operationen beteiligen und sich zur Sicherung der Koordinierung sogar formell in die NATO integrieren wird oder einfach inaktiv oder unwirksam bleibt. Das Allerschlimmste wird wahrscheinlich gar nicht eintreten. Wo aber das Schicksal der ganzen NATO auf dem Spiele stehen kann, müssen auch die unwahrscheinlichsten Eventualitäten sehr ernst genommen werden. Man muß ihnen immer und überall entgegentreten, nicht aber sie unterstützen. Atomare Kriegführung im Alleingang ist heutzutage einfach ein Anachronismus. Diese These trifft natürlich ebenso auf das britische Bomber-Kommando wie auf die „Force de Frappe" zu. Allerdings besteht mit dem britischen Bomber-Kommando bereits eine Koordinierung der operativen Einsätze, und zwar über die gemeinsame Zielplanung, die auch unsere Streitkräfte koordiniert. In dem britischen Weißbuch von 1962 über die Verteidigung ist nicht mehr von einer britischen Abschreckung, sondern von einem britischen „Beitrag zur strategischen Abschrekkungskraft des Westens" die Rede.

General de Gaulle redet anders, und gewiß müssen wir ihm die Ehre zugestehen, daß er auch genau das meint, was er sagt, besonders, wo er sich so um Klarheit bemüht und so be-redt ist, Und wir sollten ihm mit Respekt widersprechen. Bezüglich unserer Atomhilfe für Großbritannien, die Frankreich so verärgert hat, können wir uns nur bemühen, die Dinge in Zukunft nicht noch zu verschlimmern. Für das Vergangene können wir eine vernünftige Erklärung geben. Die anglo-amerikanische Zusammenarbeit geht auf die gemeinsamen Atom-und Bomberprogramme des letzten Krieges zurück und wurde von den Nachkriegsregierungen weitergepflegt. Sie stand auf dem Höhepunkt, als die Integrierung der Operationspläne noch leicht und begehrenswert, nicht aber schwierig und zwingend erschien. Die anglo-amerikanischen Beziehungen haben immer auf Gegenseitigkeit beruht, sie boten nicht das betrübliche Bild eines Alliierten, der ganz eindeutig die erforderliche Mitarbeit verweigert, bis die Vereinigten Staaten schließlich gezwungen sind, die verlangte Hilfe zu gewähren. Sicher hat es auch harte Verhandlungen gegeben, doch standen die britischen Stützpunkte unseren Flugzeugen ständig zur Verfügung, komplett mit Lagermöglichkeiten für Atomwaffen. In jüngster Zeit erst haben wir die Basen für Polarisraketen in Schottland erhalten sowie das Recht zur Benutzung der Weihnachtsinsel. Aus diesen Gründen läßt sich unsere bisherige Hilfe für das britische Bomber-Kommando als Sonderfall vernünftig erklären. Und doch ist es jetzt unzweckmäßig, Großbritannien auch weiterhin einen Sonderstatus einzuräumen. Unsere Politik gegenüber dem Vereinigten Königreich muß nun in den Gesamtrahmen unserer Rüstungspolitik eingefügt werden.

Die USA müssen die Verbündeten eingehend informieren Dieselben Gründe, welche die Vereinigten Staaten veranlassen, sich gegen die Aufstellung nationaler atomarer Abschreckungsstreitkräfte zu wenden, müßten auch uns davon abhalten, unabhängig oder ohne gebührende Berücksichtigung der Interessen und Empfindlichkeiten unserer Verbündeten zu handeln. Wir können nicht der Atlantischen Gemeinschaft das Wort reden und gleichzeitig unsere uneingeschränkte Souveränität in Fragen, die Leben und Tod berühren, dokumentieren. Der Versuch, stolze und zugleich militärisch verwundbare Verbündete mit vagen geheimnistuerischen Versicherungen abzuspeisen, wird kaum die Zusammenarbeit fördern, sondern eher die Besorgnis und die Ressentiments verstärken. Es muß uns auf irgendeine Weise gelingen, die operative Erfordernis nach einheitlicher Verfügungsgewalt über Atomwaffen mit der politischen Beteiligung und Partnerschaft unserer Alliierten in Einklang zu bringen.

Um es zu wiederholen: der wichtigste Schritt, den wir vor langer Zeit unternommen haben, war der, uns zu einer gemeinsamen Verteidigung zu verpflichten, bei der z. B.der Abwurf einer Atombombe auf Westdeutschland ebenso eine entsprechende amerikanische Erwiderung nach sich ziehen würde, wie wenn diese Bombe auf Maine, USA, gefallen wäre. Wir beschreiten jetzt andere Wege, um unsere Verbündeten in der NATO über unsere Verteidigungspolitik und unsere Verteidigungsmöglichkeiten zu beruhigen und aufzuklären. Diese Schritte könnten von großer Wichtigkeit sein. Wenn unsere Verbündeten zum Beispiel nicht über genügend Angaben verfügen, um unsere strategischen Möglichkeiten gegenüber den Sowjets gründlich im einzelnen nachzuprüfen und zu beurteilen, können sich bei ihnen sehr wohl Zweifel hinsichtlich der westlichen Überlegenheit festsetzen. Wenn sie schon einer vollständig integrierten Streitmacht als dem letzten Hüter ihrer Interessen vertrauen sollen, steht ihnen zweifellos zu, sich davon zu überzeugen, daß diese Streitmacht ausreichend stark und gut gesichert ist.

Aber selbst dieses Minimum an Versicherung macht es nötig, unseren Alliierten nicht nur Informationen über das zu geben, was wir haben, sondern auch darüber, was unser Nachrichtendienst über die Sowjets herausbekommen hat, sowie unsere Vorstellungen davon, wie die sowjetischen Streitkräfte am wirksamsten gegen den Westen eingesetzt werden würden. Solche Informationen dürfen aber nicht leichtfertig gegeben werden, selbst bei geeigneten Sicherheitsvorkehrungen. Dennoch bedeutet ihre Weitergabe die Erfüllung einer echten politischen Verpflichtung. Es steht auch unseren Alliierten zu, sich davon zu überzeugen, daß wir in unserem strategischen Kalkül nicht auf ihre Kosten knausern, zum Beispiel, indem wir eine uns bekannte sowjetische Abschußstellung für Mittelstreckenraketen in unserer Zielplanung unberücksichtigt lassen, während wir eine bekannte Abschußrampe für interkontinentale Raketen miteinbeziehen. Solche Informationen sind heikel genug, vom Standpunkt eines Sicherheitsoffiziers aus ge36 sehen, aber noch bedenklicher ist der Umstand, daß unsere Verbündeten imstande sein müssen, unsere Pläne für die verschiedenen zu erwartenden Möglichkeiten in großen Zügen zu kennen und zu beeinflussen, damit ihnen die geistige Konzeption unserer Verteidigungspolitik ebensoviel Beruhigung gibt wie das exakte Wissen um unsere tatsächliche Stärke.

Das Problem der Verfügungsgewalt Wie weit die Weitergabe solcher Informationen schon gediehen ist, ist öffentlich noch nicht bekannt. Dennoch läßt sich aus dem Kommunique, das nach der NATO-Minister-konferenz in Athen im letzten Frühjahr herausgegeben wurde, ersehen, daß Fortschritte erzielt worden sind. Die Erklärung, die Verteidigungsminister McNamara im vergangenen Juni in Ann Arbor abgegeben hat, läßt in dieser Hinsicht nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig: „Wir wünschen und brauchen eine stärkere Beteiligung der Allianz an der Ausarbeitung unserer Atomwaffenpolitik, und zwar im größtmöglichen Umfang." Die Vereinigten Staaten haben ihre Partner über das „Was" und „Wie" ihrer Atomstreitmacht bereits unterrichtet und sind nun bereit, auch über das „Wann" zu sprechen.

Und hier beginnt das Dilemma: jeder unserer Verbündeten möchte sowohl den Zeigefinger am Abzug wie auch den Daumen am Sicherungshebel haben, meint aber, den anderen müsse dieses Recht vorenthalten werden, weil sonst entweder die Verfügungsgewalt über die strategische Atommacht zu schwach oder durch zu viele Vetos lahmgelegt werden würde. Vielleicht läßt sich dieses Dilemma am besten auf dem Wege lösen, den man jetzt offensichtlich zu beschreiten versucht, das heißt, eine zu starke Zersplitterung der effektiven Verfügungsgewalt zu vermeiden und statt dessen eine Übereinstimmung über die Situationen herbeizuführen, in denen Atomwaffen anzuwenden sind. Ein ausländischer Kritiker mag zu dem Schluß kommen, daß die Vereinigten Staaten sich hier in die Rolle eines überheblichen Ausschußvorsitzenden hineindrängen, der eifersüchtig über seinem Rechte wacht, allein festzustellen, was der eigentliche Sinn der Sitzung sei. Nichtdestotrotz ist es den Vereinigten Staaten ernst mit diesen Beratungen, denn sie sind sich darüber im klaren, daß diese Probleme alle auf das tiefste berühren. Selbst wenn eine volle Übereinstimmung innerhalb der NATO nicht erreicht werden kann, dürfte schon die Mitwirkung bei den Bemühungen, so viel Übereinstimmung wie möglich zu erreichen, manche nationale Forderung befriedigen und zur Klärung der Sachlage für alle beitragen.

Das amerikanische Angebot einer multilateralen Atomstreitmacht Das ist das Mindesterfordernis einer atlantischen Abschreckungsmacht; aber braucht sie nicht noch mehr? Wenn über die Mitteilung von Informationen und über die weitestgehende politische Konsultation hinaus noch mehr erforderlich sein sollte, dann ist eine effektive Beteiligung unserer Alliierten selbst in den heikelsten Bereichen, nämlich Befehls-erteilung und Verfügungsgewalt über Kernwaffen, möglich. Eine Säule der atlantischen Abschreckungsmacht könnte europäisch und so beschaffen sein, daß sie ein Symbol der westlichen Einigkeit darstellt. Hierfür bieten sich sehr viele verschiedene Möglichkeiten in Form der verschiedensten Kombinationen von Abschußbasen und beweglichen Abschußrampen. Eine dieser Kombinationen hat Präsident Kennedy während seiner Rede in Ottawa im Mai 1961 genannt, als er von der Möglichkeit des späteren Aufbaues von NATO-Seestreitkräften sprach, die mit Fernlenkwaffen ausgerüstet und bei denen Eigentumsverhältnisse und Verfügungsgewalt wirklich multilateral wären, wenn unsere Verbündeten dies für wünschenswert und durchführbar halten sollten, sobald die nicht-atomaren Ziele der NATO einmal erreicht worden sind.

Es ist klar, daß diese Anregung von bestimmten Bedingungen abhängt, und das ist auch richtig so. Der* Westen braucht eine solche Streitmacht aus zwingenden Gründen nicht, und für das Bedürfnis sollte allein maßgebend sein, wie sehr sich die Europäer danach drängen. Wenn die Mitglieder der NATO mit neuen Zusicherungen und einem größeren politischen Mitspracherecht bei der Atomstrate., gie zufrieden sind, um so besser. Wenn sie aber, obwohl unzufrieden, in ihren Ansichten über künftige Maßnahmen stärker differieren als konform gehen, dann ist es für uns nur ein Gebot der Klugheit, mit Nachdruck eher alles zu tun, was der Zwietracht Vorschub leistet, anstatt sie mit dem Mantel der Harmonie zuzudecken. Wenn aber Europa auf eine nicht ausschließlich amerikanische Atommacht ganz und gar versessen ist, dann hat ja Präsi37 dent Kennedy einen Weg gezeigt, wie man dazu kommen kann. Obwohl zwangsläufig mit Zurückhaltung vorgetragen, ist das amerikanische Angebot doch ohne Beispiel, und die Europäer brauchen sich nur noch unter sich selbst zu einigen, um es in die Tat umzusetzen.

Anders als bei einer „Force de Frappe" würde eine derartige Streitmacht mehr ein Symbol der gegenseitigen als der nationalen Abhängigkeit darstellen, besonders wenn die Bedeutung der Worte „wirklich multilateral" klargestellt wird. Bei Seestreitkräften dieser Art könnten Eigentumsverhältnisse und Betrieb bis herab zu aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten Schiffsbesatzungen international gestaltet werden, so daß noch nicht einmal ein einziges, mit Fernlenkwaffen bestücktes Schiff einer Nation in Krisenzeiten oder bei inneren Unruhen als operative Einheit zur Verfügung stehen würde. Man macht sich heute wenig Kopfzerbrechen darüber, ob irgendwelche „Ultras" die Macht in die Hände bekommen, um das SAC oder das Britische Bomber-Kommando von der Leine zu lassen. Aber wenn die Zahl der nationalen Atomstreitkräfte noch größer wird, kann man das Problem etwaiger unverantwortlicher Handlungen nicht mehr länger außer acht lassen, auch nicht die erhöhten Risiken eines unabsichtlich oder durch Kurzschlußreaktion ausgelösten Krieges. Wenn sich die Zahl der Atommächte nun einmal erhöhen muß, dann lieber eine sicher kontrollierte Kollektivmacht als viele einzelne nationale Atommäcbte.

Es ist sogar möglich, daß die Schaffung einer europäischen Atomstreitmacht zu einer Verringerung statt zu einer Erhöhung der Zahl der Atommächte führt. Großbritannien verfügt zur Zeit über V-Bomber, Frankreich wird im Jahre 1963 einige Mirage-IV-Bomber besitzen. Andererseits ist das Bluestreak-Raketen-Projekt eingestellt worden, und die Engländer sprechen davon, die V-Bomber nur noch einige Jahre mit Luft-Boden-Fernlenkwaffen im Dienst zu behalten. Was kommt dann? Frankreich erklärt, es werde noch vor Ende dieses Jahrzehnts über eine operative Raketenwaffen verfügen; aber selbst das wird noch Jahre dauern. Vielleicht wird die französische Regierung daran festhalten, sich eigene Fernlenkwaffen zu schaffen, vielleicht aber auch nicht. Es ist doch wohl anzunehmen, daß Frankreichs künftige Entscheidungen den Kostenfaktor und andere Möglichkeiten nicht völlig außer acht lassen werden. Liegt es denn jenseits der Vorstellungskraft so erfahrener Mächte wie Frankreich und Großbritannien, einen politischen Kompromiß in Form einer NATO-Abschreckungsmacht zu finden, der für alle annehmbar ist, während sie selbst veraltete Luftstreitkräfte mit Anstand abbauen?

Aufgaben der multilateralen A t o m s t r e i t m a c h t Wenn sie das versuchen sollten, ergibt sich natürlich wieder die mißliche Frage nach der Verfügungsgewalt, und damit sind wir wieder bei dem Dilemma von Abzug und Sicherheitshebel angelangt. Das Problem der Verfügungsgewalt über Fernlenkwaffen einer multilateralen Streitmacht ist so verzwickt, daß es manchen schlechterdings unlösbar erscheint. Und doch läßt sich auch das lösen, wenn es sein muß. Was einigen Europäern am meisten Kopfzerbrechen bereitet, ist der Umstand, daß es möglicherweise nicht zu einer amerikanischen atomaren Erwiderung kommen wird, wenn ein sowjetischer Angriff auf Europa die europäische konventionelle Verteidigung einmal überrant hat. Wenn wir, um dieser Eventualität gerecht zu werden, einer multilateralen NATO-Atommacht zustimmen, damit den Europäern die Verfügungsgewalt wenigstens über einen Teil der atomaren Streitmacht überlassen wird, drücken wir ihnen den Abzug für einen Fall in die Hand, bei dem ohnehin schon von uns eine Erwiderung erwartet wird. Somit verzichten wir auf gar nichts, wenn sicher gestellt ist, daß der von den Europäern zu führende Atomschlag in unser globales Konzept hineinpaßt. Dieses lebenswichtige „Wenn" kann dadurch gewährleistet werden, daß die Fernlenkgeschosse der europäischen Streitmacht ständig auf verwundbare militärische Schlüsselstellungen der Sowjets gerichtet sind. Es ist so gut wie sicher, daß diese Stellungen auch zu den Zielen gehören, die auch wir zum Beschuß ausgewählt haben — im Gegensatz zu den nicht so leicht verwundbaren militärischen Zielen, die wir vielleicht nicht treffen können, und zu den sehr verwundbaren Menschenmassierungen, die wir vielleicht gar nicht treffen wollen. Es zeigt sich also, daß man mit den Erfordernissen integrierter Operationen durchaus fertig werden kann, obwohl zweifellos viel verwickeltere Varianten der Zielauswahl und anderer operativer Aspekte berücksichtigt werden müßten, als sich aus dieser grob umrissenen Darstellung ergibt.

Wer löst den Atomschlag der N A T O -S t r e i t m a c h t aus?

Die politischen Umstände bereiten viel mehr Kopfzerbrechen. Um eine atomare Erwiderung sicherzustellen, muß der Nordatlantikrat den Befehlshaber einer multilateralen Streitmacht im voraus dazu ermächtigen, bei einem überwältigenden sowjetischen Angriff zurückzuschlagen, weil dann nämlich nicht mehr genug Zeit für Konsultationen bleibt und weil sich beim Gegner nicht die Ansicht festsetzen darf, daß der am meisten zögernde unter den fünfzehn Mitgliedstaaten möglicherweise die Vergeltung vereitelt. Wollen die Europäer wirklich, daß die Kontrolle so scharf und deutlich, so völlig automatisiert ist, daß für politische Erwägungen und Zurückhaltung kein Spielraum mehr bleibt? Wenn das nicht der Fall ist, so wird die Tatsache, daß sie dies öffentlich zugeben, zur Klärung ihrer eigenen parlamentarischen Erörterungen beitragen. Wenn sie im schlimmsten Falle eines sowjetischen Angriffes vor einer automatischen Erwiderung zurückschrecken, so erhebt sich die Frage, wozu die nationale Abschreckung dann noch nützlich sein soll.

Eine Debatte über diese Fragen im Rahmen der NATO dürfte auch aufschlußreich sein, denn je mehr Beschränkungen unsere Verbündeten einer etwaigen atomaren Erwiderung auferlegen wollen, desto mehr müssen sie die Zweckmäßigkeit nicht-nuklearer Mittel zur Abwehr der sowjetischen Herausforderungen anerkennen. Diese Tatsache zuzugeben ist zwar nicht angenehm, aber lehrreich. Wahrscheinlich werden die Beschränkungen für eine automatische Erwiderung, die die NATO vielleicht im voraus genehmigt, sehr streng sein, und das ist recht so. Aber die Beschränkungen dürfen wiederum auch nicht so streng sein, daß die Vernichtung unserer politischen verantwortlichen Führung den Sowjets praktisch Immunität verspricht. Was man gefahrlos zugestehen könnte (wenn auch erst auf europäische Forderung hin), wäre eine im voraus gegebene Feuererlaubnis, die eine Erwiderung ausschließt, die nur durch ein störanfälliges Radarwarnsytem ausgelöst wird oder durch eine zu weitgehende Befehls-gewalt der Militärs zustande kommt. Andererseits muß aber sichergestellt sein, daß eine multilaterale NATO-Streitmacht nicht durch einen einzigen der fünfzehn Mitgliedstaaten paralysiert wird.

Es gibt also im Rahmen der NATO noch andere konstruktive Möglichkeiten als nur die zahlenmäßige Ausweitung der nationalen Atomstreitkräfte. Hierzu gehört eine militärisch brauchbare NATO-Abschreckungswaffe, wenn man überhaupt so weit gehen muß. Die Vereinigten Staaten haben diese Möglichkeiten aufgezeigt, vielleicht nicht in allen ihren Aspekten, mit aller Klarheit, oder mit letzter Konsequenz, aber dennoch öffentlich, und zwar gleichzeitig unter Verzicht auf jede enge Auslegung rein nationaler Interessen. Wir haben eine Politik, und es ist eine gute Politik. Es ist jetzt keineswegs an der Zeit, diese Politik aufzugeben, nur um Frankreich gefällig zu sein. Die Aufgabe besteht darin, diese Politik auszubauen und zu festigen auf dem Wege zu einer größeren atlantischen Partnerschaft.

Fussnoten

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Malcolm W. Hoag, Mitglied des Forschungsstabes der Rand Corporation zur Beratung des amerikanischen Verteidigungsministeriums in militärischen Fragen der NATO, 1959— 1960 Professor für Auswärtige Politik am National War College.