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Die neue Phase im öffentlichen Kampf zwischen Moskau und Peking seit 1962 | APuZ 9/1963 | bpb.de

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APuZ 9/1963 Die neue Phase im öffentlichen Kampf zwischen Moskau und Peking seit 1962

Die neue Phase im öffentlichen Kampf zwischen Moskau und Peking seit 1962

Walter Grottian

Einleitung

l 2. Chruschtschows Rechtfertigung der chinesischen Kritik a) China als Anstifter b) Was erwartet Mao Atomkrieg USA — c) Chruschtschow erinnert chinesische Zugeständnisse 1. 2. 3. 4. 5. 6. vor Albaniens von einem UdSSR?

Mao an e) Uber die friedliche Regelung von internationalen Streitfragen Pekings Kritik an der Rechtfertigung Chruschtschows a) Peking bestreitet seinen Wunsch nach einem Atomkrieg USA — UdSSR b) Chinesische Verteidigung der „Papier-Tiger " -These Maos * c) Chinesische Deutung einiger Sät哸٪?

Fast drei Jahre lang (1958— 1961) hatten die KP-Führungen der Sowjetunion und Chinas ihren Publikationsorganen sprachliche Regelungen besonderer Art auferlegt. In dem Bestreben, kommunistische 'Parteifunktionäre der ganzen Welt wenigstens über einige wichtige Streitfragen zu unterrichten und sie für den Moskauer oder Pekinger Standpunkt zu gewinnen, standen beide Parteiführungen gleichzeitig vor der Aufgabe, den „Feind", daß heißt alle Nichtkommunisten, möglichst wenig von den Gegensätzen unter Kommunisten wissen zu lassen. Daher versuchten beide sich in ihren Reden und Publikationsorganen einer Sprache zu bedienen, die deutlich genug die verschiedenen Standpunkte Moskaus und Pekings den kommunistischen Funktionären übermittelte und sie gleichzeitig möglichst vor allen Nichtkommunisten verbarg. Auch einem politisch interessierten Leser, der jedoch nicht die Kenntnis der kommunistischen Terminologie besitzt, dürfte es z. B. in der Zeit von August 1958 (Bekanntgabe des chinesischen Volkskommunen-Experiments) bis zum 22. Kongreß der KPdSU (Oktober 1961) schwer gefallen sein, bei der Lektüre von offiziellen Dokumenten aus Moskau und Peking Gegensätze zu entdecken. Wie soll er auch die logisch'widersinnigen Möglichkeiten der kommunistischen Terminologie verstehen, die mit einer zusätzlichen Nuance bereits das Gegenteil dessen ausdrücken, was der zu beschreibende Gegenstand ohne diese zusätzliche Nuance darstellt?!

Die selbst für Kommunisten große Schwierigkeit, öffentlich einen Standpunkt für die Genossen der ganzen Welt verständlich darzustellen und ihn gleichzeitig allen übrigen Menschen zu verbergen, ließ sich auf längere Sicht nicht überwinden. Moskau entschloß sich schließlich, nicht mehr wie bisher alle Streitfragen zum Gegenstand sprachlicher Experimente zu machen. Ohne Rücksicht auf die Wirkung im „Westen" griff Chruschtschow auf dem 22. Parteikongreß die KP-Führung Albaniens unter Nennung von Namen an. Er schrieb ihr eine Reihe von Verbrechen gegen treu zur Sowjetunion haltende albanische Kommunisten zu, geißelte das Herrschaftssystem in Albanien und sprach ihr ein marxistisch-leninistisches Handeln ab. Es war kaum zweifelhaft, daß Chruschtschow mit diesem direkten Schlag indirekt auch den entscheidenden Bundesgenossen der albanischen Opposition gegen Moskau treffen wollte. Auf die enge Zusammenarbeit zwischen der chinesischen und albanischen KP-Führung gegen Moskau warf der anwesende chinesische KP-Führer Tschu En-lai ein Licht, als er daraufhin öffentlich gegen Chruschtschow den Vorwurf erhob, der internen Regelung von Streitfragen zwischen sowjetischen und albanischen Kommunisten ein öffentliches Verfahren vorzuziehen. Seit dem 22. Parteikongreß hat der Streit zwischen Peking und Moskau auch in der sprachlichen Form an Klarheit gewonnen. Auf den Kongressen der kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der Tschechoslowakei und Italiens (Nov. /Dez. 1962) wiederholte sich das von Moskau gewünschte Auftreten von Parteitagsdelegierten gegen die albanische KP-Führung. Jedes Mal benutzten daraufhin die Führer der eingeladenen chinesischen Delegationen ihre Begrüßungsreden dazu, die albanischen KP-Führer in Schutz zu nehmen, begleitet von Appellen, Angriffe in der Öffentlichkeit gegen . Bruderparteien" zu unterlassen. Die Antworten der erwähnten Parteikongresse waren durchweg ablehnend; sie steigerten sich sogar auf den Kongressen der KP Italiens und der Tschechoslowakei zu direkten Angriffen gegen die KP Chinas.

Dieses Vorgehen einzelner kommunistischer Parteien in Europa bereitete den Boden für den neuen sowjetischen Schlag gegen Pekings Politik vor. In seiner langen Rede am 12. Dezember 1962 hielt es Chruschtschow nunmehr für notwendig, China mit einer bisher nie erreichten Deutlichkeit anzugreifen. Chruschtschows schwerste Angriffe gegen China ließen zwar China fast immer unerwähnt Doch wurden dafür Formulierungen gewählt die das frühere Versteckspiel, Albanien zu nennen und China zu meinen, fast ganz aufgaben. Nach dieser Rede Chruschtschows entschloß sich auch die chinesische KP-Führung, einen Teil der bisher verwendeten sprachlichen Schleier fallen zu lassen. Als Antwort auf Chruschtschows Rede, veröffentlicht in der Moskauer „Prawda" vom 13. Dezember 1962, erschien ein Aufsatz („Arbeiter aller Länder vereinigt euch gegen unseren gemeinsamen Feind") in der Pekinger „Volkszeitung" vom 15. Dezember 1962, ergänzt durch einen zweiten Aufsatz („Die Differenzen zwischen dem Genossen Togliatti und uns") in demselben Organ vom 31. Dezember 1962. Eine weitere Antwort Chinas auf die Rede Chruschtschows vom 12. Dezember 1962 stellte der Aufsatz („Der Leninismus und die modernen Revisionisten") in der Pekinger „Roten Fahne" Nr. 1, 1963 dar, erschienen am 5. Januar 1963.

Das Feuer der chinesischen Kritik in den erwähnten Aulsätzen beantwortete die Moskauer „Prawda" am 7. Januar 1963 mit einer Schärfe, die teilweise noch über die Kritik Chruschtschows vom 12. Dezember 1962 hinausging. Der Titel des langen Aufsatzes der „Prawda" lautete: „Laßt uns die Einheit der kommunistischen Bewegung im Namen des Triumphes des Friedens und des Sozialismus festigen." Die Stellungnahme dieses Aufsatzes zu China wurde durch die Antwort Chruschtschows in seiner Rede am 16. Januar 1963 in Ost-Berlin ergänzt.

Alle erwähnten Veröffentlichungen bieten einen so klaren Einblick in das Spannungsverhältnis Moskau-Peking, wie er vorher an Hand offizieller Quellen nicht zu erhalten war. Daher wird im folgenden versucht, unter ausführlicher Verwendung dieser offiziellen Texte auch dem fachlich nicht spezialisierten Leser die Möglichkeit zu einem eigenen Urteil, d. h. auch möglichst unabhängig vom Verfasser der vorliegenden Arbeit, zu eröffnen.

Um Wiederholungen in den erwähnten Quellenangaben zu vermeiden, beschränken wir uns bei der folgenden Anführung von Quellen-texten zumeist auf die oben genannten Daten. Zugrundegelegt wurden außer den russischen Texten für den sowjetischen Standpunkt in der „Prawda" vom 13. Dezember 1962, vom 7. Januar 1963 und vom 17. Januar 1963 die englischen Übersetzungen der Aufsätze der Pekinger „Volkszeitung" vom 15. und 31. Dezember 1962, vom 27. Januar 1963 und der Pekinger „Roten Fahne", Nr. 1 — 1963, abgedruckt in den Mitteilungen der kommunistischen chinesischen Nachrichtenagentur „News from Hsinhua News Agency, London, vom 15. und 31. Dezember 1962, vom 6. und 27. Januar 1963.

I. Krieg und Frieden in Moskauer und Pekinger Sicht

Nicht wenige Kommunisten, die Chruschtschows vielfache Hinweise auf die riesige militärische Überlegenheit der Sowjetunion und seine zahlreichen Hohnworte über die altersschwachen und verrotteten Industriestaaten des „Westens" ernst genommen hatten, empfanden den sowjetischen Rückzug in der Kuba-Krise Ende Oktober 1962 als schwere sowjetische Niederlage. Sich der nachteiligen Folgen eines solchen Rückzuges für die Furcht des „Westens" vor der Sowjetunion und für das sowjetische Ansehen in der kommunistischen Weltbewegung bewußt, zeichnete Chruschtschow in der Rede vom 12. Dezember 1962 ein anderes Bild. Ihm zufolge hatten beide Gegner einen Kompromiß in der Form von gegenseitigen Zugeständnissen vereinbart. Der Wahrheit widersprechend, behauptete Chruschtschow, daß die Vereinigten Staaten im Begriff gewesen wären, Kuba militärisch zu erobern, was aber durch das sowjetische Auftreten verhindert worden wäre. Der Verzicht der Vereinigten Staaten auf diesen Plan wäre das eine amerikanische Zugeständnis gewesen. Das andere bestand — nach Chruschtschow — in der amerikanischen Verpflichtung, auch in Zukunft keine Invasion in Kuba vorzubereiten oder die Invasionspläne anderer Staaten gegen Kuba zu unterstützen. Daß die Regierung Kennedy eine solche Garantie nur zu geben bereit ist, falls die kubanische Regierung eine militärische Kontrolle ihres Territoriums durch eine Kommission der UN oder durch eine andere internationale Einrichtung zuläßt, verschwieg Chruschtschow. Da überdies die Vereinigten Staaten mit ihren Blockademaßnahmen gegen Kuba Ende Oktober 1961 einwandfrei nicht die Absicht verbanden, Kuba zu erobern und da die kubanische Regierung die amerikanische Vorbedingung für die amerikanische Garantie ablehnte, stehen den sowjetischen Zugeständnissen in Kuba an die USA nicht die von Chruschtschow angeführten Zugeständnisse der USA gegenüber.

Chruschtschows Versuch, den sowjetischen Rückzug in Kuba nur als sowjetische Gegenleistungen gegen amerikanische Leistungen darzustellen — ihm waren ähnliche Darstellungen in anderen sowjetischenVeröffentlichungen vorausgegangen —, konnte von vornherein nicht mit der Zustimmung aller Kommunisten, besonders nicht in China und Albanien, rechnen. Deutlich genug — aus Tirana direkt, aus Peking indirekt — richteten sich die chinesischen und albanischen Vorwürfe gegen ein feiges sowjetisches Zurückweichen in Kuba vor den „amerikanischen Imperialisten", gegen die Verletzung der sowjetischen Pflicht, das kubanische Volk unter Castro furchtlos gegen alle Gefahren zu schützen. 1. Chruschtschows Rechtfertigung vor der chinesischen Kritik Chruschtschows Antwort auf diese Vorwürfe schien nach alter Gewohnheit zunächst nur die Albaner zu erwähnen und die Chinesen in erster Linie zu meinen. Doch bald sollte er in der Form einer Kindheitsgeschichte die Anstifterrolle Chinas rücksichtslos enthüllen. a) China als Anstilter Albaniens „Man muß sagen, daß in der Zeit der friedlichen Regelung des Konfliktes im Gebiet des Karibischen Meeres laute, unzufriedene Stimmen auch aus einer anderen Ecke ertönten, von Leuten, die sich sogar Marxisten-Leninisten nennen, obwohl ihre Handlungen mit dem Marxismus-Leninismus nichts gemein haben. Ich meine insbesondere die albanischen Führer. Ihre Kritik an die Adresse der Sowjetunion verband sich im Grunde genommen mit der Kritik, die von den reaktionärsten, kriegerischsten Kreisen des Westens ausging.

Warum schreien gerade die albanischen Führer jetzt am lautesten? Ich möchte aus diesem Anlaß einen Fall aus dem Leben erzählen.

Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Bergwerken. Wenn Gorki die Schule der Volksuniversitäten durchmachte, so wurde ich an der . Universität’ der Bergarbeiter erzogen. Das war für den arbeitenden Menschen auch eine Art Cambridge, eine . Universität'der elenden Leute Rußlands. Mein Vater geriet dorthin, -und. ich machte diese . Universität'in der Kindheit und Jugend durch.

Ich erinnere mich daran, daß die Schweinigel in den Bergarbeitersiedlungen so vorgingen: sie finden einen kleinen Jungen, der kaum Worte auszusprechen gelernt hatte, ohne ihre Bedeutung zu verstehen. Sie brachten ihm die widerlichsten Schimpfworte bei und sagten zu ihm: . Geh an die Fenster und rufe diese Worte den Leuten zu!'Manchmal trieben sie es noch schlimmer: . Geh'zu deiner Mutter', sagen sie zu einem solchen Jungen, , und wiederhole ihr diese Worte. Hier hast du drei Kopeken dafür und später werden wir dir noch einen Fünfer geben. Und ein solcher Junge geht an die Fenster der Häuser, läuft um seine Mutter herum und wiederholt ihr die Schimpfworte. Für die Schweinigel aber war das eine Art Theater. Nun, auch die albanischen Führer handeln nach der Manier solcher unvernüftiger kleiner Jungen. Jemand hat sie gelehrt, unsittliche Worte auszusprechen; und nun gehen sie an die Fenster und schreien rüpelige Schimpfworte an die Adresse der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Das ist doch ihre Mutterl Für ihr Geschimpfe erhalten sie die versprochenen drei Kopeken. Wenn sie noch lauter und erfindungsreicher schimpfen, legt man ihnen einen Fünfer zu und lobt sie."

Indem Chruschtschow die Opposition der chinesischen KP-Führung gegen die sowjetische KP-Führung verhüllt zu einer Schweinigelei degradierte und den albanischen KP-Führern die Rolle dummer Nachplapperer zuschrieb, stellte er zum erstenmal öffentlich Chinas Führung als Hauptschuldigen in für sie sehr beleidigenden Worten dar. Den bis dahin äußersten Schritt in der öffentlichen Andeutung einer chinesisch-albanischen Zusammenarbeit gegen Moskau hatte Chruschtschow in seiner Antwort aut die Kritik Tschu En-lais an Chruschtschows öffentlichem Angriff gegen die albanischen KP-Führer getan. Wie höflich war noch die Antwort Chruschtschows auf dem 22. Parteikongreß (27. Oktober 1961) im Vergleich zu den oben benutzten Worten! „Der Leiter der Delegation der Kommunistischen Partei Chinas, Genosse Tschu En-Iai. hat in seiner Rede Beunruhigung darüber zum Ausdruck gebracht, daß die Frage der albanisch-sowjetischen Beziehungen auf unserem Parteitag offen behandelt wird. Soweit wir verstehen, war die Hauptsache in seiner Erklärung die Befürchtung, daß der gegenwärtige Zustand unserer Beziehungen zur Albanischen Partei der Arbeit die Geschlossenheit des sozialistischen Lagers beeinträchtigen könnte. Wir teilen die Besorgnis unserer chinesischen Freunde und wissen ihre Sorge um die Stärkung der Einheit zu schätzen. Wenn die chinesischen Genossen den Wunsch haben, an der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Albanischen Partei und den Bruderparteien mitzuwirken, so kann wohl kaum jemand besser zur Lösung dieser Aufgabe beitragen als die Kommunistische Partei Chinas." b) Was erwartet Mao von einem Atomkrieg USA — UdSSR?

Nach der beleidigenden Charakteristik der Rolle Chinas gegenüber Albanien fuhr Chruschtschow in seiner Rede vom 12. Dezember 1962 wie folgt fort: „Was wollen denn diese Leute, die sich Marxisten-Leninisten nennen? Warum erstreben sie im Grunde dasselbe wie Adenauer, drängen sie zu Konflikten, zu einer Verschärfung der internationalen Lage? Es heißt ganz richtig: Geht man nach links, dann kommt man rechts an. Betrachtet man die Dinge objektiv, so handelten sie während der Kuba-Krise doch gerade wie Leute, die einen Konflikt provozieren; sie wollten einen Zusammenstoß zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten. Was aber bedeutet es, diese beiden Großmächte aufeinanderzustoßen? Das bedeutet die Auslösung eines atomaren Weltkrieges. Interessant ist nur, wie sie sich selbst in einem solchen Krieg verhalten würden. Ich denke nicht, daß sie sich danach gesehnt hätten, daran teilzunehmen. Sie hätten es offenbar vorgezogen, abseits zu bleiben. Aber dann erhebt sich die Frage, was sie wollen. Wollen sie denn wirklich, daß das Blut der Völker der Sowjetunion, Kubas und anderer sozialistischen Länder vergossen wird?"

Damit unterstellte Chruschtschow China zum erstenmal deutlich die Absicht, an einem Krieg, sogar an einem Atomkrieg zwischen den USA und der UdSSR, interessiert zu sein und diese beiden Mächte gegeneinander zu hetzen. Gleichzeitig ließ er die Vermutung durchblicken, daß China gleichzeitig hoffe, von dem Atomkrieg der erwähnten Mächte möglichst nicht berührt zu werden. Die sich daran anschließende Frage Chruschtschows, was denn China damit erreichen wolle, bleibt bei Chruschtschow als Frage stehen. Man darf wohl ohne wirklichkeitsfremde Spekulation annehmen, daß sich hinter der Anspielung Chruschtschows auf das besondere chinesische Interesse sich folgender Verdacht Chruschtschows gegenüber Mao verbirgt: Ausgehend von der Überzeugung, daß ein Atomkrieg sich wahrscheinlich nur zwischen den beiden Giganten USA und UdSSR abspielen wird und die UdSSR schon während dieses Ringens, wenngleich schwer in Mitleidenschaft gezogen, den Sieg davontragen wird, hofft Mao die große Chance einer fast risikolosen Expansion Chinas in Asien zu erlangen. Diese Expansion würde sich zunächst gegen Japan richten (um sich in den Besitz dieser sehr starken industriellen Kraft bei gleichzeitig gegenwärtig geringem moralischen und militärischen Widerstand der Japaner zu setzen) und dann sich nach Indochina, Siam, Burma, Malaya, Indonesien bis nach Australien und Neuseeland hin fortsetzen (zur Gewinnung von wichtigen Gebieten für die chinesische Ernährung und die industrielle Rohstoffversorgung). Man stelle sich vor, zu welchem geringen Widerstand diese erwähnten Gebiete gegen eine Expansion des kommunistischen China nach der von Mao erhofften atomaren Auslöschung der USA durch die Sowjetunion imstande wären, welche Chancen sich für Mao nach der Eroberung dieser Gebiete für die Lösung der chinesischen Wirtschaftsprobleme eröffnen würden. Daß danach die selbst in einem Atomkrieg gegen die USA siegreiche, aber schwer dezimierte Sowjetunion trotz ihrem Sieg zu einer Macht zweiten Ranges gegenüber China absinken könnte, erscheint nicht ausgeschlossen.

Chruschtschow ist in der Beurteilung der Chancen eines siegreichen Atomkrieges gegen die USA unter den gegenwärtigen internationalen Kräfteverhältnissen offenbar wesentlich skeptischer als Mao. ganz abgesehen davon, daß er an der wahrscheinlich riesigen Expansion des kommunistischen China in Asien nach der Beseitigung der USA als Haupthindernis nicht interessiert sein kann. Beide Gesichtspunkte müssen Chruschtschow vorsichtiger als Mao machen. Den Kommunisten, die den „Imperialismus” der westlichen Industriestaaten für unveränderlich halten und Kriege für den Fortschritt des Sozialismus in der Welt als nützlich ansehen, gibt Chruschtschow zu bedenken: „Man muß sehr vorsichtig sein und darf sich nicht in unverantwortliche Beschuldigungen der Art stürzen, daß die einen eine orthodoxe Politik und die anderen eine falsche Politik verfolgen, daß die einen den Imperialismus angreifen und ihm gegenüber unduldsam sind und die anderen angeblich Liberalismus bekunden. Diese Fragen kann man richtig verstehen, diese oder andere Aktionen richtig einschätzen nur für den Fall, daß man die Zeit, den Ort und die Umstände berücksichtigt, unter denen man handeln muß." c) Chruschtschow erinnert Mao an chinesische Zugeständnisse Jene chinesischen Kommunisten, die nach Chruschtschow die UdSSR zur gewaltsamen Auseinandersetzung mit den USA drängen — wie verhalten sie sich selber in der Praxis? Diese Frage untersuchte Chruschtschow am Beispiel der chinesischen Politik gegenüber Großbritannien und Portugal in China. „An der Küste Chinas befindet sich unweit der Mündung des Perlflusses Macao. Dieses kleine Gebiet ist sogar schwer auf der Landkarte zu bemerken. Die Portugiesen pachteten es schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts; im Jahre 1887 rissen sie es ganz von China los und machten es zu ihrer Kolonie. Es gibt dort auch die britische Kolonie Hongkong; sie liegt im Delta des Flusses Sikiang, buchstäblich unter dem Herzen einer so wichtigen Stadt wie Kanton. Von diesen Orten geht ein Aroma aus, das in keiner Weise besser ist als der Geruch, den der Kolonialismus in Goa ausströmte.

Aber wird irgend jemand die Volksrepublik China dafür verurteilen, daß die Splitter des Kolonialismus unangetastet bleiben? Es wäre falsch, China zu irgendwelchen Aktionen zu drängen, die es als nicht zeitgemäß betrachtet. Wenn die Regierung der Volksrepublik China Macao und Hongkong erduldet, so gibt es dafür offenbar gewichtige Gründe. Deshalb wäre es unsinnig, über sie mit der Beschuldigung herzufallen, dies sei ein Zugeständnis an die britischen und portugiesischen Kolonisatoren, dies sei Versöhnlertum.

Ist dies vielleicht ein Abweichen vom Marxismus-Leninismus? Nichts dergleichen. Das bedeutet, daß die Regierung der Volksrepublik China die tatsächliche Lage, die realen Möglichkeiten berücksichtigt.

Und es geschieht dies keineswegs, weil die Chinesen eine weniger scharfe Einstellung zum Kolonialismus hätten als die Inder, weil sie Salazar gegenüber größere Duldsamkeit zeigen als Indien. Nein, unsere chinesischen Freunde haben einen ebensolchen Haß auf den Kolonialismus wie jeder Revolutionär. Sie gehen jedoch offenbar von ihren Bedingungen, von ihrer Auffassung aus und zeigen Geduld. Sollen wir sie vielleicht deswegen verurteilen, sollen wir behaupten, sie seien vom Marxismus -Leninismus abgewichen? Nein. Das wäre dumm. Kraft einer Reihe von Bedingungen kann man manchmal nicht inmitten duftender Rosen leben, sondern in der Umgebung von Heckenrosen, manchmal sogar unweit der Toilette der Kolonisatoren leben. Aber es wird die Stunde kommen, da die chinesischen Freunde eine derartige Lage als untragbar 'erkennen und den Kolonisatoren mit lauter Stimme sagen werden: . Macht, daß ihr fortkommtl’ Wir werden einen solchen Schritt begrüßen. Wann dies jedoch geschehen soll, mögen die chinesischen Freunde selbst entscheiden. Wir treiben sie nicht zur Eile an. Im Gegenteil, wir sagen: . Löst die Sache so, wie es im Interesse eures Landes, im Interesse des gesamten sozialistischen Lagers ist.'

Was wäre aber gewesen, wenn wir während der Ereignisse um Kuba nicht die notwendige Zurückhaltung bekundet, sondern auf die Einflüsterungen der . ultrarevolutionären'Schreihälse gehört hätten? Wir hätten den Weg eines neuen Weltkrieges, eines atomaren Krieges, beschritten. Natürlich hätte unser großes Land standgehalten, aber Dutzende und aber Dutzende von Millionen Menschen wären umgekommen! Und Kuba hätte wahrscheinlich infolge eines atomaren Krieges einfach aufgehört zu existieren. Auch andere dicht besiedelte Länder, die keine weiten Flächen besitzen und in den Konflikt verwickelt worden wären, wären zugrunde gegangen. Unsagbare Leiden an den Folgen der radioaktiven Strahlung hätten auch diejenigen erlitten, die lebend geblieben wären, und die zukünftigen Generationen."

Besonders das von Chruschtschow angeführte Beispiel Chinas für eine vorsichtige Außenpolitik, zeigt zugleich das Motiv Chruschtschows zu seiner Vorsicht. Nicht moralische Bedenken gegen die Gewaltanwendung in der Außenpolitik bestimmen ihn dazu, sondern nur die Rücksicht auf die gegenwärtig bestehenden Kräfteverhältnisse zwischen West und Ost.

Was Chruschtschow an den „Einflüsterungen der . ultrarevolutionären'Schreihälse" kritisiert, ist ihre Ansicht, daß unter den heutigen und nicht späteren Kräfteverhältnissen eine Außenpolitik der Gewalt (einschließlich eines Atomkrieges) erwünscht ist. Auch ein Sieg der Sowjetunion über die USA in einem Atomkrieg, begleitet von dem Tod von Dutzenden von Millionen Sowjetbürgern, würde nach Chruschtschow einen solchen Krieg nicht rechtfertigen. Mao, der offenbar gegenüber einer solchen Entwicklung keine Bedenken hat, wird ohne Nennung seines Namens an Marx und Lenin erinnert und von Chruschtschow so diskreditiert: „Diejenigen, die unseren Lehrern eine solche Auffassung und solche Ansichten unterstellen, beleidigen nur ihr Andenken." Eine Ansicht Chruschtschows, die Mao mit der Lehre Lenins allerdings widerlegen könnte. d) Chruschtschows Kritik an der „Papier-

Tiger“ -These Maos Wohl hat sich nach Chruschtschow der Imperialismus der westlichen Industriestaaten in seiner aggressiven Natur nicht geändert. Wegen des zu großen Risikos jedoch, dank dem erstarkten „sozialistischen Lager", hält sich der „Imperialismus" in seinen Aggressionen zurück. Wie Chruschtschow in seiner Rede (12. 12. 1962) zu Maos These (ohne Mao oder China zu erwähnen) ausführt, wäre es jedoch gewagt, diesem geschwächten Imperialismus nur noch die Kraft eines „Papier-Tigers" zu-zutrauen: „Es ist natürlich richtig, daß sich die Natur des Imperialismus nicht verändert hat, aber der Imperialismus ist heute schon nicht mehr das, was er früher war, als er ungeteilt über die Welt herrschte. Wenn er heute ein , Pa-

pier’-Tiger ist, so wissen diejenigen, die so sprechen, daß dieser . Papier'-Tiger Atom-zähne hat. Er kann sie in Bewegung setzen, und man kann sich ihm gegenüber nicht leichtsinnig verhalten. Es ist in den Beziehungen zu den imperialistischen Ländern möglich, gegenseitige Kompromisse einzugehen, andererseits muß man alle Mittel haben, um die Aggressoren zu zerschmettern, wenn sie einen Krieg entfesseln." e) über die friedliche Regelung von internationalen Streitfragen Die mehrfachen Hinweise Chruschtschows auf die notwendige Vorsicht im Umgang mit „Imperialisten", weil ein anderes Verhalten gegenwärtig ein großes Risiko für einen kommunistisch geführten Staat heraufbeschwören könnte, reichen jedoch nicht aus, um den chinesischen Vorwurf einer sowjetischen Kapitulation vor den Vereinigten Staaten im Kampf um Kuba zu entkräften. Es muß geschulten Kommunisten das von Chruschtschow ausgesprochene Vertrauen zu Kennedy befremden, ohne auch nur einen Vertrag über den ameri-kanischen Verzicht auf eine Invasion in Kuba erreicht zu haben. In Erinnerung an das von Chruschtschow seit Jahren geschürte Mißtrauen gegenüber Versprechungen der Westmächte dürfte es nicht nur auf die Kommunisten Chinas und Albaniens grotesk wirken, daß er angesichts der amerikanischen Entschlossenheit in der Kuba-Frage plötzlich das Vertrauen zu Kennedys Versprechen aussprach, nicht eine Invasion in Kuba zu unterstützen, und dafür den militärischen Rückzug in Kuba antrat. Wie versuchte Chruschtschow mit kommunistischen Einwänden dieser Art fertig zu werden? „Die albanischen Führer sind, wenn man nach ihren Erklärungen urteilt, mit der Beseitigung der Krise um Kuba eindeutig unzufrieden. Sie nennen die erzielte Lösung einen Rückzug, und einige versteigen sich sogar zu der Behauptung, die Sowjetunion hätte vor dem Imperialismus kapituliert.

Man muß fragen, wieso sind wir zurückgewichen? Das sozialistische Kuba besteht, Kuba bleibt das Leuchtfeuer der marxistisch-leninistischen Ideen auf der westlichen Halbkugel. Die Kraft seines revolutionären Beispiels wird weiter wachsen. Die USA-Regierung hat im Namen ihres Landes die Verpflichtung auf sich genommen, nicht in Kuba einzufallen. Die Gefahr eines atomaren Krieges ist abgewendet. Ist das unser Rückzug?

Die Kritiker einer friedlichen Regelung des Konfliktes sagen, daß man den Vereinigten Staaten von Amerika nicht aufs Wort glauben könne, daß die Geschichte viele Beispiele kenne, daß Verträge gebrochen wurden. Ja, die Geschichte kennt solche Beispiele. Wenn man aber nur davon ausgeht, dann muß man anerkennen, daß die Menschen heute keine andere Perspektive haben als die gegenseitige Vernichtung. So etwas zu behaupten bedeutet, ob man es will oder nicht, daß man den Weg des Militarismus beschreitet, daß man den Krieg als einzige Methode zur Regelung strittiger Fragen betrachtet.

Müssen denn die internationalen strittigen Fragen unbedingt durch Krieg und nicht durch Verhandlungen entschieden werden? Nein, die Propagierung einer Lösung der strittigen Fragen zwischen den Staaten durch Krieg — das ist Wahnwitz, der den Völkern nur Leiden und Elend bringen kann. Sie hat nichts gemein mit der Lehre von Marx und Lenin. Es ist gleichbedeutend mit der Leugnung der Bedeutung internationaler Verträge und Abkommen, mit der Leugnung des Prinzips der friedlichen Koexistenz. Es bestehen vernünftige Normen der internationalen Beziehungen. Wir dürfen sie nicht untergraben, sondern müssen sie festigen. Mit Schimpfen sind strittige Probleme nicht zu lösen."

Vertrauen zu dem Wort eines „imperialistischen" Staates trotz der schlechten Erfahrungen mit Verträgen, weil die Alternative dazu nur die gegenseitige Vernichtung wäre; Krieg als Alternative aber wäre Wahnwitz und hätte mit der Lehre von Marx und Lenin nichts gemeinsam — ein Gedankengang Chruschtschows, dem z. B. die Kommunistenführer Chinas und Albaniens mit Recht nicht folgen können. Die Behauptung, daß die Lösung strittiger Fragen zwischen Staaten durch Krieg mit der Lehre von Marx und Lenin nichts zu tun habe, wäre in kommunistischer Sicht als Täuschungsversuch gegenüber nichtkommunistischen Staaten durchaus erlaubt. Aber als Versuch Chruschtschows, die Argumente Pekings und Tiranas für den Krieg durch Berufung auf Lenin gegenüber den anderen Kommunisten der Welt zu diskreditieren, kann Chruschtschow jedem wirklich Lenin befolgenden Kommunisten nur unglaubwürdig machen. Für diese seltsame Deutung von Marx und Lenin durch Chruschtschow im Kampf gegen Peking und Tirana kann es für den nachdenklichen Kommunisten nur zwei Erklärungsgründe geben: entweder kennt Chruschtschow die Lehre von Marx und Lenin so schlecht oder er stellt jene Behauptung wider besseres Wissen auf. Das letztere ist zweifellos der Fall. Daß Chruschtschow Lenin als Befürworter von Kriegen für das Fortsdireiten der proletarischen Revolution — ganz im Sinne Pekings — kennt, bekundete er z. B. auf einer Kundgebung zu Ehren von Lenins Geburtstag in Warschau am 20. April 1955: „Wie es Lenin auch voraussah, ging die imperialistische Welt aus dem Zweiten Weltkrieg mit neuen schweren Verlusten hervor. Die Völker einer Reihe von Ländern Europas und Asiens stürzten, zerschlugen in ihren Ländern den Kapitalismus und beschritten fest den Weg der sozialistischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang kann man nicht umhin, sich der wahrhaft prophetischen Worte Lenins zu erinnern, die von ihm in den ersten Jahren der Sowjetmacht ausgesprochen wurden: Die erste bolschewistische Revolution riß aus dem imperialistischen Krieg, aus der imperialisti-sehen Welt das erste Hundert von Millionen Menschen der Erde heraus. Die folgenden werden aus solchen Kriegen und aus einer solchen Welt die ganze Menschheit herausreißen.'" (vgl. „Prawda", 21. April 1955) 2. Pekings Kritik an der Rechtfertigung Chruschtschows a) Peking bestreitet seinen Wunsch nach einem Atomkrieg USA-UdSSR Zu den Anklagen Chruschtschows gegen den Wunsch Pekings nach einer riskanten Außenpolitik, die sogar den Atomkrieg einschließt, nahm das chinesische Zentralorgan „Volkszeitung" drei Tage später am 15. Dezember 1962, u. a. wie folgt Stellung: „Einige Genossen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei und Genossen gewisser brüderlicher Parteien klagten die chinesische Kommunistische Partei an, sogenannte . abenteuerliche'Irrtümer zu begehen. Sie griffen China an, sie behaupteten, daß es sich einem . vernünftigen Kompromiß'in der Kuba-Frage widersetze und . die ganze Welt in einen Atom-Krieg zu stürzen'wünsche. Liegen die Dinge wirklich so, wie sie behauptet haben?

Das Volk Chinas wie die Völker aller anderen sozialistischen Länder und der übrigen Welt lieben den Frieden. China befolgt immer eine friedliche Außenpolitik. Wir kämpfen folgerichtig und energisch für die internationale Entspannung und die Verteidigung des Weltfriedens. China war der Initiator der fünf Prinzipien der Koexistenz; folgerichtig sind wir für die friedliche Koexistenz mit Ländern verschiedener gesellschaftlicher Systeme auf der Basis der fünf Prinzipien; wir stehen ein für die Regelung der internationalen Streitigkeiten durch Verhandlungen und sind gegen eine Zuflucht zur Gewalt.

Die chinesische Kommunistische Partei ist immer der Meinung gewesen, daß zur Bewahrung des Weltfriedens, zur Verwirklichung der friedlichen Koexistenz, zur internationalen Entspannung es notwendig ist. vor allem entschlossen gegen die imperialistische Politik der Aggression und des Krieges der Vereinigten Staaten Widerstand zu leisten und die Massen der Völker zu mobilisieren um einen Vorwärtskampf gegen den Imperialismus der Vereinigten Staaten zu unternehmen Wir glauben, worauf das Moskauer Manifest und die Moskauer Erklärung hinweisen, daß ein vereinigter Kampf der Kräfte des Sozialismus, der Kräfte der nationalen Befreiung, der Kräfte der Demokratie und aller anderer Friedens-kräfte die imperialistischen Pläne der Vereinigten Staaten für die Aggression und den Krieg vereiteln und einen Weltkrieg verhindern kann."

Um sich von dem Verdacht einer zum Atomkrieg drängenden Außenpolitik der Volksrepublik China zu befreien, wurde in der erwähnten chinesischen Antwort bestritten, jemals eine andere als friedfertige Außenpolitik verfolgt zu haben. Mao und seine Mitarbeiter dürften erkannt haben, daß ihr klares Bekenntnis zum Atomkrieg gegenwärtig selbst viele Kommunisten in anderen Staaten, abschrecken und damit die Position Moskaus gegenüber Peking stärken würde. Diese nach Pekings Darstellung immer wieder bewiesenen Friedenspolitik Chinas schließt aber zugleich einen entschlossenen „Vorwärtskampf gegen den Imperialismus der Vereinigten Staaten" nicht aus. Es lag auf der Hand, daß die KP-Führung Chinas mit solchen Erklärungen die Kritik vieler KP-Führungen in anderen Staaten an der für leichtsinnig gehaltenen Ansicht Maos, . die Vereinigten Staaten seien ein „Papier-Tiger", nicht beseitigen konnte. b) Chinesische Verteidigung der „Papier-

Tiger“ -These Maos In der chinesischen Antwort (15. 12. 1962) auf die Rede Chruschtschows (12. 12. 1962) erhielt die „Papier-Tiger" -These Maos folgende aufschlußreiche, wenn auch weitschweifige Begründung: „Bei der Frage, wie man mit dem Imperialismus und allen Reaktionären umgehen sollte, hat die chinesische Kommunistische Partei immer den Standpunkt vertreten, daß man sie in strategischer Hinsicht gering einschätzen, aber taktisch mit ihnen als ernsten Gegnern umgehen sollte.

Das heißt einerseits, in strategischer Hinsicht, von einem Standpunkt auf lange Sicht aus und insgesamt betrachtet, in der endgültigen Analyse sind die Imperialisten und alle Reaktionäre zum Zusammenbruch verurteilt: und die Massen der Völker werden sicher triumphieren. Ohne diese Erkenntnis würde es nicht möglich sein, die Massen der Völker dazu zu ermutigen, daß sie voller Vertrauen die entschlossenen revolutionären Kämpfe gegen die Imperialisten und alle Reaktionäre unterneh-men. Auch würde es nicht möglich sein, die Revolution zum Sieg zu führen.

Andererseits, vom taktischen Standpunkt aus, bei jeder unmittelbaren, spezifischen Streitfrage ist es notwendig, den Imperialismus und alle Reaktionäre als Gegner ernst zu nehmen, sorgfältig und vorsichtig zu verfahren und der Kunst des Kampfes Aufmerksamkeit zu schenken. Ohne diese Erkenntnis würde es auch nicht möglich sein, siegreiche revolutionäre Kämpfe zu unternehmen. Es würde die Gefahr entstehen, Rückschläge und Niederlagen zu erleiden, und es würde nicht möglich sein, die Revolution zum Sieg zu führen.“

Wie der Gedankengang erkennen läßt, geht es Peking zunächst darum, von dem zu besiegenden Gegner in seiner gegenwärtigen Stärke und seinem auf längere Sicht unvermeidlichen Zusammenbruch (aus sich selber heraus, kraft der Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung) auszugehen und daraus zwei Grundsätze des Handelns abzuleiten. Diese für jeden Leninisten annehmbaren Grundsätze sollen dazu dienen, die Angriffe Chruschtschows gegen Peking wegen der chinesischen Einschätzung der USA als „Papier-Tiger" zu entkräften. So heißt es weiter im Text:

„Diese Auffassung, den Feind in strategischer Hinsicht gering einzuschätzen und in taktischer Hinsicht mit ihm als ernstem Gegner umzugehen, an der die chinesische Kommunistische Partei immer festgehalten hat, ist die Auffassung, daß die Imperialisten und alle Reaktionäre Papier-Tiger sind, auf die wir schon oft hingewiesen haben; und das ist voll und ganz eine marxistisch-leninistische Auffassung. Wir widersetzen uns sowohl dem Kapitulationjsmus als auch dem Abenteurertum. Alle, die eine Revolution zu machen und den Sieg zu gewinnen wünschen, müssen diese und keine andere Einstellung im Umgang mit dem Feind einnehmen. Der Grund liegt darin, daß, wenn man nicht wagt, den Feind in strategischer Hinsicht gering einzuschätzen, man unvermeidlich den Fehler des Kapitulationismus begehen würde. Wenn man in taktischer Hinsicht eine unachtsame und leichtsinnnige Aktion in einem spezifischen Streit unternimmt, würde man unvermeidlich den Fehler des Abenteurertums begehen. Wenn man nicht wagt, den Feind in strategischer Hinsicht gering einzuschätzen, während man zur gleichen Zeit unachtsam und leichtsinnig in taktischer Hinsicht handelt, so würde man sowohl den Fehler des Kapitulationismus in strategischer Hinsicht als auch den Fehler des Abenteurertums in taktischer Hinsicht begehen.“

Während man aus früheren Darstellungen chinesischer Kommunisten den Eindruck gewinnen konnte, die USA seien bereits ein „Papier-Tiger“, erscheinen sie nunmehr als ein Tiger, der sich in einem auf Grund gesellschaftlicher Gesetze unvermeidlichem Prozeß der Degenerierung zum Papier-Tiger befindet. In der allgemeinen vorangehenden Betrachtung wird daher Achtsamkeit und Vorsicht gegenüber einem solchen noch starken Gegner empfohlen. Damit soll die Kritik Chruschtschows an der „Papier-Tiger“ -These Maos als angebliche Herausforderung zu einer riskanten Außenpolitik gegen die westlichen Industriestaaten widerlegt werden.

Nach dem Aufbau dieser Verteidigungsposition gegen Chruschtschow wird zum Angriff gegen ihn übergegangen. Ohne Chruschtschows Verhalten am Kuba-Beispiel zu erwähnen, in einer scheinbar nur theoretischen Betrachtung, die Peking als „marxistisch-leninistische Auffassung" dastellt, macht es auf die Möglichkeit des Versagens eines kommunistischen Politikers aufmerksam: daß er nämlich den zu vernichtenden kapitalistischen Gegner auf längere Sicht für zu gefährlich einschätzt und daher vor seiner Stärke kapituliert, ohne dazu auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse genötigt zu sein. Am schlimmsten steht es aber in der Sicht Pekings mit jenem kommunistischen Politiker, der die zukünftige Stärke der kapitalistischen Gegner überschätzt und seine gegenwärtige größere Stärke unterschätzt. Ein solcher Politiker macht sich damit zugleich des „Kapitulationismus" und des „Abenteurertums" schuldig.

Hinter diesem scheinbar theoretischen Gedankengang liegt der chinesische Versuch verborgen, Chruschtschows Verhalten in der Kuba-Krise als Kapitulation und zugleich als „abenteuerlich", als riskant vor allen Kommunisten der Welt in Verruf zu bringen. Nicht Mao, sondern Chruschtschow trieb eine abenteuerliche Politik um Kuba — das ist der Sinn des chinesischen Angriffs gegen Chruschtschow. Weil aber Chruschtschow den Gegner „taktisch" nicht nur unterschätzte, sondern ihn in seiner zukünftigen Stärke, d. h. „strategisch" überschätzte, mußte er diese Politik obendrein mit der Kapitulation vor den USA in Kuba bezahlen — so in der Sicht Pekings. Demgegenüber soll Pekings richtige Einschät-zung des werdenden „Papier-Tigers" USA im Kampf um Kuba als Vorbild von gleichzeitiger Vorsicht und revolutionärer Kühnheit allen Kommunisten der Welt dienen.

Daß nicht China, sondern die UdSSR eine „abenteuerliche“ Politik in Kuba gegen die USA betrieb, taucht erst in einem späteren Teil des erwähnten Aufsatzes der „Volkszeitung" auf, offenbar um dadurch die in der zitierten allgemeinen Betrachtung enthaltenen Angriffe gegen Chruschtschow nicht zu deutlich hervortreten zu lassen. Aber in einer von jener Betrachtung entfernten Stelle heißt es über das chinesische Verhalten in Kuba unter stillschweigender Verurteilung des angeblich entgegengesetzten sowjetischen Verhaltens: „Die Kommunistische Partei, die Regierung und das Volk Chinas unterstützen entschlossen die richtige Linie der kubanischen vereinigten revolutionären Organisationen und die Regierung, die fünf gerechten Forderungen und ihren heroischen Kampf. So handelnd, erfüllt China seine unausweichliche Verpflichtung in Übereinstimmung mit dem proletarischen Internationalismus. Wenn, wie behauptet wird, Chinas Unterstützung für den gerechten Kampf des kubanischen Volkes gegen die USA-Aggressoren . abenteuerlich’ war, so möchten wir fragen: bedeutet das, daß das chinesische Volk sich davon fernzuhalten hätte, jede mögliche Unterstützung im Rahmen seiner Macht dem Kampf Kubas gegen die imperialistische Aggression der USA zu geben, um nicht abenteuerlich zu handeln? Bedeutet das, daß man nur durch den Zwang auf Kuba, seine Souveränität, Unabhängigkeit und die fünf Forderungen aufzugeben, man es vermeiden könnte, als Abenteurer oder Kapitulationist bezeichnet zu werden? Die ganze Welt sieht, daß wir weder die Einführung von Atomwaffen nach Kuba gefordert haben, noch den Rückzug von . offensiven Waffen'aus diesem Land erschwert haben. Für uns besteht daher überhaupt nicht die Frage eines . Abenteurertums'. noch weniger die Frage des , Hineinreißens der ganzen Welt in einen Atomkrieg'." Auch dieser verschlungene Gedankengang gibt einen Einblick in die gegenwärtigen publizistischen Kampfmethoden der KP Chinas gegen Chruschtschow. Die volle Klarheit wird vermieden; und doch erhalten die Vorwürfe gegen Chruschtschow wegen seiner angeblich unzureichenden Unterstützung Kubas und seiner Kapitulation vor den USA erkennbare Umrisse.

Die der „Papier-Tiger" -These Maos zugrunde liegende Theorie erschien der KP-Führung so wichtig, daß sie sie zumindest in drei weiteren Veröffentlichungen (am 31. Dezember 1962 und 5. Januar 1963) im Kampf gegen Moskau verwandte. In der chinesischen Antwort (31. Dezember 1962) wird „dem Genossen Togliatti und gewissen anderen Genossen", ferner „anderen Personen" (womit, wie der folgende Text zeigt, zweifellos Chruschtschow gemeint ist, dem man verhüllt die Bezeichnung . Genosse'versagt) vorgeworfen, daß sie bewußt verfälscht die „Papier-Tiger" -These und die ihr zugrunde liegende theoretische Begründung darstellen: „Genosse Togliatti und gewisse andere Genossen haben sich scharf dem marxistischleninistischen Satz der chinesischen Kommunistischen Partei widersetzt, daß , der Imperialismus und alle Reaktionäre Papier-Tiger sind'. In seinem Bericht an den kürzlich stattgefundenen Kongreß der italienischen Kommunistischen Partei sagte Genosse Togliatti, daß es . falsch wäre, zu erklären, der Imperialismus sei einfach ein Papier-Tiger, der durch bloßen Stoß gegen die Schulter überwältigt werden kann.'Außerdem gibt es andere Personen, die behaupten, daß der Imperialismus jetzt Atomzähne hätte, wie könnte man ihn dann Papier-Tiger nennen?

Das Vorurteil ist von der Wahrheit weiter entfernt als die Unwissenheit. Im Falle des Genossen Togliatti und gewisser anderer Genossen, wenn sie nicht unwissend sind, dann verfälschen sie bewußt diesen Satz der chinesischen Kommunistischen Partei. Beim Vergleich des Imperialismus und aller Reaktionäre mit Papier-Tigern schauen der Genosse Mao Tse-tung und die chinesischen Kommunisten auf das Problem als Ganzes und vom Standpunkt auf lange Sicht und schauen auf das Wesen des Problems. Was das bedeutet, ist, daß in der endgültigen Analyse die Völker in Wirklichkeit mächtig sind, nicht der Imperialismus und die Reaktionäre.“

Nach dieser Darlegung folgen in der erwähnten chinesischen Antwort zwei ausführliche Stellungnahmen Maos zum Imperialismus als Papier-Tiger in einem Interview mit der amerikanischen Korrespondentin A. L. Strong (August 1946) und in seiner Rede in Moskau vor den versammelten Führern der kommunistischen Parteien (November 1957). Sie sollen zeigen, daß schon damals Mao den Unternchied zwischen der strategischen und tak12 tischen Einschätzung des Imperialismus in seiner Sicht der westlichen Industriestaaten gemacht hat. Damit soll der Eindruck der Kommunisten in anderen Ländern bekämpft werden, als handele es sich um eine plötzliche neue chinesische Interpretation der „Papier-Tiger" -These Maos.

Was kann an dem als „wissenschaflichen Satz" bezeichneten Standpunkt Maos über den strategisch nicht ernst zu nehmenden, aber taktisch ernst zu nehmenden Feind falsch sein, einem Satz, den schon Marx und Engels befolgten? So wurden in der erwähnten chinesischen Antwort (31. Dezember 1962) „der Genosse Togliatti und jene, die das angreifen", gefragt. Hatte nicht schon Lenin im Jahre 1919 den anglo-französischen Imperialismus mit einem „Koloß auf tönerenen Füßen" verglichen?! Läuft der von Mao gemachte Vergleich des Imperialismus mit einem „Papier-Tiger" nicht auf dieselbe Einschätzung des Gegners durch Lenin hinaus?!

Nach diesen rhetorischen Fragen, die auf die gut fundierte Ansicht Maos über den „PapierTiger" hinweisen sollen, wurden zwei geschichtliche Beispiele angeführt, die das richtige Urteil Maos über die zu stürzenden Gegner als „Papier-Tiger" bestätigen sollen. Der Kampf gegen den Zaren im Jahre 1917 und der Kampf gegen Mussolini, Hitler und dem japanischen Imperialismus im Jahre 1945 hätten folgendes gezeigt: „Die Geschichte hat bewiesen, daß der Zar und die bürgerliche Regierung nichts als Papier-Tiger waren. An der Schwelle und während des Zweiten Weltkrieges haben die Anhänger der Politik der Besänftigung und der Kapitulation gesagt, daß Hitler, Mussolini und die japanischen Imperialisten unbesiegbar wären. Aber die Völker der verschiedenen Länder bekämpften entschlossen die Besänftigung und die Kapitulation und gewannen letzten Endes den Krieg gegen den Faschismus. Und wieder bewies die Geschichte, daß Hitler, Mussolini und die japanischen Imperialisten nichts als Papier-Tiger waren."

Der wohl schwerste Fehler in der Anführung der drei Beispiele ist das völlige Außerachtlassen zahlreicher komplizierter Vorgänge, die das Ende des Zaren Nikolaus II., Hitlers und Mussolinis herbeigeführt haben. Diese Vorgänge lassen sich nicht mit dem einfachen Gegensatz zwischen den Völkern einerseits und den allmählich zu „Papier-Tigern“ werdenden Personen Nikolaus IL, Hitlers und Mussolinis erklären. Auf der Suche nach weiteren Beispielen für die Richtigkeit der „ Papier-Tiger These Maos glaubte die KP-Führung Chinas, zahlreiche neue Beispiele gefunden zu haben. Sie wurden u. a. in der „Roten Fahne“, Nr. 1, erschienen am 5. Januar 1963, veröffentlicht. Alle Beispiele — von Marx und Engels angefangen über Lenin bis zu den Siegen der Revolution in China, Korea, Vietnam, Irak, Algerien und Kuba — sollen beweisen, daß Siege der Revolutionäre in scheinbar aussichtslosen Lagen über den „Imperialismus" doch möglich waren. Die Beispiele China, Korea, Vietnam, Irak, Algerien, Kuba erscheinen der KP-Führung Chinas für ihre These um so bemerkenswerter, als die Siege dort erst nach dem Entstehen der amerikanischen Atom-macht errungen wurden. Wer die einzelnen angeführte Beispiele im Hinblick auf die Ursache der Siege der Revolutionäre durchdenkt, dem dürfte die Primitivität und gefährliche Beweisführung der chinesischen Kommunisten nicht verborgen bleiben. Für die KP-Führung Chinas ist es offenbar unvorstellbar, das amerikanische Verhalten zu den erwähnten Vorgängen anders als aus der Furcht des „USA-Imperialismus" zu erklären.

Auf solche geschichtlichen Beweise gestützt, fühlten sich die kommunistischen Führer Chinas zu folgender Belehrung und Verurteilung Chruschtschows berechtigt (31. Dezember 1962): „Die Geschichte hat bewiesen, daß selbst wenn der Imperialismus mit Atomwaffen ausgestattet ist, er ein revolutionäres Volk, das zu kämpfen wagt, nicht in die Unterwerfung hineinschrecken kann. Der Sieg der chinesischen Revolution und die großen Siege der Völker Koreas, Vietnams, Kubas, Algeriens und anderer Länder in ihren revolutionären Kämpfen wurden alle zu einer Zeit erfochten, da der Imperialismus der Vereinigten Staaten die Atomwaffen besaß. Der Imperialismus ist immer bis an die Zähne bewaffnet, immer auf das Blut der Völker aus gewesen. Was für eine Art von Zähnen der Imperialismus haben mag, ob es Kanonen, Tanks, Raketenzähne oder Atomzähne oder irgend eine andere Art von Zähnen sind, die die moderne Wissenschaft und Technologie liefern mag; er ist verottet, dekadent und kann seine PapierTiger-Natur nicht ändern. In der endgültigen Analyse können weder Atomzähne noch irgend eine andere Art von Zähnen den Im-perialismus vor seinem Schicksal der unvermeidlichen Auslöschung retten. Am Ende werden die Atomzähne des Imperialismus, und was für andere Zähne er haben mag, zusammen mit dem Imperialismus selber von den Völkern der Welt dem Museum der Geschichte übergeben werden. Diejenigen, die den Satz, daß , der Imperialismus und alle Reaktionäre Papier-Tiger sind" angreifen, haben offensichtlich jede Eigenschaft verloren, die ein Revolutionär haben sollte, und sind stattdessen ebenso kurzsichtig und furchtsam wie Mäuse geworden. Unser Ratschlag an jene Leute ist: besser ist, ihr bindet euer Schicksal nicht an das der Imperialisten!"

In dieser verschlungenen Form richtet sich der chinesische Angriff gegen die Ansicht Chruschtschows über den „Tiger mit Atomzähnen", gegen Chruschtschows mangelhaften revolutionären Charakter, der ihn angeblich so kurzsichtig und furchtsam macht wie eine Maus. Schließlich die verhüllte Warnung an Chruschtschow, sein Schicksal nicht an das des „Imperialismus" zu binden, d. h. sonst wegen Versagens ebenso dem Untergang entgegenzugehen wie der bürgerliche „Imperialismus".

Es dürfte deutlich geworden sein, daß die von Moskau als „primitiv" verurteilte Ansicht Maos über „Papier-Tiger" nach ihrer ausführlichen Erläuterung in chinesischen Veröffentlichungen nicht so primitiv ist, wie sie nach sowjetischen Veröffentlichungen erscheint. Dem bereits erwähnten chinesischen Vorwurf der bewußten Verfälschung der Ansichten Maos über „Papier-Tiger" vom 31. Dezember 1962 trug auch die Antwort der „Prawda" (7. Januar 1963) wenig Rechnung. Es wurden dabei einige Einzelheiten über die chinesische Begründung des Imperialismus als „Papier-Tiger" mitgeteilt und kritisiert, ohne daß sich damit dem sowjetischen Leser die Möglichkeit eröffnete, die gedanklichen Zusammenhänge der Theorie Maos vollständig zu erkennen: „Warum mußte den Definitionen von Marx und Engels eine andere, die primitive These vom , Papier-Tiger'entgegengestellt werden, die eine Unterschätzung der Kräfte des Imperialismus bedeutet?

Um der kommunistischen Bewegung die eigene Definition vom modernen Imperialismus aufzuzwingen und dessen Atomzähne zu ignorieren, versucht man, die These vom . PapierTiger'als gleichbedeutend mit der Leninschen Definition des Imperialismus als eines . Kolosses auf tönernen Füßen'hinzustellen. In dessen ist bekannt, daß der bildliche Ausdruck nicht das ganze Wesen der allseitigen Definition des Imperialismus durch W. I. Lenin erschöpft und auch nicht ersetzt. Zudem wird in diesem Ausdruck hervorgehoben, daß der Imperialismus noch stark ist (, Koloß'), aber auf zerbrechlicher Grundlage (, auf tönernen Füßen') steht und von inneren Widersprüchen zerrissen wird. Die Definition des Imperialismus als eines . Papier-Tigers'spricht jedoch lediglich von seiner Schwäche. Die Hauptsache besteht darin, daß es nicht papierener Definitionen bedarf, die beharrlich aufgezwungen werden sollen, sondern einer wirklichen Analyse des modernen Imperialismus, der Aufdeckung seiner Gebrechen, seiner Schwächen und der Gesetzmäßigkeiten, die zu seinem Untergang führen, und zugleich einer nüchternen Einschätzung seiner Kräfte, darunter des gewaltigen atomaren und anderen Rüstungspotentials.

Der Ausdruck , Papier-Tiger'führt im Grunde genommen zur Demobilisierung der Massen, weil er ihnen den Gedanken eintlößt, die Kraft des Imperialismus sei ein Mythos und man brauche sie nicht in Betracht zu ziehen. Derartige Phrasen können unter den Völkern lediglich eine Stimmung der Seelenruhe hervorrufen und zum Verlust der Wachsamkeit führen. Die Verbreiter derartiger Phrasen behaupten ferner, in strategischer Hinsicht sei es notwendig, den Feind zu verachten, in taktischer Hinsicht müsse man sich ihm gegenüber jedoch mit allem Emst verhalten. Eine solche . doppelte Buchführung'widerspricht dem Marxismus-Leninismus. Strategie und Taktik sind nach marxistischer Auffassung durch eine tiefe Gemeinsamkeit miteinander verbunden. Die Taktik hat die Aufgabe, der Erreichung eines strategischen Zieles zu dienen. Die Strategie steht nicht im Gegensatz zur Taktik, sondern ist auf die Erreichung bedeutender historischer Ziele gerichtet. Der Marxismus-Leninismus lehrt, daß man an den Feind herangehen muß, indem man sowohl seine historischen Perspektiven als auch seine gegenwärtigen realen Kräfte nüchtern einschätzt und auf dieser Grundlage die Strategie und Taktik ausarbeitet."

Selbst wenn man in Peking nur den Wunsch nach einer sachlichen Auseinandersetzung mit Moskau über die Anwendbarkeit von Theorien im Umgang mit dem „Imperialismus" sehen wollte, könnten die soeben dargelegten Einwände Moskaus gegen Maos „Papier-Tiger“ -Theorie die chinesische KP-Führung kaum überzeugen. c) Chinesische Deutung einiger Sätze Chruschtschows über den Sinn der „friedlichen Koexistenz'

Der bereits dargestellte Teil „Uber die friedliche Regelung von Streitfragen zwischen den Staaten" enthält im Wortlaut einige Erläuterungen Chruschtschows zum Begriff der „friedlichen Koexistenz" (vgl. S. 8/9). In seiner Rede vom 12. Dezember 1962 zählte er hierzu das notwendige Vertrauen zu Verträgen mit den Vereinigten Staaten trotz aller nach seiner Meinung schlechten Erfahrungen mit Verträgen. Ihm zufolge wäre es ein Wahnwitz, die Regelung strittiger Fragen durch Kriege zu propagieren. Anstatt die Bedeutung internationaler Verträge und Abkommen zu bestreiten, sollte man nach Chruschtschow die bestehenden „vernünftigen Normen der internationalen Beziehungen" nicht untergraben, sondern festigen.

Wer nur auf diese Erläuterungen Chruschtschows zur „friedlichen Koexistenz" zwischen Staaten verschiedener Systeme sein Augenmerk richtet und sie mit zahlreichen früheren Äußerungen Chruschtschows zu dieser Frage vergleicht, kann z. B. als bürgerlicher Pazifist folgende optmistische Folgerungen daraus ziehen: das nunmehr wachsende sowjetische Vertrauen zur Friedfertigkeit der Regierungen der westlichen Industriestaaten, der Verzicht Chruschtschows auf den Klassenkampf zwischen gesellschaftlich verschieden aufgebauten Staaten, der Verzicht darauf, die Entwicklungsländer Asiens, Afrikas und Südamerikas zum Befreiungskrieg gegen die „kolonialen Unterdrücker" aufzufordern oder Aufstände und Revolutionen in diesen Gebieten mit Waffen zu unterstützen.

Die KP-Führung Chinas sah in diesen möglichen Folgerungen aus den soeben erwähnten Erläuterungen Chruschtschows zur „friedlichen Koexistenz" die günstige Gelegenheit, Chruschtschow gegenüber allen revolutionär gesonnenen Kommunisten zu diskreditieren. Wie in allen anderen Streiftragen vermied sie es auch hier, Chruschtschow oder die Sowjetunion zu nennen. Sie legte über den vorhandenen Schleier zur Verhüllung ihrer Angriffe noch einen zweiten Schleier, indem sie beim Namen direkt den italienischen Kommunistenführer Togliatti nannte, mit dieser Ablenkung aber Bezeichnungen wie „und andere Genossen", „andere Personen" verband und damit vor vor allem Chruschtschow meinte. Wie bereits mehrfach dargelegt, wandte auch hier die chinesische KP-Führung das Verfahren an, nach allgemein gehaltenen Betrachtungen zum verhüllten Angriff auf die als falsch verurteilte Friedenspolitik Chruschtschows überzugehen (31. Dezember 1962):

„Im Verlauf des Kampfes zur Verteidigung des Weltfriedens ist es notwendig, über die eine oder andere Streitfrage in Verhandlungen mit den Regierungen der imperialistischen Länder, einschließlich der Regierung der Vereinigten Staaten, zum Zweck der internationalen Entspannung einzutreten und dabei eine Art von Kompromiß zu erreichen und zu gewissen Abkommen zu gelangen, die dem Grundsatz unterworfen sind, daß solche Kompromisse und Abkommen den fundamentalen Interessen des Volkes nicht schaden dürfen.

Dennoch kann der Weltfrieden niemals durch Verhandlungen allein erreicht werden; und unter keinen Umständen dürfen wir unsere Hoffnungen an den Imperialismus klammern und uns von den Kämpfen der Massen trennen. Jene, die die chinesische Kommunistische Partei angreifen, stellen diesen richtigen Standpunkt von uns falsch dar, als ob er einen fehlenden Glauben an die Möglicheit der Abwendung eines Weltkrieges zeige. Tatsache ist, daß sie selber keinen Glauben an die Möglichkeit der Verhinderung eines Weltkrieges durch Vertrauen auf die Stärke der Massen und ihre Kämpfe haben und sich dem Vertrauen auf die Massen und ihre Kämpfe widersetzen. Sie wünschen, daß die Völker der Welt an die . Vernunft', die . Versicherungen’ und die . guten Absichten'des Imperialismus glauben und ihre Hoffnungen für den Weltfrieden auf . gegenseitige Versöhnung', . gegenseitige Zugeständnisse', . gegenseitige Anpassung'und . vernünftige Kompromisse’ mit dem Imperialismus setzen. Diese Persönen haben keine Bedenken, den Imperialismus um Frieden auf Kosten der fundamentalen Interessen der Völker der verschiedenen Länder und auf Kosten der revolutionären Prinzipien zu bitten; und sie verlangen sogar, daß auch die anderen die revolutionären Prinzipien opfern." Den in Anführungsstrichen gesetzten Ausdrücken begegnen wir zum Teil in der erwähnten Rede Chruschtschows vom 12. Dezember 1962. Ihnen wird nun von den Chine-sen ein Sinn verliehen, der Chruschtschow als bürgerlichen Kompromißler, als einen Revisionisten darstellt, der im Vertrauen auf die Friedfertigkeit des „Imperialismus" die revolutionären Prinzipien aufgegeben hat. Wie ein Kompromiß mit bürgerlichen Staaten auszusehen hat, wird ebenfalls oben angedeutet. Klarer umschrieben, lautet der chinesische Standpunkt: es darf eben kein Kompromiß mit etwa gleichem Geben und Nehmen der beiden gesellschaftlich verschiedenen Partner sein. Ganz im Sinne Lenins erwartet die KP-Führung Chinas von einem Kompromiß eine Stärkung des kommunistischen und eine Schwächung des nichtkommunistischen Partners. Sie streitet aber verhüllt Chruschtschow eine solche Politik der Kompromisse mit den „Imperialisten" ab.

Die chinesische Anklage gegen den angeblichen Verzicht Chruschtschows auf den Klassenkampf und gegen sein Vertrauen auf „eine Welt ohne Krieg" erscheint in folgender Form: „Es ist unvorstellbar, daß die friedliche Koexistenz ohne Kampf erreicht werden kann. Es ist noch weniger vorstellbar, daß die Errichtung der friedlichen Koexistenz die Klassenkämpfe in der Weltarena ausschalten kann, den Antagonismus zwischen den beiden Systemen, dem Sozialismus und Kapitalismus, und den Antagonismus zwischen den unterdrückten und unterdrückenden Nationen abschaffen kann. Die Moskauer Erklärung von 1960 weist darauf hin: , Die friedliche Koexistenz von Staaten schließt nicht den Verzicht auf den Klassenkampf ein, so wie es die Revisionisten fordern. Die Koexistenz von Staaten mit verschiedenen gesellschaftlichen Systemen ist eine Form des Klassenkampfes zwischen dem Sozialismus und Kapitalismus.'

Aber der Genosse Togliatti und jene, die China angreifen, meinen, daß durch die .friedliche Koetistenz es möglich sei, die Struktur der ganzen Welt zu erneuern’ und . eine neue internationale Ordnung'zu errichten, in der ganzen Welt aufzubauen . ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Regime, das befriedigen kann: alle Wünsche der Menschen und Völker nach Freiheit. Wohlstand, Unabhängigkeit, nach der vollen Entwicklung einer uneingeschränkt geachteten menschlichen Persönlichkeit und nach der friedlichen Zusammenarbeit aller Staaten'und nach . einer Welt ohne Krieg’. Das bedeutet, daß es durch .friedliche Koexistenz möglich ist, eine . Struktur der Weit'zu ändern, in der der Antagonismus zwischen den Systemen des Sozialismus und des Kapitalismus und zwischen den unterdrückten und unterdrückenden Nationen besteht, und daß es möglich ist, alle Kriege auszuschalten und . eine Welt ohne Krieg’ zu verwirklichen, während der Imperialismus und die Reaktionäre noch existieren.

Indem der Genosse Togliatti und andere Genossen diesen Standpunkt einnehmen, hahen sie vollständig Lenins Grundsätze für die friedliche Koexistenz revidiert und die marxistisch-leninistische Lehre über den Klassenkampf fallen gelassen. In Wirklichkeit ersetzen sie den Klassenkampf im Weltmaßstab durch die Zusammenarbeit der Klassen; sie befürworten eine Verschmelzung der sozialistischen und kapitalistischen Systeme."

Nur die Vermeidung eines Weltkrieges hält Peking für möglich, dagegen nicht die Vermeidung von lokal begrenzten Kriegen. Auf den Marxismus-Leninismus hinweisend, warf Peking Chruschtschow den Optimismus vor, bereits vor der Beseitigung der privatwirtschaftlichen Ordnung, z. B. in den westlichen Industriestaaten, eine „Welt ohne Krieg" für möglich zu halten: „Sogar noch absurder ist die Behauptung, daß . eine Welt ohne Krieg" durch friedliche Koexistenz erreicht werden kann. In der gegenwärtigen Lage ist es möglich, den Imperialismus an der Entfesselung eines neuen Weltkrieges zu hindern, wenn alle friedliebenden Kräfte der Welt sich in einer breiten, internationalen, antiimperialistischen vereinigten Front zusammenschließen und zusammen kämpfen.

Aber es ist eine Sache, einen Weltkrieg zu verhindern, und eine andere, alle Kriege auszuschalten. Der Imperialismus und die Reaktionäre sind die Quelle von Kriegen. Unter den Bedingungen, da der Imperialismus und die Reaktionäre noch bestehen, zeigt die Geschichte von siebzehn Nachkriegsjahren, daß lokale Kriege der einen oder anderen Art niemals aufgehört haben. Unterdrückte Nationen und ein unterdrücktes Volk müssen sich in der Form der Revolution erheben, wenn der Imperialismus und die Reaktionäre bewaffnete Gewalt anwenden, um die Revolution zu unterdrücken. Es ist unvermeidlich, daß Bürgerkriege und nationale Befreiungskriege vorkommen werden.

Marxisten-Leninisten haben es immer aufrechterhalten, daß nur nach der Überwältigung des imperialistischen Systems und nur nach der Abschaffung aller Systeme der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und nicht vorher es möglich sein wird, alle Kriege auszuschalten und . eine Welt ohne Krieg'zu schaffen."

Aus diesen Darlegungen ergibt sich für die KP-Führung Chinas überhaupt die Unmöglichkeit einer „friedlichen Koexistenz" zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen. „Für eine unterdrückte Nation oder ein unterdrücktes Volk ist es eine Frage, wie man einen revolutionären Kampf zum Sturz der Herrschaft des Imperialismus und der Reaktionäre führen kann; es ist nicht und es kann nicht sein eine Frage der friedlichen Koexistenz mit dem Imperialismus und den Reaktionären." Wie aber sehen „Togliatti und jene, die China angreifen" das anzustrebende Verhältnis zwischen den kolonialen bzw. halb-kolonialen Völkern und ihren in-und ausländischen Unterdrückern? „Aber Togliatti und jene, die China angreifen, verbreiten ihre Idee von der .friedlichen Koexistenz', um die Beziehungen zwischen dem kolonialen und halbkolonialen Volk auf der einen Seite und den Imperialisten und Kolonialisten auf der anderen Seite zu verdecken... Sie lieben keine Funken der Revolution unter den unterdrückten Nationen und Völkern. Sie sagen, daß ein winziger Funke zu einem Weltkrieg führen kann. Eine solche Art des Sprechens ist in der Tat die Forderung an die unterdrückten Nationen, mit ihren kolonialen Herrschern .friedlich zu koexistieren', die Forderung an sie, lieber die koloniale Herrschaft zu dulden als zu widerstehen oder Kämpfe um die Unabhängigkeit zu führen, noch viel weniger nationale Befreiungskriege zu führen. Bedeutet nicht diese Art des Geschwätzes, daß das chinesische Volk, das koreanische Volk, das Volk von Vietnam, das kubanische Volk, das algerische Volk und die Völker anderer Länder, die sich zur Revolution erhoben, alle das Prinzip der .friedlichen Koexistenz'verletzt und falsch gehandelt haben? Es ist sehr schwierig für uns, irgendeinen wirklichen Unterschied zwischen solchem Geschwätz und den Predigten der Imperialisten und Kolonialisten zu sehen."

In dieser Form soll u. a. Chruschtschow als Beschwichtiger erscheinen, der den revolutionären Freiheitskämpfern in den Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Südamerikas die friedliche Beilegung von Streitigkeiten mit den Unterdrückern empfiehlt. Aus Angst, daß ein Funke der Revolution in den Entwicklungsländern zu einem Weltkrieg führen könnte, ist demzufolge Chruschtschow ein Gegner von Revolutionen und revolutionären Befreiungskriegen geworden. Damit versucht Peking, die um die Machtergreifung ringenden kommunistischen Parteien der Entwicklungsländer von ihren Hoffnungen auf die sowjetische Hilfe abzubringen. Die systematische Zerstörung solcher Hoffnungen soll gleichzeitig Peking als einzige zuverlässige revolutionäre Stütze dieser kommunistischen Parteien empfehlen. Das geht aus den oben zitierten Sätzen trotz ihres verhüllten Charakters klar genug hervor. Die Größe der Herausforderung Moskaus durch Peking im Ringen um die Sympathie der kommunistischen Parteien Asiens, Afrikas und Südamerikas läßt sich wohl schwer überschätzen.

Wie Moskau auf diese Herausforderung Pekings z. B. öffentlich anworten würde, war eine Frage, die sich wohl jedem Leser des erwähnten chinesischen Leitartikels vom 31. Dezember 1962 stellte. Die Antwort der„Prawda" vom 7. Januar 1963 zeigte, daß sich die sowjetische KP-Führung von den angeführten chinesischen Angriffen gegen „Togliatti und anderen Genossen" schwer getroffen fühlte und zu folgendem Gegenangriff ausholte: „Die Methoden, die die albanischen Führer und jene, die sie unterstützen, im Kampf gegen die internationale kommunistische Bewegung anwenden — das sind dem Leninismus fremde Methoden. Ihr Wesen besteht in der Unterschiebung, Einstellung und Verfälschung von Ansichten der KPdSU und anderer brüderlicher Parteien, ihnen Standpunkte zuzuschreiben, die sie niemals eingenommen haben. So sollen sie z. B. meinen, daß die Völker der kapitalistischen Länder keine Revolution machen dürften, die unterdrückten Nationen nicht einen Kampf um ihre Befreiung, die Völker der ganzen Welt nicht einen Kampf gegen den Imperialismus usw. führen dürften. Man muß sagen, daß seit dem Auftreten des Trotzkismus keine einzige opportunistische Strömung zu einer so ungeheuerlichen Methode griff, die die Wahrheit völlig entstellt, das Volk ihres Landes und die Weltöffentlichkeit in die Irre führt. Ist es etwa eines Kommunisten würdig, zu behaupten, die ruhmreichen Bruderparteien Frankreichs, der USA, Italiens, Spaniens, Großbritanniens, Griechenlands, Belgiens, Dänemarks, Portugals, des Iraks, Chiles, Argen-tiniens, Uruguays und vieler anderer Länder, die sich in der Feuerprobe von Klassenkämpfen befinden, die täglich gegen den Kapitalismus wahrlich heroische Schläge führen und dafür den Verfolgungen und Gegenmaßnahmen des Polizeiapparates der imperialistischen Staaten ausgesetzt sind, abseits vom Kampf der Volks-massen stehen, den Imperialismus unterstützen? Das ist doch eine Verhöhnung der selbstlosen Kämpfers Das ist dem Wesen der Sache nach eine Hilfe für den Feind, gegen den die Kommunisten kämpfen!"

Es wird darin den chinesischen Kommunisten die völlige Entstellung des sowjetischen Standpunktes zum Klassenkampf zwischen den Staaten, zu dem revolutionären Freiheitskampf unterdrückter Völker vorgeworfen. An einer anderen Stelle derselben Veröffentlichung werden die revolutionären Vorzüge der „friedlichen Koexistenz" noch besonders hervorgehoben. Wenn man von der größeren Vieldeutigkeit der Formulierungen der „Prawda" (7. Januar 1963) im Vergleich zu den Formulierungen der Pekinger „Volkszeitung" (31. Dezember 1962) absieht, deckt sich der sowjetische Standpunkt mit dem chinesischen über den Sinn der „friedlichen Koexistenz" mit anderen Staaten: „Durch das Leben selbst, durch die Praxis des Kampfes von Hunderten Millionen Menschen ist bestätigt, daß die Politik der friedlichen Koexistenz den ureigenen Interessen der Völker aller Länder entspricht. Es ist bewiesen, daß unter den Bedingungen der friedlichen Koexistenz günstige Möglichkeiten für die Entfaltung des Klassenkampfes in den kapitalistischen Ländern, der nationalen Befreiungsbewegung.der demokratischen Bewegungen, der sozialistischen Revolutionen geschaffen werden. Ist es doch eine Tatsache, daß der größte Aulschwung der nationalen Befreiungsbewegung und die größten Streikkample in den kapitalistischen Ländern in den Nachkriegsjahren sich vollzogen, d. h. unter Bedingungen den der friedlichen Koexistenz. Ist es doch auch eine Tatsache, daß in diesen Jahren der größte Zuwachs an Mitgliedern der kommunistischen Parteien und ihres Einflusses stattfand. Die Erfolge des revolutionären Klassen-und des nationalen Befreiungskampfes fördern ihrerseits die Festigung der friedlichen Koexistenz. Und das ist verständlich. Denn der aktive Kampf für Frieden, Demokratie und nationale Befreiung schwächt und engt die Positionen des Imperialismus ein."

Die Frage stellt sich, ob die chinesischen Parteiführer die angeführten, sehr bürgerlich gehaltenen Erläuterungen Chruschtschows zum Begriff der „friedlichen Koexistenz" ernst nahmen oder es im Interesse der Bloßstellung Chruschtschows vorzogen, sie als ernstgemeint ihrer Polemik zugrundezulegen. Für die zweite Annahme sprechen fast alle Gründe.

Bei der Lektüre der Rede Chruschtschows (12. Dezember 1962) haben die Führer der Chinesischen Volksrepublik sicher nicht die Stellen übersehen, die der „friedlichen Koexistenz" einen ganz anderen Sinn gaben, als sich aus der einen Stelle der Rede folgern läßt. So befürwortete Chruschtschow in derselben Rede z. B. Kompromisse nach den Prinzipien des Marxismus-Leninismus, d. h. Kompromisse, wie sie auch das kommunistische China mit nichtkommunistischen Staaten anstrebt. Das sollen, wie dargelegt, möglichst nur Kompromisse zur Stärkung der Kommunisten auf Kosten der anderen Partner sein. Chruschtschow bekräftigte diesen Sinn der Kompromisse durch ein Zitat Lenins: „Wir folgen den Weisungen Lenins, der wiederholt die Möglichkeit und Notwendigkeit von Kompromissen in der Politik unterstrich.

Die Aufgabe einer wahrhaft revolutionären Partei besteht nicht darin’, schrieb W. I. Lenin, , den Verzicht auf jegliche Kompromisse als unmöglich zu verkünden, sondern darin, durch alle Kompromisse hindurch, soweit sie unvermeidlich sind, zu verstehen, ihren Prinzipien, ihrer Klasse, ihrer revolutionären Aufgabe treu zu bleiben.'"

Aus einer anderen Stelle der Rede Chruschtschows ergibt sich das Gegenteil der verhüllten chinesischen Behauptung, daß Chruschtschow an einem friedlichen Ausgleich zwischen den unterdrückten Völkern und ihren in-und ausländischen Ausbeutern interessiert sei und den Funken der Revolution fürchte. „Eine der Hauptrichtungen der außenpolitischen Tätigkeit der Sowjetregierung war und bleibt die allseitige Unterstützung der Völker, die den heiligen Kampf für ihre Freiheit, für die Festigung der nationalen Unabhängigkeit führen.

Indem sie sich auf die Hilfe der Sowjetunion und des ganzen Lagers des Sozialismus stützt, erringt die nationale Befreiungsbewegung welthistorische Erfolge. Es erhebt sich das neue Asien, wo die letzten Überbleibsel der ehemaligen kolonialen Imperien stürzen. Der siegreiche Vormarsch der nationalen Befreiungsbewegung in Afrika geht weiter. Lateinamerika, das noch in jüngster Vergangenheit ein ungeteiltes Erbgut fremder Monopole war, trat in eine neue Etappe seiner Geschichte ein, die Etappe des Kampfes für echte nationale Unabhängigkeit.“

In derselben Rede hielt Chruschtschow es für vereinbar, sich gegen Kriege überhaupt und zugleich für den „gerechten Befreiungskrieg" auszusprechen:

„Wir lehnen nicht nur den atomaren Weltkrieg, sondern überhaupt alle Kriege zwischen den Staaten ab, mit Ausnahme des gerechten Befreiungskrieges und des Verteidigungskrieges, den ein Volk, das einem Angriff ausgesetzt wurde, zu führen gezwungen ist." Wenn man die Auslegungsfähigkeit des Begriffes „Befreiungskrieg" in der leninistischen Theorie und in der außenpolitischen Praxis der Sowjetunion seit 1917 berücksichtigt, dann eröffnet die erwähnte „Ausnahme“ das Tor auch zur Entfesselung von Angriffskriegen je nach den jeweils vorhandenen internationalen Kräfteverhältnissen.

Alles dies konnte die KP-Führung Chinas der Rede Chruschtschows entnehmen. Doch diese Stellen der Rede Chruschtschows hielten sie nicht davon ab, von den bürgerlich gehaltenen Erläuterungen Chruschtschows zur „friedlichen Koexistenz" an einer anderen Stelle seiner Rede auszugehen. Es kam ihr darauf an, Chruschtschow in den Augen der kommunistischen Revolutionäre als „Versöhnler" verächtlich zu machen.

Chruschtschow ließ fast zu derselben Zeit, da seine Rede vom 12. Dezember 1962 veröffentlicht wurde, einen Artikel seines engen Mitarbeiters B. N. Ponomarjow in der von Moskau völlig beherrschten internationalen Zeitschrift für die kommunistischen Parteien „Probleme des Friedens und des Sozialismus" in Prag erscheinen. In der Nummer 12 (von 1962) dieser Monatsschrift erläuterte Ponomarjow an Hand seines Aufsatzes „Einige Fragen der revolutionären Bewegung" ausführlich den revolutionären Charakter der „friedlichen Koexistenz" mit anderen Staaten. Nach ihm schloß die „friedliche Koexistenz" den Klassenkampf zwischen den Staaten die revolutionären Befreiungskriege keineswegs aus. Auch diesen wichtigen sowjetischen Artikel überging die KP-Führung Chinas. Mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit war auch dieser Aufsatz der chinesischen KP-Führung vor der Veröffentlichung des Leitartikels in der Pekinger „Volkszeitung" (31. Dezember 1962) bekannt.

Was die chinesischen Kommunisten Chruschtschow an Friedfertigkeit in seinem Verkehr mit der nichtkommunistischen Welt zu-schrieben war daher, kaum zweifelhaft, eine bewußt falsche Darstellung. Das Ringen um die Führung der kommunistischen Weltbewegung hielt Mao von einer bewußten Verzerrung der Ansichten Chruschtschows über die „friedliche Koexistenz" offenbar ebenso-wenig ab wie Chruschtschow von der bewußten Verzerrung der Theorie Mios über den „Imperialismus" als „Papier-Tiger“.

II. Einige andere Streitfragen

1. über das Vorgehen Chinas gegen Indien In der Rede vom 12. Dezember 1962 nahm Chruschtschow auch zu dem Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Indien Stellung. Er versuchte darin kunstvoll, China teilweise zu loben und doch Indien nicht zu verstimmen. Es dürfte nach den gemachten Erfahrungen mit China nicht wenige Inder überraschen, Chruschtschow als Lobredner der grundsätzlich friedfertigen Politik Chinas zu sehen. Frei von jeder Scheu, führte er sowohl Indien als auch China als gute Beispiele einer brüderlichen Freundschaft an. „In seiner Außenpolitik vertritt Volkschina die Prinzipien des Friedens, der Gleichheit und der freundschaftlichen internationalen Zusammenarbeit. Man muß endlich die legitimen Rechte der Volksrepublik China in der Organisation der Vereinten Nationen wiederherstellen. Es ist an der Zeit, daß die Insel Taiwan, ein von altersher zu China gehörendes Land, der Volksrepublik China zurückgegeben wird.

Was Indien anbelangt, so war das Tempo seiner wirtschaftlichen Entwicklung nach der Erringung der Unabhängigkeit langsamer als in China. Aber auch Indien, dessen Gesellschaftsaufbau sich von dem sozialistischen Aufbau Chinas unterscheidet, schreitet unter Überwindung des schweren Erbes der jahrhundertelangen Herrschaft der britischen Kolonialisten von Jahr zu Jahr immer sicherer in der Entwicklung der Wirtschaft und Kultur voran. Die Politik des Nichtanschlusses an Bl ocks, seine neutralistische Politik hat Indien in der Welt ein großes moralisch-politisches Gewicht verschafft.

Volkschina und Indien haben den anderen Ländern ein gutes Beispiel brüderlicher Freundschaft gegeben, nachdem sie im Jahre 1954 die bekannten . fünf Prinzipien'der friedlichen Koexistenz oder . Pancha Shila', wie man sie noch nennt, formuliert und verkündet hatten. Im Laufe einer Reihe von Jahren hat eine solche Politik gute Früchte getragen."

Wie sich Chruschtschow in seiner erwähnten Rede die Lösung des indisch-chinesischen Grenzstreites vorstellte, kam einer halben Partelnanme für China gleich, weil sein Vorschlag auf eine teilweise Annnahme der chinesischen territorialen Forderungen durch Indien hinauslief:

„In der Frage von Grenzstreitigkeiten halten wir uns an die Leninschen Ansichten. Die 45jährige Erfahrung der Sowjetunion sagt uns, daß es keine Grenzstreitigkeiten gibt, die nicht bei Vorhandensein des gegenseitigen Wunsches gelöst werden könnte, ohne Waffen anzuwenden. Von diesen Positionen aus beurteilen die Sowjetmenschen die Ereignisse an der chinesisch-indischen Grenze."

Die verhüllte Kritik an dem chinesischen Vorgehen gegen Indien begann Chruschtschow mit dem Hinweis auf das Frohlocken der Westmächte, für die „dieser Konflikt geradezu ein gefundenes Fressen" sei. Daher hielt er Chinas Entscheidung für richtig, ab 1. Dezember 1962 mit dem Abzug seiner Truppen zu beginnen. Gerade diesen chinesischen Rückzug benutzte aber Chruschtschow, um China am chinesischen Beispiel die zuweilen bestehende Notwendigkeit von Rückzügen begreiflich zu machen. Man achte darauf, mit welchem Geschick Chruschtschow China verblümt eine Lektion erteilt: „Natürlich können sich Leute finden, die sagen: Da zieht sich nun die Volksrepublik China im Grunde genommen auf jene Linie zurück, auf der dieser Konflikt entstand. Wäre es nicht besser gewesen, gar nicht erst von jenen Positionen aus vorzurücken, auf denen diese Truppen seinerzeit gestanden haben? Derartige Erwägungen sind verständlich; sie zeugen davon, daß die Menschen besorgt sind und das Vorgefallene bedauern. •

Genossen, es gibt aber Leute, die versuchen, den von der Regierung der Volksrepublik China gefaßten Beschluß anders aus-zulegen. Sie sagen: Ist das nicht ein Rückzug? Man stellt auch eine solche Frage: Ist das nicht ein Zugeständnis seitens der chinesischen Genossen? Solche Fragen werden natürlich gestellt; und offenbar werden sie von böswilli20 gen Haarspaltern ans Licht gezerrt, um die Gefühle dieser oder jener Seite aufzuwühlen, um Feindschaft zwischen Indien und China zu schüren und sich daran die Hände zu wärmen Wir glauben an die Weisheit der führenden Persönlichkeiten Chinas und Indiens und hoffen, daß sie keiner derartigen Provokation nachgeben, sondern eine vernünftige Lösung des Konflikts sicherstellen werden.

Manche Leute sagen schon, China hätte die Kampfhandlungen augenscheinlich deshalb eingestellt, weil Indien begonnen hat, die Unterstützung seitens der amerikanischen und britischen Imperialisten zu erhalten, die ihm Waffen liefern. Folglich, sagen solche Leute, hat die chinesische Volksrepublik gefühlt, daß der militärische Konflikt, falls er sich weiter entwickelt, in einen großen Krieg hinüber-wachsen kann, der eine noch größere Zahl von Opfern fordern wird.

Ja, offensichtlich haben die chinesischen Freunde der Lage Rechnung getragen; und das spricht wiederum für ihre Weisheit und ihr Verständnis dafür, daß, wenn ein Krieg zwischen befreundeten Nachbarvölkern ausbricht, die Imperialisten stets bestrebt sind, daraus für sich Nutzen zu ziehen,"

Das teilweise geäußerte Lob Chruschtschows auf China und seine sich daran anschließende milde Kritik an Chinas Verhalten im chinesisch-indischen Grenzstreit wurde von Peking keineswegs dankbar ausgenommen. Was Peking von der KPdSU und anderen kommunistischen Parteien erwartet, ist nicht ein von Wohlwollen und milder Kritik bestimmtes Verhalten oder eine neutrale Stellungnahme. Es erwartet eine eindeutige Unterstützung gegen Indien. Um diese Forderung zu rechtfertigen, führte Peking in seiner Antwort an (15. Dezember Chruschtschow 1962) zunächst eine „marxistisch-leninistische Analyse" der innen-und außenpolitischen Triebkräfte der Regierung Nehru vor — zur Belehrung aller Kommunisten, die das Vorgehen Chinas gegen Indien wegen einer unzureichenden marxistisch-leninistischen Analyse nicht richtig einschätzen: „Chinas folgerichtige und aufrichtige Anstrengungen für die friedliche Regelung der chinesisch-indischen Grenzfrage sind allgemein anerkannt. Aber es ist eine seltsame Sache, daß einige Leute, die behaupten Marxisten-Leninisten zu sein, den Marxismus-Leninismus vollständig vergessen haben. Sie haben sich niemals die Mühe gegeben, vom Klassenstandpunkt des Marxismus-Leninismus aus die reaktionäre Politik der Regierung Nehru beim Beginn des chinesisch-indischen Grenzkonflikts und beim Verweigern der Versöhnung zu analysieren. Diese Leute wollen weder sehen, daß diese Politik aus dem Bedürfnis der Großbourgeoisie und der Großgrundbesitzer Indiens entsteht, dem Volk und der fortschrittlichen Bewegung dieses Landes Widerstand zu leisten, noch wollen sie sehen, daß diese Politik sowohl genau zu den Bedürfnissen des Imperialismus, besonders zu jenen des Imperialismus der Vereinigten Staaten, paßt, als auch die Unterstützung des Imperialismus hat.

Als eine Tatsache: die Regierung Nehru hat in den letzten Jahren das Volk in Indien mit wachsender Brutalität verfolgt und ist allmählich ein Protege des Imperialismus der USA geworden, indem sie als Komplice in vielen bedeutenden internationalen Fragen, z. B. in der Kongo-Frage, handelt. Das Verharren der Regierung Nehru auf ihrem antichinesischen Standpunkt ist das direkte Ergebnis der Tatsache, daß ihre Innen-und Außenpolitik immer reaktionärer geworden ist."

Das allen Tatsachen widersprechende Ergebnis, chinesische KP-Führung zu die kommt, ist ein weiteres Beispiel für die verzerrten Vorstellungen Maos und seiner Mitarbeiter von den Vorgängen in der Welt außerhalb Chinas. Das den anderen Kommunisten vorgeführte Bild von der Politik der Regierung Nehru dürfte selbst für viele Kommunisten außerhalb Chinas absurd sein. Die vorgeführte „marxistisch-leninistische Analyse" in der Sicht Pekings soll den anderen Kommunisten wissenschaftlich beweisen, daß die indische Regierung China militärisch nicht nur angegriffen hat, sondern auf Grund der gesellschaftlichen Lage und ihren zwangsläufigen Folgen China angreifen mußte.

Nach diesem mit offensichtlichem Stolz vorgeführten Beispiel einer marxistisch-leninistischen Analyse für alle, die „den Marxismus-Leninismus vollständig vergessen haben" wandte sich Peking gegen das Verhalten der Sowjetunion im chinesisch-indischen Grenzkonflikt Die Neutralität der UdSSR in diesem Grenzstreit erscheint in der Sicht Pekings als Heuchelei, die von Brüderlichkeit mit China spricht, tatsächlich aber Indien unterstützt. „Diejenigen, die China anklagen, die Regierung Nehru zum Westen getrieben zu haben, verwechseln gerade Ursache und Wirkung. Den ganzen chinesischen-indisehen Grenzstreit hindurch haben sie immer wieder richtig mit falsch verwechselt, indem sie behaupteten . neutral'zu sein, indem sie China . Bruder'nannten, während sie tatsächlich die indische reaktionäre Gruppe als ihre Verwandten betrachteten. Sollten nicht diese Leute ihr eigenes Gewissen prüfen und sich fragen, was aus ihrem Marxismus-Leninismus und was aus ihrem proletarischen Internationalismus geworden ist?"

Peking fordert also eine sowjetische Unterstützung gegen Indien im Zeichen des proletarischen Internationalismus. Darunter ist nach Lenin zu verstehen: „die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eines ebensolchen Kampfes, einer ebensolchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern." Wo blieb in der Sicht Pekings die Hilfe Moskaus für den revolutionären Kampf Chinas gegen Indien?! Eine rethorische Frage, die Peking verhüllt an Moskau stellt.

Im Laufe weniger Wochen nach der Rede Chruschtschows vom 12. Dezember 1962 hat die Sowjetunion ihr Verhalten, sich über den tatsächlichen Angreifer im indisch-chinesischen Grenzkonflikt öffentlich nicht auszulassen, indirekt aufgehoben. In der Rede vor dem Parteitag der SED am 15. Januar 1963 in Ost-Berlin umschrieb Walter Ulbricht das aggressive Verhalten der Volksrepublik China gegenüber Indien vorsichtig mit folgen den Worten: „Leider sind weder wir noch die Regierungen anderer sozialistischer Staaten über das Aufrollen des indisch-chinesischen Grenzkonfliktes konsultiert oder auch nur informiert worden. Wir wünschten, daß sich die chinesischen Genossen auch bei der Behandlung der Grenzfragen gegenüber Indien an die vereinbarte Politik der friedlichen Koexistenz gehalten hätten."

Die sowjetische Billigung dieser verhüllten Kritik an China als dem Aggressor gegen Indien äußerte sich in der wörtlichen Wiedergabe dieser Äußerung Ulbrichts in der Moskauer „Prawda" vom 16. Januar 1963. Das kommunistische Zentralorgan hat keineswegs alle Äußerungen Ulbrichts in seiner Rede wörtlich zitiert. Damit haben sich die offiziellen Vorstellungen Moskaus und Pekings über die Ursachen des chinesisch-indischen Streites noch weiter entfernt. 2. WeristfürdieSpaltung im kommunistischen „Lag er"

verantwortlich?

Sowohl in der Rede Chruschtschows (12. Dezember 1962) als auch in der Antwort Pekings (15. Dezember 1962) wurden Vorwürfe gegen die „Spalter" und „Sektierer" erhoben. So heißt es über die Tätigkeit der „Spalter" in der Rede Chruschtschows u. a.: „Doch die albanischen Sektierer und Spalter schlagen uns vor, uns in den Beziehungen zu Jugoslawien gerade an diese Wolfsmoral zu halten. Sie sind buchstäblich bereit, die jugoslawischen Kommunisten wegen ihrer Fehler zu zerfleischen, obwohl sie selbst heute in weit stärkerem Maße vom Marxismus-Leninismus abweichen als diejenigen, die sie beschuldigen. . . . Die albanischen Führer haben mit dem Marxismus-Leninismus gebrochen; sie versinken immer mehr im Moor des linksradikalen Opportunismus, des Spaltertums, und des Sektierertums."

Wenn auch Chruschtschow an keiner Stelle seiner Rede die KP-Chinas in diesem Zusammenhang erwähnte, so galten seine Vorwürfe der Spaltung höchstwahrscheinlich auch der Hauptstütze der albanischen KP-Führer. In einem ähnlichen indirekten Verfahren antwortete darauf Peking (15. Dezember 1962): „Auf dem Kongreß der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei überhäuften wieder einmal einige Leute die Arbeiterpartei Albaniens mit Beschimpfungen, indem sie behaupteten, ihre Führer seien . antisowjetisch", seien im Begriff, die Einheit zu untergraben, seien Spalter und Sektierer. Sie verurteilten auch die chinesische Kommunistische Partei für ihre korrekte Haltung, dem Angriff gegen die Albanische Arbeiterpartei entgegenzutreten und die Prinzipien hochzuhalten, die für die Beziehungen unter brüderlichen Parteien maßgebend sind, und belasteten sie in gleicher Weise mit den Verbrechen der Spaltung, des Sektierertums und Nationalismus. Aber diese Verleumdungen und Angriffe, die aus schwarz weiß machen, werden nutzlos sein.

Für das Urteil, wer die Einheit aufrechterhält und wer die Spalter und Sektierer sind, sind die Kriterien jene die gegenseitigen Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien und brüderlichen Ländern bestimmenden Prinzipien, so wie sie niedergelegt sind in dem Moskauer Manifest und der Moskauer Erklärung, die einstimmig auf den Versammlungen der Vertreter der kommunistischen-und Arbeiterparteien angenommen wurden. Sie bestehen im Prinzip der vollen Gleichheit, dem Prinzip, das jeden an den anderen bindet, aber die Unabhängigkeit und Souveränität bewahrt, und dem Prinzip, gemeinsame Ansichten durch kameradschaftliche Beratungen auf der Grundlage der Gleichheit für alle zu erzielen. Die Erfahrung hat bewiesen, daß, so lange diese richtigen Prinzipien in der Praxis angewandt werden, man die Einheit unter den brüderlichen Parteien und brüderlichen Ländern festigen kann; selbst wenn die eine oder andere Art von Meinungsverschiedenheit vorkommt, kann eine Einigung erreicht werden. Umgekehrt: wenn diese Prinzipien verletzt werden und in den Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien und zwischen brüderlichen Ländern Druck ausgeübt wird, um die eigenen Ansichten des einen dem anderen aufzuerlegen oder die Methode der Verleumdung und des Angriffes die Methode des Suchens nach gemeinsamen Ansichten durch Konsultation ersetzt, wird die Einheit unvermeidlich verletzt und daraus werden sich Irrtümer des Spaltens und des Sektierertums ergeben."

Auch hier zog es Peking vor, seinen konkreten Absichten zunächst eine allgemeine Betrachtung vorauszuschicken, die grundsätzlich bei jedem Kommunisten Zustimmung finden kann. Es kommt nur darauf an, wer gegen die oben erwähnten Prinzipien verstoßen hat. Nach Pekings Ansicht: Chruschtschow und die kommunistischen Führer einiger europäischer Parteien, was im Anschluß an den oben zitierten Text wie folgt formuliert wird: „Bereits auf dem 22. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vor einem Jahr erklärte die Delegation der Chinesischen Kommunistischen Partei: „Wir meinen, wenn eine Streitigkeit oder eine Differenz unglücklicherweise zwischen brüderlichen Parteien oder brüderlichen Ländern entsteht, so sollte man sie geduldig im Geiste des proletarischen Internationalismus und nach den Prinzipien der Gleichheit und Einmütigkeit durch Beratungen lösen. Jeder öffentliche, einseitige Tadel gegen irgendeine brüderliche Partei hilft nicht der Einheit und hilft nicht der Lösung von Problemen. Einen Streit zwischen zwei brüderlichen Parteien oder brüderlichen Ländern vor dem Feind offen bloßzulegen, kann nicht als eine ernsthafte marxistischleninistische Haltung angesehen werden."

Aus genau demselben Grund, die Prinzipien, die die Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien, zwischen brüderlichen Ländern bestimmen, zu schützen, widersetzte sich die chinesische Kommunistische Partei folgerichtig den Angriffen, die auf dem Kongreß einer Partei gegen eine andere brüderliche Partei gerichtet wurden. Was ist falsch daran, daß wir einen solchen Standpunkt einnehmen? Bedeutet dies, daß wir, die alles in unserer Macht Stehende getan haben, die Einheit zu schützen und den die Einheit schädigenden Handlungen entgegenzutreten, . Spalter'und . Sektierer'geworden sind, während jene, die zuerst den Angriff begonnen haben und die Einheit untergraben, keine Spalter und Sektirer sind? Auf dem Kongreß der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei wurde die Delegation der Koreanischen Arbeiterpartei dafür getadelt, daß sie mit dem Angriff einiger Leute auf die chinesische Kommunisti-sehe Partei nicht einverstanden war. Heißt das, daß der Standpunkt der Koreanischen Arbeiterpartei, die Einheit zu schützen, ein Verbrechen ist?"

Mit dieser Argumentation will Peking den Eindruck erwecken, als wären die Spannungen zwischen Moskau einerseits und Peking und Tirana andererseits nichts anderes als die Folge der sowjetischen Ungeduld, in Beratungen mit anderen kommunistischen Parteien zu einer Übereinstimmung zu kommen. Danach hätte die sowjetische Überheblichkeit zur Methode der öffentlichen Kritik gegriffen, um ausgerechnet die treuesten Anhänger der kommunistischen Einheit als Spalter und Sektierer zu diskreditieren. Diese Argumentation Pekings dürfte auf einen Teil der Kommunisten, soweit sie die angeführte Antwort Pekiegs zu lesen bekommen, ihren Eindruck nicht verfehlen. Diejenigen Kommunisten, die über die tatsächlichen Hintergründe der Spannungen zwischen den drei kommunistischen Parteien leidlich unterrichtet sind, dürften in der obigen Argumentation Pekings einen Versuch sehen, die tatsächlichen Gründe für die Spannungen außerordentlich zu verharmlosen. Die sowjetische Antwort in der „Prawda" vom 7. Januar 1963 trat den chinesischen Beschuldigungen scharf entgegen: „Von der Tribüne des XXII. Parteitages der KPdSU und dann auch der Parteitage der kommunistischen-und Arbeiterparteien Bulgariens, Ungarns, Italiens und der Tschechoslowakei herab behaupteten die Delegationen der kommunistischen Partei Chinas, daß es falsch sei, die Linie der albanischen Führer offen zu kritisieren, und versuchten, die Verantwortung für die entstandenen Meinungsverschiedenheiten den Bruderparteien aufzuerlegen. Aber derartiges zu behaupten heißt, gegen unwiderlegbare Tatsachen anzugehen, und von jenen die Verantwortung zu nehmen, die in Wirklichkeit den Kampf gegen die einheitliche Linie der marxitisch-leninistischen Parteien führen . . .

In fester Einhaltung des Prinzips, das die Lösung strittiger Fragen in der internationalen kommunistischen Bewegung durch Meinungsaustausch und gegenseitige Konsultationen zwischen den Parteien fordert, wandte sich das ZK der KPdSU bereits im August 1960 zweimal an das ZK der Partei der Arbeit Albaniens mit dem Vorschlag, eine Zusammenkunft von Vertretern der beiden Parteien zu organisieren. In dem Brief des ZK der KPdSU an das ZK der Partei der Arbeit Albaniens vom 13. August 1960 wurde gesagt: , Es wäre richtig, den Funken des entstandenen Mißverständnisses rechtzeitig zu löschen, damit er nicht entflammt . . . Wenn das ZK der Partei der Arbeit Albaniens unsere Ansicht teilt und gegen einen Meinungsaustausch nichts einzuwenden hat, sind wir bereit, mit einer Delegation Eurer Partei auf jeder Ebene und zu jeder Euch gelegenen Zeit zusammenzukommen.'Die albanischen Führer lehnten diese Vorschläge ab. Sie wiesen alle Versuche des ZK der KPdSU zurück, die Beziehungen zu normalisieren. Es ist erlaubt zu fragen: Wer verletzte nun das Prinzip der Konsultationen? Wer begann die Angriffe auf die kommunistische Bewegung, auf die von ihr kollektiv ausgearbeiteten programmatischen Dokumente, und wer setzt diese bereits mehrere Jahre fort? Wie soll man die Behauptungen jener nennen, die die Wahrheit mit der Unwahrheit vertauschen und — den Willen der internationalen kommunistischen Bewegung ignorierend — offen die Spalter begünstigen, indem sie ihre Ansichten verbreiten und sie vor der gerechten Kritik schützen?"

Mit der Erschöpfung aller Möglichkeiten der Beratung mit den albanischen KP-Führern verblieb in sowjetischer Sicht kein anderer Weg, als die Kommunisten der Welt öffentlich von dem oppositionellen Verhalten der Albaner zu unterrichten. Die sowjetische Antwort legte Wert auf den Hinweis, daß der Konflikt zwischen der sowjetischen und albanischen KP der Weltöffentlichkeit schon lange vor dem XXII. Parteikongreß der KPdSU (Oktober 1961) bekannt war. 3) Wer macht sich des Dogmatismus schuldig? „Dogmatismus", ein häufig gebrauchter Vorwurf von Kommunisten gegen Kommunisten, ist in seinem konkreten Inhalt offenbar schwer faßbar. Auch jeder des Dogmatismus beschuldigte Kommunist lehnt es ab, als Dogmatiker zu gelten. Nur eine Zwangslage (erzwungenes Reuebekenntnis, Auftreten in einem Schauprozeß) könnte ihn dazu bringen, sein Verhalten als Dogmatismus zu bezeichnen. Chruschtschow, der seit dem XX. Parteikongreß (Februar 1956) Stalin Dogmatismus vorwirft, traf damit einen Mann, der zu seiner Lebenszeit sich oft gegen den Dogmatismus ausgesprochen hatte. Chruschtschow seinerseits sah sich nach 1956 dem verhüllten jugoslawischen Vorwurf des Dogmatismus ausgestzt. Auch die KP-Führer Chinas und Albaniens bekämpfen den Dogmatismus. Eine offenbar beliebig verwendbare Formel zur Diskreditierung von Kommunisten durch Kommunisten. Die „Dogmatiker" haben sich nach Chruschtschow während der Kuba-Krise eines besonderen schweren Verbrechens schuldig gemacht: „So ergibt sich, daß einerseits die aggressiven abenteuerlichen Kräfte des Imperialismus, die sogenannten Rasenden, die die Hoffnung darauf verloren haben, daß der Kapitalismus im friedlichen Wettbewerb mit dem Sozialismus standhalten wird, auf jede Weise nach der Entfesselung eines Krieges trachten, andererseits aber Leute, die sich Marxisten-Leninisten nennen, in Wirklichkeit aber Dogmatiker sind, die nicht an die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus und des Kommunismus unter den Bedingungen der friedlichen Koexistenz mit dem Kapitalismus glauben, die Ereignisse in diese Richtung zu stoßen suchen. Sowohl die einen als auch die anderen wollen die Geschichte auf die Entfesselung eines Krieges hinstoßen, die Frage des Sieges des Kommunismus oder des Kapitalismus durch Krieg, durch Vernichtung von Millionen und aber Millionen Menschen entscheiden . . .

Gewisse Leute, die die richtigen Thesen der Erklärung der Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien wiederholen, setzen den Akzent einseitig nur auf die Gefahr des Revisionismus und nennen bei passender und unpassender Gelegenheit den jugoslawischen Revisionismus. Man muß die Dinge jedoch konkret betrachten. In der Krise, die wir um Kuba durchlebt haben, nahmen die jugoslawischen Kommunisten den richtigen Standpunkt ein. Die Dogmatiker hingegen, die sich als wahre Marxisten-Leninisten bezeichnen, nahmen eine provokatorische Haltung ein. Deshalb kann man nicht ohne eine marxistische Analyse eine einmal niedergelegte These wiederholen und sie einseitig verstehen. Die Krise, die wir um Kuba durchlebt haben, hat gerade auch gezeigt, daß diejenigen die Haupt-gefahr darstellen, die auf den Positionen des Dogmatismus standen und stehen."

Gegen diesen Vorwurf Chruschtschows (12. Dezember 1962) erhob Peking (15. Dezember 1962) den Vorwurf gegen jene, die schnell dabei seien, den wahren, aber ihnen lästigen Marxisten-Leninisten das Etikett „Dogmatismus" anzukleben und dann unter dem Schein der schöpferischen Anwendung der Lehre Lenins diese Lehre in Wirklichkeit zu revidieren und zu verfälschen: „Alle Tatsachen zeigen, daß die chinesischen Kommunisten, wie alle wahren Kommunisten überall in der Welt, folgerichtig beim Marxismus-Leninismus und den revolutionären Prinzipien des Moskauer Manifestes und der Moskauer Erklärung bleiben. Jene, die die chinesische Kommunistische Partei angegriffen haben, versuchten stur uns als . Dogmatiker'zu etikettieren. Das kann nur beweisen, daß der . Dogmatismus', gegen den sie sich wenden, nichts anderes ist als die Bastion der marxistisch-leninistischen Theorie und die revolutionären Prinzipien des Moskauer Manifestes und der Moskauer Erklärung, die die chinesischen Kommunisten und alle anderen wahren Kommunisten hochhalten. Diese Leute denken, daß wenn sie gerade das Aushängeschild des . Antidogmatismus'heraushängen und das so-genannte . Schöpfertum'laut ausrufen, sie den Marxismus-Leninismus verfälschen und ihn beliebig zusammen mit dem Moskauer Manifest und der Moskauer Erklärung verfälschen können. Das ist absolut unstatthaft. Wir wollen diese Leute herausfordern: Sind diese beiden historischen Dokumente der internationalen kommunistischen Bewegung, die einstimmig angenommen und von allen kommunistischen und Arbeiterparteien unterzeichnet worden sind, noch gültig? Sind sie noch zu beachten?"

Diesem chinesischen Angriff vom 15. Dezember 1962 folgte ein noch verschärfter Angriff in Nr. 1 der Pekinger „Roten Fahne" (5. Januar 1963). Unter Berufung auf ein Wort Lenins von 1902 gegen die Revisionisten in der Arbeiterklasse, die gegen den „dogma-tischen" Marxismus auftraten, wurde daraus für die Gegenwart gefolgert: . Ist nicht das Bild, das Lenin vor sechzig Jahren zeichnete, unter neuen historischen Bedingungen wieder erschienen? Der einzige Unterschied besteht darin, daß die modernen Revisionisten skrupelloser in ihren Angriffen auf den Marxismus-Leninismus sind, da einige Personen, die sich der reinen Fälschung hingeben, zum Beispiel sagen, daß die . Dogmatiker'es wünschen, die Überlegenheit des Sozialismus und Kommunismus über den Kapitalismus durch den Krieg zu demonstrieren. ’ Was ist das anderes als eine äußerst absurde Verleumdung, gezielt auf Marxisten-Leninisten, und ein verächtlicher Versuch, sich beim Imperialismus und den Reaktionären der revolutionären Länder einzuschmeicheln?"

Wenn man sich den Haß der Kommunisten gegen den um 1900 einflußreichsten Revisionisten Eduard Bernstein vorstellt, dann kann man den Sinn der chinesischen Behauptung gegen die „modernen Revisionisten* (u. a. Chruschtschow) klarer ermessen, sie seien im Unterschied zu den alten Revisionisten nur noch skrupelloser.

Um zukünftigen sowjetischen Vorwürfen gegen „dogmatische" und andere Abweichungen der KP Chinas entgegenzutreten, zählte in demselben Artikel die Pekinger „Rote Fahne" katalogartig die vielen Abweichungen auf, die die KP Chinas schon immer bekämpft hätte: „Die modernen Revisionisten haben viele Beschuldigungen gegen die chinesische Kommunistische Partei gerichtet. Warum? Ist es nicht, weil wir entschlossen die Reinheit des Marxismus-Leninismus verteidigen? Ist es nicht, weil wir es kategorisch ablehnen, mit Prinzipien zu handeln, und es kategorisch ablehnen, Zugeständnisse bezüglich der Theorie zu machen? Ist es nicht, weil wir fest stehen sowohl gegen den modernen Revisionismus als auch den Dogmatismus, sowohl gegen den rechten als auch den . linken-Opportunismus, sowohl gegen den Kapitulationismus als auch das Abenteurertum, sowohl gegen die prinzipienlose Anpassung als auch das Sektierertum, die einem die Massen entfremden, und sowohl gegen den großnationalen Chauvinismus als auch die verschiedenen Arten von reaktionärem Nationalismus?"

Ausgestattet mit diesem Panzer gegen alle möglichen Vorwürfe Moskaus wegen Abweichungen vom Leninismus, dürfte die KP Chinas verhüllt der Politik Chruschtschows solche Abweichungen vorwerfen.

Sieht man von dem taktischen Zweck der Kommunisten ab, gegen andere Kommunisten den Vorwurf des Dogmatismus zu erheben, so bleibt auch bei gegenseitigem Wohlwollen von Kommunisten die Frage offen, in welchen Teilen die Lehre Lenins bei der Analyse einer Lage veraltet ist. Schon die Klärung dieser Frage setzt voraus, daß die tatsächliche Lage z. B. in einem Land etwa von Peking und Moskau gleich gesehen wird. Wenn aber die KP-Führung eines Landes die Lage in dem bestimmten Land anders sieht als die KP-Führung eines anderen Landes, dann kann die eine zu dem Ergebnis der vollen Anwendbarkeit der Lehre Lenins gelangen, während die andere in diesem Falle die Lehre für revisionsbedürftig hält. Dann wird die letztere die Lehre Lenins revidieren. Da aber die Kommunisten den Vorgang des Revidierens nicht als Revision anerkennen wollen, gebrauchen sie für denselben Vorgang den Ausdruck „schöpferische Anwendung" der Lehre Lenins. Zerstreiten sich die beiden oben erwähnten Parteien, dann wählen sie für ihre verschiedene Beurteilung der Lage polemische Ausdrücke. Diejenige, die vorher nur sachlich meinte, die Lehre Lenins sei für den zu untersuchenden Fall nicht passend und verlange daher eine „schöpferische Anwendung" des Leninismus, sieht sich nunmehr von der anderen Partei als revisionistisch angegriffen, während sie ihrerseits die echte Überzeugung der anderen Partei über die volle Anwendbarkeit der Lehre Lenins für den zu untersuchenden Fall als „dogmatisch" kritisiert. Wer die Geschichte der öffentlichen Auseinandersetzungen von Kommunisten seit 1918 überblickt, dürfte selten den Vorwurf des Dogmatismus von Kommunisten gegen Kommunisten in sachlichen Differenzen begründet sehen. 4. Die gegenseitigen Beschuldigungen, nationalistisch zu handeln Nicht nur Lenin, sondern auch Stalin und Chruschtschow waren bzw. sind Gegner des Nationalismus innerhalb eines von Kommunisten beherrschten Territoriums. Die von allen drei angestrebte Vereinigung und Verschmelzung von Völkern zu einem einheitlichen Ganzen unter kommunistischer Führung sieht in dem aus vielen Quellen gespeisten nationalen Selbstbewußtsein einzelner Völker ein schweres Hindernis. Diesen „bürgerlichen Nationalismus" gilt es in der Sicht Lenins, Stalins und Chruschtschows zu fördern, soweit er sich in den kolonialen und halbkolonialen Gebieten gegen die westlichen Industriestaaten wendet. Sobald aber der eine oder andere Teil dieser Gebiete unter kommunistische Herrschaft gelangt ist, erschwert dieser Nationalismus die angestrebte Gleichschaltung insbesondere auf kulturellem Gebiet. Bereits Lenin mußte die Erfahrung machen, daß sogar Kommunisten Tendenzen zur nationalen Selbständigkeit zeigen und damit praktisch der Absicht der sowjetischen KP-Führung, mit wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Maßnahmen die nationalen Besonderheiten auszurotten, Widerstand leisten. Soweit sich solche Tendenzen bei nichtrussischen Kommunisten in der Sowjetunion zeigten, wurden sie als „nationalistische Abweichung" getadelt. Gegen die kommunistischen Befürworter solcher Tendenzen wurde mit Strafen vorgegangen, die von der Amtsenthebung bis zur physischen Vernichtung der Betroffenen sich erstreckten.

Seit der Errichtung des „sozialistischenLagers" versuchte die Sowjetunion, „nationalistische Abweichungen“ auch in den Volksdemokratien zu bekämpfen. In der KP Jugoslawiens regte sich 1948 der erfolgreiche erste Widerstand gegen Stalins Versuche, das nationale Selbstbewußtsein von Kommunisten zugunsten einer bedingungslosen Ergebenheit gegenüber einer russisch bestimmten Sowjetunion auszurotten. Als Folge davon sahen sich Tito und seine Anhänger zahlreichen schweren Vorwürfen einer nichtleninistischen Haltung ausgesetzt, darunter auch dem Vorwurf des Nationalismus.

Dieser Vorwurf, auch von Chruschtschow jahrelang gegen Tito erhoben, trifft nun auch China. Während in der sowjetischen Polemik gegen die KP Jugoslawiens die „Rechtsopportunisten" (die angeblichen Versöhnler gegenüber dem Kapitalismus) mit dem Vorwurf des Nationalismus belastet wurden, warf die Sowjetunion nunmehr den „Linksopportunisten" (angeblich nur Radikalisten im Gebrauch von Worten) Chinas und Albaniens Nationalismus vor. In der Rede Chruschtschows vom 12. Dezember 1962 heißt es darüber: „Die linkssektiererische Krankheit wird vom Nationalismus genährt und nährt ihrerseits den Nationalismus. Sie wird unerträglich, wenn sie sich in der Tätigkeit einer an der Macht befindlichen Partei äußert, von deren Politik in vielem das Schicksal des Volkes abhängt. Sie wird gefährlich, soweit sie in so lebenswichtigen Fragen wie den Fragen von Krieg und Frieden, die das Schicksal der ganzen Menschheit berühren, gegen die Linie der kommunistischen Bewegung gerichtet ist.

Man kann unmöglich bestreiten, daß infolge aller dieser Ursachen der linke Opportunismus, der Dogmatismus und das Sektierertum immer mehr als eine ernste Gefahr in der kommunistischen Weltbewegung hervortreten. Dies nicht sehen, heißt, sich fürchten, den Tatsachen ins Auge zu sehen, sich von der realen Wirklichkeit abwenden, nicht die ganze Verantwortung verstehen, die in unserer Zeit auf den Marxisten-Leninisten ruht.

Die sowjetischen Kommunisten, für die die Einheit der Reihen der kommunistischen Welt-bewegung am höchsten steht, werden einen entschiedenen Kampf führen sowohl gegen den rechten als auch gegen den linken Opportunismus, der heute nicht weniger gefährlich ist als der Revisionismus."

Das oppositionelle Verhalten der „Dogmatisten" in Peking und Tirana wird von Chruschtschow u. a. mit dem Nationalismus als Quelle solchen Verhaltens erklärt. Ohne es ausdrücklich zu erwähnen, gibt es nach ihm bei Kommunisten außer dem alten Fehler des Nationalismus von „rechts" (die gegenwärtig von Moskau geschonte Abweichung Titos und seiner Anhänger) den neuen Fehler des Nationalismus von „links", verkörpert in China und Albanien. Damit will Chruschtschow vor den Kommunisten der Welt Zweifel an dem „proletarischen Internationalismus" der KP Chinas und Albaniens erwecken, d. h. an ihrer Aufgabe nationaler Interessen zugunsten der einheitlichen Außenpolitik aller kommunistischer Staaten. Von Chruschtschow unausgesprochen, kann aber nach der Lage der Dinge nur die Sowjetunion diese Außenpolitik bestimmen. Andererseits ist die Klage Chruschtschows über Zeichen des Nationalismus in China nicht unbegründet. So leistete China seit Jahren gegen eine wirtschaftliche Integration im „sozialistischen Lager" erheblich größeren Widerstand als die kleinen osteuropäischen Staaten. Die offizielle chinesische Behauptung vom August 1960, Chinas Industrie „aus eigener Kraft" zu entwickeln, stand im Gegensatz zu der sowjetischen These über die Unmöglichkeit des „Aufbaus des Sozialismus" aus eigener Kraft für jedes kommunistisch geführte Land außerhalb der Sowjetunion.

Es lag nahe, daß die KP Chinas die sowjetische Kritik mit der Behauptung beantwortete, daß die Sowjetunion sich in ihrem Umgang mit den anderen kommunistischen Parteien bzw. Staaten von eigenen nationalen Interessen leiten läßt und ihre Vormachtstellung gegenüber den anderen in diesem Sinne ausnutzt (Antwort vom 15. Dezember 1962): „Die die Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien und brüderlichen Ländern bestimmenden Prinzipien, so wie sie im Moskauer Manifest und der Moskauer Erklärung niedergelegt sind, verkörpern gerade die Prinzipien des proletarischen Internationalismus in den Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien, zwischen brüderlichen Ländern. Jene, die diese leitenden Prinzipien verletzen, werden unvermeidlich in den Sumpf des großnationalen Chauvinismus oder anderer Formen des bürgerlichen Nationalismus fallen. Aber jene, die die chinesische Kommunistische Partei anklagten, den Fehler des sogenannten, Nationalismus" begangen zu haben, machen sich offenbar niemals die Mühe, sich selbst bei ihren Beziehungen zu brüderlichen Parteien und brüderlichen Ländern zu fragen, was für ein Status den brüderlichen Parteien und brüderlichen Ländern eingeräumt ist. Obgleich es klar ist, daß sie selber die Prinzipien verletzt haben, die die Beziehungen zwischen brüderlichen Parteien und zwischen brüderlichen Ländern bestimmen, richteten sie Angriffe auf eine andere brüderliche Partei und ein anderes brüderliches Land und folgten der falschen Praxis des Nationalismus und des großnationalen Chauvinismus. Doch sie bestanden und bestehen darauf, daß jeder andere ihrem Beispiel folgt, und klagten und klagen jeden des . Nationalismus'an, der sich weigerte, ihren Anordnungen zu gehorchen. Paßt das zu den Prinzipien des proletarischen Imperialismus? Ist das nicht eine fehlerhafte Praxis, nicht die schlimmste Bekundung des Spaltens, des Sektierertums, des Nationalismus, des großnationalen Chauvinismus?"

Wie sehr bemüht sich doch die sowjetische Propaganda seit 1917 das Verhalten der kommunistischen Zentrale in Moskau zu den in der Sowjetunion lebenden nichtrussischen Völkern, zu den anderen Staaten und Parteien des „sozialistischen Lagers" als brüderlich, als fest verankert im Prinzip der Gleichberechtigung zu schildern und es dem angeblich nur auf innerer Ausbeutung und Imperialismus beruhenden Verhalten der kapitalistischen Staaten zu Völkern gegenüberzustellen. Auf diesem Hintergrund erst kann man die Schwere des chinesischen Vorwurfes gegen die UdSSR annähernd ermessen. Damit versucht die KP-Führung Chinas nicht nur das von der Sowjetunion gern gezeichnete Bild eines uneigennützigen Partners gegenüber allen Völkern in der Welt und insbesondere gegenüber den nichtkommunistischen Entwicklungsländern zu diskreditieren. Auch die kommunistischen Parteien und die kommunistisch geführten Länder werden verhüllt aufgefordert, sich eine Bevormundung durch die UdSSR nicht gefallen zu lassen, weil die sowjetischen Richtlinien mehr ein Ausfluß des Nationalismus als des proletarischen Internationalismus seien. Hinter den angeführten Sätzen steckt eine große Herausforderung der Sowjetunion. Sie unterscheidet sich von ähnlichen Anklagen der KP Jugoslawiens im Jahre 1950 nur durch ihren verhüllten Charakter.

Es berührt Kommunisten und antiwestliche bürgerliche „Neutralisten“ der Entwicklungsländer im allgemeinen wenig, wenn sie von Vertretern westlicher Industriestaaten z. B. auf das egoistische Verhalten der UdSSR gegenüber anderen Staaten des „sozialistischen Lagers“ aufmerksam gemacht werden. Eine andere Sache ist es, ein ebensolches Urteil nunmehr vom antiwestlichen, kommunistischen China zu hören. 5. Der Anspruch Moskaus und Pekings auf den Besitz der „W a h r h e i t"

Anhänger Lenins vertreten in Auseinandersetzungen mit Gegnern den Standpunkt, daß sie allein die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte eines Landes, sogar der ganzen Welt richtig beurteilen. Nach ihrer Meinung liegt die Entwicklung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur ihnen klar vor Augen. Ihre Sicht der Erscheinungen auf dieser Welt wird von ihnen mit der Wahrheit gleichgesetzt. Auch Chruschtschow hat mehrfach seine Auffassungen als Folge davon dargestellt, daß die Kommunisten eben im Besitz der Wahrheit seien. Dabei ging es um die Verfechtung seiner Ansichten gegenüber Vertretern von nichtkommunistischen Staaten bzw. Organisationen.

Auch Mao erhebt seit langem den Anspruch, im Kampf gegen nichtkommunistische Ansichten die Wahrheit zu besitzen. Neu jedoch ist der nunmehr kaum verhüllte Anspruch Maos, auch gegenüber der sowjetischen Parteiführung und den von ihr abhängigen kommunistischen Parteien anderer Staaten allein die Wahrheit zu besitzen. In der chinesischen Antwort (15. Dezember 1962) auf die Angriffe Chruschtschows (12. Dezember 1962) wird indirekt eine Streitfrage während der Konferenz der kommunistischen Parteiführer in Moskau (November 1960) berührt. Dort hatten die sowjetischen Vertreter vorgeschlagen, verbindliche Resolutionen für alle Parteien nach dem Mehrheitsprinzip zu fassen, als ihre Versuche, einstimmige Billigungen von Resolutionen zu erreichen, gescheitert waren. Sie waren sich wohl bewußt, die Mehrheit der Vertreter anderer kommunistischer Parteien hinter sich zu haben. So befürworteten sie verbindliche Resolutionen auf Grund von Mehrheitsbeschlüssen — entgegen ihrem sonstigen Verhalten z. B. in den Gremien der UN. Ihre Niederlage voraussehend, lehnten die chinesischen KP-Vertreter auf der Konferenz den sowjetischen Vorschlag ab. Welche weitgehenden Folgerungen die chinesische KP-Führung daraus zog, trat in der erwähnten chinesischen Antwort zutage: „Einige Leute haben gesagt: „Wir sind die Mehrheit und ihr seid die Minderheit. Deshalb sind wir die schöpferischen Marxisten-Leninisten und ihr seid die Dogmatisten; wir haben Recht und ihr habt Unrecht*. Aber jeder mit etwas Vernunft weiß, daß solche Fragen, wie wer recht und wer unrecht hat und wer die Wahrheit auf seiner Seite hat, nicht von denen bestimmt werden kann, die im gegebenen Augenblick in der Mehrheit oder Minderheit sind. Die Wahrheit ist eine objektive Sache. Wenn man im gegebenen Augenblick in der Mehrheit ist, kann man nach alledem nicht aus der Unwahrheit die Wahrheit machen; wenn man im gegebenen Augenblick in der Minderheit ist, kann man nach alledem auch nicht aus der Wahrheit die Unwahrheit machen."

Diese Ansicht wurde mit geschichtlichen Beispielen begründet, die auf Moskau-sehr herausfordernd wirken mußten: „Die Geschichte ist reich an Beispielen, in denen in einer gewissen Periode, unter gewissen Umständen, die Wahrheit nicht bei der Mehrheit, sondern bei der Minderheit war. Zur Zeit der Zweiten Internationale der Arbeiterbewegung waren Lenin und die Bolschewisten die Minderheit in der internationalen Arbeiterbewegung; aber die Wahrheit erwies sich als auf der Seite Lenins und der Bolschewisten. Im Dezember 1914, nach dem Beginn des ersten Weltkrieges, als eine Abstimmung über den Kriegshaushalt im deutschen Reichstag stattfand, stimmte die Mehrheit der Abgeordneten der deutschen Sozialdemokratischen Partei dafür und nur Karl Liebknecht stimmte dagegen. Aber die Wahrheit war, wie es sich erwies, auf seiner Seite. Alle jene, die die Wahrheit aufrechtzuerhalten wagen, fürchten sich niemals, für den Augenblick in der Minderheit zu sein. Andererseits alle jene, die auf Irrtümern beharren, selbst wenn sie zeitweise in der Mehrheit sind, können ihren eigenen endgültigen Ba? krott nicht vermeiden."

In diesen Beispielen verglich die KP Chinas ihr Verhalten mit dem Verhalten der von Lenin und Karl Liebknecht geführten Minderheit gegen die sich irrende sozialdemokratische Mehrheit. Was früher die sozialdemokratische Mehrheit in der internationalen Arbeiterbewegung darstellte, soll heute der von Moskau geführten Mehrheit mit revisionistischen Ansichten entsprechen. Wenn man den Haß von Leninanhängern auf die internationale Sozialdemokratie wegen ihrer zunehmend revisionistischen Einstellung seit etwa 1900, wegen ihres überwiegend positiven Verhaltens zur Landesverteidigung während des ersten Weltkrieges berücksichtigt, rückt der beleidigende Charakter der angeführten geschichtlichen Beispiele Pekings für Moskau in ein klares Licht.

Damit gibt sich Peking jedoch nicht zufrieden. Es streitet der sowjetischen KP und den mit ihr verbundenen Parteien anderer Länder nicht nur die Treue zum Marxismus-Leninismus ab. Es bestreitet auch, daß heute hinter diesen Parteien die Mehrheit der Völker steht. Was Kommunisten immer für sich zu besitzen beanspruchen — die Sympathie der Mehrheit in allen Völkern —, wird von den chinesischen Kommunisten nur in dem Sinne interpretiert, daß die Mehrheit in allen Völkern allein hinter Peking steht: „Der Marxismus-Leninismus steht auf dem Standpunkt, daß die einzige Mehrheit, die die zuverlässigste in der Welt ist, die Menschen sind, die den Lauf der Geschichte bestimmen und zu denen mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung der ganzen Welt gehörten. Obgleich jene, die gegen die grundlegenden Interessen von mehr als neunzig Prozent des Volkes verstoßen, ein Zetergeschrei erheben und lärmend prahlen an einem gewissen Platz oder in einer gewissen Versammlung, vertreten sie letztlich nicht die echte Mehrheit. Ihre . Mehrheit'ist nur eine fiktive, oberflächliche Erscheinung, dem Wesen nach sind sie genau die Minderheit, während die . Minderheit', die sie angegriffen haben, dem Wesen nach genau die Mehrheit ist."

Diese Begründung Pekings für den Alleinbesitz der „Wahrheit" stellt die schwerste Herausforderung Moskaus unter den vielen chinesischen Herausforderungen dar. Damit die sowjetische KP-Führung sich über die Aufgabe des chinesischen Widerstandes gegen Moskau im Kampf um die Führung nicht Illusionen hingibt, fügt die erwähnte chinesische Antwort den vorangehenden Ansichten noch hinzu: „Marxisten-Leninisten gehen immer über Erscheinungen hinweg, um das Problem in seinem Wesen zu betrachten. Wir unterwerfen uns nur der Wahrheit und den grundlegenden Interessen der Menschen der Welt. Wir werden uns niemals den Diktaten irgendeines antimarxistischen-leninistischen Knüttels unterwerfen. Wie auch immer die Imperialisten, die Reaktionäre und die modernen Revisionisten uns verleumden und gegen uns auftreten mögen, unser Standpunkt, den Marxismus-Leninismus und die Wahrheit aufrechtzuerhalten, ist absolut unerschütterlich."

Noch einmal einige chinesische Herausforderungen gegen Moskau, ohne dieses Zentrum des Kommunismus zu nennen. Sie bestätigen nur den Sinn der anderen vorangehenden Herausforderungen: Pekings Wunsch, die Führung der kommunistischen Weltbewegung zu entwinden. Ein im Jahre 1958 noch sehr verhüllter Wunsch tritt nunmehr wesentlich klarer hervor.

Die sowjetische Parteiführung hat das Ausmaß dieser schwersten chinesischen Herausforderung an sie begriffen. In der sowjetischen Antwort (7. Januar 1963) auf den chinesischen Standpunkt (15. Dezember 1962) wird von einem „unglaublichen Anspruch", von „maßloser Anmaßung", von „unglaublichem Hochmut" gesprochen, ohne China beim Namen zu nennen. Doch es bedarf keiner spekulativen Überlegungen, wer wohl mit der folgenden scharfen sowjetischen Kritik gemeint sein kann: „Die Kommunistische Partei der Sowjetunion wie auch die anderen marxistisch-leninistischen Parteien halten es für ihre internationale Pflicht, die Thesen der Dokumente der Moskauer Beratungen streng zu befolgen und ihre gegenseitigen Beziehungen entsprechend den darin festgelegten Prinzipien aufzubauen. Deshalb kann die in letzter Zeit losgelassene These, in der internationalen kommunistischen Bewegung gebe es eine . zeitweilige Mehrheit', die , auf ihren Fehlern beharrt', und eine . zeitweilige Minderheit’, die kühn und entschieden die Wahrheit verteidigt'nicht umhin, bei den Kommunisten ernste Besorgnisse hervorzurufen. Auf dieser These zu beharren würde im Grunde genommen bedeuten, die Sache bis zur Zersplitterung der internationalen kommunistischen Bewegung zu führen, bis zur Unter-grabung der ideologischen und der organisatorischen Prinzipien, auf denen sie beruht und auf deren Grundlage die welthistorischen Siege des Sozialismus errungen wurden. Eine solche These dient einzig dazu, eine Spaltung der kommunistischen Bewegung und den Verzicht auf die allgemeinen Positionen der marxistisch-leninistischen Parteien zu begründen.

Besonders schädlich ist diese Behauptung dadurch, daß sie mit dem unglaublichen Anspruch verbunden ist, eine Partei zur wahren Erbin Lenins, alle anderen Parteien aber zu abtrünnigen vom Marxismus-Leninismus zu erklären. Vor aller Welt zu erklären, daß heute sich in der internationlen kommunistischen Bewegung eine Situation ähnlich der herausgebildet hätte, wie sie in der Periode der II. Internationale, am Vorabend ihrer Spaltung, bestand, und ähnlich der, wie sie im Dezember 1914 in den Reihen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war, als die Führung dieser Partei auf den Positionen des Chauvinismus stand — das bedeutet dem Wesen nach, der ganzen internationalen kommunistischen Bewegung zu erklären, daß sie im Sumpf des Opportunismus, des sozialdemokratischen Revisionismus versunken ist, und sich selbst in die Rolle einer einzigen Partei zu erheben, die angeblich auf den richtigen marxistischleninistischen Positionen stehe. Wem ist das Recht gegeben, sich auf den Platz des großen Lenin zu stellen, der die Prinzipien des revolutionären Marxismus schützte und das Banner des Kampfes gegen den Opportunismus hoch erhob?

Es steht außer Zweifel, daß die kommunistischen Parteien diese maßlose Anmaßung, sich auf den Platz W. I. Lenins zu stellen, sich zum ausschließlichen Hüter der . Wahrheit'und der . Echtheit'zu erklären, ablehnen werden. Ein solcher Anspruch ist nicht nur von Grund auf falsch, sondern auch absolut unberechtigt. Wem ist nicht klar, daß der Versuch, eine Analogie mit dem Kampf Lenins gegen den Opportunismus der II. Internationale herzustellen und damit jegliche Spalterreaktionen unter den Kommunisten zu rechtfertigen, keineswegs der historischen Wirklichkeit und der wirklichen Lage in der internationalen kommunistischen Bewegung entspricht, die fest den revolutionären Leninschen Weg geht. Er zeugt auch von einem unglaublichen Hochmut und von dem völligen Fehlen jedes Gefühls der Achtung und des Wunsches, auf die einhellige Meinung und den Ruf der überwiegenden Mehrheit der Bruderparteien zu hören, die ungeheure Verdienste vor dem internationalen Proletariat und eine große revolutionäre Erfahrung haben."

Man kann sich danach schwer vorstellen, wie eine neue internationale Konferenz der kommunistischen Parteiführer die tief gehenden Gegensätze zwischen Moskau und Peking wirklich beseitigen könnte. 6) Pekings Wunsch nach einer neuen Konferenz der KP-Führer Wenn von einer Regierung oder Parteiführung die Einberufung einer internationalen Konferenz vorgeschlagen wird, kann dies in dem ehrlichen Wunsch begründet sein, Streitfragen mit der anderen Seite durch wirklich gegenseitige Zugeständnisse zu lösen. Hinter dem erwähnten Vorschlag kann sich aber auch die Absicht verbergen, die internationale Konferenz zur vollen Durchsetzung des eigenen Standpunktes gegenüber dem Hauptgegner zu benutzen. Ein Mittel, um diese Absicht zu verwirklichen, ist z. B. die Diskreditierung des Hauptgegners gegenüber den anderen Teilnehmern der Konferenz mit dem Ziel, diese anderen Teilnehmer in ihren Stellungnahmen zu dem Hauptgegner so zu beeinflussen, daß der Hauptgegner im Gefühl seiner Isolierung schließlich mehr oder weniger den Standpunkt des Initiators der internationalen Konferenz annimmt. Falls diese Absicht der Macht erkannt wird, die eine internationale Konferenz vorschlägt, tut zumindest der andere wichtigste unabhängige Teilnehmer einer solchen Konferenz gut daran, sich gegen die Einberufung einer internationalen Konferenz auszusprechen. Diese allgemeine Betrachtung ist nicht unnütz bei der Beurteilung von Pekings Vorschlag einer neuen internationalen Konferenz der kommunistischen Parteiführer. Anläßlich der Kongresse der kommunistischen Parteien der Tschechoslowakei und Italiens Anfang Dezember 1962 verbanden die anwesenden Delegationen der KP Chinas ihre Proteste gegen die öffentlichen Angriffe auf die KP Albaniens mit dem Vorschlag eines neuen internationalen Treffens der KP-Führer. Auch in der chinesischen Antwort (15. Dezember 1962) auf die Angriffe Chruschtschows (12. Dezember 1962) wurde dieser Vorschlag wiederholt. Gerade in der erwähnten Antwort sind, wie dargelegt, schwere Herausforderungen Moskaus durch Peking enthalten, darunter der chinesische Alleinanspruch, die „Wahrheit" im Sinne der Lehre Lenins zu besitzen. Noch nie ist so klar Pekings Führungsanspruch in der kommunistischen Weltbewegung angemeldet worden. Trotz dieser besonderen Herausforderungen knüpfte Peking unmittelbar daran die Frage, ob es angesichts der Freude der „Imperialisten" über die kommunistische Uneinigkeit nicht dringend notwendig wäre, sich zu einigen und zu diesem Zweck eine internationale Konferenz einzuberufen.

Nicht genug damit, der chinesische Vorschlag ist auch noch zusätzlich mit Bemerkungen verbunden, die in der Sicht Moskaus kaum anders als aufreizend angesehen werden können. In der einleitenden Begründung zu dem chinesischen Vorschlag (15. Dezember 1962) heißt es u. a.: „Wir wünschen auch jene, die die chinesische Kommunistische Partei angreifen, daran zu erinnnern, daß der Imperialismus der Vereinigten Staaten jetzt einen Anti-China-Chor dirigiert. Sogar Kennedy ist von selbst dazu gelangt zu erklären, daß jetzt der Westen dem Hauptproblem gegenübersteht, wie man die Kommunisten Chinas-, eindämmt'. Zu einer Zeit wie dieser, denkt ihr nicht, daß ihr eine Trennungslinie zwischen euch und dem Imperialismus der Vereinigten Staaten und seinen Lakaien ziehen solltet?

Die falsche Praxis, Spaltungen zu schaffen, die in der internationalen kommunistischen Bewegung entstanden ist, kann nur dem Imperialismus und den Reaktionären nützen. Seht ihr nicht, daß die Imperialisten, die Reaktionäre aller Länder und die modernen Revisionisten Jugoslawiens Beifall klatschen und sich an den unglücklichen Vorgängen weiden und nach einer Spaltung in der internationalen kommunistischen Bewegung Ausschau halten? Dean Rusk erklärte kürzlich offen, , sie (die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kommunisten) sind sehr ernst und sehr weitreichend . . . Die Verwirrung, die in die kommunistischen Parteien der ganzen Welt hinein-getragen wurde . . . hat der freien Welt genützt-. Jene, die die chinesische Kommunistische Partei und andere marxistisch-leninistischen Parteien angreifen, sollten innehalten und denken: der Feind hält das für sehr nützlich für die .freie Welt-. Denkt ihr, daß das etwas ist, um stolz darauf zu sein?"

Wie ersichtlich, sind alle diese Ermahnungen zur Einigkeit von verhüllten Vorwürfen begleitet. Es ist für Moskau der indirekte chinesische Angriff sicher beleidigend, daß Peking „jene, die die chinesische Kommunistische Partei angreifen", auffordert, eine Trennungslinie zum amerikanischen Imperialismus zu ziehen, als würde das nicht von Moskau von jeher geschehen. Die rhetorische Frage Chinas, ob Kommunisten auf den Beifall des Feindes zu der kommunistischen Uneinigkeit noch stolz sein sollen, muß Moskau als völlig unangebracht ansehen. Nach diesen chinesischen Beleidigungen folgt ein vom oberflächlichem Optimismus getragener Satz über die geringen Schwierigkeiten einer Einigung als Auftakt zu dem Vorschlag einer internationalen Konferenz: „So lange wie der Wunsch unter uns allen besteht, die Probleme zu lösen, ist es nicht schwierig, dafür den richtigen Weg. zu finden. Die Erklärung der Delegation der chinesischen Kommunistischen Partei vor dem Kongreß der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei sagte hierzu: „Mit dem Ziel, die Differenzen in der internationalen kommunistischen Bewegung über gewisse wichtige Fragen grundsätzlicher Natur zu bereinigen, haben die Kommunistische Partei Chinas und eine Anzahl anderer brüderlicher Parteien die Einberufung einer Versammlung der Vertreter der kommunistischen und Arbeiterparteien aller Länder der Welt vorgeschlagen, um zu klären, was richtig ist gegenüber dem, was falsch ist, um die Einheit zu stärken und gegen den Feind zusammenzustehen. Wir meinen, daß dies die einzige richtige Methode ist, Fragen zu lösen.'

Die chinesische Kommunistische Partei will, zusammen mit den anderen brüderlichen Parteien, ihr Äußerstes tun, um die Einheit auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus und des proletarischen Internationalismus zu stärken, einer Spaltung entgegenzutreten und nach neuen Siegen in der Sache des Welt-friedens, der nationalen Befreiung, der Demokratie und des Sozialismus zu streben. Laßt uns vereinigen und keine Kräfte schonen im unablässigen Kampf für die Verteidigung der großen Einheit der internationalen kommunistischen Bewegung, für die große Einheit des sozialistischen Lagers und die große Einheit der revolutionären Völker der Welt und aller friedliebenden Völker. Laßt uns wieder einmal den großen Schlachtruf von Marx und Engels erheben: Arbeiter aller Länder vereinigt euch!"

In dieser Form, die die seit Jahrzehnten unzählig oft gebrauchten Aussprüche kommunistischer Einigkeit und Entschlossenheit enthielt, wurde der chinesische Vorschlag einer internationalen Konferenz abgeschlossen, während die Einleitung zu diesem Vorschlag, zahlreichen schweren Herausforderungen an Moskau folgend, noch einige Herausforderungen geringerer Art an Moskau enthielt.

Es war vorauszusehen, daß Moskau den so „eingerahmten" Vorschlag Pekings, eine internationale Konferenz der kommunistischen Parteiführer einzuberufen, nicht annahm. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen, die das chinesische Dokument vom 15. Dezember 1962 mit dem erwähnten Vorschlag verband, dürfte es Moskau nicht schwer gefallen sein, das eigentliche Motiv Pekings für seinen Wunsch nach einer internationalen Konferenz zu erkennen. Pekings Absicht auf einer solchen Konferenz kann kaum zweifelhaft sein: das Ansehen der sowjetischen Parteiführung vor den anderen Parteiführungen weiter zu zerstören in der Hoffnung, Moskau dadurch zur Annahme der chinesischen Interpretation der Lehre Lenins und damit zur chinesischen Beurteilung der Weltlage zu zwingen. Es versteht sich, daß Peking daraus Folgerungen auch für die Außenpolitik der kommunistischen Parteien nach chinesischem Wunsch erwartet.

Moskau seinerseits hat kein Interesse daran, den chinesischen Kommunisten für ihre Absichten ein solches Forum zu bieten, auch wenn es überzeugt sein sollte, aus einem solchen Treffen nicht als Besiegter hervorzugehen. Wozu aber eine Konferenz, bei der der andere wichtige Partner von vornherein nicht die Absicht hat, seine Ansichten zu revidieren?! Um die Minderheit der kommunistischen Parteien, die Pekings Vorschlag unterstützten, zu beruhigen und doch die von Peking gewünschte Konferenz nicht stattfinden zu lassen, fand Chruschtschow in seiner Rede am 16. Januar 1963 vor dem Parteitag der SED folgenden Ausweg: „Das Zentralkomitee unserer Partei würde es für zweckmäßig halten, jetzt die Polemik zwischen den kommunistischen Parteien, die Kritik an anderen Parteien innerhalb der eigenen Partei einzustellen und eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen, damit sich, wie man so sagt, die Gemüter beruhigen.

Manche Genossen stellen die Frage, ob es nicht notwendig ist, eine Beratung aller Bruderparteien einzuberufen, um auf ihr die spruchreifen Fragen zu erörtern. Unsere Partei trat stets für die Durchführung solcher Beratungen ein. Zugleich sind wir der Ansicht, das offenbar wenig Hoffnung auf eine erfolgreiche Beseitigung der bestehenden Meinungsverschiedenheiten vorhanden ist, wenn man eine solche Beratung unverzüglich einberuft. Eine solche Beratung würde jetzt nicht zu einer ruhigen und vernünftigen Überwindung der Meinungsverschiedenheiten führen, sondern zu ihrer Verschärfung und zur Gefahr einer Spaltung. Man darf nicht vergessen, daß eine Logik des Kampfes besteht, daß es eine Glut der politischen Leidenschaften gibt."

Wohl zum erstenmal sieht sich der sowjetische Regierungschef Chruschtschow selber einer Lage gegenüber, in der er eine internationale Konferenz wegen der Gefahr der Diskreditierung der sowjetischen Parteifüh-ung durch einen anderen wichtigen Teilnehmer nicht wünscht. Wie anders ist sein Standpunkt zu internationalen Konferenzen mit Vertretern der von ihm als imperialistisch bezeichneten Westmächte! Diese Konferenzen befürwortete er stets, weil sie ihm ein internationales Forum für die Diskreditierung der Westmächte vor der Öffentlichkeit der Welt boten. Er möchte aber nicht selber das Objekt der Diskreditierung vor den Kommunisten der Welt durch China werden. An sowjetischen Vorschlägen zu internationalen Konferenzen mit dem „Westen", die vor allen auf eine sowjetische Diskreditierung des „Westens" abzielen, kann der „Westen" ebensowenig interessiert sein wie Chruschtschow aus dem umgekehrten Grunde an einer internationalen Konferenz unter Teilnahme der ihn voraussichtlich diskreditierenden Chinesen.

Wie dargelegt, geht es Chruschtschow gegenwärtig nur darum, eine Einstellung der Polemik zwischen den kommunistischen Parteien zu erreichen. Nach dieser nicht näher bestimmten Phase würden sich Chruschtschow zufolge bessere Aussichten für eine erfolgreiche internationale Konferenz der kommunistischen Parteiführer eröffnen. Daß die KP-Führung Chinas daraufhin auf ihre Angriffe gegen Chruschtschow und die ihn unterstützenden Parteien verzichten würde, war aus folgenden Gründen nicht zu erwarten: 1. Dem Vorschlag Chruschtschows zum vorläufigen Verzicht auf die Polemik von Kommunisten untereinander gingen in derselben Rede Chruschtschows (16. Januar 1963) zahlreiche indirekte Angriffe gegen die chinesischen Kommunisten voraus. Noch einmal Angriffe gegen Peking zu richten und danach eine Ruhepause in den gegenseitigen Angriffen vorzuschlagen, gefährdete von vornherein die Aussicht für einen schnellen Erfolg Chruschtschows. 2. Die feindliche Behandlung der chinesischen Delegation auf dem Parteitag der SED übertraf alles, was aus den vorangehenden Parteitagen der kommunistischen Parteien Bulgariens, Ungarns, der Tschechoslowakei und Italiens bereits sichtbar wurde. Wie es dem Leiter der chinesischen Delegation während seiner Rede vor dem Parteikongreß der SED in Ost-Berlin erging, schilderte die Pekinger „Volkszeitung" vom 27. Januar 1963 deutlich genug: „Als im Laufe seiner Rede der Führer der Delegation der Kommunistischen Partei Chinas, der an dem Parteitag auf Einladung teilnahm, die in der Moskauer Erklärung erhobene Kritik am jugoslawischen Revisionismus zitierte und erörterte, unterbrach ihn wiederholt der Vorsitzende des Parteitages. Druch diesen Wink angetrieben, entstand ein Lärm von Brüllen, Pfeifen und Fußtrampeln in der Kongreßhalle. Es ist in der Tat seltsam und fast unglaublich, daß so etwas in der kommunistischen Bewegung vorkommt. Als der Delegierte der Kommunistischen Partei Chinas seine Rede endete, ging der Vorsitzende des Kongresses so weit, daß er gegen die Rede protestierte." Mit Recht wies das erwähnte Organ auf den „neuen Höhepunkt'hin, der in dem Zwist zwischen kommunistischen Parteien auf dem 6. Parteitag der SED erreicht wurde. Die zum Teil mit Beifall aufgenommene Rede des jugoslawischen Delegierten auf jenem Parteitag im Vergleich zu der vielfach gestörten Rede des chinesischen Delegierten empfand Peking als zusätzliche Herausforderung zu der anderen, daß eine Delegation der Partei Titos überhaupt zu einem kommunistischen Parteitag eingeladen wurde. 3. Der dritte Grund für die ungünstige Aufnahme des erwähnten Vorschlages von Chruschtschow lag in dem systematischen und erfolgreichen Bemühen der SED-Führung, pro-chinesischen Delegierten anderer eingeladener kommunistischer Parteien das Auftreten auf dem SED-Parteikongreß nicht zu erlauben. Die deutschen kommunistischen Gastgeber gebrauchten nach dem Bericht der Pekinger „Volkszeitung" (27. Januar 1963) „jede denkbare Methode, einerseits die gegen den jugoslawischen Revisionismus eingestellten Delegierten der Redegelegenheit zu berauben und andererseits den Verrätern des Marxismus-Leninismus Beifall zu spenden. Diese schimpfliche Praxis war um so ernster zu nehmen, als sie sorgfältig geplant war. Hier müssen wir in allem Ernst erklären, daß die internationale kommunistische Bewegung sich an einem kritischen Punkt befindet." Zu den von Reden ausgeschlossenen Delegationen gehörte die Delegation aus Nord-Korea. Das in Pjöngjang erscheinende Zentralorgan der nordkoreanischen Kommunisten „Rodong" vom 30. Januar 1963 beschwerte sich darüber: „Zu unserem Bedau-ern gab der Kongreß der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands unter dem einen oder anderen Vorwand unserem Delegierten nicht die Gelegenheit, eine Begrüßungsrede zu halten, während er sorgsam dem Delegierten der revisionistischen Titogruppe Jugoslawiens das Wort erteilte. So hatte unsere Parteidelegation keine Wahl, als ihre Begrüßungsrede in schriftlicher Form vorzubereiten, und selbst diese gelangte nicht vollständig an die Kongreßdelegierten und an jene der brüderlichen Parteien."

Wenn auch der angeführte zweite und dritte Grund mit dem Verhalten Chruschtschows gegen die chinesischen Kommunisten nichts unmittelbar zu tun hatte, so war doch der KP-Führung Chinas zweifellos klar, daß diese für sie demütigenden Szenen auf dem Parteitag der SED sich ohne die Billigung oder Anregung Chruschtschows nicht ereignet hätten. Daher dürften die den Vorchlag Chruschtschows begleitenden Umstände das Mißtrauen Maos gegen die Bemühungen Chruschtschows um eine schrittweise Entspannung zwischen Moskau und Peking eher gesteigert als vermindert haben. Die erwähnten Antworten aus Peking und Pjöngjang vom 27. bzw. 30. Januar 1963 unterstellen dem Vorschlag Chruschtschows, ohne Chruschtschow direkt zu nennen, eine unehrliche Absicht.

Damit erscheint der Beginn der Phase der Ruhe in der gegenseitigen kommunistischen Polemik noch ungewiß. Eine Einstellung des öffentlichen Streites würde auch nichts über den Fortgang schwerer interner Kämpfe aussagen. Davon kann auch der Beginn der internationalen Konferenz der kommunistischen Parteiführer nicht unberührt bleiben.

III. Schlußbetrachtung

Unter den kommunistischen Parteien war die jugoslawische Partei die erste, die auf den sich ankündigenden Konflikt zwischen Moskau und Peking im Jahre 1958 aufmerksam mach te. Chruschtschow reagierte auf derartige jugoslawische Darstellungen mit höhnenden Worten, wohl überzeugt, daß es sich wegen vorübergehender kleiner Meinungsverschiedenheiten nicht lohnt, einen Konflikt zwischen Peking und Moskau überhaupt zuzugeben. In seiner Rede vor dem XXI. Partei tag am 27. Januar 1959 unterstellte er den jugoslawischen Darstellungen nur niedrige Motive:

„Man kann den jugoslawischen Revisionisten sagen: Sucht nicht nach Spalten, wo es sie nicht gibt. Ihr wollt euch offenbar selbst Mut machen und das jugoslawische Volk durch Erfindungen darüber irreführen, daß es nicht nur zwischen uns und euch, sondern auch angeblich zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China Meinungsverschiedenheiten gibt. Daraus wird nichts Das bekommt ihr ebensowenig zu sehen wie eure eigenen Ohren." (vgl. „Prawda", Moskau, 28. Januar 1959)

Der auf dem Parteikongreß anwesende Führer der chinesischen KP-Delegation Tschu En-lai konnte in seiner Begrüßungsansprache vor diesem Kongreß am 28. Januar 1959 Chruschtschow das sowjetisch-chinesische Verhältnis wohl kaum wohltönender als durch die Worte darstellen:

„Die Interessen der Sowjetunion sind voll und ganz identisch mit den Interessen der gesamten Menschheit. Die Herzen des Weltproletariats und der gesamten fortschrittlichen Menschheit streben zur Sowjetunion." (vgl.

„Prawda", 29. Januar 1959)

Es ist wohl nicht notwendig, die sowjetischen und chinesischen Erklärungen in den Dokumenten vom Dezember 1962 und Januar 196. 3 noch einmal anzuführen, um den Abgrund zu erkennen, der seit jenen optimistischen Erklärungen vom Januar 1959 zwischen Moskau und Peking entstanden ist. Man übertreibt nicht, wenn man hinter der inzwischen entwickelten Form des öffentlichen Kampfes Gefühle des Hasses, der großen Verachtung und tiefen Enttäuschung vermutet. Nicht zu Unrecht fürchtet Chruschtschow gegenwärtig von der chinesisch-sowjetischen Begegnung auf einer internationalen Konferenz, wie dargelegt, eine „Glut der politischen Leidenschaften", die die kommunistische Weltbewegung unvermeidlich spalten könnte.

Was Moskau und Peking sich in den Monaten Dezember und Januar (1962/63), dem bisherigen Höhepunkt des öffentlichen Kampfes, gegenseitig vorgeworfen haben, geht zumeist weit ber die öffentliche Kritik hinaus, die z. B. von den Regierungen der in der NATO verbundenen Länder gegenseitig geübt wurde. Am ehesten würde die Kritik de Gaulles an den USA der Kritik Maos an der UdSSR nahekommen. Wie die Vereinigten Staaten ihre Bundesgenossen in der NATO zur Geschlossenheit gegenüber ihren Gegnern aufrufen, so empfiehlt auch die Sowjetunion ihren Bundesgenossen im „sozialistischen Lager" ein ebensolches Verhalten. Es zeigt sich jedoch immer wieder, daß ohne das Bestehen einer unmittelbaren Höchstgefahr für die Existenz der Verbündeten solche Appelle zur Einigkeit. Geschlossenheit usw. wenig befolgt werden. Solche Erkenntnis bei der Betrachtung von Bündnissen westlicher Demokratien ist nicht neu. Daß sie aber auch aus dem Verhalten von einigermaßen selbständig handelnden kommunistisch beherrschten Staaten gewonnen werden kann, das haben uns die sowjetisch-chinesischen Spannungen besonders nach dem XXII. Parteikongreß der KPdSU (Oktober 1961) gezeigt.

Die selbstsichei aufgestellte Behauptung Chruschtschows in seiner Moskauer Rede vom 23 Juli 1959 trifft eben nicht die Wirklichkeit: „Die Einheit unserer Weltanschauung gebiert auch die Aktionseinheit, eine breite tägliche Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens" („Prawda". 24. Juli 1959). So sehr auch die Lehre Lenins detaillierte Anweisungen für das kommunistische Verhalten in dieser oder jener Lage gibt und zu erstrebende Teil-und Endziele aufstellt, so ist sie doch in einzelnen wichtigen Punkten vieldeutig, ganz abgesehen davon, daß sie kei-nem Kommunisten die Schwierigkeit abnimmt, eine Lage A oder B auch nach den Kategorien des Leninismus richtig zu analysieren: So z. B. können sich beide Anhänger der Theorie Lenins — Moskau und Peking — in der Beurteilung der Chancen eines Angriffskrieges gegen die USA auf Lenin berufen, wobei der eine die internationalen Kräfteverhältnisse für den zu erringenden Sieg günstig beurteilt (Peking), der andere aber sie wesentlich ungünstiger beurteilt (Moskau). Im ersten Falle würde nach der Lehre Lenins nichts im Wege stehen, den Angriffskrieg z. B. unter der Bezeichnung eines revolutionären Befreiungskrieges zu führen. Im anderen Falle können die Leninanhänger auf das große Risiko hinweisen, das den Kommunisten ein vorsichtiges Verhalten nach der Lehre Lenins vorschreibt. Solche Meinungsverschiedenheiten zwischen Kommunisten sind auch in verschiedenen anderen Lagern denkbar, ohne daß es für die eine oder andere kommunistische Führungsgruppe feste Kriterien gibt, die es ihr erlauben, anderen kommunistischen Führungsgruppen eine falsche Interpretation der Theorie Lenins nachzuweisen.

Noch wesentlich schwieriger wird es, wenn sich mit den gegenseitigen Vorwürfen einer falschen Interpretation der Lehre Lenins Machtansprüche verbinden. Im Falle des Streites zwischen Moskau und Peking ist der Führungsanspruch Pekings auf die kommunistische Weltbewegung inzwischen eindeutig klar geworden, während Moskau seine seit 45 Jahren innegehabte Stellung als Führer und Beherrscher aller kommunistischen Parteien nicht aufzugeben gedenkt. In diesem Kampfe sind beide bedenkenlos genug, die Lehre Lenins zu verfälschen. Auch scheuen sowohl Moskau als auch Peking nicht davor zurück, ihren Völkern den jeweiligen Standpunkt des anderen bewußt falsch darzustellen. Es bestätigt sich damit wieder eine schon lange bestehende Tatsache, daß kommunistische Führer im Kampf um die Macht keine moralischen Bindungen nicht nur anderen Staaten, anderen Parteien gegenüber anerkennen, sondern auch nicht in ihren Beziehungen untereinander.

Auch der Anblick sich gegenseitig hassender Leninisten ist nicht neu. Das erste Beispiel hierfür bot der Ausgang des Kampfes in den zwanziger Jahren zwischen den Leninisten Kamenew und Sinowjew einerseits und dem Leninisten Stalin andererseits. In der Frage, ob die forcierte Industrialisierung der Sowjetunion ohne entscheidende Hilfe des Proletariats in den westlichen Industriestaaten möglich ist („Aufbau des Sozialismus in einem Lande") konnten sich die „Pessimisten" Kamenew und Sinowjew auf Lenin ebenso berufen, wie der „Optimist" Stalin. Das Ergebnis des Streites war aber eine Verurteilung Kamenews und Sinowjews als „Antileninisten" durch den Sieger Stalin, dann der Zwang für Kamenew und Sinowjew, gegen ihre Überzeugung Reue-bekenntnisse abzulegen, schließlich ihre Erschießung nach einem Schauprozeß, in dem sie sich selber zahlreicher erfundener Verbrechen bezichtigen mußten. Ein ähnliches Schicksal sollten zahlreiche andere Leninisten in der Sowjetunion erleiden.

Was einst ein Kampf unter kommunistischen Funktionären innerhalb der Sowjetunion war, ist zunächst bei den sowjetisch-jugoslawischen, dann bei den sowjetisch-chinesischen Auseinandersetzungen zu einem Kampf zwischen kommunistischen Führungen verschiedener Staaten geworden. Die Leichtigkeit, mit der Stalin seine kommunistischen Gegner in der Sowjetunion nach 1927 verhaften lassen konnte, läßt sich von Chruschtschow nicht auf seine kommunistischen Gegner, z. B. China, anwenden. Durch staatliche Grenzen, eine eigene Armee, eine eigene Polizei dem Zugriff der sowjetischen Parteiführung entzogen, können die kommunistischen Gegner unter den neuen Bedingungen an ihren abweichenden Ansichten viel beharrlicher festhalten, als dies innerhalb der Sowjetunion nach 1927 jemals möglich war. Von diesen Positionen aus bieten sich für die kommunistischen Gegner der sowjetischen Parteiführung auch viel leichtere Möglichkeiten, materiell und gedanklich auf die kommunistischen Parteien besonders in Asien und Afrika einzuwirken.

Die Voraussage erscheint nicht gewagt, daß die Aussichten für die Beseitigung der zweifellos groß gewordenen Gegensätze zwischen Moskau und Peking ungünstig sind. Eine Wende in diesen Beziehungen wäre nach dem Ausscheiden Maos oder Chruschtschows immerhin denkbar. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Dean Acheson, Henry A. Kissinger, Malcolm W. Hoag, Christian A. Herter, Lionel Gelber:

Die Vereinigten Staaten und Europa Robert J. Alexander:

Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas K. A. Jelenski:

Die Literatur der Enttäuschung Wanda Kampmann:

Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System der Sowjetunion Walter Z. Laqueur:

Rußland mit westlichen Augen Richard Löwenthal:

Kommunismus und nachkoloniale Revolution Boris Meissner:

Die marxistisch-leninistische Lehre von der . Nationalen Befreiung’ und dem „Staat der nationalen Demokratie’ Günther Nollau:

Zerfall des Weltkommunismus — Einheit oder Polyzentrismus Helmut Wagner:

Ich habe nur das Beste gewollt Egmont Zechlin:

Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aus Lenins Schrift von 1917: „Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution“, vgl. Lenin „Ausgewählte Werke in zwei Bänden", Bd. 2, Moskau 1947, S. 35.

Weitere Inhalte

Professor Dr. Walter Grottian, geboren am 15. 2. 1909, studierte Nationalökonomie, Geschichte und Jura. Bis zur Auflösung der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (1. 4. 1959) dort stellvertretender Abteilungsleiter. Seitdem vorwiegend mit Forschungsarbeiten über historische, politische und wirtschaftliche Probleme beschäftigt. Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen, u. a.der Bücher: „Das sowjetische Regierungssystem" (1956) und „Lenins Anleitung zum Handeln“ (1962).