Die drei Jahrzehnte, fast ein Menschenalter, die uns heute von der Machtergreifung des Nationalsozialismus am 30. Januar 1933 trennen, bedeuten, daß auch dieses Ereignis unserer schnellebigen Zeitgeschichte für die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geborene und jetzt bald in das öffentliche Leben eintretende Jugend aus dem Bereich des noch Selbsterlebten in den Bereich des Berichtes ihrer älteren Umgebung in Familie, Schule und Beruf, wenn nicht in den Bereich der „Literatur" eingetreten ist. Der immer wiederholte Ruf nach der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit entspringt nicht zum wenigsten dem Wunsche — oder ist es ein Wunschtraum? — dem dadurch möglich werdenden Pendelschlag einer öffentlichen Meinung vorzubeugen, die in absehbarer Zeit nicht mehr damit rechnen kann, daß das Bild des Nationalsozialismus in Deutschland von den Vertretern einer Generation bestimmt wird, die die Ereignisse des Tausendjährigen Reiches in den nur zwölf Jahren von 1933 bis 1945 miterlebt haben und dadurch überwiegend auf ein im Guten wie im Bösen fest geprägtes Erinnerungsfeld festgelegt wurden.
Die so oft als säumig gescholtene deutsche Forschung hat seit 1945 sehr viel mehr an grundlegender ernster Arbeit auf diesem Felde geleistet, als dies weiteren Kreisen durch die gelegentlich scharf zugespitzte Debatte über diese Fragen deutlich geworden ist. Die . Auflösung der Weimarer Demokratie", die „Nationalsozialistische Machtergreifung" oder das „Ende der Parteien" — um nur diese Themen zu erwähnen — haben eine so eingehende und aufschlußreiche Bearbeitung von deutscher Seite gefunden, daß auch die Kritik des Auslandes die grundlegende Unentbehrlichkeit dieser Forschungsleistung überwiegend mit Wärme anerkannt hat. Diese gesamte Forschungsarbeit hat auch in Deutschland schon einen Umfang angenommen, der selbst dem Fachmann die Übersicht ganz erheblich erschwert und es bis zu gewissen Grenzen begreiflich macht, wenn die Anerkennung oft von dem kritischen Hinweis auf die Schattenseite begleitet ist, daß nicht zu gleicher Zeit und mit dem gleichen Gewicht faszinierende Zusammenfassungen für das breitere Publikum vorgelegt worden seien. Es ist ein Vorwurf, der kaum genügend beachtet, daß Licht und Schatten auch in diesem Falle dicht nebeneinander stehen; denn die gleiche Gewissenhaftigkeit des Forschers, der wir diese Leistungen verdanken, steht in Deutschland neben einer unleugbaren Schwäche des Zusammenhanges zwischen Wissenschaft und Literatur, so daß der Bereitschaft zu frühen Synthesen auf einem zeitnahen und in rapider Entwicklung befindlichen Arbeitsfeld Hemmungen der Gewissenhaftigkeit entgegentreten. Die Gefahr dieses Zustandes wird deutlich, wenn man den Blick auf die — trotz aller wissenschaftlichen Kritik von deutscher Seite — mehr als einmal verwirrende Wirkung richtet, die gleichzeitige Synthesen des zum Teil weniger mit kritischen Bedenken belasteten Auslandes in Deutschland anzurichten drohen. Es ist von symptomatischer Bedeutung, daß diese Bücher trotz teilweise sehr großen Umfangs oft sehr schnell in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht worden sind. Das gilt schon von dem rund tausend Seiten starken erzählenden Epos des amerikanischen Journalisten William L. Shirer vom Aufstieg bis zum Sturz des Dritten Reiches, obwohl seine Einseitigkeiten und seine dilettantischen Schwächen leicht genug festzustellen waren. Ähnlich ging es mit der „Entstehung des Zweiten Weltkrieges" durch den ebenso geistreichen wie subjektiv willkürlichen Engländer A. J. P. Taylor, der mit fast artistischer Freude an der Provokation erklärte, daß, da Staatsmänner nun einmal nicht nach vorgefaßten Plänen zu handeln pflegten, auch das Bild des Außenpolitikers Hitler — und sei es gegen die greifbare Evidenz einer langen Reihe dokumentarischer Zeugnisse — revidiert und im Ergebnis auf den Kopf gestellt werden müsse. Die Lebensraumforderungen des Führers seien bloße Arabesken seiner Politik in überhitzten Stunden des Gesprächs gewesen. Hitler habe nie die Initiative ergriffen, sondern sich im Grunde stets von dem Wellenschlag der Ereignisse treiben lassen, indem er auf die Laune des Glücks spekulierte. Der Krieg sei niemals das Ziel seiner Politik gewesen, die auch 1939 nur die diplomatische Drohung mit dem Kriege als Instrument habe brauchen wollen. Das Endergebnis dieser verblüffenden Interpretation war eine Auffassung vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, die ihn noch mit ganz anderer Einseitigkeit als Zufallsprodukt des diplomatischen Schachspiels hinstellte, als dies jemals für den Ersten Weltkrieg mit dem nicht schlechthin falschen, aber das Problem doch keineswegs erschöpfenden Satze geschehen war, daß Nationen, Staaten und Staatsmänner durchweg wider Willen in seinen Strudel hineingetaumelt seien.
Ihre letzte groteske Steigerung hat diese Thesenliteratur soeben mit dem Buche des amerikanischen „Revisionisten" — und fanatischen Roosevelt-Gegners — David L. Hoggan über den „Erzwungenen Krieg" gefunden. Er weiß keine bessere Lösung der großen Streitfrage zu bieten, als den konservativen und tief friedlichen Mitarbeiter Neville Chamberlains — der bisher deshalb scharf und überscharf kritisiert worden war —, Lord Halifax, zur Personifikation des „perfiden Albion" zu erklären und, gleich rücksichtslos gegen Quellen wie sachliche Zusammenhänge, zum Werkmeister des Kriegsausbruches vom 1. September 1939 zu stempeln.
Die am heutigen Tage zur Beachtung auffordernde ernste Gefahr solcher nur ganz flüchtig blendender historischer Irrwege besteht darin, daß sie geeignet sind, die Aufmerksamkeit verhängnisvoll von den schweren Problemen abzulenken, die nach wie vor mit der Frage verknüpft sind, inwieweit die Tragödie des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte nur eine von außen her hereinbrechende Verirrung, etwa als ausschließliche Folge der Friedensschlüsse am Ende des Ersten Weltkrieges, war oder inwieweit sie doch Ausdruck von Kräften gewesen ist, die im Zusammenhang der jüngeren deutschen Geschichte nicht ignoriert werden dürfen. Ist die Verflechtung der Ursachen, die den Triumph der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 gestattete, doch so tief in den engeren und weiteren Verlauf des deutschen Geschichtsprozesses eingewoben, daß die durch den greisen Reichspräsidenten vollzogene Ernennung Adolf Hitlers zum Reichs-kanzler ein nicht zu streichendes Glied in der Geschichte des deutschen Volkes bedeutet, so daß sie nach wie vor, heute wie immer in den dreißig Jahren seit 1933, zur Gewissens-prüfung auffordert?
Diese Frage ist im letzten Jahr mit einer nicht zu übersehenden Schärfe wieder durch das gewichtige Buch des Hamburgers Fritz Fischer über den deutschen „Griff nach der Welt-macht" aufgeworfen worden. Dieser Titel meint nicht jene Kontinuität eines durchgehenden Sündenfalls der deutschen Geschichte von Luther und Friedrich II. über Bismarck zu Hitler, die unmittelbar nach 1945 eine so große Rolle vornehmlich in der Anklageliteratur des Auslandes gespielt hat. Das Thema dieses Buches ist auch nicht völlig neu, sondern hat einen sehr bedeutenden Vorläufer in Ludwig Dehios Studien zur Ideengeschichte des deutschen Imperialismus im Zusammenhang der Geschichte des europäischen Staatensystems. Dehio ging mit tiefbohrendem Nachdruck den imperialistischen Anwandlungen in der Geschichte des zweiten deutschen Kaiserreiches nach, die er als legitimen, in der Tradition der Geschichte Europas seit Karl V. und Philipp II., Ludwig XIV. und Napoleon I. unvermeidlichen Ausdruck jenes Kraftgefühls einer aufstrebenden Nation deutete, der um die Wende zum 20. Jahrhundert kein Ziel des.deutschen Aufstieges zu hoch gesteckt und unerreichbar schien. Dehio verkannte keineswegs, daß der Nationalsozialismus auch an diesem Maßstabe gemessen noch eine weitere, ins Groteske gehende Übersteigerung bedeutete. Er hat daher an den Thesen des Fischerschen Buches bemängelt, daß hier die Differenzen zwischen den Epochen vor 1914 und von 1933 bis 1939 bedenklich zu verschwimmen drohten; Fischer werde damit dem spezifischen Gehalt der Generation Wilhelms II. auf der einen, Adolf Hitlers auf der anderen Seite nicht mehr gerecht, obwohl auch Dehio nicht leugnen wür-de, daß die 60-Millionen-Nation des Deutschen Reiches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts — trotz der katastrophalen, aber von ihr nicht geistig verarbeiteten Niederlage des Ersten Weltkrieges — den echten Fall einer zuerst potentiellen, zuletzt auch aktuellen Hegemoniemacht darstellt: In der ersten Phase vor 1914 für das europäische Staaten-System, wie es aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen war, in der zweiten Phase des Nationalsozialismus nun als unbestreitbarer Fall eines Weltmachtstrebens, für das die Hitlersche „Neuordnung Europas" nur die Tarnung einer brutalen Beherrschung dieses bisher dem Planeten bestimmten Erdteils im Dienste eines gigantischen Strebens nach vor-waltender Weltmacht bedeutete.
Die Kontroversen, die jetzt Fritz Fischers Thesen mit ihrer herausfordernd unpsychologisehen und sachlich nicht haltbaren Gleichsetzung der deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg — von Bethmann-Hollweg bis Ludendorff — entfesselt haben, werden sobald nicht abgeschlossen sein, sondern zu einer sehr viel eingehenderen Beschäftigung mit der Geschichte und Problematik des Ersten Weltkrieges drängen, als es bisher in Deutschland seit 1945 der Fall gewesen ist. Diese Fragestellung weist so sehr auf die Stärke und zugleich Fragwürdigkeit der deutschen Großmachtsrolle im 20. Jahrhundert hin, daß ihre Beantwortung aut die Dauer vielleicht sogar größere Fruchtbarkeit entfalten kann, als die gelegentlich in bedenklicher Weise isolierten Debatten über den Nationalsozialismus, wie sie in den letzten Jahren mehr wie einmal geführt worden sind. Schon heute dürfte sie aber geeignet sein, die Aufmerksamkeit verstärkt und anregend auf die geschichtliche Problematik jener Machtergreifung des 30. Januar 1933 hinzuweisen, die heute zur Diskussion steht.
Fritz Fischer glaubt ein großes Massiv der deutschen Kriegszielillusionen erkennen zu können, das, im letzten Grunde einheitlich, nur von ohnmächtigen und wenig konsequenten Gegnern nicht geteilt, zuerst durch die von ihm schnei] berühmt gewordene Denkschrift Bethmanns vom 9. September 1914 — noch vor der Entscheidung der Marneschlicht — skizziert worden ist. Dieses Massiv reicht mit den Kriegszielprogrammen der deutschen Regierung auf der Flöhe des Weltkrieges (1915 bis 1917, den Friedensschlüssen von Brest-Litowsk und Bukarest) sogar noch tief bis in den Hochsommer 1918 hinein, als die deutsche Niederlage tatsächlich bereits besiegelt war. Diese Kriegsziele sind für Fischer die Exekutierung der Träume des deutschen Imperialismus vor 1914, denen er bis in die Erschütterungen der Julikrise 1914 hinein ein höchst unwahrscheinliches Maß von innerer Folgerichtigkeit zuschreibt, Träume, die nicht nur Alldeutsche und nationalistischer Chauvinismus geteilt hätten, sondern die, leise verschleiert, aber im Kern zäh festgehalten und gleichbleibend, auch die politischen Erwägungen der Reichs-regierung bestimmt hätten, obwohl diese nach außen hin ihre Arbeit mit der Parole Weltpolitik und kein Krieg definierte. Die innere Geschlossenheit dieser erst potentiellen, dann seit Kriegsbeginn für ihn konsequent aktuellen imperialistischen Zielsetzung erscheint ihm so groß, daß die Kontinuität der deutschen Geschichte vom zweiten Kaiserreich zum Nationalsozialismus sich ihm als unausweichliche Folgerung aufzudrängen scheint. Die vorsichtig differenzierenden Auffassungen Dehios weichen hier Formulierungen, die auch den in der Ostlocarnofrage ablehnenden „Realisten" Stresemann eng an diese illusionistische Kriegszielpolitik heranschieben, so daß eine „Kontinuität der Irrtümer" über die Möglichkeiten der deutschen Politik entsteht, in der die Hitlersche Neuordnung Europas wie eine Fortentwicklung der — sehr verschiedenartig abgestuften — Mitteleuropapläne des Ersten Weltkrieges erscheint.
Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen auszuführen, wie verschiedenartige Haltungen sich in der sicherlich niederdrückenden Kriegszielprogrammatik Deutschlands im Ersten Weltkrieg miteinander verflochten haben. Nur soviel muß mit allem Nachdruck betont werden: Daß, wie schon die verfehlte und in die Katastrophe des Kriegsausbruches mündende deutsche Politik der Julikrise 1914, auch diese Debatten der Kriegsjahre nur deshalb so leidenschaftliche innerdeutsche Kämpfe entfesselt haben, weil die Basis der Kriegszielformulierung eine Vielschichtigkeit der Motive umfaßt, von der in der monolithischen Welt des totalitären Nationalsozialismus schlechterdings keine Rede sein kann.
Schon die Debatten des Jahrhundertanfangs von 1900 bis 1914 tragen zunehmend den Stempel nicht eines zuversichtlichen „Griffes nach der Weltmacht", sondern der Sorge um die selbstverständlich zu behauptende zukünftige Parität der jungen deutschen Großmacht mit dem nicht sehr schwer erkennbaren Vorsprung der in freiereren Lage operierenden Flügelmächte, ob es sich um Rußland oder um Großbritannien handelt. Vollends wird die Zukunftsbedeutung der Vereinigten Staaten in der kontinentalen Enge des deutschen Gesichtskreises jetzt wie später, selbst am Ausgang des Ersten Weltkrieges jedenfalls nur ganz episodisch, vielleicht am wenigsten erfaßt. Dies durchaus nicht auf eine den Planeten beherrschende Hegemonie Paritätsstreben wurde aber nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der subjektiv ehrlichen Auffassung des deutschen Volkes eher noch mehr defensiv gefärbt, da dem deutschen Mitlebenden des Jahres 1914 dieser Ausbruch des Krieges, irrig aber mit voller Überzeugung, als Überfall einer Koalition der stärksten Mächte auf ein im Grunde friedliches Reich erschien. Die komplizierte Dialektik der deutschen Kriegszielprogramme ist von der historischen Interpretation so schwer zu entziffern, weil sich in ihr immer wieder der massive Übermut einer — durch militärische Siege scheinbar bestätigten — Stärke mit einem verzweifelten Suchen nach Sicherheit für die Zukunft mischt, die auf der traditionellen Basis einer „Realpolitik" angeblich Bismarckscher Prägung ganz in die Schranken nationalstaatlichen Denkens gebannt blieb und daher, gerade im Kreise der Regierenden Deutschlands, niemals den Ausweg einer „neuen Politik" zu finden vermochte, die bei allen Begrenzungen die vorwärtsweisende Stärke etwa des Wilson-Programmes bedeutete. So unleugbar in den Extremen der Alldeutschen Bewegung und des Rufes nach dem völlig utopischen „Siegfrieden" Elemente enthalten sind, die sich der Nationalsozialismus erfolgreich dienstbar machen konnte, so tief bleibt doch auch in Deutschland der Unterschied zwischen der fast d’lettantisch anmutenden Kriegspolitik des Ersten Weltkrieges, die so plötzlich in die Strudel einer beginnenden „Revolutionierung" der modernen Welt gestürzt war, und der Härte und Schärfe der Positionen, die sofort vorherrschte, als Hitlers Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg zur Tatsache machte. Denn bei allen tragischen Irrtümern und Versäumnissen der Zwischenkriegszeit hatten vor allem seine Gegner im Westen, die Mächte eines sicherlich fehlerhaften, aber ehrlich gemeinten und tragisch sich selbst verstrickenden Appeasement, lange versucht, durch größte Zugeständnisse an das Hitlersche Teil-und Scheinziel einer bloßen Revision der Friedensverträge von 1919 — zuletzt mit dem Opfer der Tschechoslowakei auf der Münchener Konferenz von 1938 — den verhängnisvollen Zusammenprall zu vermeiden.
Wenn ein Ergebnis der immer dichteren Zeugnisreihe, die seit 1945 zusammengetragen ist, heute als gesichert betrachtet werden muß, so ist es das Zugeständnis eines durchgehenden Zusammenhanges Hitlers Expansionsund Machtpolitik. Wir besitzen heute eine geschlossene Kette solcher Zeugnisse von dem Produkt des Landshuter Festungsjahres 1924 „Mein Kampf" und dem neuerdings zugänglich gewordenen „Zweiten Buch" Hitlers aus dem Jahre 1928 bis zu den gespenstischen Gesprächen des Frühjahres 1945 und seinem sogenannten „Politischen Testament". Diese Zeugnisse lassen keinen Zweifel mehr über die entscheidende Substanz eines zum Selbstzweck gewordenen, von jedem geistig-ethischen Bezug entleerten Machtwillens, für den alle Geschichte nur Kampf ums Dasein im Sinne eines völlig naturalistisch gewordenen Materialismus war. Auf dieser Basis konnte sich dann, wie Hitlers Zweites Buch noch eingehender als „Mein Kampf" darlegte, die Forderung einer zum mechanischen Zweck gewordenen „Raumpolitik" bilden, mit dem in der modernen Welt schlechthin irreal gewordenen Wunschtraum einer letzten Endes absoluten Wirtschaftsautarkie des Reiches. Das alles wurde schließlich durch seinen schon in den Wiener Jugendjahren ausgebildeten Rasse-gedanken zu letzter Explosivkraft gesteigert.
Schon „Mein Kampf" enthielt die unbedingte Absage gegen jeden Gedanken einer Kontinuität zwischen der künftigen Außenpolitik eines siegreichen Nationalsozialismus und den außenpolitischen Zielsetzungen, selbst den kühnsten und weitgreifendsten, der deutschen Vergangenheit. Indem er verkündete, daß der Lebensraum des deutschen Volkes im Osten — und nur im Osten — liege, zog er bereits die von ihm niemals aufgegebene Folgerung, daß die bloße Wiederherstellung der Grenzen von 1914 — die als Tarnziel seiner Politik von 1933— 38, als Revision des Versailler Diktatfriedens, eine so große Rolle spielen sollte — „politischer Unsinn" sei. „Damit ziehen wir Nationalsozialisten den Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten", wo „die Bodenpolitik der Zukunft“ zu Hause sein wird. Nun ist gewiß an dem Einwand Taylors, daß es sich der unter dem Zwang konkreter Lagen operierende Staatsmann nicht leisten kann, nach vorgefaßten Plänen zu handeln, soviel richtig, daß der Erfolg der Politik Hitlers bis 1938 mit einem im einzelnen höchst geschmeidigen und seine Gegenspieler erfolgreich täuschenden Opportunismus erreicht worden ist. Er hat sich noch 1938 nicht gescheut zu erklären, der Anschluß Österreichs und der Gewinn des Sudetenlandes stellten seine zuverlässig letzte territoriale Forderung dar. Aber nicht nur die Konsequenz einer Aufrüstung, die bedenkenlos über die ihm selbst bekannte und trotz aller Erfolge im Grunde fortschreitende Aushöhlung der wirtschaftlichen Basis Deutschlands hinausging, sondern ganz direkt die Kette der Zeugnisse, in der er immer wieder auf jenen Grundgedanken des Lebensraumgewinnes im Osten zurück-kam, beweist, daß er von diesem bereits völlig verhärteten Fundament seiner außenpolitischen Zielsetzungen niemals abging, das allein dem in das fantastisch Riesenhafte drängenden Grundzug seines persönlichen Wesens entsprach, dessen Dämonie entscheidend auf der vom Anfang bis zum Ende seiner Laufbahn unlösbaren Verflechtung von schärfstem Realismus der Einzelrechnung mit einer überraschenden Traumwelt in ihrem Hintergrund beruhte. Schon unmittelbar nach der Machtergreifung deutet er den Befehlshabern der Reichswehr am 3. Februar 1933 an, daß das bevorzugte, „viel bessere" Ziel seines Strebens die „Eroberung neuen Lebensraums im Osten" sein werde. Die Rede vor dem Führernachwuchs der Ordensburg Sonthofen am 23. November 1937 spricht offen von dem „germanischen Reich deutscher Nation"; denn es sei nun einmal so, „daß das letzte Recht immer in der Macht“ liege. Von hier aus ist auch die Niederschrift des Obersten Hoßbach über die berühmte Besprechung am 5. November 1937 zu verstehen, deren äußerer Anlaß immerhin das Bestreben gewesen sein mag, Zögerungen und Stockungen in dem Prozeß der Aufrüstung aus dem Wege zu räumen. Aber die Kernformulierungen dieses Schriftstücks beweisen doch durch ihren Inhalt, daß sie — über alle taktischen Erwägungen hinaus, die für die besondere Lage des Mächtesystems im Augenblick des erwarteten Zusammenpralles zutreffen — den letzten Inhalt seines Denkens und Wollens zum Ausdruck bringen. In sehr charakteristischer Weise hat ihn hier der Fluß der — übrigens sichtlich eingehend vorbereiteten — Rede weit über den Anlaß zur Einberufung der Besprechung hinweggetragen: „Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben", um das letzte Ziel „Sicherung und Erhaltung der Volksmasse" zu erreichen. Und so entspringt aus dem Grundstrom seiner Entwicklung und seines Wesens die alles zusammenfassende Ankündigung: es sei sein „unabänderlicher Entschluß, spätestens 1943 bis 1945 die deutsche Raumfrage zu lösen".
Noch ist die Frage offen, wo der Funke dieses Machtwillens zünden wird, ob der abschließende Kampf zuerst gegen Westen oder gegen Osten ausgetragen werden sollte. Aber die innere Logik, an der sein Wunsch scheiterte, die Wiederholung des 1914— 18 verhängnisvollen Zweifrontenkrieges zu vermeiden, ist jetzt bereits in vollem Umfange angelegt. Es ist überaus bezeichnend, daß Hitlers letzte Ansprache an die Oberbefehlshaber des Heeres vor dem Kriegsausbruch am 22. August 1939 ihnen durch die Andeutung des Paktes mit Stalin diesen Alpdruck der Zweifrontenkriegsgefahr zu nehmen suchte, während er doch schon den Angriff auf Polen als Teil der „germanisierenden Expansion" nach Osten charakterisierte und schon zu triumphieren beginnt, dies sei „der Anfang der Zerstörung der Vormachtstellung Rußlands". Gewiß hängt dann schließlich der Angriff des 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion auch auf das engste damit zusammen, daß Hitler dem unüberwindbar zähen Widerstand des bereits von den Vereinigten Staaten unterstützten, nur scheinbar isolierten englischen Gegners den „letzten Kontinentaldegen" „in einem schnellen Feldzug" aus der Hand schlagen wollte. „Ist ... Rußland geschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt“. Aber schon die Besprechungen im ersten Monat des Krieges im Osten (16. Juli 1941) beweisen, daß jetzt nur die Schleier von einem zäh festgehaltenen Ziele fallen, wenn die Krim von allen Fremden geräumt und Galizien in das Reichsgebiet einbezogen, wenn vor allem das besiegte Rußland als Ganzes zum Objekt durchgreifender deutscher Beherrschung in einer Weise gemacht werden soll, die doch zumindessen einen erheblichen Gradunterschied selbst gegen die Exzesse des Ludendorffschen Annexionsdranges im Sommer 1918 bedeutet. Denn jetzt soll der „riesenhafte Kuchen" von Anfang an „handgerecht zerteilt" werden, um ihn — unter Ausschaltung jeder militärischen Macht westlich des Ural — „erstens beherr-schen, zweitens verwalten, drittens ausbeuten" zu können. Von hier aus ist es dann nur noch ein letzter Schritt zu jener Ankündigung an die Gauleiter vom 8. Mai 1943, es sei „unumstößliche Gewißheit ", daß das Reich einmal ganz Europa beherrschen werde. „Das Kleinstaatengerümpel, das heute noch in Europa vorhanden ist, muß so schnell wie möglich liquidiert werden."
Der Gedenktag der Machtergreifung zwingt heute, mit dem Realismus des zur Wahrheit verpflichteten Historikers vollen Ernst zu ma-machen und auf jede Abschwächung dessen zu verzichten, was in den unerbittlichen Konsequenzen der großen Illusion des 30. Januar 1933 einmal an Selbsttäuschungen enthalten war. Das bedeutet aber, daß die Tatsache eines freilich sehr problematischen deutschen Imperialismus aus der Geschichte nicht gestrichen werden kann, aber es bedeutet nicht, daß die beiden dynamischen Höhepunkte in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Erste und der Zweite Weltkrieg, in eins gesetzt, daß der Zweite Weltkrieg als ein Wiederholungsspiel zu der Thematik der deutschen Kriegsziele zwischen 1914 und 1918 in Bausch und Bogen angesehen werden dürfte. Was beide Phasen verbindet, ist die nicht fortzudenkende Tatsache, daß die potentielle Dynamik eines 60-Millionen-Reiches im Herzen Europas so lange unvermeidlich seinen Nachbarn und Rivalen, erst im europäischen Staatensystem, seit 1917 mehr und mehr in einem planetarischen Weltmachtsystem, als drohende Hegemoniegefahr erschien und offenbar erscheinen mußte, solange eine an Maßstäbe der Vergangenheit gebundene Tradition diese Kräfte im Sinne einer bereits verblassenden, national begrenzten Realpolitik einsetzte. Sie geriet damit in einen Engpaß, aus dem auch grundsätzlich um ein Maß in den Dingen bemühte Staatsmänner wie Bethmann-Hollweg keinen Ausweg zu finden vermochten. Aber die Kluft, die die Irrtümer der Generation des Ersten Weltkrieges, bei aller verhängnisvollen Stärke der auch damals schon vorhandenen, irrationalen und schrankenlos chauvinistischen Kräfte, von dem konsequenten und ganz von der Persönlichkeit Adolf Hitlers bedingten Imperialismus des Nationalsozialismus trennt, bleibt doch bestehen. Sie warnt davor, die Teilelemente der Kontinuität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts leichten Herzens einseitig zu beachten und darüber den Fortschritt in der Revolutionierung der modernen Welt seit 1914 und 1917 zu gering anzuschlagen.
Die Machtergreifung am 30. Januar 1933 ist ein Ereignis, das gewiß nicht verstanden werden kann, ohne ihre Einbettung in den ganzen Strom der modernen deutschen Geschichte mit allem Ernst zu prüfen und mit voller Offenheit nach ihrem ganzen Gewicht zu würdigen.
Aber es hieße, den Charakter dieser Geschichte vergewaltigen, wenn dabei übersehen wird, daß der Strom der Ereignisse zwar durch Leidenschaften und Niederlagen des Ersten Weltkrieges begonnen hat, eine verhängnisvolle Wendung zu nehmen, daß aber deren Unvermeidlichkeit aus den vor 1914 gegebenen Voraussetzungen der deutschen Geschichte nicht abgeleitet werden kann. Der bewußte Griff nach der Weltmacht, soweit dies nicht auf Einzelkräfte, sondern auf die Gesamtheit des nationalen Lebens zielt, ist nicht schon vor 1914 und im Juli 1914, nicht einmal im Verlaufe des Ersten Weltkrieges, so sehr sich in ihm die das Verhängnis vorbereitenden Tendenzen verdichten, gewagt worden. Erst der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg haben im Gefolge der totalitären Machtdurchsetzung Adolf Hitlers als revolutionäre Ausnahmegipfelung die letzten Schranken überschritten und damit dem Verhängnis in seinem ganzen Umfange die Bahn geöffnet.