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Spannungen im Bündnis | APuZ 12/1963 | bpb.de

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APuZ 12/1963 Praxis der Partnerschaft Spannungen im Bündnis Die amerikanische Atompolitik und Frankreichs Forderungen Atlantica Eine Zwangsehe Europa und Amerika in der atlantischen Partnerschaft

Spannungen im Bündnis

Henry A. Kissinger

Ernste Meinungsverschiedenheiten zwischen Amerika und Europa Präsident Kennedy hat in seiner wichtigen Rede vom 4. Juli 1962 die Partnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gefordert. Mit der Annahme des Außenhandels-gesetzes scheint dieser „große Plan" der Verwirklichung um einen Schritt nähergekommen zu sein. Für viele ist die Atlantische Gemeinschaft die große Hoffnung der sechziger Jahre, und es ist in der Tat so, daß die Möglichkeit, ein lebensfähiges atlantisches Bündnis zu schaffen, zu den großen Gelegenheiten unserer Zeit gehört. Künftigen Historikern mag sie als der entscheidende Vorgang unseres Jahrzehnts erscheinen, bei weitem bedeutungsvoller als alle Krisen, die die Schlagzeilen des Tages beherrschen.

Und doch sollte der Glanz dieses letzten Zieles die Hindernisse nicht verdecken, die seiner Verwirklichung noch im Wege stehen. Zu oft besteht die Neigung, von der unaufhaltsamen Entwicklung zu einem immer festeren Zusammenhalt des Westens zu sprechen. Tatsache ist jedoch, daß diese Chance für den Westen sich in einem Augenblick ernster innerer Spaltungen geboten hat. Nach fast zweijährigen intensiven Debatten stehen viele unserer Verbündeten unseren Ansichten über Strategie skeptisch gegenüber. Nach Ansicht des Sonderbeauftragten Kennedys für Fragen, der nationalen Sicherheit, McGeorge Bundy, haben die Meinungsverschiedenheiten über Atomfragen die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und • Frankreich gestört Trotz wiederholter Beteuerungen der Einigkeit ist es in Bonn und in Paris immer wieder zu Äußerungen des Mißtrauens wegen unserer Verhandlungsführung in der Berlinfrage gekommen. Die kleineren europäischen Staaten werden hin-und hergerissen zwischen ihrer Angst vor einer französisch-deutschen Hegemonie und ihrem Wunsch, in Europa eine größere Rolle zu spielen, als ihre eigenen Hilfsmittel und ihr Einfluß zulassen. Gleichzeitig hat unsere Politik in den Kolonialgebieten, vor allem in Neu-Guinea, einige treue Freunde enttäuscht und ihre traditionelle Bereitschaft, den atlantischen Beziehungen den Vorrang vor den europäischen zu geben, gemindert.

Natürlich braucht man nicht jede Kritik wörtlich zu nehmen; zum Teil entspringt sie der Neigung, uns zum Sündenbock für unangenehme Entscheidungen zu machen, die vielleicht insgeheim als unvermeidlich erkannt werden. Andererseits aber haben ebenso viele europäische Politiker darauf verzichtet, den Grad ihres Unbehagens öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Viele haben ihre politische Karriere auf die enge Bindung an die Vereinigten Staaten aufgebaut. Ihre innenpolitischen Gegner würden eine öffentliche Kritik an der Politik der Vereinigten Staaten als Eingeständnis des Fehlschiagens ihrer Politik auslegen.

Neues Selbstbewußtsein der Europäer Wenn die Europäer sagen sollten, was sie wirklich denken, würden sie mehr oder minder deutlich zu erkennen geben, daß sie mit unserer Einschätzung der kommunistischen Gefahr oder der Mittel, sie zu bekämpfen, nicht einverstanden sind. Die sachliche Richtigkeit dieser Ansichten steht nicht zur Debatte. Ihre Existenz hat die Aufmerksamkeit von konstruktiven Aufgaben abgelenkt und Kräfte in Diskussionen über ephemere Fragen verbraucht. Hinter diesen einzelnen kritischen Äußerungen aber verbirgt sich eine wichtige Realität: ein neues Europa kommt herauf — dynamisch, mächtig und selbstbewußt. In vieler Hinsicht stellt dieses Europa den Kulminationspunkt einer weitsichtigen, seit dem zweiten Weltkrieg konsequent verfolgten amerikanischen Politik dar. Aber diq Tatsache, daß unsere Bemühungen in erster Linie der Hilfe auf wirtschaftlichem Gebiet gelten mußten, hat uns vielleicht die Augen vor den politischen Konsequenzen unseres Erfolges verschlossen. Es war immer anzunehmen, daß Nationen mit der geschichtlichen Vergangenheit unserer europäischen Verbündeten früher oder später versuchen würden, ihre eigenen poli-tischen Ansichten über die Welt durchzusetzen. Die dynamische Kraft und das Sendungsbewußtsein, die Europa fünf Jahrhunderte lang in die überseeischen Gebiete hinausgetrieben haben, sind jetzt in erster Linie auf den Wiederaufbau Europas und dann auf die Stärkung seines Einflusses in der Welt gerichtet worden. Der diesem Ziele geltende Energieaufwand ist deshalb besonders groß, weil Europa zum erstenmal seit dem Blutbad des ersten Weltkrieges eine junge Generation besitzt, die darauf brennt, ihre eigenen Ideen und Vorstellungen von der Welt zu behaupten.

Die Art und Weise, wie die Europäer ihre neue Selbstsicherheit zum Ausdruck gebracht haben, ist zweifellos nicht immer glücklich gewesen. Man kann das richtige Urteilsvermögen der Vereinigten Staaten in Frage stellen; etwas anderes ist es aber, ihre Loyalität anzuzweifeln, wenn wir auch selber dazu neigen, diese beiden Dinge zu verwechseln. Neuorientierungen unserer Politik als einen a priori Beweis unserer Unbeständigkeit aus-zulegen, heißt jede westliche Initiative im Keim ersticken. Außerdem sind durchaus nicht alle Maßnahmen unserer europäischen Verbündeten auf unsere Politik abgestimmt, und viele werden ohne jede Rücksicht auf das, was wir tun, getroffen werden. Staatspräsident de Gaulle wird ohne Rücksicht auf unseren politischen Kurs stets versuchen, sich als Führer Europas zu behaupten, und grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in politischen Fragen werden weiterhin dadurch verschärft werden, daß es ihm gleichgültig ist, ob er persönliche Verärgerungen hervorruft oder nicht.

Die Frage ist jedoch berechtigt, in welchem Maße die Politik der Vereinigten Staaten die Spaltung des Westens verstärkt hat, zumal da die Kubakrise eine Lage geschaffen hat, in der eine solche Prüfung von großem Nutzen sein kann. Daß wir entschlossen, aber zugleich überlegt gehandelt haben, hat viel dazu beigetragen, das Vertrauen in unsere Führung wiederherzustellen. Andererseits aber sind dadurch Auffassungsdifferenzen zwischen uns und Europa unterstrichen worden. Im ganzen gesehen, sind die Auswirkungen der Kubakrise sehr günstig für uns gewesen, aber der Kredit, den wir damit erworben haben, wird rasch erschöpft sein, wenn wir uns nicht bemühen, die gegenwärtige Haltung unserer europäischen Verbündeten zu unserer Politik zu verstehen.

Deutschland psychologisch höchst verwundbar Der politische Blickwinkel der Nationen hängt von ihren Verpflichtungen, ihrer geographischen Lage, ihrer Geschichte und ihrer Stärke ab. Kein Bündnis kann die Ziele aller seiner Mitglieder vollkommen miteinander vereinbaren, besonders dann nicht, wenn einer der Verbündeten weltweite Verpflichtungen hat, während die anderen ihre Aufmerksamkeit auf regionale oder nationale Angelegenheiten konzentrieren. Mindesterfordernis eines wirksamen Bündnisses ist es aber, daß die Bündnispflichten niemals den vitalen Interessen des einen oder anderen Partners zuwiderlaufen.

Diese Überlegungen sind von besonderer Bedeutung für das gesamte Deutschland-Problem. Der Grund, warum die Berlinfrage so heikel ist, liegt nicht in erster Linie in der physischen Verwundbarkeit der Stadt, sondern in der psychologischen Verwundbarkeit ganz Deutschlands. Für viele im Westen scheint es sich bei der Krise um Berlin vornehmlich um den Versuch zu handeln, den Zugang zu der belagerten Stadt neu zu regeln. Diesen westlichen Beobachtern scheint die Lage Deutschlands im ganzen gesehen mehr oder weniger erträglich. Nicht jeder nimmt die Teilung des Landes widerspruchslos hin, mancher würde vielleicht ein geeintes Deutschland vorziehen; aber keiner der Verbündeten Deutschlands macht die Wiedervereinigung zu einem Hauptziel. In vielen Fällen — besonders bei Großbritannien — liegt der Einstellung zu Deutschland ein auf die Erfahrungen zweier Weltkriege zurückgehendes Mißtrauen zugrunde. So gibt es viele Stimmen im Westen, die behaupten, die logische Lösung bestehe darin, neue Modalitäten des Zugangs auszuhandeln und dafür die „Tatsache" eines geteilten Deutschlands . hinzunehmen. Das Zugeständnis des Fortbestehens eines nicht unerträglichen Status quo scheint ein geringer Preis für die Aussicht auf eine stabile Lage.

Doch eine auf diese Weise errungene Stabilität würde das innenpolitische Gleichgewicht der Bundesrepublik stören; eben das ist der Grund, warum die Sowjets so stark darauf aus sind, die Anerkennung des Status quo zu erreichen. Wenn der Westen den Grundsatz der nationalen Einheit stillschweigend oder ausdrücklich fallen ließe, würden die Deutschen das als Preisgabe ihrer wichtigsten Interessen empfinden. Jedwede Stabilität, die sich aus einer solchen Lösung ergeben könnte« schiene ihnen auf ihre Kosten erkauft. Kein deutscher Politiker kann die Unterjochung von 17 Millionen Deutschen durch kommunistische Kanonen als endgültig ansehen. Er muß mindestens das Ziel haben — und wenn die Verbündeten dieses Ziel nicht wichtig nehmen, wird er sich immer mehr gedrängt fühlen, es selbständig zu verfolgen.

Schock durch die Mauer in Berlin Das ist der Grund, warum die Errichtung der Mauer in Berlin und die zögernde Reaktion des Westens darauf der deutschen Öffentlichkeit einen so starken Schock versetzt haben. Viele im Westen haben die Mauer in erster Linie als eine weitere einseitige Vertragsverletzung durch die Sowjets und als Akt der Unmenschlichkeit gegenüber der Berliner Bevölkerung angesehen. In Deutschland war die Mauer ein Zeichen dafür, daß die Wiedervereinigung schwer zu erreichen, ja vielleicht überhaupt nicht mehr zu erhoffen sei. Die Politik der Bundesregierung war bisher von der These ausgegangen, daß Deutschlands nationale Ziele und seine Orientierung nach Westen nicht unvereinbar seien, ja, das westliche Bündnis war der deutschen Öffentlichkeit mit dem Argument schmackhaft gemacht worden, daß es den besten Weg zur Verwirklichung dieser Bestrebungen darstelle. Diese Überzeugung wurde durch die Mauer schwer erschüttert. Damit war in Deutschland die psychologische Grundlage für eine politische Neu-besinnung gelegt, und dieser Prozeß hat gerade erst begonnen.

Diese unterschiedliche Einstellung bildet den Kern der Meinungsverschiedenheiten zwischen Bonn und Washington über die Berlinverhandlungen. Die Vereinigten Staaten haben sich dahin festgelegt, es dürfe zu keiner offenen Auseinandersetzung kommen, solange der Westen nicht bewiesen habe, daß alle ehrenvollen Möglichkeiten zu Verhandlungen erschöpft worden seien. In weiten Kreisen wurde angenommen, das Ziel der Sowjets sei die Stabilisierung der Lage in Mitteleuropa. Deshalb neigten die Vereinigten Staaten dazu, nach einer Möglichkeit zur Bereinigung des unmittelbaren Krisenpunktes — des Problems der Zufahrtswege nach Berlin — durch Konzessionen zu suchen, die zwar den Rechtsstatus der ostdeutschen Behörden heben, den Zugang tatsächlich aber nicht behindern würden. In der Wiedervereinigungsfrage sollten durch vermehrte Kontakte zwischen den beiden Teilen Deutschlands Fortschritte erzielt werden. Bei diesen Kontakten würde, so nahm man an, die überlegene Stärke Westdeutschlands sich unweigerlich geltend machen.

Alle diese Elemente waren in dem amerikanischen Plan enthalten, der im April 1962 an die Presse durchsickerte. Er sah eine Internationale Behörde für den Zugang nach Berlin vor, bei der Ostdeutschland den gleichen Status genießen würde wie die Bundesrepublik; ferner eine Reihe von ost-west-deutschen Ausschüssen zur Behandlung deutscher Probleme; einen Nichtangriffspakt zwischen den NATO-Ländern und den Warschauer-Pakt-Staaten und schließlich eine Vereinbarung, die ausschließen sollte, daß andere Länder Atomwaffen erhielten.

Es ist außerordentlich schwer gewesen, die wahre Haltung der Bundesrepublik zu durchschauen. Da sie sich der Gefahr bewußt war, daß man ihr den Vorwurf der Kriegstreiberei machen könnte, hat sie sich der Notwendigkeit zu verhandeln, nicht verschlossen. Aber Bundeskanzler Adenauer und seine Mitarbeiter haben sich über die Art und Weise, wie wir die Frage behandelt haben, sehr beunruhigt gezeigt. Nach ihrer Ansicht hat die „Salami-Taktik" der Sowjets die Sicherheitsmarge West-Berlins bereits so eingeengt, daß jede weitere Konzession die Lebensfähigkeit der Stadt wahrscheinlich untergraben würde. Sie fühlten sich hin-und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Initiative in der Wiedervereinigungsfrage und dem Verdacht, daß jeder Vorschlag von unserer Seite nur weitere Konzessionen in der Berlinfrage bedeuten würde. Sie haben noch nicht vergessen, daß die Westmächte bei der Genfer Außenministerkonferenz von 1959 zum ersten Male einen Vorschlag zur deutschen Wiedervereinigung mit Konzessionen in der Berlinfrage koppelten. Als die Sowjets sich weigerten, die Wiedervereinigung auch nur zu erörtern, verzichtete der Westen darauf, den deutschen Plan weiterzuverfolgen, behielt aber etwaige Modifikationen des Status’ Berlins im Auge.

Bundeskanzler Adenauer und seine Mitarbeiter, die ihre gesamte Nachkriegspolitik auf eine enge Bindung an den Westen, insbesondere an die Vereinigten Staaten, gegründet haben, hielten es für richtig, den Grad ihrer Beunruhigung nicht offen auszusprechen. In entsprechender Weise hat die amerikanische Regierung geflissentlich die deutsche Zustimmung zu bestimmten Formulierungen betont, um den Anschein alliierter Einigkeit aufrechtzuerhalten. Diese formale deutsche Zustimmung beruhte jedoch häufig darauf, daß der Kanzler mit Bestimmtheit wußte, Staatspräsident de Gaulle werde in den alliierten Gremien sein Vetorecht ausüben. In anderen Fällen hat die Bundesrepublik sich mit unserem Kurs abgefunden, nicht weil sie ihn für den erwünschten, sondern weil sie ihn für den am wenigsten unerwünschten von allen möglichen hielt.

Das Ergebnis ist unter anderem, daß die Polemik zwischen Washington und Bonn zum Teil mit dem Mittel geschickt in die Presse lancierter Nachrichten geführt worden ist. Im Sommer und Herbst 1961 wiesen viele amerikanischen Zeitungen darauf hin, daß Deutschland nun bald seine Rechnungen für den zweiten Weltkrieg werde begleichen müssen. Wir hielten unsererseits Vorschläge bis nach den deutschen Wahlen zurück, damit eine neue Regierung die Last unvermeidlicherweise unangenehmer Entscheidungen zu tragen haben werde. Die Deutschen wurden aufgefordert, „Initiative" und „Phantasie" zu zeigen.

Auf deutscher Seite ist der Verdacht häufig ausgesprochen worden, die Vereinigten Staaten würden Deutschland früher oder später vor vollendete Tatsachen stellen. Gelenkte Gerüchte haben Zweifel an der Gültigkeit unserer „atomaren Garantie" geäußert. Die oft gehörte Aufforderung an die Deutschen, die „Initiative" zu ergreifen, verberge in Wirklichkeit, so wurde behauptet, unseren Wunsch, daß sie unangenehme Konzessionen anbieten sollten, die wir selbst nicht gerne machen wollten. Wiederholte Äußerungen über die Verwundbarkeit von Berlin seien ein Beweis dafür, daß die Zuverlässigkeit unserer Garantien nachlasse. An sich sei Berlin nämlich einem militärischen Angriff nicht mehr ausgesetzt als Hamburg.

Spannungen zwischen Bonn und Washington führten zur deutsch-französischen Entente Eine wichtigere Folge des Mißverständnisses zwischen Bonn und Washington ist die Tatsache, daß Frankreich als Hüter der Interessen der Bundesrepublik auftritt. Auch Frankreich spielt dabei keine eindeutige Rolle. Es ist schwer zu glauben, französische Politiker sollten nur noch so wenig an ihre Geschichte denken, daß sie zu leidenschaftlichen Verfechtern eines geeinten, mächtigen und selbstbewußten Deutschlands um seiner selbst willen geworden wären. Staatspräsident de Gaulle hat jedoch eingesehen, daß Frankreich für sich allein die Weltpolitik nicht mehr entscheidend bestimmen kann. Sein künftiger Einfluß hängt von seiner Fähigkeit ab, die Führung in Europa zu übernehmen und dies wiederum setzt enge Bindungen mit der Bundesrepublik voraus.

Staatspräsident de Gaulle hat begriffen, daß Deutschland kein zuverlässiger Partner des Westens bleiben kann, wenn es sich ausgestoßen vorkommt. Er hat eingesehen, daß ein irredentistisches, unzufriedenes Deutschland eine Gefahr für die Sicherheit ganz Europas bedeuten würde. Er hat daher bewußt der deutschen Selbstachtung geschmeichelt. Seiner Ansicht nach ist es weniger wichtig, Verhandlungsformeln für Berlin auszuarbeiten, als den Deutschen das Gefühl zu vermitteln, daß sie im Notfall nicht allein stehen. Er hat erkannt, daß es für die Berlinfrage keine endgültige Lösung geben kann, solange sie für sich betrachtet wird. Den Franzosen Zynismus vorzuwerfen, geht an der Sache vorbei. Sie haben eine Politik verfolgt, die ihrem Ziel entspricht.

Daher kommt es, daß die französische Haltung die deutschen Gefühle manchmal genauer widerspiegelt als die deutsche. Die Halsstarrigkeit der Franzosen hätte schließlich keinen besonderen Sinn gehabt — und wäre nicht so wirkungsvoll gewesen —, wenn die französischen Ansichten nicht den wahren Überzeugungen des Kanzlers nähergekommen wären als unsere. Daß Staatspräsident de Gaulle den atomaren Schutz der Vereinigten Staaten benutzt hat, um seine „harte" Politik zu verfolgen, erhöht die Ironie der Lage und den Ärger einiger unserer Politiker. Aber, wie Präsident Kennedy vor kurzem bemerkte, „Das Leben ist nicht fair".

Diese Beweggründe und Mißverständnisse haben zu einer diplomatischen Situation geführt, bei der die Uneinigkeit der Alliierten sich als Handicap geltend machte, während man auf der anderen Seite aus den Verhandlungen keinen wirklichen Nutzen ziehen konnte. Frankreich weigerte sich zu verhandeln. Die Bundesrepublik stimmte diplomatischen Kontakten mit den Sowjets nur mit großen Bedenken zu. Die „Erkundungsgespräche" mit Außenminister Gromyko wurden zunächst von Außenminister Rusk, später von Botschafter Thompson geführt. So stand die Bundesrepublik bei einer Frage, von der sie auf das unmittelbarste betroffen wurde, abseits in einer Lage, in der sie die ungünstigen Seiten bestimmter Vorschläge kritisieren konnte, ohne sie gegen andere Möglichkeiten abwägen zu müssen. Indem wir die Rolle des Verhandlungsführers übernahmen, spielten wir den Franzosen in die Hände und beunruhigten die Deutschen, und das alles ohne eine Lösung zustandebringen zu können. Da wir den Westen als ganzes nicht festlegen konnten, war es den Sowjets möglich, unsere Angebote als Versuchsballons zu behandeln oder selber Versuchsballons steigen zu lassen. Hielten sie die Uneinigkeit der Alliierten für einen Bluff, so gab ihnen das einen Grund, unbeugsam zu bleiben. Nahmen sie sie ernst, so konnten sie jede Konzession einkassieren und sie als Ausgangspunkt für die nächste Gesprächsrunde benutzen.

Außerdem führte unser Wunsch, die Lage in Mitteleuropa zu „stabilisieren" dazu, daß die Gespräche sich in den Versuch verwandelten, in dem Katalog der sowjetischen Forderungen irgend etwas zu finden, was man zugestehen könne, ohne die Freiheit Berlins zu zerstören. Anstatt die Gespräche dazu zu benutzen, die westlichen Vorstellungen von der Zukunft Deutschlands und von der Sicherheit in Mitteleuropa zu präzisieren, konzentrierten sich die amerikanischen Sprecher auf die Frage, welche Änderungen des Status quo in und um Berlin als gerade noch tragbar angesehen werden könnten. Sie legten weder ein Programm für eine spätere deutsche Wiedervereinigung noch eines für die Verbesserung der Lage in Ostdeutschland vor. Solche Pläne galten als „nicht verhandlungsfähig", und man glaubte deshalb, sie würden wahrscheinlich jede Chance eines Übereinkommens zunichte machen. So entstand der Eindruck, daß nur die Fragen, die die Sowjets aufzuwerfen für richtig hielten, uns von einem dauerhaften Frieden trennten. Dies ergab ein Verhandlungsschema, bei dem die Sowjets als Gegenleistung für westliche Konzessionen die Drohungen zurückzogen, mit denen sie selbst begonnen hatten.

Je . mehr Verhandlungen auf diese Weise geführt wurden, desto mehr litten die Beziehungen zwischen Bonn und Washington. Die bloße Tatsache zweiseitiger Verhandlungen ließ das Gespenst eines amerikanisch-sowjetischen Übereinkommens auf Kosten unserer Verbündeten erstehen. Unsere Taktik förderte also die französisch-deutsche Entente. Ihrer Neigung, eine „Dritte Kraft" zu schaffen, wären die Franzosen wohl auf jeden Fall gefolgt, aber die deutsche Beunruhigung über unseren Kurs gab dieser Tendenz Nachdruck und bessere Chancen. In der daraus erwachsenden Atmosphäre des Mißtrauens mußte selbst unser Entschluß, die Atomwaffen nicht durch die Verteilung an unsere Verbündeten zu zersplittern, als weiterer Beweis dafür angesehen werden, daß wir mit dem Gegner gegen unsere Freunde zusammenspielten.

Berlih kein geeigneter Ort für Flexibilität Indem wir die Verhandlungen auf Zugangs-rechte und -modalitäten konzentrierten, legten wir das Hauptgewicht auf die Frage, die am meisten geeignet war, Mißverständnisse hervorzurufen. Eine von einer Mauer geteilte, auf den drei anderen Seiten von Stacheldraht umgebene Stadt, die als Enklave im feindlichen Gebiet liegt, ist kein idealer Schauplatz, um „Flexibilität" zu demonstrieren. Dafür ist der ursprüngliche amerikanische Plan einer Internationalen Zugangsbehörde ein Beispiel, den die Deutschen im April 1962 an die Presse durchsickern ließen, um ihn zu torpedieren. Der Plan sah vor, daß die Behörde, die den Zugang nach Berlin zu regeln hätte, aus Vertretern von fünf westlichen und fünf östlichen sowie drei neutralen Staaten (Schweden, Schweiz und Österreich) bestehen sollte. Zu den östlichen Staaten gehörten Ostdeutschland und Ost-Berlin, zu den westlichen die Bundesrepublik und West-Berlin. Das setzte die stillschweigende Anerkennung Ostdeutschlands voraus und ebenso einen anderen politischen Status für West-Berlin. Damit wäre die sowjetische Forderung, Berlin müsse eine freie Stadt werden, unterstützt worden. Bei der begrenzteren Frage des Zugangs hätte damit die entscheidende Stimme in den Händen von drei Neutralen gelegen, von denen zwei im unmittelbaren Machtschatten der Sowjets leben. Die Bevölkerung Berlins würde sich wohl kaum davon haben überzeugen lassen, daß ihre Sicherheit größer wäre, wenn die Verantwortung, die heute Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Frankreich tragen, künftig auf Österreich, Schweden und die Schweiz überginge. Wenn allerdings eine internationale Behörde die Kontrollpunkte an den Zugangs-straßen tatsächlich mit ihrem eigenen Personal besetzte, so würde das natürlich eine wesentliche Verbesserung des jetzigen Zustands bedeuten. Wenn jedoch die Behörde lediglich die ostdeutsche Polizei überwachte, so würde drei kleinen Staaten die Aufgabe zufallen, Tag für Tag die Rechte des Westens verteidigen und im Endergebnis Fragen von Krieg und Frieden entscheiden zu müssen.

Es gibt Anzeichen dafür, daß wir dabei sind, unsere Deutschland-Politik neu zu überdenken. Wenn wir das tun, kommt es darauf an, über die richtige Rangordnung der Fragen Klarheit zu gewinnen. Der Zugang nach Berlin könnte zum Gegenstand verschiedener das Gesicht wahrender Formeln werden, wenn die Sowjets eine Lösung jemals wirklich wollen sollten. Das wird aber nicht davon abhängen, daß wir uns geschickte Formeln ausdenken, sondern davon, ob die Sowjets sich entschließen, echte Stabilität anzustreben und eine umfassende Lösung der Probleme in Mitteleuropa ins Auge zu fassen.

Gefahren einer Fehleinschätzung der deutschen Probleme Jedes umfassendere Programm wird auf eine Reihe von Hindernissen stoßen. Der Westen, von der Erinnerung an zwei Weltkriege und die Greuel der Nazizeit belastet, findet sich nur schwer damit ab, daß zum dritten Male in 50 Jahren Deutschland im Mittelpunkt internationaler Spannungen steht. Aber der Westen muß sich über seine Erinnerungen hinwegsetzen und sich vor Augen halten, daß es zu den Katastrophen dieses Jahrhunderts zum Teil deshalb kam, weil Deutschland bestrebt war, seine falsch verstandenen Interessen gegen den Osten und den Westen zu behaupten. Welche Schwierigkeiten auch immer ein Bündnis mit Deutschland mit sich bringen möge, sie verblassen neben der Alternative eines verbitterten Deutschlands, das seine Politik auf Ressentiments und Groll gründen würde.

Zehn Jahre nach dem Entschluß, Deutschland wiederzubewaffnen, ist es zu spät, politische Entschlüsse mit seinen früheren Verfehlungen zu rechtfertigen. Die jüngere Generation in Deutschland wird sich nicht auf die Dauer bereit finden, für die Sünden ihrer Väter zu büßen und selbst dabei als moralisch minderwertig angesehen zu werden. Zwar kann man sagen, man hätte vor zehn Jahren andere Entscheidungen treffen sollen. Heute liegt die einzige Hoffnung, daß Deutschland zu einem verantwortlichen Mitglied der Atlantischen Gemeinschaft wird, darin, es als ein solches zu behandeln.

Das Schicksal von 17 Millionen Menschen in Ostdeutschland gehört zu jenen schwelenden Fragen, die jahrelang ruhen können, um dann eines Tages plötzlich und in dramatischer Form aufzubrechen. Wenn auch nur wenige Westdeutsche an eine baldige Wiedervereinigung glauben, so sind noch weniger bereit, die Teilung ihres Landes und das gegenwärtige Los ihre-Landsleute im Osten als endgültig hinzunehmen. Der wachsende Wohlstand der Bundesrepublik verstärkt nur das unangenehme Gefühl der Schuld und der Verantwortung. Jede entschlossene, vielleicht demagogische Gruppe könnte dieses Problem plötzlich in den

Vordergrund spielen. Kämen dann noch Rückschläge auf anderen Gebieten dazu, so könnte die politische Stabilität der Bundesrepublik schwer erschüttert werden.

Dabei muß es sich nicht einmal um ein Wiederaufleben des Nationalismus handeln — obwohl auch das eintreten könnte. Zweifellos gibt es noch nationalistische Gefühle bei der älteren Generation. Für die Jüngeren könnte der Beweggrund die Verbesserung der Lebensverhältnisse ihrer ostdeutschen Landsleute sein. Viele Mitglieder der jüngeren Generation, die sich ganz eindeutig zu einem europäischen oder atlantischen Standpunkt bekennen, werden den Westen danach beurteilen, welches Interesse und Verständnis er für diese Frage zeigt. Wenn der Westen hier gleichgültig erscheint oder Ostdeutschland lediglich als Gegenstand für Verhandlungstaktiken behandelt, kann die heute zweifellos vorhandene atlantische Orientierung jüngerer Deutscher ins Wanken geraten.

Je mehr bei den westlichen Verbündeten das Interesse an der Zukunft Deutschlands zu schwinden scheint, desto wahrscheinlicher ist es, daß die deutschen politischen Führer in der Frage der Wiedervereinigung aktiver werden. Die Flexibilität, die man von der Bundesrepublik fordert, muß nicht gerade da geübt werden, wo es ihren Befürwortern am besten gefiele. Sie kann sich auch darin zeigen, daß Einzelverhandlungen mit den Kommunisten ausgenommen werden, um eine Änderung der Lebensbedingungen in Ostdeutschland herbeizuführen. Eine sogenannte Rapallo-Politik — ein Frontwechsel nach Osten — ist sehr unwahrscheinlich; aber die Verwandlung der Bundesrepublik in einen verdrossenen, nur widerwillig mitgehenden Verbündeten wäre schon schlimm genug. Dann könnte die Sowjetunion gegenüber Deutschland nationale Gefühle ansprechen und gleichzeitig bei den anderen westlichen Ländern die Angst vor Deutschland.

In seinem eigenen Interesse sollte der Westen darauf bedacht sein, daß Deutschland seine Zukunft innerhalb und nicht außerhalb des westlichen Bündnisses sucht. Wir und unsere Verbündeten müssen uns vor Augen halten, daß ein Volk, das zwei Kriege verloren, drei Revolutionen, das Trauma der nationalsozialistischen Ära und schließlich zwei Inflationen größten Ausmaßes erlebt hat, kaum so stabil sein kann, wie sein wirtschaftlicher Wohlstand und die Politik eines im vorigen Jahrhundert geborenen Staatsmannes es im Augenblick erscheinen lassen. Das chronische Unsicherheits18 gefühl des heutigen Deutschlands kann nicht durch Vorträge über die Nachteile einer zu formaljuristischen Behandlungsweise politischer Probleme beseitigt werden. Wenn man verhindern will, daß der latente Nihilismus in Deutschland den Westen noch einmal bedroht, so muß man der Bundesrepublik an einer Sache einen Halt geben, die größer ist als sie selbst. Die Zukunft der Bundesrepublik hängt von zwei miteinander verbundenen politischen Grundgedanken des Westens ab: 1. von der Einsicht in die besonderen politischen und psychologischen Schwierigkeiten eines geteilten Landes und 2. von der Fähigkeit, die Bundesrepublik zum Glied einer größeren Gemeinschaft zu machen. Diese Grundsätze sind unzertrennbar; den einen ohne den anderen zu verfolgen heißt beide zum Scheitern verurteilen.

Vorschläge für eine westlicihe Deutschlandpolitik Die Bundesrepublik ihrerseits ist verpflichtet, nicht nur ihre letzten Ziele klar zu nennen, sondern auch verantwortlich zumindest einige Zwischenmaßnahmen zur Erreichung dieser Ziele anzudeuten. Theoretische Erörterungen über das Selbstbestimmungsrecht sind hier kein Ersatz für Auseinandersetzungen mit Problemen, die gelöst werden müssen, wenn Fortschritte in der nationalen Frage erzielt werden sollen: zum Beispiel die Frage der deutsch-polnischen Grenze. Wenn der Westen sich mit der Zukunft Deutschlands ernsthaft befassen soll, muß Deutschland in einer Atmosphäre, die nicht mit so viel Mißtrauen gegenüber seinen Partnern erfüllt ist, sein Programm klar darlegen.

Kurzum, da man sich mit der Zukunft Deutschlands befassen muß, wäre es am klügsten, dies im Rahmen der Atlantischen Gemeinschaft zu tun. Ziel sollte sein, den vernünftigen Elementen in der sowjetischen Führungsgruppe und in den Satellitenstaaten zu beweisen, daß weder ihre Sicherheit noch ihre Wirtschaftsinteressen die Aufrechterhaltung eines kommunistischen Regimes in einem geteilten Lande verlangen. Wenn das scheitert, würde das der Bundesrepublik beweisen, daß die Sowjets nicht nur das optimale Programm des Westens ablehnen, sondern jeden Plan verwerfen, der sich auch nur mit dem bescheidensten Begriff von Selbstbestimmung verträgt. Es wäre zum Beispiel möglich, die Konzeption einer deutschen Konförderation und damit die Existenz eines ostdeutschen Staates zu akzeptieren. Bedingung für die Anerkennung müßte aber ein gewisser Grad von Selbstbestimmung in Ostdeutschland sein, die international zu kontrollieren wäre. Um eine gewisse Symmetrie herzustellen, könnte vorgesehen werden, daß jede in irgendeinem Teil Deutschlands zugelassene Partei überall zugelassen wird. Eine Konföderation solcher Art würde es gestatten, für Ostdeutschland besondere Sicherheitsvorkehrungen — einschließlich seiner Neutralisierung — und, wenn nötig, die Aufrechterhaltung bestehender wirtschaftlicher Bindungen an den Ostblock für eine bestimmte Zeit von etwa 10 oder 15 Jahren vorzusehen.

Abgesehen von jedem konkreten Programm ist es unerläßlich, sich vor Augen zu halten, um was es in Deutschland wirklich geht. Es gehört zu den bemerkenswertesten Leistungen Bundeskanzler Adenauers, daß er es verstanden hat, den Anschein zu erwecken, daß die politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik ebenso fest und stabil wie seine Politik seien. Das ist nicht der Fall. Die Frage seines Nachfolgers ist daher von lebenswichtiger Bedeutung, wenn auch nicht in dem Sinne, wie man meistens meint. Was auch immer man vom Bundeskanzler halten mag, er vertritt ein politisches Prinzip, das zu schwächen nicht in unserem Interesse liegen kann: die atlantische Orientierung Deutschlands. Bundeskanzler Adenauer weiß, daß weitsichtige Politik, Maß-halten und politischer Scharfsinn nicht zu den hervorstechenden Eigenschaften seiner Landsleute in diesem Jahrhundert gehört haben. Viele Deutsche, die bestimmte einzelne amerikanische Maßnahmen unterstützen, teilen nicht notwendig unsere Gesamtanschauung. Wer theoretisch die Flexibilität preist und als politischer Realist Geschicklichkeit darin zeigt, aus augenblicklichen Schwierigkeiten einen Ausweg zu finden, der ist nicht immer der zuverlässigste Verbündete in Krisenzeiten. Wir müssen uns davor hüten, daß wir in dem Bemühen, kurzfristige Ziele zu erreichen, einen politischen Stil einreißen lassen, der sich auf die Dauer gesehen als demoralisierend für den Westen erweisen könnte. Es wäre natürlich wünschenswert, wenn Bundeskanzler Adenauers Standfestigkeit mit einer größeren diplomatischen Anpassungsfähigkeit Hand in Hand ginge, aber wenn schon eine Wahl getroffen werden muß, so ist die erste Eigenschaft vorzuziehen. Wenn wir ebenso konsequent sind, wird die atlantische Partnerschaft noch weiterbestehen, wenn die letzten Verhandlungstricks in Vergessenheit geraten sind. Die Kontroverse mit Frankreich Seit 1958 haben die Erörterungen innerhalb der NATO vor dem Hintergrund der etwas überdimensionalen Gestalt des Staatspräsidenten de Gaulle stattgefunden. Entschlossen, Frankreich eine beherrschende Rolle zu verschaffen, mißtrauisch gegenüber den Doktrinen der kollektiven Sicherheit, durch die Frankreich, wie er meint, seine nationale Eigenständigkeit zu verlieren droht, ist er abseits von der NATO einen einsamen Weg gegangen. Es ist seine Taktik gewesen, ein Ziel bekanntzugeben und sich dann ohne weitere Erörterung darauf hinzubewegen, ohne Rücksicht auf die Ansichten und Gefühle seiner Verbündeten.

Solche Methoden sind natürlich ärgerlich. Aber Entrüstung ist in der Politik kein guter Wegweiser. Allerdings haben wir Staatspräsident de Gaulle nicht dazu provoziert, diese Haltung einzunehmen. Er hat sich während seiner ganzen Laufbahn weder unter Druck setzen noch überreden lassen. Aber aus unseren Beziehungen zu Frankreich sind andere Sorgen entstanden. Nimmt man seine Beweggründe als gegeben hin, so mag unsere Taktik sehr wohl dazu beigetragen haben, seine Aufgabe zu erleichtern, indem wir ihm gegenüber seiner eigenen diplomatischen und militärischen Bürokratie den Rücken gestärkt haben. Unsere Deutschland-Politik hat zweifellos seine Bemühungen um die Organisation Europas gefördert. Wir haben es unterlassen, den vollen Nutzen aus der Charakterstärke und dem visionären Weitblick zu ziehen, die die andere Seite von de Gaulles schwieriger Persönlichkeit bilden.

Bei der Kontroverse mit Frankreich, bei der es um die Verteidigungspolitik ging, hat dieses die Zweifel und das Unbehagen Europas geschickt ausgenutzt. Die Hauptschwierigkeit liegt vielleicht darin, daß wir ein im wesentlichen politisches und psychologisches Problem behandelt haben, als sei es vornehmlich von technischer Art. So sind zwar die Reden, die Verteidigungsminister McNamara bei verschiedenen NATO-Versammlungen gehalten hat, als ungewöhnlich brilliant gepriesen worden, aber sie haben fast jedesmal Perioden größter Unruhe in Europa ausgelöst. Der Grund liegt darin, daß wir meist eine militärische Kapazität, die nicht primär zur Debatte stand, beweisen wollten und dabei die politischen und psychologischen Erwägungen, die den eigentlichen Kern des Unbehagens bildeten, außer acht ließen oder beiseiteschoben. Außerdem tührte unsere leicht schulmeisterliche Haltung, die angesichts unserer verhältnismäßig subtileren Denkweise in Atomfragen vielleicht unvermeidlich sein mag, dazu, daß die anderen noch mehr gereizt wurden. Kein verantwortlicher Minister läßt sich gerne sagen, daß seine größten Sorgen in Wirklichkeit auf Unwissenheit beruhen.

Das Ausmaß der Entzweiung zeigte sich in den Nachwehen der Rede, die Verteidigungsminister McNamara am 16. Juni 1962 in Ann Arbor, Michigan, gehalten hat. Obwohl er dem Vernehmen nach dieselben Argumente anführte, die er nur vier Wochen früher beim Ministertreffen der NATO in Athen verwendet hatte und die dort unwidersprochen geblieben waren, war die Reaktion der europäischen Öffentlichkeit heftig und ungünstig. Von den Hemmungen befreit, die formelle diplomatische Zusammenkünfte auferlegen, ließen viele Europäer dem Ausdruck ihrer Enttäuschung freien Lauf. Die entrüstete Überraschung des Pentagons über diese Reaktion machte nur noch deutlicher, in welchem Ausmaß sich Europa und die Vereinigten Staaten gegenseitig mißverstanden hatten.

Die Meinungsverschiedenheit betraf zwei verwandte Probleme: die Meinung der Vereinigten Staaten über die Atomwaffenstrategie und die stärkere Heranziehung der konventionellen Waffen für die Verteidigung Europas. Auf rein strategischer Ebene haben diese Fragen die NATO seit Jahren beschäftigt. Diejenigen, die das Hauptgewicht auf die Abschreckung legen — und dazu gehören die meisten Europäer — drängen uns, die schlimmsten Drohungen auszustoßen. Wer dagegen unsere Glaubwürdigkeit erhalten wissen will, befürwortet eine stärker abgestufte Reaktion. Die ersteren behaupten, wenn wir kräftig genug drohten, werde niemand uns herausfordern; mit einer „erträglichen" Strategie lade man zur Aggression geradezu ein. Die Regierung Kennnedy vertritt im ganzen gesehen die Ansicht, daß Glaubwürdigkeit nur durch eine Drohung erreicht werde, die man zu verwirklichen bereit sei und daß eine Abschreckung, die auf der Drohung mit Selbstmord beruhe, sich auf die Dauer als demoralisierend erweisen müsse. Die Lösung der Frage hängt also von der Beurteilung einer psychologischen Frage und nicht nur von einer technischen Analyse ab. Man braucht die Art und Weise, wie viele Europäer ihre Position dargelegt haben, nicht unbedingt richtig zu finden, kann aber dennoch die Ungeduld bedauern, mit der wir ihre Argumente beiseite geschoben haben. Hinter dem strategischen Problem erhebt sich eine politische Frage: die Beunruhigung vieler Europäer wegen ihrer völligen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten in Atomwaffen-fragen. Auf diesem Gebiet sind Versicherungen über unsere überwältigende Macht einfach ohne Belang, und unsere Betonung der ,, selbstverständlichen" Natur unserer atomaren Garantien erscheint vielen als selbstgerecht. Die Europäer glauben einfach nicht, daß eine einzige Garantie alle Eventualitäten zuverlässig decken könne. Es hat schon zu viele alliierte Meinungsverschiedenheiten gegeben, von Suez über den Kongo bis Berlin, als daß es unvorstellbar wäre, wir und sie könnten in einer Krise nicht wiederum verschiedener Ansicht sein.

Die technischen Probleme sind schon früher in dieser Zeitschrift behandelt worden An dieser Stelle geht es vor allem um die politischen Folgen der Atomwaffenkontroverse innerhalb der NATO.

Europas Abhängigkeit von der amerikanischen Atommacht ist auf die Dauer untragbar Die Förderung der europäischen Einheit ist vielleicht die schöpferische politische Tat der Vereinigten Staaten seit dem zweiten Weltkrieg. Wir haben konsequent die Ansicht vertreten, daß ein starkes und geeintes Europa der Freiheit überall dienlich wäre. Wir haben zwar gewußt, daß es schwerer sein würde, mit einem wirtschaftlich starken Europa zu verhandeln, haben das aber stets als angemessenen Preis für die Vorteile auf lange Sicht angesehen.

Nachdem wir aber diese vernünftige Wahl getroffen hatten, sind wir vor einer der notwendigen Folgen zurückgeschreckt. Es konnte nicht ausbleiben, daß Länder mit den historischen Traditionen unserer europäischen Verbündeten sich nicht ewig damit zufriedengeben würden, auf den Schutz unserer Atommacht angewiesen zu sein. Selbst wenn wir glauben, daß die technischen Argumente der Europäer falsch sind, müssen wir zugeben, daß ihr Wunsch, auf für sie lebenswichtigen Gebieten eine größere Rolle zu spielen, ein gesundes Zeichen ihrer wiederaufgelebten Energien ist. Merkwürdig an dem Disput zwischen uns und unseren kontinentalen Verbündeten, besonders Frankreich, ist, daß sie sich im Grunde einer Sprache bedienen, die sie von uns gelernt haben. Während der ganzen fünfziger Jahre haben die Vereinigten Staaten ihnen die Doktrin der atomaren Abschreckung eingeredet. Wir betonen immer wieder, daß unsere Atomwaffen der Ausgleich für die massiven konventionellen Streitkräfte des Ostens seien. Als die wachsende atomare Stärke der Sowjets diese These zweifelhaft erschienen ließ, stellten wir die „Unsicherheitstheorie“ auf: Um wirksam zu sein, so hieß es, müsse unsere Drohung mit der atomaren Vergeltung voll glaubwürdig sein. Es genüge, wenn sie bei den sowjetischen Führern so viel Unsicherheit errege, daß ein Abenteuer nicht mehr attraktiv erscheine. Von diesem Standpunkt aus erschien es sogar vorteilhaft, die Drohung mit der atomaren Vergeltung zu übertreiben. Je schrecklicher die Folgen einer Aggression ausgemalt werden konnten, desto größer würde die abschreckende Wirkung der Drohung sein. Fast alle diese Argumente wurden zuerst im Blick auf unsere eigenen strategischen Streitkräfte vorgebracht. Dann wurden sie benutzt, um die britischen Vergeltungsstreitkräfte zu rechtfertigen. Jetzt haben diese Doktrinen den Kanal überquert.

Abgesehen von der Richtigkeit dieser Theorie — die der Verfasser dieses Aufsatzes niemals akzeptiert hat —, hätten wir ein wenig Verständnis haben müssen für die Reaktion unserer europäischen Verbündeten auf die neue Gewichtsverteilung unter der Regierung Kennedy. Ein Regierungswechsel muß naturgemäß zu einer gründlichen Überprüfung der Außenpolitik führen. Aber unsere Verbündeten haben ein Interesse an der Kontinuität der amerikanischen Politik, die sic, unabhängig davon, ob sie einzelne Maßnahmen richtig finden oder nicht, als Garantie für die Zuverlässigkeit Amerikas betrachten.

Europäische Sorgen wegen des Wechsels in der amerikanischen Verteidigungskonzeption Das Umdenken in der amerikanischen Verteidigungsstrategie nach dem Januar 1961 rief bei unseren europäischen Verbündeten eine tiefe Beunruhigung hervor. Vorstellungen über die konventionelle Kriegführung, die wir vor kaum drei Jahren als überholt verlacht hatten, erlebten eine plötzliche Wiederauferstehung. Die taktischen Atomwaffen, die wir mit der Begründung eingeführt hatten, sie würden die sowjetische Überlegenheit an Menschen ausgleichen, wurden nunmehr erheblich geringer bewertet. In diesem Zusammenhang wurde auch behauptet, viele der technischen Maßnahmen, die zur Sicherung der politischen Verfügungsgewalt über die Atomwaffen in Europa eingeführt worden waren, seien ersonnen worden, um ihre Anwendung ganz zu verhindern.

Der Eindruck verstärkte sich — und nicht nur bei Leuten mit fragwürdigen Motiven —, daß die Vereinigten Staaten eine lediglich konventionelle Verteidigung Europas anstrebten, daß sie eine Möglichkeit suchten, ihre taktischen Atomwaffen vom europäischen Kontinent ganz zurückzuziehen und daß wir, um die Entscheidung über die Auslösung eines Atomkrieges voll in der Hand zu behalten, es vorzögen, alle strategischen Waffen entweder in den Vereinigten Staaten oder auf See zu stationieren — letzteres nur drei Jahre nachdem wir uns angestrengt bemüht hatten, Mittelstrekkenraketen auf dem Kontinent in Stellung zu bringen.

Im Lichte dieser Entwicklung ist es merkwürdig, daß so viele hochgestellte amerikanische Beamte empört sind über die Zweifel an unserer Beständigkeit. Den feierlichen Verpflichtungen, die Präsident Kennedy eingegangen ist, mögen die Europäer Glauben schenken. Aber sie haben zu viele Beispiele der Veränderlichkeit erlebt, die unserem politischen System innewohnt, um nicht zu versuchen, eine direkte Form der Sicherung zu erlangen.

Der Versuch, die konventionellen Streitkräfte auszubauen, den Wert der taktischen Atomwaffen herabzusetzen und ein Monopol über die strategischen Atomwaffen beizubehalten, war das Ergebnis einer sorgfältig durchdachten Militärpolitik. Sicherlich weist auch sie Unklarheiten auf, die dadurch verdeckt wurden, daß diejenigen, die für ihre Entwicklung in erster Linie verantwortlich waren, alle aus derselben „Schule" kommen und auf Grund jahrelanger Zusammenarbeit einige Thesen allmählich für selbstverständlich halten, die in Wirklichkeit gar nicht so selbstverständlich sind, wie sie es gerne wahrhaben möchten. Von der technischen Richtigkeit dieser Politik abgesehen, drängte sie uns in Positionen, die zwar nicht unvereinbar sind, sich aber zumindest zu widersprechen schienen. Um den Ausbau konventioneller Streitkräfte in Europa zu rechtfertigen, taten wir manchmal so, als wäre die vollständige konventionelle Verteidigung Europas bereits in Sicht. Die Stärke der sowjetischen konventionellen Streitkräfte wurden wesentlich geringer eingeschätzt. Die angestrebten 30 gut ausgebildeten und ausgerüsteten NATO-Divisionen würden, so hieß es jetzt, das mangelnde Gleichgewicht der NATO-Strategie wieder ins Lot bringen. Schließlich deutete unsere Betonung, daß wir immer noch in der Lage seien, eine Strategie des atomaren Gegenschlages auszuführen, auf einen Grad von strategischer Überlegenheit hin, der den Verdacht zu bestätigen schien, daß unsere Verteidigungspolitik im Grunde das Ziel habe, die atomare Vergeltung für Angriffe auf unser eigenes Gebiet zu reservieren.

Auf dem Gebiet der konventionellen Verteidigung war es wahrscheinlich psychologisch unklug, sich dieselbe Zahl von Divisionen als Ziel zu setzen, die man 1957 im Rahmen einer Atomstrategie für erforderlich gehalten hatte. Auch mußten die Begriffe der „Kampfpause" und der „Schwelle" den Europäern als Euphemismus erscheinen für unsere mangelnde Bereitschaft, die Risiken eines Atomkrieges auf uns zu nehmen. Wir behaupteten, der Ausbau der konventionellen Streitkräfte werde es der NATO ermöglichen, solange eine konventionelle Verteidigung zu führen, bis die Sowjets begriffen, daß sie in einem nicht mehr tragbaren Maße Gefahr liefen, einen Atomkrieg auszulösen. Aber es war nicht einfach Kurzsichtigkeit und Egoismus, was unsere europäischen Verbündeten zu der Überzeugung veranlaßte, daß im Laufe von ausgedehnten konventionellen Operationen beide Seiten die Risiken eines Atomkrieges erneut überdenken könnten. Viele europäische Kritiker pointierten ihre Auffassung zu stark, wenn sie meinten, der Ausbau der konventionellen Kräfte könne einen sowjetischen Angriff geradezu herausfordern; aber auch wir haben die Vorteile beträchtlich übertrieben, die von einer Vermehrung der NATO-Schildstreitkräfte von 23 auf 30 Divisionen zu erwarten seien. So ist zum Beispiel behauptet worden, 30 Divisionen könnten die zur Zeit in Osteuropa stationierten sowjetischen Kampftruppen aufhalten. Nicht erklärt wurde aber, warum die Sowjets nur mit diesen Streitkräften angreifen sollten, ohne sie zu verstärken. Im Falle eines massiven Angriffs wird die Frage wann und wie Atomwaffen eingesetzt werden sollen, entscheidend werden.

Im übrigen steht fest, daß die Wahl zwischen einem atomaren und einem konventionellen Krieg nicht mehr beim Westen allein liegt. Der Ausbau der konventionellen NATO-Streit-22 kräfte auf jeder Ebene könnte durch einen sowjetischen Entschluß, Atomwaffen einzusetzen, gegenstandslos werden. Um mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden, sind wir gezwungen worden, unsere atomare Garantie so häufig zu wiederholen, daß nunmehr Zweifel an der Notwendigkeit eines Ausbaus der konventionellen Kräfte entstanden sind. Kurzum, es war einfach nicht möglich, eine Strategie, die, um wirksam zu sein, von einem glaubhaften und präzisen Zusammenspiel zwischen konventionellen und atomaren Möglichkeiten abhing, mit dem Bemühen zu verbinden, die atomare Hegemonie zu behalten.

Amerikanische Ungeschicklichkeiten haben Spannungen verschärft Die Kontroverse über den Ausbau der konventionellen Streitkräfte ist durch unsere ungeschickte Behandlung der atomaren Frage verschärft worden. Wir haben wenig Verständnis dafür gezeigt, daß einige unsere Verbündeten beunruhigt sind, wenn sie wissen, daß ihre Chance zu überleben so vollständig von Entscheidungen abhängt, die 5 000 Kilometer entfernt getroffen werden. Statt dessen sind wir geneigt gewesen, den Europäern Vorträge darüber zu halten, wie ungerechtfertigt diese ihre Beunruhigung sei. Wir haben beteuernd von der unteilbaren Interessengemeinschaft des westlichen Bündnisses gesprochen, als aber unsere Auffassung davon von den Franzosen in Frage gestellt wurde, sind wir nicht bereit gewesen, sie ernst zu nehmen. Praktisch haben wir nicht nur Frankreichs Atom-programm ignoriert, sondern auch die französischen Gedanken über strategische Fragen aller Art.

Als Antwort darauf hat sich auch Frankreich halsstarrig gezeigt. Die Stationierung amerikanischer Atomwaffen ist auf französischem Boden nicht zugelassen worden. Selbst bei Fragen wie der der europäischen Luftverteidigung geht eine Zusammenarbeit nur mühsam vonstatten. Von allen Verhandlungen über Berlin hat sich Frankreich ferngehalten, ohne eine angemessene Alternative vorzuschlagen. Washingtons Kummer über diese Dinge ist nicht gerade gemindert worden durch die Schwierigkeiten, die Frankreich dem — von Kennedy so sehr gewünschten — Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt in den Weg gelegt hat. Außerdem haben einige andere Verbündete sich nur zögernd bereit gezeigt, ihren Verteidigungsbeitrag zu erhöhen, gleichzeitig aber verlangt, an der Verfügungsgewalt über unser Atomarsenal beteiligt zu werden.

Daß wir die besseren Argumente technischer Art haben, darf uns nicht blind dagegen machen, daß die französische Position der psychologischen Wirklichkeit in Europa mehr entsprach als die unsere. Es war uns einfach nicht möglich, in atomaren Fragen eine besondere Beziehung zu Großbritannien aufrechtzuerhalten, ohne den Groll Frankreichs hervorzurufen. Kein theoretisches Argument konnte die Prestigefrage überwinden, die darin lag, daß, wie Raymond Aron es ausdrückte, Atomwaffen zwar den Atlantik, aber nicht den Kanal überqueren durften.

Dann wiederum haben unsere innerhalb der NATO vorgebrachten Vorschläge für eine Alternative zu den nationalen Atomstreitkräften dazu beigetragen, die Motive, die den ersten Anstoß für die Schaffung solcher Streitkräfte gegeben hatten, in ihrem Gewicht noch zu verstärken. Die „Zuteilung" amerikanischer U-Boote an die NATO konnte nicht ganz ohne Berechtigung einfach als Verlagerung der Verfügungsgewalt von einem amerikanischen Hauptquartier zum anderen angesehen werden. Wir haben Vorschläge gemacht für eine NATO-U-Bootstreitmacht mit multinationaler Besetzung. Aber mit dem Argument, eine solche Streitmacht sei militärisch überflüssig, haben wir unsere Freunde davon abgehalten, sie zu unterstützen. Indem wir uns ein Vetorecht vorbehielten und sehr komplizierte Bedingungen für die Zusammensetzung der Besatzungen vorschlugen, haben wir den Verdacht entstehen lassen, daß wir in Wirklichkeit einen Vorwand für die Fortsetzung der amerikanischen Hegemonie suchten.

Schließlich hat sich unser Widerstand gegen nationale Atomstreitkräfte in Europa auf ein Problem konzentriert, das bestenfalls am Rande liegt. Wir haben versucht zu beweisen, daß nationale Atomstreitkräfte nicht unabhängig von unseren eingesetzt werden könnten. Die Strategie des atomaren Gegenschlags erfordert, so sagten wir, eine Pla zentrale -nung und größere Streitkräfte als in irgendeinem europäischen Lande in Aussicht stehen. Jede andere Strategie würde zur völligen Verwüstung des betreffenden Landes führen. Die Vorstellung einer Dritten Kraft, die Frankreich zugeschrieben wird, ist daher angeblich phantastisch und gefährlich — phantastisch, weil sie nicht verwirklicht werden kann, und gefährlich, weil sie zu einer Spaltung des Bündnisses führen könnte.

Unsere Argumente schießen jedoch sogar technisch übers Ziel hinaus. Selbst wenn man die Theorie eines atomaren Gegenschlags akzeptiert, sind europäische Atomstreitkräfte nicht ohne Bedeutung. Zwar könnten sie keinen entscheidenden Schlag gegen die UdSSR führen, sie aber doch erheblich schwächen und damit eine abschreckende Wirkung ausüben, die über ihre tatsächliche Stärke hinausgeht. Zweitens könnte die Sowjetunion nicht die volle Stärke ihrer Vergeltungsmacht gegen einen europäischen Verbündeten loslassen, ohne in das untragbare Risiko eines Gegen-schlags der Vereinigten Staaten zu laufen. Diese auslösende Wirkung ist ein Ansporn für die Bereitstellung von Atomwaffen und zugleich einer der Gründe, warum wir gegen die Verbreitung solcher Waffen innerhalb des Bündnisses sind.

Kurzum, europäische nationale Atomstreitkräfte sind nicht für selbständige Aktionen gedacht. Sie sind ein Mittel, um Einfluß auf unsere Planung zu gewinnen. Bei dem Versuch, in dieser Hinsicht beruhigend zu wirken, haben wir viel Wesens davon gemacht, daß alle für die Europäer wichtigen Ziele bereits im Wirkungsbereich unserer Atomstreitkräfte liegen. Unsere Verbündeten zweifeln jedoch weniger an unserer Fähigkeit, einen Atomkrieg zu führen, als an unserer Bereitschaft dazu, zumindest in einigen Fällen, die sie für lebenswichtig halten. Oder sie befürchten, daß Situationen entstehen könnten, in denen unsere Aufmerksamkeit anderswo gefesselt wird, und die UdSSR darin eine Gelegenheit sehen könnte, Europa zu erpressen.

Amerika kann die Entstehung einer europäischen Atommacht nicht verhindern Es erhebt sich also die Frage, wie wir es verhindern können, gegen unseren Willen in einen Atomkrieg hineingezogen zu werden. Ist es klug, unser Prestige aufs Spiel zu setzen, indem wir versuchen, die Beschaffung von Atomwaffen durch unsere Verbündeten hinauszuzögern? Oder wäre es besser, unseren Einfluß dazu zu benützen, das, was wir nicht verhindern können, zu steuern? Ist es wirklich wahr, daß die Verbreitung von Atomwaffen innerhalb des Bündnisses den Zusammenhalt der NATO schwächen könnte? Sehr viel hängt von der Bedeutung Europas als Dritter Kraft und von dem Sinn dieses Ausdrucks ab.

Es ist wichtig, zwischen der Stärke und dem Zweck, dem sie dienen soll, zu unterscheiden. Im Sinne von Starksein ist Europa notwendig eine Dritte Kraft, zum Teil weil wir selbst uns bemüht haben, es dazu zu machen. Das können wir jetzt nicht mehr rückgängig machen. Ob Europa seine neugefundene Kraft für seine eigenen kurzfristigen Zwecke oder für größere Ziele einsetzt, hängt davon ab, ob die politischen Führer diesseits und jenseits des Atlantiks genügend Weitblick besitzen, um gemeinsame Ziele und eine Organisation zu ihrer Verwirklichung zu entwickeln. Wenn ein politischer Rahmen geschaffen werden kann, muß die Beschaffung von Atomwaffen durch Europa die atlantische Einigkeit nicht notwendig sprengen.

Das Wachsen der europäischen Atommacht kann eines von zwei Dingen zur Folge haben: 1) Europa kann tatsächlich stark genug werden, um sich selbst zu verteidigen. Das sollte nicht eine Quelle der Beunruhigung für die Vereinigten Staaten sein; ganz im Gegenteil. 2) Oder es wird durch harte Erfahrung lernen, daß die Sicherheit des atlantischen Gebiets wirklich unteilbar ist. Wenn die strategischen Vorstellungen Amerikas auch nur annähernd richtig sind, ist letzteres sehr viel wahrscheinlicher. Es besteht also keine Notwendigkeit, sich so beunruhigt über eine Entwicklung zu zeigen, die sehr wohl dazu führen kann, die atlantischen Bindungen enger zu knüpfen, welche Beweggründe auch immer bei den einzelnen Politikern bestehen mögen. Selbst ein rein national-französisches Programm müßte bewirken, daß Frankreichs Interesse an einer integrierten Planung noch größer wäre als unseres, da Frankreich durch ihr Fehlen sehr viel mehr zu verlieren hätte.

Wenn Europa entschlossen ist, sich verantwortungslos zu verhalten, so können wir bestenfalls den Zeitpunkt hinausschieben, in dem es dazu in der Lage ist, aber auch das nur kurze Zeit. Wenn Europa eine Atommacht haben will, können wir es nicht verhindern. Und der Versuch, es zu verhindern, könnte das, was wir zu vermeiden suchen, gerade heraufbeschwören. Wenn überdies Großbritannien sich einmal dem Gemeinsamen Markt angeschlossen hat, werden wir unausweichlich mit der Frage der Atombewaffnung konfrontiert. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Großbritannien darauf bestehen kann, auf dem Gebiet der Atomfragen eine besondere Stellung inner24 halb Europas einzunehmen oder daß es das wünschen würde, wenn es wirklich die Führung Europas anstrebt.

Die amerikanische Obstruktion verhindert eine konstruktive Politik Unser Widerstand gegen eine Entwicklung, die wir doch nur erschweren, aber nicht aufhalten können, schwächt praktisch unsere Verhandlungsposition in der Frage des Ausbaus der konventionellen Streitkräfte, die uns die Möglichkeit gäben, uns nicht ausschließlich auf die atomare Vergeltung verlassen zu müssen. Das zeigen unsere Beziehungen zu Frankreich. Zuerst haben wir es abgelehnt, irgendein Projekt, das auch nur entfernt mit einem französischen Atomprogramm zusammenhing, zu unterstützen. Dann haben wir KC-135 Tankflugzeuge für die Treibstoffversorgung französicher Bomber aus der Luft verkauft. Kürzlich haben wir ein Atom-Unterseeboot zum Verkauf angeboten. Hätten wir diese Angebote zur Zeit von Präsident Kennedys Besuch in Paris schrittweise als Gegenleistung für stärkere französische Bemühungen auf dem Gebiet der konventionellen Waffen gemacht, so hätte manche Spannung innerhalb des Bündnisses wohl vermieden werden können. Zumindest hätten wir beweisen können, daß Frankreich seine eigenen kurzfristigen Interessen höher stellte als die gemeinsamen Ziele der NATO.

Wir sollten nicht versuchen, die Entwicklung der europäischen Atommacht zu verhindern, sondern sie in eine möglichst konstruktive Richtung lenken. Wir sollten nicht Energie und Prestige verschwenden, um die militärische Sinnlosigkeit einer europäischen Atomrüstung zu beweisen, sondern Ziele für sie aufstellen, die den europäischen Bedürfnissen Rechnung tragen. Es könnte gut sein, daß Europa die Frage der örtlichen Verteidigung anders an-sähe, wenn es über eigene Hilfsmittel verfügte, mit denen es eine etwaige sowjetische Verwüstungsstrategie vergelten könnte. Selbst wenn unsere atomare Garantie so eindeutig ist, wie immer behauptet wird, muß sie nicht deshalb an Wirkung verlieren, weil Europa einen Teil der Verantwortung für die atomare Verteidigung übernimmt. Dann kann die zentrale Kontrolle der Atomwaffen, die wir zu Recht für entscheidend halten, zum Mittel werden, die atlantischen Staaten politisch aneinander zu binden.

Es bestehen Anzeichen dafür, daß die Regierung Kennedy dies eingesehen hat. In einer wichtigen Rede, die der Sonderbeauftragte des Präsidenten für Fragen der Nationalen Sicherheit, McGeorge Bundy, in Kopenhagen hielt, sagte er: „Es wäre falsch, anzunehmen, daß unsere Abneigung gegen einzelne, schwache und nichtintegrierte Atomstreitkräfte sich automatisch auf eine geeinte multilaterale europäische Streitmacht erstrecken würde, die in die gemeinsame Verteidigungsplanung der NATO wirksam integriert werden könnte."

Technische Fragen sind zweitrangig — entscheidend ist vertrauensvolle Zusammenarbeit Sehr viel hängt davon ab, wie man Worte wie „geeint", „integriert" und „multilateral" auslegt. Bisher sind wir davon ausgegangen, daß diese Begriffe auf eine NATO-Streitmacht angewendet heißen, eine multilaterale Streit-macht müsse aus Schiffen bestehen und die Besatzungen müßten verschiedener Nationalität sein. „Gemischte Besatzungen" schien darauf hinzudeuten, daß die Drohung einer Meuterei eines der Kontrollmittel sein solle. Was den multilateralen politischen Kontrollmechanismus betrifft, so haben weder wir noch unsere Verbündeten ihn jemals genau definiert.

Gefährlich an diesen Vorschlägen ist, daß wir das Gewicht auf eine technische Lösung für die Zusammensetzung der Besatzungen auf Kosten des politischen Problems der Verfügungsgewalt gelegt haben. Wir haben ein falsches psychologisches Klima geschaffen, als wir zu erkennen gaben, daß wir nur eine bestimmte Lösung unterstützen würden. Wir müssen sorgfältig darauf achten, nur bei grundsätzlichen Fragen Position zu beziehen. Es ist nicht nötig, uns hinsichtlich einer europäischen Streitmacht auf ein so strenges Schema festzulegen. Es ist nicht klug, unseren Kredit dadurch zu verbrauchen, daß wir auf einem Schema, das wir nicht aufzwingen können, bestehen. Es ist unser gutes Recht zu sagen, daß wir eine europäische Streitmacht einer Vielzahl von nationalen Streitmächten vorziehen, und es ist richtig, der Lösung, die uns besser scheint, unsere volle Unterstützung zu geben. Es sollte jedoch unser erstes Ziel sein, das Verhältnis dieser Streitmacht zu der unseren zu bestimmen, und nicht, ihre innere Beschaffenheit vorzuschreiben. Unsere Sorge sollte mehr der politischen Koordinierung als den technischen Sicherungen gelten.

Für die unmittelbare Zukunft wird es vielleicht nicht praktisch sein, die nationalen Streitkräfte in Europa in eine vollkommen integrierte Streitmacht zu verschmelzen. Nützlicher wäre es vielleicht, auf einen europäischen politischen Kontrollmechanismus für die nationalen Streitkräfte zu drängen und diese dann mit unserer strategischen Streitmacht zu koordinieren. Ein solcher Kontrollmechanismus könnte zum Ansporn für eine stärkere politische Integration in Europa werden.

Unsere Bemühungen sollten dahin gehen, eine Gesamtstrategie für das Bündnis zu entwickeln, und nicht, den internen Mechanismus bestimmter Lösungen festzulegen. Der beste Weg zur Partnerschaft führt nicht so sehr über die Sicherung gegen verantwortungsloses Handeln; er besteht vielmehr darin, gemeinsames verantwortungsbewußtes Handeln so wirksam wie möglich zu fördern. Eine großzügige Haltung unseren Verbündeten gegenüber wird sich letztlich als fruchtbar erweisen.

Die Weichen für die Atlantische Gemeinschaft müssen jetzt gestellt werden Worauf es bei unseren Beziehungen zu Europa am meisten ankommt, ist der Grad des Vertrauens, das auf beiden Seiten des Atlantiks hergestellt werden kann. Ohne Vertrauen läuft die Einheit vornehmlich auf eine auf spezifische Fragen begrenzte technische Koordinierung politischer Verhaltensgrundsätze hinaus. In einem solchen Rahmen ist die Übereinstimmung auf die kurze Dauer bestimmter Krisen begrenzt. Meinungsverschiedenheiten werden weit über ihre wirkliche Bedeutung hinaus aufgebauscht, und die Allianz vergeudet ihre Energie in gegenseitigen Vorwürfen. Die Schaffung der Atlantischen Gemeinschaft, die in der Politik des Westens der nächste Schritt sein sollte, hängt weitgehend von der Fähigkeit ab, jetzt schon festzulegen, wie die atlantischen Beziehungen in fünf oder zehn Jahren aussehen sollten. Viele technischen Fragen, über die die Verbündeten heute un-eins sind, können nur innerhalb eines größeren Rahmens gelöst werden.

Natürlich kann man behaupten, die atlantische Partnerschaft sei im Grunde gesund. Die jetzigen Schwierigkeiten können dem Eigensinn von zwei alten Männern zugeschrieben werden, die bald von der politischen Bühne abtreten werden. Adenauers Nachfolger, so heißt es, werden diplomatisch beweglicher sein. De Gaulles Erben werden das französische Atomprogramm entweder einstellen oder es an unseres anhängen. Großbritanniens Beitritt zum Gemeinsamen Markt, so heißt es weiter, wird uns zu einer Stimme in den europäischen Beratungsgremien verhelfen, in denen im Augenblick nur die Stimme von zwei einsamen Gestalten zu hören sind, deren Politik sie kaum überleben dürfte. Mit Hilfe Großbritanniens können wir die kleineren europäischen Staaten und Italien in einem Block zusammenbringen, der verhindert, daß die französisch-deutsche Achse Europa beherrscht und es in eine Dritte Kraft verwandelt. Das neue Außenhandelsgesetz wird es uns ermöglichen, atlantische Bindungen zu schaffen ähnlich wie die Montanunion, die dem Gemeinsamen Markt den Weg bereitete.

Diese Argumente sind bis zu einem gewissen Grade einleuchtend. Aber sich in der Politik darauf verlassen, daß die historische Entwicklung für uns die Probleme lösen wird, heißt auf Staatskunst verzichten. Eine Politik, die in zwei großen nationalen Führern ein Hindernis und nicht eine Möglichkeit, die zu nutzen ist, sieht, läuft Gefahr, uns zu Gefangenen der Ereignisse zu machen. Der Zeitpunkt für schöpferisches Handeln ist der Augenblick, in dem sich alte Vorstellungen auflösen, und nicht irgendeine Stunde einer unbestimmten Zukunft, in der die Probleme ganz andere sein können.

Gefahren der Zukunft Jedenfalls ist es ganz unwahrscheinlich, daß der Führungswechsel in Deutschland oder Frankreich die Folgen haben wird, die von vielen erwartet werden. Wenn Adenauers Vermächtnis, der Gedanke der atlantischen Partnerschaft, nicht mehr geachtet wird, wird sich eine beweglichere deutsche Politik vielleicht vornehmlich mit nationalen Fragen und weniger mit europäischen oder atlantischen Bindungen befassen. Einer solchen Entwicklung kann man nur dadurch entgegenwirken, daß schon jetzt atlantische Beziehungen geschmiedet werden, die bis zu einem gewissen Grade als Ersatz für enttäuschte nationale Bestrebungen dienen könnten. In Frankreich ist es höchst unwahrscheinlich, daß das schon vor de Gaulle aufgestellte Atomprogramm mit ihm enden wird. Zu allgemein ist die Zustimmung, auf die es sich stützen kann, zu fest sind bestimmte Interessen — bürokratischer, politischer, industrieller und militärischer Natur — mit ihm verbunden.

Es wäre falsch zu glauben, alle diejenigen seien unsere natürlichen Verbündeten in Europa, die gegen die deutsch-französische Partnerschaft oder de Gaulles nukleare Bestrebungen sind. Einige unter ihnen sind seit langem unsere Freunde. Andere aber unterstützen die Idee der Dritten Kraft mehr als Präsident de Gaulle. Der amerikanische Atomschirm, der jetzt gelegentlich von Frankreich ausgenutzt wird, um sich den Ruf eines harten Verhandlungspartners zu verschaffen, kann auch — und zwar mit größerer Gefahr für den Westen — benutzt werden, um eine Politik zu unterstützen, die an den Neutralismus nahe herankommt. Einige politische Führer, die heute das Verhältnis zwischen Bonn und Paris einerseits und Washington andererseits sehr kritisch betrachten, haben vor drei Jahren genau diesen Kurs verfochten.

Es wäre gefährlich anzunehmen, daß die Entwicklung Europas in Richtung auf einen stärkeren Zusammenhalt unausweichlich sei. Einem Deutschland ohne Adenauer wird vielleicht die Treue zum Ideal einer größeren Gemeinschaft fehlen, dem sich der Kanzler in so hohem Maße verpflichtet fühlt. Ein Frankreich ohne de Gaulle wird vielleicht von inneren Spaltungen zerrissen werden. Ein von der „Öffnung nach links" beherrschtes Italien wird vielleicht in Gefahr geraten, taktisches Manövrieren und Staatskunst zu verwechseln. Nach dem Tode ihrer greisen Diktatoren könnte die iberische Halbinsel im Chaos versinken. Keines dieser Ereignisse unterliegt unserem Einfluß. Aber der Schock, den jedes von ihnen auslösen kann, könnte durch eine stärkere Atlantische Gemeinschaft gemildert werden.

Wir sollten auch nicht davon ausgehen, daß die jetzigen Spannungen in der Atlantischen Gemeinschaft automatisch verschwinden werden, wenn Großbritannien dem Gemeinsamen Markt beitritt. Natürlich wird seine politische Reife in den europäischen Beratungsgremien ein starkes Gewicht haben. Wenn Großbritannien sich führend beteiligt, wird die Politik Europas vielleicht subtiler, geschickter und, wenigstens in der Form, weniger anspruchsvoll sein. Aber in welcher Richtung Großbritannien seinen Einfluß ausüben wird, ist keineswegs klar. Wird es versuchen, die kleineren Mächte und Italien gegen die deutsch-französische Achse zu vereinen? Wird es sich in Europa zum Sprecher britisch-amerikanischer Ansichten über internationale Fragen machen? Werden unsere Probleme mit Europa notwendigerweise einfacher?

Viele würden jede dieser Fragen mit Ja beantworten. Und doch besteht Grund zum Zweifel. Premierminister Macmillan hat seinen schweren Weg gewählt, um den Anspruch seines Landes, eine große Nation zu sein, neu zu beleben. Diese Vorstellung schließt in sich ein von Großbritannien geführtes Europa, das seine eigene besondere Rolle in der Weltpolitik spielt. Der Großmacht-Status, den Großbritannien während der ganzen Nachkriegszeit so hartnäckig zu halten versucht hat, kann jetzt nur durch eine möglichst enge Bindung an den Kontinent erreicht werden. Aber dazu müßte Großbritannien sich vielleicht zu ähnlichen Ansichten bekennen wie Frankreich und sie nur durch seinen eigenen subtileren politischen Stil mildern. So könnte es geschehen — welche Ironie I —, daß Europa als Folge von Großbritanniens Beitritt zum Gemeinsamen Markt in Zukunft de Gaulles Politik mit britischen Methoden verfolgte!

Ähnliche Erwägungen treffen auch für die Meinung zu, daß der neue vom Kongreß angenommene Außenhandelsvertrag die Mittel bieten wird, um viele der hier geschilderten Meinungsverschiedenheiten zu überwinden. In einer neuen Ära atlantischer Wirtschaftsbeziehungen werden, so erwartet man, die Strukturlinien einer späteren atlantischen Partnerschaft vorgezeichnet, ähnlich wie die, die der Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorausgingen. Diese Situationen sind jedoch nicht vergleichbar. Im Jahre 1947 lag die europäische Wirtschaft darnieder. Die wirtschaftliche Integration schien allen Beteiligten Vorteile zu versprechen. Daß ein wirtschaftlich blühendes und dynamisches Europa sein Verhältnis zu uns im gleichen Lichte sehen wird, steht keineswegs fest. Auf der anderen Seite des Atlantiks ist der Außenhandelsvertrag weniger als Anfang einer neuen Ara betrachtet worden, sondern vielmehr als wirtschaftliche Maßnahme, deren Vorteile sich erst mit dem Ergebnis ins einzelne gehender Verhandlungen herausstellen werden. Auch wenn niedrigere Zölle das Endergebnis sein sollten, täten wir gut daran, uns auf harte Verhandlungen vorzubereiten. Jedenfalls ist es durchaus möglich, daß die wirtschaftliche Integration des atlantischen Gebietes der politischen Partnerschaft folgen und nicht vorausgehen wird.

Die Kubakrise hat die Stärke der atlantischen Mächte bewiesen Kurzum, wir können weder auf die politische Nachfolgeregelung in Deutschland und Frankreich, noch auf die Auswirkungen von Großbritanniens Beitritt zum Gemeinsamen Markt, noch auf die Folgen des Außenhandelsvertrags warten, um mit dem Aufbau der politischen atlantischen Partnerschaft zu beginnen. Ihr Wesen muß genau bestimmt werden. Wenn wir Einfluß auf die Ereignisse nehmen wollen, können wir uns nicht mehr darauf verlassen, daß die Zeit uns die Arbeit abnimmt.

Nach der Kubakrise finden schöpferische Ideen eine bereitwilligere Aufnahme. Viel Zweifel an unserer Fähigkeit, entschlossen zu handeln, sind beseitigt worden, und wir haben den Mythos ins Wanken gebracht, daß die Sowjets bei jeder Krise bereit seien, größere Risiken einzugehen als wir. Natürlich haben wir auch einen Preis dafür zahlen müssen. Mancher Kritiker wird wahrscheinlich fragen, warum 40 Raketen auf Kuba unsere lebenswichtigen Interessen bedrohen, während wir gleichzeitig behaupten, eine potentiell stärkere französische Streitmacht sei nutzlos. Unsere einseitige Aktion, die ohne vorherige Beratungen die Gefahr eines Atomkrieges über Europa herausbeschwor, hat wahrscheinlich diejenigen in ihrer Ansicht bestärkt, Europa könne nur dann in den alliierten Beratungsgremien gleichberechtigt mitreden, wenn es selbst stark sei. Wir müssen uns in den kommenden Monaten davor hüten, den Verdacht zu nähren, wir hätten den Rückzug der sowjetischen Raketen von Kuba mit der Preisgabe europäischer Interessen erkauft.

Im ganzen gesehen, kann jedoch die Kubakrise einen Gewinn ergeben, vorausgesetzt, daß wir und Europa die richtigen Schlüsse aus ihr ziehen. Sie hat die Macht einer geeinten Atlantischen Gemeinschaft bewiesen, obwohl diese Einheit durch einseitige amerikanische Aktionen geschmiedet wurde, die unsere Verbündeten unterstützen mußten, ob sie wollten oder nicht. Außerdem hat die Kubakrise gezeigt, in welcher Weise ein starkes Europa unsere Macht ergänzen kann. Sollten wir in Situationen verwickelt werden, in denen europäische Lebensinteressen nicht unmittelbar betroffen sind, kann ein mächtiges Europa die sowjetischen Gelüste dämpfen, es als Geisel in Besitz nehmen zu wollen.

Die Entscheidung, die wir vor 15 Jahren zugunsten eines starken und selbstbewußten Europas getroffen haben, ist heute noch ebenso klug wie damals. Eine echte Partnerschaft ist nur zwischen Gleichberechtigten möglich. Europa als Dritte Kraft kann einen Schritt auf dem Wege zur Atlantischen Gemeinschaft bedeuten, wenn der Rahmen für eine gemeinsame Politik geschaffen wird. Den Plänen, die Dritte Kraft in irgendeiner Form der Neutralität zu gründen, können wir am besten entgegenwirken, wenn wir uns so verhalten, daß die meisten unserer Verbündeten die Vorteile einer atlantischen Partnerschaft stets für größer halten als die, die aus einer engeren Konzeption erwachsen.

Vorschlag eines atlantischen Koordinierungsgremiums Angesichts der außerordentlichen Bedeutung eines politischen Rahmens für das atlantische Gebiet wäre es vielleicht jetzt möglich, die Vorschläge für ein atlantisches Koordinierungsgremium zu verwirklichen, die — in verschiedenen Formen — Männer wie Dean Acheson, Lord Avon und Staatspräsident de Gaulle mit dem Plan eines Direktoriums vorgelegt haben. Es läßt sich viel für den Gedanken sagen, diese Gruppe zunächst aus älteren hochangesehenen Privatleuten zu bilden, die den Auftrag hätten, Empfehlungen an die Regierungen zu richten. Das Ziel ist, dem „großen Plan" der atlantischen Partnerschaft eine konkretere Form zu geben.

Man könnte sagen, das Beispiel des Gemeinsamen Marktes zeige, daß es besser sei, Schritt für Schritt voranzugehen ohne theoretische Erörterungen über letzte Ziele. Aber die Lehren der Geschichte können nicht auf so mechanische Weise angewendet werden. Wir befinden uns heute in der Gefahr, uns im Gestrüpp der Vorsicht, der Taktik und der Zweckmäßigkeit zu verlieren. Was wir jetzt brauchen, um die Dinge wieder in der richtigen Perspektive zu sehen, ist eine klare Formulierung unserer künftigen Ziele.

Es ist vielleicht gerade ein übertriebener Realismus, der den Westen hindert, die Gelegenheiten, die sich ihm bieten, zu erkennen. Auf beiden Seiten des Atlantiks liegen die politischen Angelegenheiten in zunehmendem Maße in der Hand von Fachleuten von hohem technischem Können, überragender Intelligenz und großer Geschicklichkeit in der Ausübung der Macht. Erkannte Probleme werden mit Geschick und Erfahrung behandelt. Aber viele Gelegenheiten werden nicht gesehen. Der Fachmann hat ein starkes Eigeninteresse an den bestehenden Einrichtungen. Daß er das ihm Vertraute so gut wie nur möglich erledigt, hat ihn schließlich zum Fachmann gemacht. Er ist in Gefahr, das Schöpferische mit der Projektion der Gegenwart in die Zukunft zu verwechseln. • Er respektiert „Tatsachen" und hält sie für etwas, dem man sich anpassen muß, das man allenfalls manipulieren, über das man aber nicht hinwegschreiten kann.

Das weithin Unbefriedigende in unserem Gespräch mit Deutschland und Frankreich kommt daher, daß ihre jetzigen politischen Führer von sehr anderer Art sind als unsere. Während viele unserer hohen Beamten die tägliche Flut von Telegrammen und die Technik, sie zu erledigen, als das Wesen der Politik ansehen, erscheint gerade dies Männern wie Adenauer und noch mehr de Gaulle unwichtig. Ihre Realität ist ihre Vorstellung von der Zukunft oder der Weltordnung, die sie zu schaffen wünschen. Die übertrieben pragmatische Einstellung vieler unserer Politiker scheint vielen Europäern die Gefahr einer latenten Unbeständigkeit in sich zu bergen, ebenso wie die europäische Neigung zum Grundsätzlichen unseren führenden Kreisen übertrieben juristisch-formal und theoretisch vorkommt.

Der Westen wird im kommenden Jahrzehnt den Blick mehr in die Ferne richten müssen, um zu einer umfassenderen Konzeption der Wirklichkeit zu gelangen, als sie heute üblich ist. In vieler Hinsicht wird dieses Problem noch dringender werden, wenn Adenauer und de Gaulle nicht mehr sind. Denn die ihnen folgende Generation befindet sich ebenso sehr wie ihre Zeitgenossen in den Vereinigten Staaten in der Gefahr, Methode und Technik höher als die Ziele zu stellen. Aber man sollte sich auf beiden Seiten des Atlantiks vor Augen halten, daß es zwei Arten von Realisten gibt: diejenigen, die Tatsachen manipulieren, und diejenigen, die sie schaffen. Der Westen braucht nichts so sehr wie Männer, die fähig sind, ihre eigene Realität zu schaffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Foreign Affairs, Oktober 1962, S. 16; deutsch: „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 44/62, S. 550.

  2. Siehe „The Unsolved Problems of European Defense", Foreign Affairs, Juli 1962; deutsch: Die ungelösten Probleme der Verteidigung Europas, „Aus Politik und Zeitgeschichte", B 42/62,

Weitere Inhalte

Henry A. Kissinger, geb. 1923, Professor für politische Wissenschaften an der Harvard-Universität, Leiter des Harvard-Zentrums für Internationale Angelegenheiten.