In den politischen Nachschlagewerken erfährt man, daß die Bezeichnungen rechts und links aus der Anfang des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufgekommenen Sitzordnung der Parlamente herrühren, wie sie sich in den meisten Ländern des europäischen Kontinents im Laufe der Zeit eingebürgert hat. Ursprünglich pflegten zum Beispiel — vom Präsidenten des Hauses aus gesehen — im Deutschen Reichstag im 19. Jahrhundert die Liberalen links zu sitzen, die katholische Fraktion in der Mitte und die Konservativen rechts. Wer in bezug auf jene Zeit von der sogenannten „Rechten" spricht, weiß also genau, was er meint. Und wenn eine von den Liberalen oder Freisinnigen abgespaltene Gruppe sich zum politischen Zusammenwirken mit den Konservativen entschloß, so konnte man mit Eindeutigkeit sagen: sie schwenken nach rechts. Heute — ein Jahrhundert später — ist das mit gleicher Eindeutigkeit auch nicht entfernt mehr möglich.
Liberal — Zentrum — Konservativ: diese stark vereinfachte Reihe innerpolitischer Grund-attitüden oder Ideologien glich einem kontinuierlichen Spektrum von Farben — wenn auch mit vielen Zwischenschattierungen und zum Teil unmerklichen Übergängen. Die Parteiprogramme und grundsätzlichen Schriften der politischen Parteien Deutschlands ließen in ihrer Entstehungszeit gleichwohl eine ziemlich weitgehende Subsummierung unter die drei genannten Hauptrichtungen zu Damit war auch die Identifizierung mit „links", „Zentrum" und „rechts" als parlamentsinterne, quasi Sitz -geographische Ortsbestimmung eine klare Sache Mit der Gründung des Bismarck Reiches kamen dann die Sozialdemokraten hinzu; sie saßen selbstverständlich links von den Liberalen, weil ihre Vorstellung von Parlament, Demokratie, Volksherrschaft, und sozialer Gestaltung wesentlich radikaler war als diejenige der Liberalen, die sich später endgültig spalteten, und zwar in einen Teil der links vom Zentrum, und einen anderen Teil, der rechts vom Zentrum lokalisiert war Anno Weimar saßen dann also links die Sozialdemokraten und die fortschrittlich Liberalen (die sich damals Deutsche Demokratische Partei nannten); rechts saßen die National-liberalen, die sich nunmehr Deutsche Volkspartei nannten, und die ehemaligen Konservativen, die sich jetzt Deutsch-Nationale nannten. Mit dem Ende des Weltkrieges waren jedoch schon neue politische Kräfte in Erscheinung getreten; wenn wir im Bilde des Farbenspektrums bleiben wollen, so könnten wir die Kommunisten als Ultra-Linke und die Nationalsozialisten als Ultra-Rechte bezeichnen.
Diese beiden bewußten Totengräber des ersten Demokratie-Versuches der Deutschen haben in mancher Leute Augen die Vorstellung von rechts und links suspekt gemacht und diskreditiert. Da sie beide gleicherweise für totalitäre Herrschaft von ziemlich ranggleicher Scheußlichkeit stehen: wieso soll eigentlich Hitler zur sogenannnten „Rechten", Ulbricht zur sogenannten „Linken" gezählt werden? Die Nationalbolschewisten der Weimarer Zeit hätten ja dann als „Zentrum" angesprochen werden müssen! Und wenn wir von den Totalitären absehen und nur unsere heutigen Parteien betrachten; was bedeutet heute eigentlich:
„rechter Flügel" der SPD oder „linker Flügel"
der CDU? Sind die sogenannten „Rechten" in der SPD etwa konservative Sozialdemokraten, sind die sogenannten „Linken" in der CDU/CSU etwa die liberalen Katholiken? Offenbar wäre eine solche Definition ziemlich irreführend. Wenn Männer wie Willy Brandt oder Herbert Wehner als „rechte Sozialdemokraten" bezeichnet werden (wie es aus kommunistischem Munde häufig geschieht — beiläufig gesagt — in der Absicht, diese Männer herabzusetzen): werden sie so bezeichnet, weil sie etwa konservativ sind? Sie sind in Wahrheit doch sicher von sehr viel weniger konservative; Haltung als jene ihrer Parteifreunde, die krampfhaft an tradierten, angeblich „marxistischen" Theorien festhalten und sich weigern, ihre Theorien entsprechend der längst veränderten gesellschaftlichen. wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu korrigieren.
Was heißt also eigentlich heute „rechts"? Diese Frage erscheint berechtigt, aber schwer zu beantworten. Und mir will scheinen, daß viele Menschen sie — je nach ihrer politischen und historischen Bildung, je nach ihrem gesellschaftlichen Standort, ja nach ihren Traditionen und ihrer persönlichen Umwelt — völlig verschieden beantworten.
Während fast jedermann weiß, welches die linke Seite seines Körpers ist, nämlich diejenige, wo sein Herz sich befindet — und welches die rechte Seite, nämlich diejenige, wo der Blinddarm sitzt, so wird doch jeder auf die Frage, was politisch die Kategorien „links" und „rechts“ bedeuten, seine eigene, höchst-persönliche Antwort geben.
Da ich weder Soziologe noch Philologe, vielmehr überhaupt kein Wissenschaftler bin, kann ich mich der Frage kaum wissenschaftlich nähern. Jedoch muß ich gestehen, daß auch die Erfahrungen und Einsichten, die mir als praktischem Politiker zur Verfügung stehen, die Antwort darüber, was denn eigentlich „rechts" sei, nicht leicht machen. Vielleicht läßt sich die Antwort gar nicht mit solch hinreichender Allgemeinverbindlichkeit geben, als daß der Begriff „rechts" überhaupt noch brauchbar wäre.
Ich habe nun eine ganz kleine private Meinungsforschung betrieben und über zwölf Leute gefragt, die sich selbst zum größten Teil wohl für „Linke" halten würden. Sie haben auf die Frage nach dem Inhalt des Begriffs „rechts"
folgende Antwort gegeben: Konservativ, reaktionär, national, nationalistisch, faschistisch, nazistisch, antidemokratisch, autoritätsbedacht, autoritär, militärfromm, militaristisch, hierarchiebetont, völkisch, rassisch, antisemitisch, reichsbewußt, ständisch, bürgerlich, aristokratisch, feudalistisch. „Rechts" erweckte bei meinen Gesprächspartnern Assoziationen wie Thron und Altar, Reichsidee, Adel, Großkapital, Besitz, Privilegien, Oberklasse, gewerkschaftsunfreundlich, unsozial, antisozial, rückschrittlich, Restauration, Metternich, Bismarck, Wilhelm II, Generalstab, „die Kriege werden immer von den Rechten angezettelt", Hugenberg, Kurt Schumacher, Bauerntum. Blut und Boden, Richter und Staatsanwälte, Gymnasial-Studienräte, Offiziere, Unternehmer, Bischöfe. „Rechts" sei ein Leitbild der Oberschichten, auf daß sie sich als Formel einigten, um ihre Privilegien zu verteidigen, „rechts" sei ein Leitbild, das sich an der „guten alten Zeit" orientiere, „rechts" sei ein Leitbild der Konvention, der Ruhe und Ordnung und schließlich: „rechts" sei ein bestimmter Stil.
Auf meine Frage: wie man diesen Stil denn bezeichnen könne, kamen folgende Assoziationen: Zylinder, steife Hüte, Handkuß, Frack, Orden, Marschmusik, Richard Wagner, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Oswald Spengler, Ortega y Gasset, Ferdinand Hodler, eigenartigerweise auch Adolph v. Menzel (während übrigens sehr viele epochemachende Maler der letzten drei Generationen mit „links" assoziiert wurden).
Eigentlich liefen alle diese Antworten darauf hinaus, „rechts" sei das, was man im Rahmen des immerhin zulässigen weniger sympathisch, weniger moralisch, weniger überzeugend, weniger gerecht, weniger angemessen fand. Wahrscheinlich versteht derjenige, der sich selbst für einen Linken hält, unter „rechts" vornehmlich ihm unsympathische Dinge. Und derjenige, der sich für einen Rechten hält, versteht unter „rechts“ vornehmlich ihm sympathische Inhalte. So war es zum Beispiel nicht unlogisch, von konservativen Gesprächspartnern zu hören, Cool Jazz sei „links", Picasso sei „links“, überhaupt die ganze abstrakte Malerei, Umsturz und Revolution seien „links", Auflehnung und Gewalt, ebenso Klassenkampf, Freidenkertum, Wohlfahrtsstaat, „Die Masse", sagte jemand.
Meine Gesprächspartner waren alle nicht gerade ungebildet, im Gegenteil. Zunächst glaubten sie vielfach, es sei eine ganz leichte Sache, zu definieren, was „rechts" ist und was „links". Je länger aber das Gespräch, desto diffuser wurde der Begriff, um den es sich drehte. Ich muß gestehen: auch mir selbst wurde er immer diffuser. „Rechts" und „links" sind offensichtlich sehr relative Begriffe, die nur noch sehr eingeschränkt von ihrer Entstehungsgeschichte her begriffen und benutzt werden. Sie sind offenbar beide relative Begriffe: ihr Inhalt ergibt sich jeweils aus der Reactio, aus der Reagenz auf etwas Unerwünschtes. Und eigentlich läßt sich nicht viel mehr sagen, als dieses: „*Rechts ist, wer sich selbst dafür hält.
Deutlich ist dieses: wenn wir die Ultra-Linken und die Ultra-Rechten außer Ansatz lassen, dann haben sich in den letzten 100 Jahren die Begriffsinhalte von „rechts" und „links" gegenseitig weitgehend durchdrungen: auch die Rechten sind heute weitgehend für soziale Gerechtigkeit, für Demokratie und allgemein gleiches und geheimes Wahlrecht, für Vollbeschäftigung, für die Menschenrechte; auch die Linken sind heute gegen Umsturz, Revo-lution, gegen Enteignung, gegen eine soge-nannte Diktatur des Proletariats, gegen einen Massenmythos.
Am ehesten mögen viele unserer Mitbürger sich noch an ihrem persönlichen sozialen Status orientieren. So gibt es ohne Zweifel eine Menge Arbeiter, die auf Befragen trotz eigenen Grundbesitzes, Haus, Auto oder anderer Attribute des Besitzes, stolz erklären würden, daß sie „links" seien, weil sie Arbeiter sind. Es gibt gleichermaßen Beamte und Angestellte ohne Grundbesitz und in wirtschaftlich schlechteren Verhältnissen als jene Arbeiter, die auf Befragen ebenso stolz erklären würden, daß sie „rechts" seien, weil sie sich zum Mittelstand rechnen. Das läßt aber eigentlich nur den Schluß zu, daß es sich hier um ererbte Vorurteile handelt. Politische Standort-bezeichnungen, die zur Zeit ihrer Väter oder Großväter noch durchaus bewußt zu begründen waren und Berechtigung in sich trugen, sind kritiklos übernommen worden, ohne daß der Tatsache Rechnung getragen wurde, daß die Bedingungskonstellation unserer gesamten Umwelt sich in der Zwischenzeit so verändert hat, daß diese Standpunktbezeichnungen nach ihrem inneren Gehalt kaum noch viel aussagen. Wer zu den sozial und wirtschaftlich schwächeren Schichten gehört, tendiert in großer Zahl nach „links", und zwar weitgehend aus Tradition — wer zu den Oberschichten gehört, nach „rechts" — ebenso aus Tradition. Wir wissen allerdings, daß hier die Ausnahmen immer zahlreicher werden, wie ja auch die Exklusivität der Schichten und Klassen in einer fortgeschrittenen modernen Gesellschaft fortlaufend abnimmt. Und mit steigender Mobilität der Gesellschaft verliert der alte Klassenbegriff etwa Engelsscher oder Marxscher Prägung seinen Inhalt. So werden heute die Oberschichten unserer Gesellschaft keineswegs auch nur einigermaßen zutreffend durch das Eigentum an Produktionsmitteln charakterisiert. Die Soziologen sprechen heute statt dessen von drei verschiedenen Oberschichten: a) der „Macht-Elite", b) der wirtschaftlichen Oberschicht, c) der Prestige-Oberschicht. Unabhängig von seinem Anteil an der Macht und unabhängig von seiner manchmal sehr bescheidenen wirtschaftlichen Lage zählt ein Lord in England immer noch zur Prestige-Oberschicht, ein ordentlicher Professor in Deutschland desgleichen. Unabhängig von dem Ausmaß ihres allgemein respektierten Prestiges und ihrer bescheidenen wirtschaftlichen Lage muß man aber heute ebenso bestimmte Gewerkschaftsführer, politische Führer und Funktionäre der Linken, Funktionäre in Parlament oder Regierung zur Macht-Elite rechnen. Und es gibt in der wirtschaftlichen Oberschicht Tausende, die abgesehen von ihrer engeren Umgebung weder allgemein anerkanntes Prestige noch Anteil an den Machtfunktionen von Staat oder Gesellschaft besitzen. Im feudalen Zeitalter fiel das alles noch in der gleichen Person und in einer einheitlichen Oberschicht zusammen — heute scheint es auseinander zu streben.
Zwar haben viele derjenigen, die zu den skizzierten heutigen drei Oberschichten gehören, sich den ursprünglichen politischen Grundattitüden der früheren Oberschicht angepaßt, d. h. also: den ursprünglich Konservativen; insofern stehen sie sicherlich „rechts". Aber es sind auch viele in die Oberschichten gelangt, die sich als bewußte Gegner konservativer Grundhaltung verstehen. Nicht nur, daß auch die Labour-Party seit mehr als einer Generation über Lords verfügt — auch in Deutschland gibt es umgekehrt in zunehmender Zahl z. B. Bankiers, Kirchenfürsten und staatliche Machthaber, die sich als Linke verstehen.
Die soziologische Zugehörigkeit zu den Ober-schichten legt in zunehmendem Maße nicht mehr allgemein den politischen Standort fest.
Ein gleiches gilt cum grano salis für die Mittel-schichten und erst recht für die Schichten der wirtschaftlich Schwächeren und derjenigen, die überhaupt keinen Anteil an irgendwelcher Macht und kaum Prestige als Schicht besitzen:
Gerade in der Arbeiterschaft finden wir heute viele, die sehr bewußt und überlegt ablehnen, „links" zu wählen. Und manche kleinen Leute wählen übrigens unbewußt deshalb „rechts", weil sie mehr gelten möchten, als sie tatsächlich gelten. Es wäre also wohl unzutreffend, wenn wir heute schlechthin die Oberschichten als „rechts" und die unteren Schichten als „links" einstufen wollten. Zwar vermag die Tradition sehr viel, und immer noch hält sich die Mehrheit unserer Offiziere und Juristen für Rechte, die Mehrheit der Arbeiter für Linke, aber die Dinge sind im Fluß — und sie werden kaum wieder erstarren.
Und so, wie die politischen Ideologien des 19. Jahrhunderts verblassen, so verblassen auch die ursprünglich klaren Grenzen zwischen „rechts" und „links". Sicher jedoch werden wir auch in Zukunft sozialpolitische Reaktionäre nach „rechts" einstufen oder Fortschritts-10 Fanatiker nach „links". Aber warum eigentlich der argentinische Diktator Peron als Rechter angesehen wird, der kubanische Diktator Castro hingegen als Linker: das wird immer zweifelhafter werden; denn beide sind keine Demokraten, beide stützen sich politisch auf die gleichen großen Schichten der Besitzlosen jener Länder. Und warum ist Tito ein Linker, Franco ein Rechter? Beide regieren mit Hilfe rücksichtsloser Staatsallmacht, der eine stützt sich auf alte Oberklassen, der andere auf neue Oberklassen; und beide werfen den ins Gefängnis, der dies zu kritisieren wagt. Beide benutzen totalitäre Ideologien zur Legitimation, beide lassen den Willen zur Gerechtigkeit auf das Schwerste vermissen.
Oder sollte für die Einstufung nach „rechts" und „links" die Stellung zur Kirche maßgebend sein? Soweit die Kirche in unserer Zeit politisiert, so tut sie es meist zugunsten der Rechten, die katholische übrigens stärker als die evangelische. Noch vor knapp 100 Jahren aber stand in Deutschland die katholische Kirche links von jener evangelischen Kirche der Thron-und Altar-Epoche. Kann man deshalb sagen, die katholische Kirche habe inzwischen ihren Standort gewechselt? Oder hat sie nur — in einem schnell fortschreitenden gesellschaftlichen Prozeß — besonders stationär an ihren politischen Auffassungen festgehalten, die noch im 19. Jahrhundert (denken wir an Ketteier oder Kolping) besonders fortschrittlich waren und ist insofern nur relativ nach rechts gerückt? „Rechts" und „links" sind wohl nur relative Klassifizierungsbegriffe — übrigens von aller-gröbster Qualität. Wie ist es zum Beispiel mit den heutigen Nachfahren des deutschen Liberalismus, der ursprünglich als „links" angesehen wurde? Heute legt Erich Mende großen Wert darauf, im Bundestag rechts von der CDU zu sitzen, die weiß Gott nicht nur Konservative beherbergt, sondern sicher auch Politiker, die sich dem liberalen oder sozialen Gedanken verschrieben haben, und außerdem sogar einige Leute, die in meinen Augen schlicht Reaktionäre sind.
Hält Mende sich für konservativer als die CDU-Vertreter schleswig-holsteinischen Bauerntums oder für nationaler als Franz Josef Strauß? Oder geht es bei dieser Placierung nur ganz einfach um Wähler-Psychologie? Falls aber dies letztere der Fall sein sollte: wieso könnte denn ein Mann wie Thomas Dehler zustimmen? Andererseits: Die ursprüngliche Ideologie des Liberalismus ist inzwischen weitgehend in die Vorstellungswelt der Sozialdemokraten, der Konservativen und auch sogar der Katholiken eingegangen: Die heutige FDP hat keine eigene, nur ihr zugehörige Ideologie, die sie als „links“ von den Konservativen fixieren könnte. Auch die CDU/CSU besitzt keine eigene, nur ihr zugehörige Ideologie, sie hat aber den größten Anteil an der Macht, und in der Bestrebung, sich diese zu erhalten— nicht eines programmatischen Konservatismus wegen —, verhält sie sich in dieser und jener Situation statisch und stationär. Und die Sozialdemokratie? Sie hat ihre Ideologie nach 1945 radikal überprüft, zum Teil erneuert, zum großen Teil beseitigt. Sie ist insofern keineswegs konservativ, was sie bis 1933 in erheblichem Maße war, sondern im eigentlichen Wortsinne fortschrittlich. Deswegen also könnte man sagen, sie sitzt zu recht auf der Linken.
Aber wenn ich mich selbst frage, ob ich ein Linker bin — so müßte ich sagen: wahrscheinlich, denn ich stimme überein mit dem Fortschritt in der Sozialdemokratie. Aber ich müßte bekennen, daß ich auch an manchen Tendenzen und Auffassungen in der FDP und in der CDU Gefallen finde. Wer im Grundsatz alles ablehnen wollte, was die gegnerische Partei tut und denkt, der wäre wohl im eigentlichen Wortsinn reaktionär. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Wort von Fritz Erler zitieren: „Die Vorstellung aber, daß die Opposition immer links sein müsse, höhlt das demokratische Wechselspiel aus. Die Freiheit des Bürgers ruht in der Chance des Wechsels der Regierung. Nur eine Regierung, die fürchten muß, weggewählt zu werden, geht mit der Freiheit der Bürger sorgsam um. Nur eine Opposition, die damit rechnen muß, morgen zu regieren, ist gezwungen, sich von skrupelloser Demagogie freizuhalten. Deshalb darf man nicht . links'und Opposition gleichsetzen (und ich füge hinzu: ebensowenig „rechts" und Regierung), sondern muß die Funktionen von Regierung und Opposition zwischen . links'und . rechts'zu tauschen imstande sein. Dann sind wesentliche Aufgaben jeder Opposition die Kontrolle des Staatsapparates und der Schutz der Bürger vor Mißbrauch der staatlichen Gewalt. Die Partei ist immer nur ein Teil des Ganzen." *) Und ich füge wieder hinzu: Die Ultralinken und Ultrarechten aber sind Feinde des Ganzen! Links und rechts sind relative Begriffe — ebenso wie groß und klein, laut oder leise, schnell und langsam. Der Maßstab ergibt sich immer nur aus der konkreten historischen Situation, er gilt auch nur für diese! Was heute vor 60 Jahren im 100-m-Lauf eine erstklassige, eine Weltklasse-Zeit gewesen ist, das erreichen heute viele Primaner. Was vor 50 Jahren eine technische Großtat war, ist heute alltäglich. Was 1914— 1918 schrecklich war, ist durch Stalingrad, Auschwitz und Hiroshima weit überboten worden. Was 1891 Hauptbestandteil einer linken Politik war, parlamentarische Demokratie, Menschenrechte, Sozialversicherung, Rechtsstaatlichkeit: heute wird es von der Rechten genau so akzeptiert. Und wenn damals von der Rechten gewaltsamer Umsturz und Revolte als Mittel zum Fortschritt bekämpft wurden, so hat heute die Linke gleiche Einstellungen.
Wir werden die Begriffe von „links" und „rechts" nicht ausrotten wollen — es auch gar nicht können. Wenn aber die Diskussion einen Zweck haben könnte, dann diesen: laßt uns in der politischen Auseinandersetzung nicht mit verschwommenen, diffus gewordenen Begriffen und Begriffsnamen arbeiten, sondern konkret und greifbar sagen, was wir wollen, wie, wann, unter welchen Bedingungen, warum wir es wollen, zu wessen Nutzen, auf wessen Kosten, unter Inkaufnahme welcher Nebeneffekte oder Nachteile. Und ebenso umgekehrt: was wir nicht wollen.
Wir nützten und hülfen uns gegenseitig sehr viel mehr, als wenn wir damit fortführen, uns bei vielen unpassenden Gelegenheiten gegenseitig Oblaten aufzukleben, wie „links" oder „rechts", denn diese bedeuten im politischen Tagesgeschehen doch eigentlich nichts anderes, als Freund oder Feind, ohne das gegenseitige Verständnis zu fördern.
Zum Schluß jedoch eine Diskussionsbemerkung von Walter Dirks: „Nichts ohne Not ändern, ist das stille Bekenntnis der echten Rechten. Das Notwendige tun, ist der lautere Wille der Linken". *) Offenkundig schließt aber das eine das andere nicht aus. Ich würde die Formel von Dirks akzeptieren: sie läßt gleichzeitig erkennen, wie nahe sich im Grunde doch „rechts" und „links" sind. Schließlich sitzen wir ja auch alle im gleichen Boot, und Backbord und Steuerbord können nicht unabhängig voneinander operieren, sondern sie bilden zusammen ein Schiff, das seinen Kurs im Strom zu bestimmen hat. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:
Robert J Alexander: Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Jakob Hommes: Kommunistische und freie Gesellschaft philosophisch kontrastiert K. A Jelenski: Die Literatur der Enttäuschung Wanda Kampmann: Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System der Sowjetunion Frhr. v. Lansdorf: Sowjetische Wirtschaftspolitik Walter Z. Laqueur: Rußland mit westlichen Augen aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:
Boris Meissner: Die marxistisch-leninistische Lehre von der „Nationalen Befreiung" und dem „Staat der nationalen Demokratie"
Felix Messerschmid: Historische und politische Bildung Günther Rönnebeck: Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung Helmut Wagner: Ich habe nur das Beste gewollt Egmont Zechlin:
Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)
Epstein, Gollwitzer, Dreißig Jahre danach. Hitlers Machtergreifung Herzfeld, Schieder, in der Sicht deutscher und ausländischer Snell: Historiker