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Der Nationalsozialismus in amerikanischer und englischer Sicht | APuZ 5/1963 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 5/1963 Machtergreifung und Kontinuität des Imperalismus Gedanken zum 30. Januar Zum Problem der historischen Wurzeln des Nationalsozialismus Hitlers Erfolg. Rückblick nach 30 Jahren Der Nationalsozialismus in amerikanischer und englischer Sicht

Der Nationalsozialismus in amerikanischer und englischer Sicht

Klaus Epstein

I. Amerika

Das Interesse an deutscher Geschichte Die wissenschaftliche Durchdringung der deutschen Geschichte, vornehmlich der letzten hundert Jahre, ist eine bezeichnende Leistung der amerikanischen historischen Wissenschaft. Bis vor wenigen Jahren konnte man direkt von einem Übergewicht der amerikanischen Publikationen gegenüber den deutschen auf diesem Gebiete sprechen, ein unnatürlicher Zustand, der sich jetzt endlich durch die Erholung der deutschen Geschichtswissenschaft von der Nazi-und Nachkriegsmisere revidiert hat. Die ungewöhnliche Intensität der amerikanischen akademischen Beschäftigung mit deutscher Geschichte bleibt trotzdem ein interessantes Phänomen und ist wohl auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Erwähnenswert an erster Stelle ist die Befruchtung der amerikanischen Geschichtswissenschaft durch emigrierte deutsche Gelehrte der 30er Jahre. Bei der großartigen Flexibilität des amerikanischen Berufungswesens konnten Spitzenkräfte wie Franz Neumann. Siegmund Neumann. Hajo Holborn und Felix Gilbert rasch in Schlüsselpositionen aufsteigen, in denen sie das Interesse an deutscher Geschichte belebten Die ungewöhnliche Bedeutung Deutschlands in der Weltpolitik der damaligen Zeit führte viele fähige Nachwuchskräfte zur Spezialisierung in deutscher Geschichte. Heute stehen diese Leute im Alter zwischen 45 und 55, also auf der Höhe ihrer Wirksamkeit. Viele Emigrantenkinder, bevorzugt durch Beherrschung von zwei Sprachen und zwei Kulturen, haben die damals geschaffene Tradition fortgesetzt. Ferner wird die intensive Beschäftigung mit deutscher — wie überhaupt ausländischer — Geschichte durch die Struktur des amerikanischen Universitätsbetriebes in jeder denkbaren Weise gefördert. Die Größe der Fakultäten — an bedeutenden Universitäten lehren allein 10 bis 15 Professoren neuere Geschichte — führt zur Spezialisierung und ermöglicht ohne Schwierigkeiten alle paar Jahre eine Beurlaubung. Das großzügige Forschungsstipendienwesen erlaubt längere Aufenthalte im Ausland und erklärt, daß alljährlich amerikanische Gelehrte in großer Zahl nach Europa kommen.

Das besondere Interesse an deutscher Geschichte darf aber nicht nur nach den Gesetzen des Angebots analysiert werden; die Nachfrage spielt auch eine wichtige Rolle. Viele ernste Amerikaner sind von gewissen Parallelen zwischen der neuen amerikanischen und deutschen Geschichte fasziniert. Sie denken an die Problematik der Einigungsbestrebungen, die zu den „Bürgerkriegen" von 1861 — 1865 und 1866 führte. In beiden Fällen waren die inneren Hemmnisse auf dem Wege zur Einheit größer als bei den westeuropäischen Nationen. Sie denken an den Aufstieg zur Welt-macht ohne zielbewußte Planung. Das Wilhelminische Deutschland — wie das Amerika Franklin Roosevelts — ist durch das Schwergewicht seiner dynamischen wirtschaftlichen und militärischen Kraft in eine hegemoniale Stellung in der Weltpolitik „hineinschlittert". Beide Länder wurden klassische Beispiele des Monopolkapitalismus mit seinen Spannungen und Verzerrungen. In beiden hatte — oder hat — die Verquickung von militärischer Planung mitWirtschaftsinteressen ihre besondere Problematik Diese — keineswegs ausgeschöpften und nicht immer stichhaltigen — Parallelen haben zum Interesse an deutscher Geschichte beigetragen, obwohl die Haupttriebfeder des Interesses natürlich in der spannenden Pathologie der deutschen Entwicklung selber zu suchen ist.

Tatsächlich ist die historische Fragestellung amerikanischer Autoren wie Leser bestechend einfach: Wie konnte es in einem zivilisierten Lande wie Deutschland überhaupt zur Herrschaft des Nationalsozialismus kommen? Wie war es möglich, daß das deutsche Volk eine Regierung duldete, die den Zweiten Weltkrieg entfesselte, die Ostvölker versklavte und fünf Millionen Juden vergaste? Die Fragestellung führt notwendigerweise zur Beschäftigung mit den Ursachen und Vorläufern des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte vor 1933. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß die Gefahr einseitiger Verzerrung des Gesamtbildes durch diesen Blickwinkel besteht und daß manche Historiker ihr erlegen sind. Andererseits wird aber die entgegengesetzte Gefahr vermieden, die Machtergreifung der Nazis als „Betriebsunfall" zu bagatellisieren oder den Nationalsozialismus als Fremdkörper innerhalb der deutschen Gesamtentwicklung darzustellen.

Ein paar Büchertitel mögen den Reichtum der amerikanischen Forschung über den Natinal-Sozialismus und seine Vorgeschichte veranschaulichen (bei ins Deutsche übertragenen Büchern werden nur die deutschen Titel angeben), Die geistige Strömung der sogenannten „Konservativen Revolution", die für den Nationalsozialismus entscheidende Vorarbeit — sicher wider Willen! — leistete, wird von Klemens von Klemperer in Konservative Bewegungen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (München, 1961) und Fritz Stern in The Politics of Cultural Despair (Berkeley, 1961) untersucht. Robert Waite analysiert die Freikorps der frühen zwanziger Jahre unter dem nicht ganz zutreffenden Titel Vanguard ol Nazism (Cambridge, 1952). Hans Gatzke ist der Hauptverfechter der Auffassung, die Stresemann als machiavellistischen Nationalisten interpretiert. Seine Völkerbunds-und Versöhnungspolitik wird vorwiegend taktisch gewertet (Stresemann and the Rearmament of Germany, Baltimore, 1954; übrigens ein wichtiger Beitrag zu der unten besprochenen These der Kontinuität der deutschen Außenpolitik). Gordon Craigs Die preußisch-deutsche Armee 1640— 1945: Staat im Staate (Düsseldorf, 1960), dessen Schwerpunkt in der Darstellung der Jahre nach 1918 liegt, kann an Bedeutung nur mit dem unten angezeigten Werk von Wheeler-Bennett verglichen werden. Telford Taylors Sword and Swastika (New York, 1952) ist eine weitere wichtige Behandlung der Beziehungen zwischen Hitler und seinen Generalen. Verschiedene Probleme des Dritten Reiches werden in wertvollen Monographien behandelt. Gordon Zahn analysiert die Haltung der katholischen Kirche in German Catholics and Hitlers Wars (New York, 1962). Alexander Dallin bringt eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Ostpolitik in Deutsche Herrschaft in Rußland 1941— 45 (Düsseldorf, 1960). Teilaspekte dieses erschreckenden Themas werden von Robert Koehl, RKFDV. German Resettlement and Population Policy 1939— 45 und George Fischer, Soviel Opposition to Stalin (Cambridge, 1952) analysiert.

Zwei Sonderstudien behandeln die deutsch-japanischen Beziehungen: Frank Ikle, German-Japanese Relations 1936— 40 (New York, 1956) und Ernst Presseisen, German and Japan, A Study in Totalitarian Diplomacy (Den Haag, 1958). Das Auswärtige Amt der Nazizeit ist das Thema von Paul Seabury, Die Wilhelm-straße. Die Geschichte der deutschen Diplomatie 1930— 1945 (Frankfurt, 1956).

Doch genug der Büchertitel I Es kann nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein, die hier erwähnten Werke nach ihren einzelnen Forschungsergebnissen anzuzeigen. Es wird stattdessen der Versuch gemacht, das Wesentliche über einige Bücher zu sagen, die einen Einfluß auf das Deutschlandbild größerer Kreise ausgeübt haben und deswegen das Interesse auch nicht-fachmännischer Leser in Amerika wie in Deutschland beanspruchen. Dies gilt bei wissenschaftlichen Büchern von Franz Neumanns Behemoth: The Structure and Practice of National Sozialism (New York, 1942), bei pseudo-wissenschaftlichen von Willi-am Shirers Aufstieg und Fall des Dritten Reiches (Köln, 1961). Außerdem wird der Sonderfall von David Hoggans Der erzwungene Krieg (Tübingen, 1961) kurz besprochen werden.

Die Bücher von Neumann, Shirer und Hoggan.

Franz Neumann war (bis zu seinem tragischen Tode 1955 bei einem Autounfall) Professor an der Columbia Universität. Während des Zweiten Weltkrieges spielte er eine wichtige Rolle in der wissenschaftlichen Abteilung des Office of Strategie Services, dem Vorläufer der heutigen Central Intelligence Agency. Sein Buch Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism ist 1942 unmittelbar vor seinem Eintritt in den Regierungsdienst geschrieben worden; es ist leider nie ins Deutsche übersetzt worden und (da heute wissenschaftlich veraltet) wird es wohl auch nie werden, obwohl es ein Buch von historischer Bedeutung gewesen ist. Es hat die amerikanische Planung für die Besatzungspolitik im besiegten Deutschland beeinflußt und prägt das Deutschlandbild vieler einflußreicher Amerikaner, hauptsächlich im akademischen Leben, noch heute. Das Office of Strategie Services der Jahre 1942 bis 1946 kann fast als „amerikanischer Historikertag in Permanenz" bezeichnet werden, in der die bedeutende Persönlichkeit Neumanns eine ganze Generation kommender Historiker beeinflußte.

Neumann war lebenslang Linkssozialist, seine Weltanschauung war eine durchaus marxisti-sehe (natürlich unter streng demokratischen Vorzeichen). Er erklärte den Nationalsozialismus als notwendige Folge eines Monopolkapitalismus, der mit seinen wirtschaftlichen Spannungen nicht fertig wurde und deswegen die Flucht in den kriegerischen Imperialismus antrat, weil er die einzige Alternative, den Vorstoß zum Sozialismus, aus Klassenegoismus verständlicherweise scheute. Neumann sah hinter dem Nationalsozialismus vorwiegend als Drahtzieher die Kapitalisten und ihre Alliierten in Junkertum, Bürokratie und Offizierskorps. Sein Buch versucht die Erhärtung der These, daß hinter den Maßnahmen der Nazis in fast jedem Falle ein kapitalistisches Interesse stand. Aus dieser Grundhaltung plädierte er folgerichtig für eine soziale Revolution in Deutschland, die nicht nur die Nazis stürzen, sondern auch die Bürokratie säubern, die Industrie dekartellisieren und die Junker durch eine Bodenreform entmachten sollte, ein Programm, das ohne Zweifel die ersten Jahre der amerikanischen Besatzungspolitik beeinflußt hat. übrigens hatte Neumann einen fast als pathetisch zu bezeichnenden Glauben an die deutsche Arbeiterklasse. Er hielt sie noch 1942 für vom Nationalsozialismus praktisch unberührt und glaubte an die Möglichkeiten eines von der Linken ausgelösten inneren Um-sturzes in Deutschland. Er verkannte die Tatsache, daß es im totalitären Staate nur Staatsstreiche, keine Revolutionen geben kann und daß in der deutschen Situation der Hitlerzeit ein Staatsstreich nur von rechts, nämlich den von ihm verabscheuten Gruppen der Generale und Bürokraten, kommen konnte.

Die Schwächen des Neumannschen Buches liegen in der Weltanschauung des Autors. Die marxistische Theorie des Staates verbaute ihm das Verständnis für die autonomen — und weitgehend anti-kapitalistischen — Kräfte der Nazibewegung und führte ihn zur falschen These der kapitalistischen Manipulation. Seine im Fortschrittsgedanken und im Proletarier-mythos befangene Analyse verkannte die destruktive Seite des von Burckhardt und Ortega beschriebenen „Aufstandes der Massen" und besonders die Tatsache, daß der Nationalsozialismus auch eine durchaus „demokratische" Seite hatte und zeitweilig von großen Schichten des deutschen Volkes, auch der Arbeiter, begeistert begrüßt worden war. Neumanns „Entweder-Oder" These von Nazismus (= kriegerischer Imperialismus des Monopolkapitalismus) oder Sozialismus verkannte die Möglichkeit eines unbedingt friedfertigen „Wohlstandskapitalismus", der tatsächlich die vorherrschende Gesellschaftsform der Nachkriegswelt werden sollte. Es muß aber trotz dieser vielen Schwächen betont werden, daß Neumanns Behemoth seinerzeit eine hervorragende wissenschaftliche Leistung war und noch heute, zwanzig Jahre danach, lesenswert ist. Neumanns souveräne Beherrschung des damals zugänglichen Materials und die Ordnung dieses Material nach dem Blickpunkt einer geschlossenen und noch heute wichtigen Weltanschauung sind imponierend. Dazu kommt der „historische" Einfluß des Buches: Kein Deutscher, der die geistige Genesis der amerikanischen Besatzungspolitik von 1945 oder das Deutschlandbild vieler prominenter Amerikaner des Jahres 1963 verstehen will, sollte sich seiner Lektüre entziehen.

Das Buch von William Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, hat keine wissenschaftliche Bedeutung für die Erforschung des Nationalsozialismus. Seine Behandlung des Gegenstandes ist mehr journalistisch als historisch, und die Sachkenntnis des Autors läßt viel zu wünschen übrig; trotzdem — oder vielleicht deswegen — hat das Buch mit seinen 1200 Seiten (Kaufpreis 40, — DM) eine erstaunliche Breitenwirkung in der amerikanischen Öffentlichkeit erzielt. Mehr als eine Million Exemplare sind — schon vor der kürzlich erschienenen Paperback-Ausgabe — verkauft worden. In vielen Kreisen Amerikas ist es geradezu unstandesgemäß, das Buch nicht zu besitzen oder wenigstens überflogen zu haben. Es ist deswegen kaum zu bezweifeln, daß das Deutschlandbild vieler Amerikaner für Jahrzehnte entscheidend durch diesen Wälzer mitgeprägt wird. übrigens verdient William Shirer persönlich keineswegs die Verteufelung, die er seit dem Erscheinen seines Buches in Deutschland erfahren hat. Er gehört, zusammen mit Journalisten wie Dorothy Thompson, Louis Fischer und H. Knickerbocker, zu der Generation der „großen" amerikanischen Auslandsreporter der zwanziger und dreißiger Jahre, einer Zeit, wo Amerika sozusagen die „fremde Welt" in ihrer ganzen „Bösartigkeit" zuerst entdeckte und ein persönlicher, nicht durch Routinevorschriften eingeengter Stil der Reportage üblich war. Shirer hat sich bei der Berichterstattung aus dem Deutschland Hitlers große Verdienste erworben. Sein Tagebuch aus dieser Zeit, das 1942 veröffentlichte Berlin Diary, ist noch heute lesenswert. Seine scharfen anti-deutschen Vorurteile stammen vermutlich — und verständlicherweise! — aus dieser Zeit. Shirer hat dann für fast 15 Jahre nach dem Kriege ein schweres Schicksal durchgemacht. Er sank von der Rolle einer nationalen Berühmtheit in die eines fast Vergessenen. Seine betonte Linkseinstellung paßte nicht in die neue politische Landschaft. Seine ständigen Warnungen vor einem neuen Aufflackern des Nazismus wurden als lächerlich empfunden. Die Verfolgungssucht des McCarthy-Geistes kostete ihm seine Stellung beim Rundfunk. Er ist menschlich bewundernswürdig, wie er sich in dieser Misere, auch durch verschiedene literarische Fehlschläge nicht entmutigt, an ein großes Werk über Hitler-Deutschland heranwagte. Sein alter Verleger ließ ihn im Stich mit der Begründung, an alten Nazigeschichten sei niemand in Amerika mehr interessiert. Shirer arbeitete weiter mit eisernem Fleiß, und das Werk wurde 1960 fertig.

Es ist bedauernswert, daß das Buch wenig mehr als eine chaotische Aufhäufung von allgemein bekannten Tatsachen geworden ist. Von einer geistigen Durchdringung des Stoffes kann nicht die Rede sein. Shirer fehlte das Rüstzeug des Historikers, ob es sich nun um die Beherrschung oder um die Interpretation des Stoffes handelt. Seine Kenntnis der Sekundärliteratur ist kaum die eines einigermaßen fleißigen Studenten jüngeren Semesters. Von einer Bemühung, das sehr fruchtbare deutsche Schrifttum der letzten Jahre zu verarbeiten, ist wenig zu bemerken. Man hat den Eindruck, daß Shirer dem heutigen deutschen Geistesleben und der deutschen Geschichtsschreibung vollständig fremd gegenüber steht. Auf dem Gebiet der Interpretationen strotzt seine Gesamtansicht vom Lauf der deutschen Geschichte von Unkenntnis und Primitivität. Sie verbaut ihm das Verständnis für das Wesen des modernen totalitären Staates. Shirer sieht im Nationalsozialismus einfach die natürliche Endstation der deutschen Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Er hat kaum eine Ahnung von der Kulturkrise des modernen Europa, gekennzeichnet durch Entchristlichung, Schwund der Autorität, Aufstand der Massen, Entwurzelung und Industrialisierung, Phänomene, die auch in anderen Ländern zu totalitären Diktaturen oder diktaturähnlichen Gebilden geführt haben und eine vergleichende Analyse erfordern. Das Problem, warum der Faschismus in Deutschland zur Macht kam, in anderen Ländern nicht, das weitere Problem, warum der Faschismus ge-rade in Deutschland so besonders pathologische Züge (Ermordung von fünf Millionen Juden, Himmlers SS-Staat usw.) zeigte, wird von Shirer gar nicht als problematisch empfunden, da — grob gesprochen — Deutsche eben nun mal von Natur aus immer Nazis waren, heute noch sind und vermutlich auch weiter bleiben werden. übrigens ist Shirer als individuelle Erscheinung kaum interessant. Er ist ein engstirniger, gutgläubiger, aber seiner Aufgabe einfach nicht gewachsener Pseudohistoriker. Das Interessante an seinem Buch ist der phänomenale Erfolg bei dem amerikanischen Publikum, denn dieser wirft ein Streiflicht auf die soge-nannte „anti-deutsche" Stimmungswelle in der amerikanischen öffentlichen Meinung.

Der Aufstieg des Dritten Reiches erschien kurz nach den Kölner Hakenkreuzschmierereien der Weihnachtstage 1959. Seine führende Position auf der Bestseller-Liste lief monatelang zeitlich mit dem Eichmann-Prozeß in Israel gleich. Shirers Buch kam im Moment des Aufflackerns der Berlin-Krise, eines Stükkes unbewältigter Vergangenheit aus der Erbschaft des Dritten Reiches. Die Sorge um den Ausbruch des Dritten Weltkrieges führte bei manchen zu dem Kurzschluß, die Deutschen von früher — nicht die Russen von heute — seien verantwortlich für die Gefährdung des Weltfriedens, ein Eindruck, der sich durch die angeblich zu starre Haltung der Bundesregierung in der Berlinfrage zu bestätigen schien. Aus allen diesen Gründen bekam die sogenannte „anti-deutsche Welle" Auftrieb, die sich auf Filme, Taschenbücher, Inserate usw. erstreckte. Das Shirer-Buch wurde von ihr in ungeahnte Höhen getragen und gab ihm eine gewisse pseudo-wissenschaftliche Untermauerung. Es wirft ein trauriges Licht auf das amerikanische Rezensionswesen, daß die Unzulänglichkeit Shirers vorwiegend nur in Zeitschriften ohne Massenleserschaft (z. B. American Historical Review, Christian Century, Review oi Politics) angeprangert wurde, die Massenorgane dagegen vollständig versagt haben. Es ist ferner erstaunlich, daß die Verlagsanstalt Simon und Schuster, in der das Buch erschien, es offensichtlich nicht für nötig gehalten hatte, vor der Veröffentlichung ein Gutachten von einem kompetenten Historiker anzufordern. Ferner hat der Book oi the Month Club, durch dessen Vermittlung etwa eine halbe Million Exemplare verkauft wurden, niemanden mit gründlicher historischer Bildung in seinem Auswahlausschuß. Es gehört zu den pikantesten Seiten der „antideutschen Stimmungswelle" in der USA, daß sie als Gegenschlag zu einer Intensivierung betont pro-deutscher Haltungen bei einer kleinen Gruppe geführt hat (Die große Masse des amerikanischen Volkes bleibt von beiden Stimmungen wenig berührt. Bei dem vielen Gerede über die „anti-deutsche Welle" wird oft vergessen, daß die große Mehrheit des amerikanischen Volkes der Bundesrepublik als treuem Bündnispartner in der Freien Welt sicher wohlwollend — obwohl natürlich passiv — gegenübersteht. Von dieser existierenden, aber nicht intensiven pro-deutschen Stimmung ist hier nicht die Rede, sondern von einer Sekte von betont emotionaler Germanophilen). Diese Sekte ist soziologisch kaum greifbar, ihr Einfluß konzentriert sich auf kleine Schichten vorwiegend im Mittleren Westen. Harry Elmer Barnes, von früher bekannt als fanatischer Gegner der anti-deutschen Kriegsschuldthese von Versailles, ist ihr noch heute lebender Kirchenvater. Die Gruppe ist weitgehend identisch mit den scharfen Kritikern der Person und Außenpolitik Franklin Roosevelts, von denen der Washingtoner Historiker Charles Tansill wohl die bedeutendste Erscheinung ist.

Eine jüngere Kraft in diesem Kreis ist David Hoggan, dessen Buch Der erzwungene Krieg: Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkrieges heute in Deutschland so viel Aulsehen erregt. Von Hoggan persönlich wäre zu sagen, daß er im akademischen Betrieb eine „gescheiterte Existenz" ist. Obwohl er seinen Doktor an einer bedeutenden Universität (Harvard) unter einem großen und einflußreichen Professor (William Langer) gemacht hat, hat er es nie zu einer festen Position an einem angesehenen College gebracht. Sein Buch zeigt die krampfhaften Züge eines urteilsunfähigen, weltfremden Fanatikers. Es lohnt sich nicht, sich mit seinen verrückten Thesen, wie der Hauptverantwortung des englischen Außenministers Halifax für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und der engelhaften Unschuld Adolf Hitlers, wissenschaftlich auseinander-zusetzen. Solche Thesen, von vermeintlichen Freunden Deutschlands hervorgebracht, können dem deutschen Ansehen in Amerika durch ihre Lächerlichkeit nur schaden. Sie haben es bis heute nicht getan, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil Hoggan drüben noch vollständig unbekannt ist. Sein Buch existiert bis jetzt nur in einer deutschen Übersetzung, die von dem neonazistischen Tübinger Institut für deutsche Nachkriegsgeschichte des Herrn

Grabert besorgt worden ist. Die Aufnahme des Buches in gewissen deutschen Kreisen gehört zur residualen Pathologie des heutigen Deutschlands und darf nicht auf das Schuld-konto der amerikanischen Historiker gebucht werden (die Hoggan einmütig ablehnen, vorwiegend durch wohlverdiente Ignorierung). Es muß auch betont werden, daß die Hochspielung Hoggans in Deutschland durch die „ewig Gestrigen" von Amerikanern der Shirer’schen Richtung als Bestätigung ihrer Sicht der deutschen Probleme fast mit Genugtuung vermerkt wird.

II. England

Die englische Perspektive Es ist oft bemerkt worden, daß anti-deutsche Ressentiments in England heute stärker sind als in Ländern wie Frankreich und Belgien, die an sich in beiden Weltkriegen weit mehr unter deutscher Kriegführung und Besatzung gelitten haben. Woran liegt das? Die berühmte Zähigkeit des englischen Volkscharakters darf bei der Erklärung nicht vergessen werden, andere Gründe stehen aber im Vordergrund. Die Insularität der Engländer hat nie viel Freude an Ausländern gefunden, besonders wenn sie sich — wie die Deutschen in beiden Weltkriegen — unangenehm bemerkbar machten. Für viele konservative Engländer (z. B. die Leser der Beaverbrook Presse) ist Deutschland die Macht, die die Weltstellung des Britischen Reiches in den letzten fünfzig Jahren zerstört hat. Für viele linksstehende Engländer ist die Bundesrepublik ein klerikal-konservativer Staat, dessen angeblich revanchistische Außenpolitik den Weltfrieden heute gefährdet. Diese parallel laufenden, übrigens keineswegs unvereinbaren Haltungen spiegeln sich öfters in historischen Werken, die konservative Germanophobie z. B. in A. L. Rowses The Churchill Family (2 Bände, 1956— 1958), die Links-tendenz in A. J. P. Taylors Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges (s. unten). Es soll aber hervorgehoben werden, daß bei vielen bedeutenden englischen Werken (z. B.den unten besprochenen von Wheeler-Bennett und Alan Bullock) von einer anti-deutschen Tendenz nicht die Rede sein kann. Bei der folgenden Diskussion soll ausschließlich auf ein paar Spitzenleistungen eingegangen sein. Dies ist besonders im Falle der englischen Geschichtsschreibung berechtigt, bei der die wissenschaftliche Monographie fast vollständig fehlt, wohl weil der Doktorgrad im amerikanisch-deutschen Sinne im englischen akademischen Leben keine wesentliche Rolle spielt. Außer-dem hat England eine beneidenswerte Tradition der Darbietung wissenschaftlicher Bücher, die flüssig für ein gebildetes, aber nicht fachmännisches Publikum geschrieben werden. Die Werke von Taylor, Wheeler-Bennett und Bullock sind Glanzbeispiele dieser Tradition. Alle drei besitzen internationale Bedeutung und haben schnell deutsche Übersetzer gefunden.

Die Bücher von Taylor, Wheeler-Bennett und Bullock Taylors Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges ist in seiner Grundhaltung oft mißverstanden worden. Der Autor macht den an sich begrüßenswerten Versuch, die Politik Hitlers zu entdämonisieren, d. h. ihre rationalen und zweckbedingten Züge herauszuarbeiten. Er kommt dabei zu dem sicher richtigen Forschungsergebnis, daß Hitler den Zweiten Weltkrieg qua Weltkrieg 1939 nicht gewollt hat, ferner zu der fragwürdigen These, daß eine etwas geschicktere Diplomatie von Seiten Hitlers, Chamberlains und Becks den Kriegsausbruch hätte verhindern können, und zwar durch eine deutsch-polnische Verständigung, erreicht durch englischen Druck und polnische Konzessionen. Die unverbesserlichen Elemente unter seinen deutschen Lesern haben diese Thesen Taylors als angebliche Widerlegung der deutschen Kriegsschuld von 1939 begeistert begrüßt.

Sie sind dabei aber in eine Falle gelaufen, denn nichts liegt Taylor ferner als eine Entlastung des deutschen Volkes von seiner historischen Mitverantwortung lür den Nationalsozialismus. Die Entteufelung Hitlers hat bei Taylor nämlich den Zweck, das deutsche Volk als ganzes zu verteufeln Taylor wendet sich sehr konkret gegen die in Deutschland oft ausgesprochene apologetische Tendenz, der Teufel Hitler habe sein unschuldiges und ahnungsloses Volk im Grunde gegen dessen Willen geführt. Taylor behauptet im Gegenteil. Hitler sei in seinen Zielen, natürlich nicht in seinen Methoden, ein typisch deutscher Staatsmann mit typisch deutschen Zielen gewesen, so wie Stresemann vor ihm und — nach einer vorsichtigen Andeutung in dem Nach-wort zur deutschen Ausgabe — Adenauer wegen seiner Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Linie nach ihm. Das Ziel der deutschen Außenpolitik der Weimarer wie Nazizeit war nach Taylor die Sprengung der Ketten von Versailles und die konsequente Errichtung einer deutschen Hegemonie in Europa. Dieses zweite Ziel wurde natürlich nicht immer als solches bewußt gewünscht oder ausgesprochen. Es wurde von allen deutschen Parteien — mit möglicher Ausnahme der Kommunisten — und von der gesamten deutschen öffentlichen Meinung— mit Ausnahme von ein paar ehrenwertenPazifistenwie Ossietzky— gebilligt. Der Unterschied zwischen Hitler und Stresemann war wesentlich der, daß Hitler erreichte, was Stresemann nur erstrebte. Beide müssen aber als Vollstrecker des Willens des deutschen Volkes angesehen werden.

Taylors These der Kontinuität der deutschen außenpolitischen Ziele erinnert an die letzten Seiten von Fritz Fischers bedeutendem Werk Griff nach der Weltmacht (1961). Sie ist trotz der entrüsteten Ablehnung durch maßgebliche deutsche Historiker einer Diskussion wert. Sicher ist, daß von einem bewußten Streben nach europäischer Hegemonie durch die deutsche Außenpolitik vor Hitler kaum die Rede sein kann. Sicher ist aber ferner, daß die dynamische Kraft Deutschlands — seine Bevölkerungsvermehrung, sein wirtschaftlicher Aufstieg, seine militärische Tüchtigkeit, alles auf dem Hintergrund seiner zentralen geographischen Lage — es objektiv schon vor 1914 in eine de facto-Hegemonieposition gebracht hat. Der erste Weltkrieg war trotz seines kläglichen Ausgangs die Probe aufs Exempel. Ein Deutschland, das einer Welt von Feinden vier Jahre lang die Stirn geboten hatte, konnte als politischer Faktor nicht ausgeschaltet werden, trotz Demilitarisierung, Reparationen und großer Gebietsverluste. Die Ziele des Weimarer Revisionismus, militärische Gleichstellung, Ende der Reparationen, Revision der Ostgrenze, Anschluß Österreichs usw., mußten im Falle des Erfolges Deutschland die verlorene Hegemonieposition zurückgeben, eine für Europa nur schwer tragbare Entwicklung. Dazu kam, daß sich große Teile der deutschen Öffentlichkeit selbst mit den „gerechten" Bestimmungen des Versailler Vertrages, wie z. B.der Schaffung eines lebensfähigen Polens nach Wilsons 13. Punkt, einfach nicht abfinden wollten; ferner, daß „ungerechte" Bestimmungen des Vertrages, wie z. B. die Existenz von drei Millionen Sudetendeutschen innerhalb der Tschechoslowakei, letztlich ein sine qua non für die Existenz eines unabhängigen tschechischen Staates waren. Es ist nicht Aufgabe dieser Abhandlung, das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen gegen die politischen, wirtschaftlichen, militärischen und historischen Lebensbedingungen des tschechisehen Volkes abzuwägen. Tatsache ist sicher, daß sich die deutschen Staatsmänner der zwanziger und dreißiger Jahre kaum den Kopf über letzteres zerbrochen haben, was u. a. natürlich auch in der von Polen und Tschechen begünstigten Drangsalierung des Weimarer Deutschlands seine Erklärung hat. Deutschland und Europa standen nach 1919 m. E. in einer tragischen Lage: Deutschlands Revisionismus war in der damaligen Zeit subjektiv unvermeidbar und objektiv bis zu einem gewissen Grade berechtigt, doch die Ziele dieses Revisionismus — die deutsche Hegemonie — waren für Europa kaum tragbar. Dies gilt für Stresemanns Ziele ebenso wie für die Frühziele der Hitler'schen Außenpolitik.

Soweit darf man Taylors Kontinuitätsthese also zustimmen; leider verbindet er sie aber mit einer völligen Verkennung des Wesens Hitlers. Wenn zwei dasselbe tun, ist es, nach dem französischen Sprichwort, nicht unbedingt dasselbe. Taylor erkennt natürlich den Unterschied zwischen Hitlers und Stresemanns Methoden, wozu noch zu bemerken ist, daß Ziele und Methoden in der Politik nie scharf unterschieden werden können, da sie sich gegenseitig bedingen. Zu Hitlers Zielen ist ferner zu bemerken, daß — trotz Taylor— kaum bezweifelt werden kann, daß Hitlers betonter Anti-Versailles-Revisionismus nur erste Station und Deckmantel für weitgehende Eroberungsabsichten waren, für deren Erreichung er von Anfang an kriegerische Methoden in Aussicht nahm. Die „Träumereien" in Mein Kampf, von denen Taylor spricht, waren mehr als Träumereien. Die durch das Hoßbach-Protokoll bekannt gewordene Konferenz vom 5. November 1937 mit der Darlegung von Hitlers kriegerischen Absichten war mehr als eine innenpolitische Intrige zur Verschleierung der Ausschaltung Schachts. Taylor verharmlost m. E. außerdem die gut bezeugte Tatsache, daß Hitler z. Z.der Münchener Krise nur unter großen Schwierigkeiten vom — ganz unnötigen! — militärischen Losschlagen abgehalten wurde.

Die Darstellung der Augustkrise 1939 — also die letzten Verhandlungen vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges — ist ebenso unbefriedigend. Man mag Taylor zustimmen, daß viele deutsche Forderungen, z. B. in der Danzig-Frage, berechtigt waren, daß die Polen durch ihre hartnäckige Intransigenz die Krise verschärft haben und daß die englische Politik eine wenig glückliche Rolle gespielt hat. Trotzdem ist es grotesk zu behaupten, daß Hitler „in einen Krieg verwickelt wurde, weil er erst am 29. August ein diplomatisches Manöver lancierte, das er schon am 28. hatte lancieren sollen" (S. 354), nämlich den Versuch, einen Keil zwischen Polen und England zu treiben und die noch existierenden Appeasement-Kräfte in der englischen Regierung zu stärken. Taylor verkennt, daß es im August 1939 gar nicht mehr um Danzig oder Polen ging, sondern um die Vertrauenswürdigkeit Hitlers und des von ihm repräsentierten Deutschlands. Chamberlain und die öffentliche Meinung Englands hatten sich nur langsam widerstrebend davon überzeugt, daß ein Zusammenleben mit Hitler in Europa einfach unmöglich war. Das entscheidende Ereignis war die — von Taylor verharmloste — Verletzung des Münchener Abkommens durch die Zerstörung der Reste der tschechischen Unabhängigkeit im März 1939. Danach mußte England neuen deutschen Forderungen widersprechen, und die Intransigenz Polens war durch das Mißtrauen wegen Hitlers letzter Absichten berechtigt und unvermeidbar.

übrigens gibt Taylor zu, das Hitler im September 1939 seine Forderungen gegen Polen unbedingt durchsetzen wollte, daß er einen lokalen Krieg zu diesem Zwecke keineswegs scheute und daß er das Risiko eines großen Krieges trotz der unmißverständlichen Warnungen Londons bewußt auf sich nahm. Bei Anerkennung dieser Tatsachen ist es im Grunde unwesentlich, ob Hitler einen Weltkrieg tatsächlich „wollte". Er unternahm auf jeden Fall die Schritte, die ihn unvermeidbar machten. Ferner ist trotz Taylor klar, daß diese Schritte nur im Rahmen einer Weltanschauung verständlich sind, die weit mehr als nur die Revision des Versailler Vertrages wünschte. Der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, von der Dummheit der Kriegserklärung an Amerika im Dezember 1941 ganz zu schweigen, zwingt Taylor zu einer wenig überzeugenden Unterscheidung zwischen einem maßvollen Hitler der Jahre vor 1941, der 1939 nur durch eine diplomatische Panne in einen ungewollten Krieg verwickelt wurde, und einem maßlosen Hitler der Zeit nach 1941, der sich mit Welteroberungsplänen befaßte und die ganze Welt gegen sich mobil machte.

Das Taylorsche Buch verdient m. E. einige Anerkennung trotz seiner vielen unhaltbaren Thesen. Es ist glänzend geschrieben und befruchtet durch seine polemischen Paradoxe. Außerdem fehlt Taylor der tierische Ernst eines Hoggan in der Beschäftigung mit seinem Gegenstand. Man tut Taylor kaum Unrecht mit der Annahme daß er mit seinem Thema spielt und im Grunde nur seinen Lesern glaubhaft machen wollte, daß man die Dinge auch anders sehen kann, als es in der orthodoxen Betrachtung seit 1939 der Fall gewesen ist. Er spricht selber einmal von einer „akademischen Übung" (§, 278) und freut sich sicher über das Aufsehen, das sein Buch nicht nur in der englischen Öffentlichkeit erregt hat. Man darf ihm auch kaum zur Last legen, daß gewisse deutsche Kreise ihn in selbstcharakterisierender Weise einseitig als Entlastungszeugen für das deutsche Volk mißverstanden haben.

Das Werk Wheeler-Bennetts über Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in Politik 1918— 1945 (Düsseldorf, 1954) ist sofort nach Erscheinen international als ein Standardwerk anerkannt worden. Wheeler-Bennett hat in einer Reihe früherer Werke, besonders über Hindenburg (1934) und Brest-Litovsk (1938) wichtige Beiträge zur Erforschung der neuen deutschen Geschichte geliefert. Als Meister der Zeitgeschichte ist er souverän in der Beherrschung mündlicher wie schriftlicher Quellen. Er hat während der zwanziger Jahre und frühen dreißiger Jahre als Journalist in Berlin gelebt und hatte damals engen Kontakt mit führenden Militärs. Seine erstaunlich positive Einschätzung Schleichers, den er übrigens einmal zu einer Konferenz mit Hitler begleitete, verbindet persönliche Erinnerungen mit historischer Analyse. Die Enttäuschung über den Fehlschlag des liberal-demokratischen Weimarer Experiments, das er von Anfang an mit vielen Hoffnungen begleitet hatte, hat er nur schwer verwunden. Eine gewisse Distanzierung gegenüber deutschen Dingen ist seitdem in seinen Büchern zu bemerken.

Das Buch gibt eine eindrucksvolle Schilderung der politischen Rolle der Armee von 1918 bis 1945. Ein gutes Drittel behandelt den militärischen Widerstand gegen Hitler, wobei Wheeler-Bennett sich des öfteren auf ein für ihn geschriebenes Memorandum von Otto John als Quelle bezieht. Die Darstellung ist m. E. in den Grundlinien in zweifacher Weise anfechtbar. Erstens sind Wheeler-Bennetts Werturteile vielfach „unhistorisch" und werden der Situation — und den Möglichkeiten — der deutschen Generalität kaum gerecht. Er verlangt im Grunde von jedem deutschen Genedal, daß er ein zuverlässiger Weimarer Demokrat und überzeugungstreuer Pazifist gewesen sein müsse. Wenn er es nicht gewesen ist, bekommt er in etwas pharisäerhafter Weise schlechte Betragensnoten. Aus dieser Grundanschauung erwartet Wheeler-Bennett direkt, um mit Max Weber zu sprechen, eine „Gesinnungsethik" von den deutschen Soldaten, eine Verantwortungsethik genügt ihm nicht. Nur ein Beispiel: Der Generalstabschef Luwig Beck hat 1938 in eindrucksvollen Denkschriften Hitler vor dem Krieg gewarnt, vorwiegend mit militärtechnischen Argumenten. Diese Denkschriften sind mit dem ad geschrieben, Hitler zu überzeugen. Aus diesem Grunde ist Wheeler-Bennetts Kritik. Beck hätte sich gleichzeitig gegen die Judenpolitik, Christenverfolgung, Konzentrationslager usw. aussprechen sollen, einfach weltfremd.

Eine zweite Schwäche des Buches liegt in der Tatsache, das Wheeler-Bennett in der militärpolitischen Geschichte Deutschlands vor 1918 zu wenig beschlagen ist — ein ernster Mangel in der Behandlung einer so traditionsbewußten Gruppe wie des deutschen Offizierskorps.

Wheeler-Bennett hat sich nie in die Probleme des preußischen Soldatentums der Napoleonischen Zeit versenkt, obwohl Persönlichkeiten wie Scharnhorst einem Manne wie Beck immer als verpflichtendes Erbe galten. Das Problem Gehorsam gegen politisch-sittliche Überzeugung (also das Grundproblem des militärischen Widerstandes gegen Hitler) hat bei den preußischen Offizieren gerade im Jahre 1812 eine große Rolle gespielt. Ein Mann wie Clausewitz nahm seinen Abschied und kämpfte als russischer Offizier gegen sein mit Frankreich verbündetes preußisches Vaterland. Es ist befremdend, Clausewitz als preußischen Unterhändler der Konvention von Tauroggen auftauchen zu sehen (S. 29). Ein zweites Beispiel mag noch erwähnt werden. Wheeler-Bennett spricht vom Offizierskorps des Wilhelminischen Kaiserreichs als einer „Prätorianergarde". Sicher hat das Offizierskorps damals eine ungesund hervorstechende Rolle gespielt; von einem Prätorianertum kann aber nicht die Rede sein. Die Charakterisierung verkennt das sittliche Verantwortungsbewußtsein, das Traditionsgefühl und die tief monarchistische Grundhaltung der preußisch-deutschen Offiziere. Es braucht kaum hervorgehoben zu werden, daß die hier skizzierten Schwächen Wheeler-Bennetts den Wert seines Standardwerkes kaum beeinträchtigen. Es wird wohl noch lange das wichtigste Buch über die politische Rolle der Armee während der Weimarer Republik und Nazizeit bleiben. Die Hitler-Biographie Alan Bullocks (Hitler.

Eine Studie über Tyiannei. Düsseldorf, 1953) ist eine einzigartige Leistung, mit der sich m. E. keine deutsche Behandlung des Gegenstandes messen kann. Sie ist glänzend und allgemeinverständlich geschrieben und hat genau die richtige Distanz zum Gegenstand. Bullock ist von allgemeinen Theorien über den Gang der deutschen Geschichte im Stil Shirers und Taylors unbelastet. Sein konkretes biographisches Interesse und sein betont angelsächsischer Pragmatismus machen ihm alle solche Theorien verdächtig. Hitler steht im Mittelpunkt seiner Darstellung. Er erkennt im Gegensatz zu Taylor die Bedeutung der individuellen Persönlichkeit Hitlers in der Geschichte des Dritten Reiches Bullock gibt ein anschauliches psychologisches Porträt, ohne sich auf ein unfruchtbares Durchstöbern von Hitlers Unterbewußtsein im Freudschen Sinne einzulassen.

Bullocks Buch ist nüchtern im besten Sinne des Wortes, sauber in der Behandlung der Quellen und zuverlässig in der Darbietung der Tatsachen. Ihm fehlen der doktrinäre Zug Neumanns, die Vorurteile Shirers, Taylors Hang zu paradoxen Formulierungen und Wheeler-Bennetts utopisch-unhistorische Erwartungen von den Deutschen. Bullock hat nur den beschränkten Ehrgeiz, eine Zusammenfassung des heute über den Nationalsozialismus Bekannten für ein breites Publikum zu unternehmen. Dies ist ihm in vorbildlicher Weise gelungen, und es ist zu hoffen, daß sein Buch auch in Deutschland — wie schon in England und Amerika an fast allen Universitäten — als Einführungslektüre zum Verständnis des Nationalsozialismus benutzt wird. Daß bei einem solchen Werk der „Popularisierung" die Erforschung neuer Tatsachen zu kurz kommt, kann ruhig in Kauf genommen werden. Die monographische Durcharbeitung der nationalsozialistischen Zeit ist schließlich vorwiegend die Aufgabe deutscher Historiker, während ein Ausländer gerade für die abgewogene Gesamtdarstellung gewisse Vorteile besitzt.

III. Wissenschaft und Leben

Es ist in diesem kurzen Aufsatz nicht möglich gewesen, die Gesamtleistung der anglo-amerikanischen Historiker in allen ihren Einzelerscheinungen zu würdigen; es schien wichtiger, gewisse Tendenzen der einflußreichsten Werke anzudeuten. Die Verbindung von Wissenschaft und Leben ist bei fast allen der hier besprochenen Bücher unverkennbar. Neumanns Behemoth ist undenkbar ohne den Hintergrund der marxistisch beeinflußten Linksstimmung der dreißiger Jahre. Shirers Aufstieg und Fall muß als Bucherfolg in Verbindung mit der anti-deutschen Tendenz gewisser amerikanischer Kreise gesehen werden. Taylors Buch hat seine Berühmtheit durch seine paradoxen und ketzerischen Thesen erreicht. Es ist außerdem wahrscheinlich, daß Taylors bekannte Sympathien für eine Appeasement-Politik gegenüber der heutigen Sowjetunion auf sein Chamberlain-Bild abgefärbt haben. Wheeler-Bennet bekennt sich im Vorwort seines Buches zur Wiederaufrüstung der Bundesrepublik.

Der Leser hat aber den Eindruck einer Diskrepanz des Tones zwischen Vorwort und Darstellung und kann die Vermutung kaum unterdrücken, daß ein originäres Motiv der Arbeit die Warnung vor einer neuen deutschen Rüstung gewesen sein mag. Bei Bullock ist von einem spezifischen zeitgeschichtlichen Hintergrund nur wenig zu spüren; man versteht ihn am besten als einen Repräsentanten der rühmlichen Tendenz der meisten angelsächsischen Historiker, ihre Forschungsthemen sine ira et Studio zu bewältigen. Sie brauchen sich dabei nicht auf die berühmte Ranke'sche Objektivität oder die tolerant-relativierende Weltanschauung des Historismus zu berufen.

Es genügen die Bejahung der pluralistischen Struktur des Lebens und das Gefühl der Toleranz, die beide zu den Idealen — nicht immer zur Praxis! — des englischen und amerikanischen Lebens gehören. Diese — ihm sicher kaum bewußte — Weltanschauung hat Bullock befähigt, dem Phänomen des Nationalsozialismus gerecht zu werden. Er erklärt, wie das scheinbar Unmögliche, die Machtergreifung der Nazis bei einem zivilisierten Volke, tatsächlich möglich wurde; er verharmlost aber keineswegs die Monstrosität dieses Vorganges. Er weiß um die Verstrickung von Schuld und Schicksal, deren Verkennung der angelsächsischen Geschichtsschreibung — oft mit Berechtigung, siehe Shireri — vorgeworfen wird. Es ist zu hoffen, daß die weitere Bearbeitung der deutschen Geschichte in England und Amerika in diesem Geiste betrieben werden wird und daß die Restbestände anti-deutscher Ressentiments — die nicht leichtfertig mit Kritik an deutschen Dingen verwechselt werden dürfen! — verschwinden oder wenigstens die historische Forschung nicht weiter belasten werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Klaus Epstein, Dr. phil., geb. 6. April 1927, Associate Professor of History, Providence, Rhode Island.