Während seines Lebens, das die Dauer von mehr als 90 Jahren erreicht hat, ist Friedrich Meinecke von der wechselvollen Geschichte seiner Zeit in einer vormals kaum geahnten verschwenderischen Fülle Gelegenheit geboten worden. „Wandlungen deutschen Menschentums" vom 19. zum 20. Jahrhundert zu beobachten und zu interpretieren. Der am 30. Oktober 1862 im altmärkischen Salzwedel Geborene, im Fontaneschen Berlin der 70er und 80er Jahre Ausgewachsene wurzelt in einer väterlichen Welt, auf der noch die Patina einer romantischen Biedermeierzeit lag.
Sein Elternhaus, vor allem der Freundeskreis des Hauses, vermittelte ihm ebenso die Wertmaßstäbe wie das Lebensgefühl einer christlich-germanischen Haltung, die der Historiker einmal als eine bedeutungsvolle Entwicklungsschicht deutschen Lebens im 19. Jahrhundert beschreiben sollte, als er sich selbst allerdings längst davon gelöst hatte.
Wer den Versuch unternimmt, sich in dieses Leben von einzigartiger Kontinuität und Wandlungsfähigkeit zu versenken, vor dessen geistigem Auge tauchen Bilder auf, die Meinecke in einer Reihe von Zeugnissen selbst beschworen hat und denen ein symbolhafter Gehalt für die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte innewohnt. Die Vergegenwärtigung solcher Bilder kann dazu dienen, den Weg ins Innere seines denkenden Geistes zu erleichtern, dem stets daran gelegen war, Vergangenheit und Gegenwart im historischen Augenblick zu verknüpfen. Zu solchen Bildern gehört ein Doppel-erlebnis, in dem Aufstieg und Niedergang deutschen staatlichen Lebens enthalten sind. Hinter der Schwelle seiner Salzwedeier Kindheit erlebte der junge Meinecke den Einzug der siegreichen Truppen in das Berlin der Reichsgründung. Er schreibt in seinem ersten
Erinnerungsbuche: „Im Juni 1871 zogen die siegreichen Truppen in das Brandenburger Tor ein. Meine Eltern hatten durch die Gunst eines Verwandten Zuschauerkarten für das Universitätsgebäude erhalten. Im 2. Stock des nördlichen Flügels... standen wir... Von da aus sah ich die breite, glänzende Front der Regimenter ziehen, sah aber auch ein kleines Häuflein alter Herren mit hohen Zylindern. Das waren, so wurde mir gesagt, die Veteranen von 1813."
Es mag dahingestellt bleiben, ob Meinecke noch Anregungen oder Förderungen des eigenen geschichtsphilosophischen Denkens empfing, als er Rickerts Kollege in der Freiburger Philosophischen Fakultät geworden war. Es waren nicht zuletzt dieselben begabten Schüler, die zwischen dem philosophischen und dem historischen Seminar die Verbindung herstellten. Daß Rickert die mit „Weltbürgertum und Nationalstaat" erreichte Stufe einer Geschichtsschreibung anerkannte und guthieß, die tiefer als bisher eintauchen wollte ebenso in Philosophie wie in Politik, erfüllte Meinecke mit Befriedigung. Das „Merkwürdige" und zugleich sehr Willkommene für ihn und seine Schüler sei gewesen, daß der Philosoph „die lebendige Anschauung des individuellen geschichtlichen Lebens" als notwendig für den Historiker verlangte und es nicht übelnahm, „wenn wir es in ihrer logischen Begründung nicht soweit brachten wie er". Die ausdrückliche Erwähnung der Schüler in diesem Zusammenhang ist charakteristisch und bestätigt die Erfahrung seines ältesten Schülers, der sich im Rückblick des bereits selbst Altgewordenen veranlaßt fühlen wird, dem 88jährigen Lehrer zu schreiben: „Es wird kaum einen Professor Ihrer Generation geben,, der seinen Schülern einen solchen Raum im Erlebnisfeld seines Lebens zugestanden hätte."
Es kann nur versucht werden, die kulturelle und soziale Stimmung in der oberrheinischen Zeit mit Hilfe einiger Hinweise zu veranschaulichen. Die jährliche Begegnung der Professoren und Dozenten vom Oberrhein, aus Heidelberg, Straßburg, Freiburg, sogar aus Basel, aber auch aus Tübingen, die in Baden-Baden stattfand, soll erwähnt werden, um an das Gefühl einer kulturellen und auch sozialen Zusammengehörigkeit zu erinnern, das Meinecke damals im deutschen Vorkriegsleben gehabt hat und das er so nie wieder empfinden sollte. Dieses Gefühl, das zu den Voraussetzungen einer Harmonie zwischen Lebens-und Schaffensfreude gehörte, nährte sich aber nicht nur aus dem Bereich der Wissenschaft und aus dem Verkehr mit Kollegen und Schülern, sondern auch aus dem Bezirk eines neuen Kunst-sinnes, wie er etwa in den Bildern Thomas oder Hans von Volkmanns aufblühte. Mit dem Honorar von „Weltbürgertum und Nationalstaat" wurde bezeichnenderweise eine Landschaft Volkmanns erworben, und die sehr verschiedenen Generationen zugehörigen Schüler aus Vor-und Nachkriegszeit konnten zum 70. Geburtstage ihres Lehrers kein sinn-volleres Geschenk aussuchen als ein Original-bild von Hans Thoma, das den „ruhig fließenden Oberrhein bei Säckingen in seinem umbuschten Wiesentale" darstellte und das ihn in einer veränderten Welt an glückliche oberrheinische Jahre erinnern mochte. — Was Meinecke oftmals in so intensiver Weise an der Entwicklung und Wandlung historischer Individualität dargestellt hatte, das hat er gleichsam an sich selbst erfahren: der in Preußen Geborene und Ausgewachsene, der mit preußischem Staatsgefühl erfüllte Mann, der noch dazu im Preußischen Geheimen Staatsarchiv jahrelang den geregelten Dienst einer Behörde, aber auch die gegenüber den eigenen wissenschaftlichen Arbeiten bemerkenswerte Liberalität des damaligen preußischen Staatsdienstes kennengelernt hatte, er wurde am Oberrhein gleichsam „deutscher". Wissenschaftliche Forschung und Erlebnis der Umwelt in räumlicher und zeitlicher Dimension sind gerade bei Meinecke überhaupt nicht zu trennen, und das Suchen nach den Nahtstellen führt tiefer in das Verständnis seines Werkes ein. So fügt sich der Erlebnisreichtum der gesegneten oberrheinischen Zeit mit dem großen Gegenstand seiner Forschung und der Art ihrer Bewältigung harmonisch aneinander.
Der Historiker Meinecke war ein begeisterter Wanderer, und die im Wandern erlebte süddeutsche Welt hat — so darf gesagt werden — dazu beigetragen, den Horizont seines nationalen Bewußtseins zu erweitern. Er hat sein Preußentum, wie er selbst schreibt, nicht etwa verloren, als er im Alter den geglückten Versuch unternahm, sich selbst als eine sich mit der Zeit wandelnde Individualität historisch zu verstehen, sondern es ins Deutsche erweitert. Zur Erweiterung des inneren Erlebnis-bereiches gehörte auch, daß „die übermäßige Spannung zum katholischen Wesen" nachließ, in der der norddeutsche Protestant gelebt hatte und ausgewachsen war,
Seine starke innere Lebensfähigkeit, erst recht in der Krisis und schließlich in der Katastrophe, wurzelt im geistigen Boden des 19. Jahrhunderts. Sie wurzelt aber nicht etwa allein in der Spätphase eines deutschen bürgerlichen Zeitalters, dessen Goldgehalt in seinen Erinnerungen noch einmal zum Leuchten gekommen ist, sondern auch in den Jahrzehnten einer politischen Stabilität. In einem der Briefe zu Beginn des zweiten Weltkrieges hat er selbst von der äußeren Schonung des Daseins gesprochen, die seine Generation doch recht eigentlich der Bismarckschen Friedenspolitik seit 1871 verdanke.
dator temporis acti gewesen, und gerade deshalb dürfen die Selbstaussagen über die Welt vor 1914, auch wenn sie unter dem Eindruck der Vergewaltigung der von ihm vertretenen Lebenswerte seit 1933 getan sind, für das Verständnis des Mannes und seines Werkes nicht leicht genommen werden. „Nur wer vor 1914 gelebt habe, wisse eigentlich, was leben heiße."
Das ist — im Jahre 1944 niedergeschrieben — weniger im Sinne einer romantisierenden Rückerinnerung gemeint als vielmehr in Erinnerung daran, daß die bürgerliche Welt vor 1914 die Zeit zur Entfaltung der autonomen Persönlichkeit gewährte. Trotz gelegentlicher banger Vorgefühle und Vorausahnungen künftiger Katastrophen — noch die allerdings nichts gemeinsam hatten mit dem tiefen Pessimismus des Baseler Geschichtsschreibers und Philosophen Jacob Burckhardt — und trotz des Ägernisses, das den Bedeutenden unter dieser monarchisch gesinnten Generation das Auftreten Wilhelms II. bot, glaubte sie, auf der politischen Hochstraße — die sich vor wenigen Jahrzehnten, seit der Gründung des Reiches eröffnet hatte — weiterschreiten zu können. Und überdies: der von Friedrich Naumann geförderte und mit kulturellen Idealen innerlich verbundene neue sozialpolitische Sinn gab Friedrich Meinecke das Gefühl einer echten politischen Gegenwartsaufgabe, die seiner Generation zur Lösung gestellt sei. Dem Bemühen um die „Gewinnung der Arbeiterschaft für den nationalen Staat" sowie dem Gedanken einer großen nationalen Mittelpartei lag — bereits vor 1914 wie in den Jahren der Weimarer Republik — der Wunsch nach einer allmählichen Verwirklichung wahrer „Volksgemeinschaft" zugrunde. An solchem Verlangen hatten politische, soziale und kulturelle Motive gleichmäßigen Anteil.
Der allgemeine Hinweis, daß Meinecke seine geistige und seelische Lebenskraft aus einer vom Wilheiminismus unberührt gebliebenen Bürgerlichkeit und aus einer gerade durch ihn selbst im Bereiche der Geschichtsschreibung wieder aufgenommenen und neu belebten idealistischen Tradition schöpfte, sollte durch die Andeutung ergänzt werden, daß seine Entwicklung bis ins reife Mannesalter hinein durch die Philosophie Nietzsches innerlich nicht beunruhigt und belastet wurde. Er ließ sich auch nicht beunruhigen von den Gespenstern, mit denen Strindberg seine bürgerliche Zeitgenossenschaft erschreckte, sondern er griff vielmehr mit wachsendem Selbstgefühl und mit Sicherheit nur d i e Elemente aus den geistigen Strömungen seiner Gegenwart heraus, die der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der organischen Entwicklung seines Menschen-und Geschichtsbildes dienen konnten. — Belangvoll wurde ferner die sichere Kenntnis und Beherrschung jener Methoden, mit denen sich allerdings ein positivistischer Wissenschaftsbetrieb begnügte. Bevor Meinecke die Gratwanderung über das ideelle Hochgebirge vom „Weltbürgertum und Nationalstaat", über die „Idee der Staatsräson"
bis zur „Entstehung des Historismus" antrat, hatte er in zuchtvoller Arbeit die methodisch-kritischen Voraussetzungen und Grundlagen historischen Erkennens erworben. Weil er den mühevollen Weg der Detailforschung und gleichsam den „Kleinbetrieb der Kausalitätenforschung" gründlich kennengelernt hatte, blieb er nüchtern, skeptisch und auch warnend ebenso vor den unkontrollierten Bedürfnissen nach Irrationalismus wie vor der kurzschlüssigen Errichtung sogenannter „Synthesen". Diese Behutsamkeit kennzeichnet ihn ebenso im geistigen Kampf um die Grundlagen der Weimarer Republik wie in den Veröffentlichungen oder im geistigen Dialog — sei es in der Form des Gespräches oder des Briefes — zwischen 1922 und 1945. Er selbst vertrug die geistige Höhenluft; er mochte sogar das Inter-esse am eigentlich „Konkreten" allmählich verlieren, nachdem er sich aber jahrzehntelang nicht gescheut hatte, einen wissenschaftlich gangbaren Weg durch ein schier unübersehbares Quellenmaterial zu schlagen, das die neuere Geschichte zu hinterlassen pflegt.
Der Ausgangspunkt vom Konkreten, von der Neigung und von der Begabung zur quellen-kritischen Bewältigung von Stoffmassen, aus denen z. B. die nach Meineckes Worten mehr gelobte als gelesene Boyen-Biographie
„Aber an einem kann ich nicht irre werden ..."
— so schrieb er 1934 einem befreundeten Schüler — nämlich „an dem guten Sinn unseres historischen Denkens und Weltbildes. Ich werfe einigen optimistischen Ballast unseres bisherigen Historismus über Bord und behalte den Kern. Selbst wenn ein völliger Kultur-bruch eingetreten sein sollte und wir nur Prediger eines untergehenden Glaubens wären — es kann ja wirklich so sein —, bleiben doch unsere Kernideen so wahr und lebendig, wie einst die Ideen Platons und Plotins, aus denen sie sich emporentwickelten. Sie können immer wieder aufleben, auch wenn zeitweise alle Anhänger weglaufen. Weltgeschichte ist nun mal der Kampf zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, ewig wogend, nie ganz entschieden."
Die drei großen Werke „Weltbürgertum und Nationalstaat", „Die Idee der Staatsräson"
und „Entstehung des Historismus" sind zwischen 1907 und 1936 entstanden und tragen die Spuren vom Wandel dieser Jahrzehnte.
Ihre Problematik greift ineinander über, und ihr geistiger Nährboden liegt in den ober-rheinischen Jahren. Meinecke hat gerne auf die Einheitlichkeit der Konzeption hingewiesen. „Am Oberrheine stiegen mir einst eigentlich alle die historischen Fragen auf, denen meine weitere Lebensarbeit gewidmet war .
und noch präziser: „Die Wurzeln der drei geistesgeschichtlichen Werke ... liegen in dem, was mir hier durch den Kopf ging, teils schon als fest ergriffener Leitgedanke, teils als Wendung des Interesses auf neue, lockende, mir bisher fernliegende Erscheinungen des geschichtlichen Lebens."
Das geistige Erlebnis der Droysen-Vorlesung kann gar nicht überschätzt werden, und Meinecke hat Stellung und Bedeutung dieses Kollegs für die Wissenschaftsgeschichte wie für sich selbst oftmals beschrieben: „Der deutsche Idealismus der großen Zeit, den Droysen, der Hegelschüler, in seiner Jugend noch unmittelbar in sich ausgenommen hatte, warf hier noch einmal einen hellen Schein in einen durch den Positivismus grau zu werden drohenden Wissenschaftsbetrieb." Wie sich Meineckes im Idealismus ruhende Individualitätsauffassung seit dem Blitzstrahl, der vom Droysenschen Kolleg in sein Denken schlug, über das Studium Diltheys, bei dem ihm offensichtlich erstmals das Wort „Individuum est ineffabile" begegnete, weiter entwickelte, mit dem Entwicklungsbegriff verschmolz und sich mit entgegenstehenden Geschichts-und Kulturinterpretationen auseinandersetzte, das ist in der tief-'grabenden Einleitung zur „Entstehung des Historismus" von Carl Hinrichs deutlich gemacht worden
Der Beitrag dieser Ausführungen zum Meinecke-Verständnis sollte darin bestehen, zu zeigen, wie sich das Wachstum seiner Forschung, die Ausdehnung seines Arbeitsfeldes, die Vertiefung seines geschichtsphilosophischen Denkens jeweils in innerster Verbindung mit der eigenen Lebensproblematik und mit der wachsenden Teilnahme an den politisch-gesellschaftlichen Aufgaben vollzog. Es ist soeben gesagt worden: seine Werke spiegeln die Zeichen der Epochen, in denen sie entstanstanden, deutlich wider, aber gleichwohl vermitteln sie einen Eindruck vom Verfasser als von einer Individualität, der in einer sich radikal wandelnden Welt das seltene Glück zuteil wurde, sich ganz zu entfalten, sich geistig auszuleben und sich dabei im Kerne treu bleiben zu können. „Sich zu entwickeln" empfand er als das Charisma des einzelnen Menschen, aber wechselnd mußte im Laufe dieses Lebens die Antwort auf die Frage ausfallen, ob der Mensch „auch die Glücksgefühle der eigenen Entwicklung . . . aus der Weltgeschichte schöpfen könne?" Was hier nur knapp angedeutet wird, soll später noch einmal ausgenommen werden. Ein für die Glaubwürdigkeit der Geschichtswissenschaft ebenso einfacher wie wesentlicher Gesichtspunkt soll aber schon an dieser Stelle hervorgehoben werden: Meinecke bestand als Mensch und als Historiker die Prüfungen der politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zuletzt deshalb, weil er sich im Wandel charaktervoll verhielt und weil seine Geschichtsund Individualitätsauffassung niemals des ethischen Inhalts entbehrte.
Aus der intensiven Versenkung in den Gedankenstrom des 19. Jahrhunderts, aus der Einfühlung in das Eigenleben der historischen Individualitäten der Epochen dieses Jahrhunderts, aus der Würdigung der geschichtlichen Momente, aus der Bejahung einer Machtpolitik, die sich ihrer Grenzen bewußt blieb, sowie aus der Gewißheit, daß der gemäß seinem Ursprung mit humanen Elementen durchsetzte und nach innen wie nach außen entwicklungsfähige deutsche Nationalstaat der Sinnhaftig-keit der Geschichte entspreche, ist das Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat" entstanden. Hatte Meinecke einst bei Droysen „die Sehnsucht nach dem drängenden, quälenden und antwortheischenden Problem" kennen-8 gelernt, so fand er in diesem Buch ein solches echtes Problem in der wissenschaftlich begründeten und zugleich mit dem Zeitgefühl zusammenhängenden Frage nach der besonderen Entstehung eines deutschen nationalen Staates. Hinter dem Ringen zwischen einem liberalen und einem konservativen Staats gedanken suchte er die Kräfte, die auf das Naturrecht und auf eine ihm entgegengesetzte Welt-und Persönlichkeitsauffassung zurückführten, wie sie die Deutsche Bewegung hervorgebracht hatte. Indem er den „Entdeckungszug in das Reich des Individuellen nachvollzog, den der deutsche Geist mit glühender Begierde"
Für die Idee der Individualität war es bezeichnend, daß sie sich ausweitete und sich auch auf die sogenannten überindividuellen Verbände bezog. „Die Nation trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben." Der mit konkretem Leben erfüllte Prozeß der Individualisierung erscheint somit als „eine großartige Erweiterung der Einzelpersönlichkeit und ihres Lebenskreises". „Der Mensch bedarf der Gemeinschaft, sowohl um sich von ihr tragen zu lassen, als auch um in sie selbst hin-einzutragen, was in ihm lebt; und je autonomer. je individueller er selbst wird, um so weiter und kühner zieht er die Kreise dessen, was auf ihn wirken soll und worin er sich auswirken will, um so reicheren Inhalt, um so kräftigere Umrisse werden diese Lebenskreise erhalten."
Meinecke untersucht sowohl die Genesis eines aristokratischen wie die eines demokratischen Individualismus und weist nach, auf wie verschiedene Weise beide nationalbildend wirken konnten. Er verweilt allerdings ausführlicher beim ersteren, und dem entspricht auch die Methode der Arbeit, vor allem die wertende Auswahl des Stoffes, die übrigens auch für die anderen Werke charakteristisch blieb und wel-ehe die Eigentümlichkeiten und Grenzen der Meineckeschen Geschichtsschreibung erkennen läßt: „Die Natur des Problems erfordert eine mehr monographische und intensive Behandlungsweise. Die Untersuchung politischer Gedanken darf niemals losgelöst werden von den großen Persönlichkeiten, den schöpferischen Denkern; dort an der hochgelegenen Quelle und nicht an der breiten Ebene der sogenannten öffentlichen Meinung, der kleinen politischen Tagesliteratur, muß man sie zunächst zu fassen versuchen."
Je intensiver Meinecke ins Innerste der Individualitäten eindrang, desto durchsichtiger wurde für ihn der Prozeß, in dessen Verlauf das moderne geschichtliche Denken entstand. Und in seinen Erinnerungen bestätigte er die Bedeutung, welche die Einsicht in neue Zusammenhänge für den Fortgang seiner Arbeiten bekommen hat: „Bei der Arbeit am ersten Buche des Weltbürgertums war mir ferner die Einsicht gekommen, daß unsere moderne historische Denkweise ganz wesentlich auf einem neuen Sinne für das Individuelle beruhe. Es bestanden, wie ich mir jetzt sagen mußte, innere Zusammenhänge zwischen dem neuen realpolitischen und dem neuen historischen Sinne."
Als Meinecke 1914, beim Eintritt in die Akademie der Wissenschaften befragt wurde, was er „fortan für die Wissenschaft zu leisten gedächte", konnte er die beiden Aufgaben nennen, die ihm aus „Weltbürgertum und Nationalstaat" erwachsen seien: „... einmal die Geschichte der modernen Staatskunst und Machtpolitik als etwas sich Entwickelndes und in jeder Epoche neue Farbe Annehmendes zu untersuchen, und dann die Entstehung des geschichtlichen Sinnes seit dem 18. Jahrhundert, der unser aller geisteswissenschaftliche Arbeit leitete, aufzuhellen". Damals hatte er noch vor, beide Untersuchungen „zu einer höheren Einheit" zu verschmelzen und ein Buch zu schreiben, für das etwa der Titel „Staatskunst und Geschichtsauffassung" vorgesehen war.
Aus der Geschichte der Saatskunst, einer Geschichte der politischen Interessenlehren seit Machiavelli, wurde indessen das selbständige Werk „Die Idee der Staatsräson". Das in den Friedensjahrzehnten derVor-Weltkriegszeit gewachsene gläubige Vertrauen auf den letztlich „guten Sinn und Gehalt der Machtpolitik", die seit Ranke kaum wankend gewordene „Hoffnung auf den immer wieder sich rettenden Genius des Abendlandes" waren einem Lebensgefühl gewichen, das um eine neue Weltanschauung rang. Meinecke begann nicht etwa, die Macht an sich tür böse zu erklären, aber er hatte das „Sphinx-Antlitz" der Staatsräson entdeckt; sie gehörte jetzt zu den „nur zu vielen Dingen in denen Gott und Teufel zusammengewachsen sind".
Die neue Richtung, in die Meineckes politisch-historisches Denken seit Ausgang des ersten Weltkrieges einmündete, wird an den Veränderungen, welche die alte Individualitätsidee im Denken und im Urteil Meineckes erfuhr, besonders deutlich. Sie hatte hell über der Arbeit am „Weltbürgertum" gestrahlt und die Freude an der Geschichte eigentlich hervorgerufen; jetzt wird auch sie in den Sog des Zweifels hineingezogen, aber dieser Zweifel sollte befruchtend auf die Auseinandersetzung mit dem westeuropäischen Denken wirken und ein neues Verständnis für das Fortwirken des Naturrechts hervorrufen. Hatte er noch in „Weltbürgertum und Nationalstaat" eine individuelle Sittlichkeit der großen Mächte nach Maßgabe des ihnen innewohnenden Lebenstriebes freudig angenommen und daraus gefolgert: .....denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt", so heißt es im Hegel-Kapitel der „Staatsräson", und zwar in einer anderen, von historischer Erfahrung gesättigten und kritisch gewordenen Stimmung: Die neue Individualitätslehre „konnte schon die Sittlichkeit des Einzelwesens in Versuchung führen, wenn das Recht der Individualität, sich auszuleben, schrankenlos galt und als höhere Sittlichkeit gegenüber der allgemeinen Moral ausgespielt wurde. Sie konnte, angewandt auf die überindividuelle Individualität des Staates, auch alle Exzesse seiner Machtpolitik als unvermeidliche und organische Ausflüsse seines Wesens legitimieren."
vellismus" aufgerichtet habe, „der sich in Zukunft auch mit einer besonderen, neuen zeitgeschichtlichen Situation rechtfertigen könnte, wenn er aus ihr neue fruchtbare und im Kerne vielleicht ebenso unsittliche Mittel entnahm". Die Vorausahnung solcher zeitgeschichtlichen Situationen, die etwa zum Alibi irgendeiner nach innen und nach außen unbegrenzten Machtpolitik dienen mochten, sollte in zunehmendem Maße zum Bestandteil des Lebensgefühls werden, und doch konnte der Historiker nicht darauf verzichten, das „Sowohl" und das „AIs auch" in der Geschichte zu suchen und zu werten. So schließt das Kapitel über Hegel: „Identitätsund Individualitätsgedanke, die beiden höchsten und fruchtbarsten Ideen des damaligen deutschen Geistes, zeigten so die innere tragische Zweischneidigkeit aller großen historischen Ideen und Kräfte." über dem Neuen, das mit der „Idee der Staatsräson" eindrucksvoll sichtbar wird, darf indessen die schon mehrfach angedeutete wachstümliche Einheitlichkeit des Meineckeschen Gesamtwerkes nicht vergessen werden. Die Einsicht in die Problematik der Individualitätslehre, mit der er seit 1918 rang und welche im zweiten Teil dieser Betrachtung dargestellt werden soll, sie hat nämlich nicht verhindert, daß die „Entstehung des Historismus" das Lebenswerk vollendete. Es ist von Carl Hinrichs mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieses Buch als das am wenigsten mit allgemeiner und Zeitproblematik belastete seiner Werke dasteht und sich ganz dem wissenschaftlichen Problem widmen kann, das seinen Gegenstand bildet
im 18. Jahrhundert zurückführte. Das Werk gipfelt in Goethe, bei dem er jene heilenden Kräfte zu finden glaubte, welche die mit dem Historismus unvermeidlich verbundenen Gefahren bannen könnten. In ihm sei es nämlich „zu der vielleicht einzig möglichen Synthese von relativierendem und absolutierendem, von idealisierendem und individualisierendem Denken" gekommen. Logisch möge man diese Synthese bemängeln: „Aber bei der Entscheidung über die letzten und innersten Bindeglieder unseres Denkens und Wollens verliert der Intellekt seine Kompetenz an die Seele, die sich die Teilhaberschaft der eigenen begrenzten Individualität an einem sinnvollen Alleben nicht rauben lassen will.“
Die Feststellung, daß das Werk seine Thematik „entpolitisiert" habe, bedarf jedoch der Ergänzung, damit sein Standort in der Geistesgeschichte richtig bestimmt wird. Friedrich Meinecke hat das Buch in den Jahren vollendet, in denen eine totalitäre Ideologie den Wert des einzelnen Menschen an Maßstäben maß, die diametral den Werten entgegengesetzt waren, die er selbst im Kern für unzerstörbar hielt. Wohl mochte er gelegentlich glauben, nur noch „den Trost der letzten Homeriden“ zu haben, aber sein geistiges Auge sah eine Entwicklung voraus, in der neue Glieder die goldene Kette der Gedanken fortsetzen würden. Er konnte sein scheinbar zeit-fremdes Alterswerk in „bejahender Stim-mung" schreiben, und er hat es sich nicht leicht gemacht, die Zweifel zu widerlegen, welche seine Weltanschauung in Frage stellten.
Auf dem fruchtbaren Arbeitsfelde Friedrich Meineckes sind aber nicht nur die Gipfel seiner großen Werke gewachsen — er hat uns in der Fülle seiner geschichtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Aufsätze die reiche Ernte eines langen Lebens hinterlassen, und es handelt sich um Aufsätze, in denen sein eigentümlicher Geist in der Auseinandersetzung mit Wissenschaftsund Zeitproblemen charakteristischen gefunden Ausdruck einen hat
Wollten wir einen höchst differenzierten Sachverhalt auf vereinfachende Weise zum Ausdruck bringen, so könnten wir etwa sagen, daß sich Meineckes „historisches Interesse"
von den „Kausalitäten" zu den „Werten" verlagerte. Daß aber der „Weg der Kausalitäten erst unbeirrt bis zum letzten erreichbaren Punkte gegangen werden müsse", bevor „dem aus der Tiefe wirkenden Bedürfnisse nach Lebenswerten" nachgegeben werden dürfe, ist eine Aufforderung und Mahnung, hinter der die politisch-geistigen Erfahrungen der Weimarer Jahre liegen. Die geistespolitische Situation wurde ja schon angedeutet, und diese Andeutung soll an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden. In der schrankenlosen Hinwendung „zu den großen überragenden Werten des Lebens und der Vergangenheit", in dem Drange nach „unmittelbarer Vereinigung mit der Seele der Vergangenheit", in der Sehnsucht nach dem Zeitlosen und Ewigen erblickte Meinecke die charakteristischen Symptome „der geistigen Gesamt-konstellation seiner Zeit". Der Historiker empfand indessen viel zu sehr mit seiner Gegenwart, fühlte ihren Pulsschlag, um nicht die innere Notwendigkeit solcher Tendenzen, aber zugleich auch ihre großen Gefahren zu erkennen. Die jahrzehntelange Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift hatte ihm überdies eine sehr intime Kenntnis der Richtungen und Strömungen in den Bereich der Geisteswissenschaft eingebracht. So wußte er, daß „die Bedürfnisse des jungen Nachwuchses" auch der eigenen Wissenschaft von dem schon seit der Vor-Weltkriegszeit vordringenden Irrationalismus nicht unberührt geblieben waren. „Aus einigen frappanten Spuren in der Überlieferung und mit übermäßigem Zuschuß eigener Ideale" — „ohne viele Induktion" — das eigentlich schon vorweggenommene Ergebnis abzuleiten und dann noch „das selbstgeschaffene Phantasiegebilde zu umarmen", das schien ihm charakteristisch für den Geist der Zeit, ja für ein allerdings nur zu begründetes Streben „nach den hohen und höchsten Kulturwerten" zu sein. Er glaubte, ein solches Streben besonders charakteristisch in der Schule Stefan Georges zu finden, deren beste Leistungen er „von den Fehlern einer saloppen Arbeitsweise" ausdrücklich freisprach, von deren „Tendenz zur überfeinerung und Verdünnung der geistigen Luft" er indes eine Auflösung „der groben irdischen Kausalitäten" befürchtete. — Die Auseinandersetzung mit Oswald Spengler
Nach seiner Meinung sollte der Unterschied zwischen den Repräsentanten einer kritischen Geschichtsschreibung und den „modernen Synthetikern" gar nicht so sehr in den „Zielen der Erkenntnis" gesucht werden; er wurzelt vielmehr in einer verschiedenen Arbeitsgesinnung; es handelt sich letztlich um ein anderes Maß „von Verantwortung-und Pflichtgefühl, von Bescheidenheit und Selbstzucht", womit die historische Arbeit jeweils betrieben wird. Meinecke hatte so großen Anteil an der Über-windung des Positivismus, daß er sich mit gutem Grunde berufen und berechtigt fühlen durfte, vor den Gefahren einer Geschichtsschreibung zu warnen, welche die Institution der mühevollen Forschung vorzog. Und ein ganz persönlicher Zug wird in diesen geschichtstheoretischen Auseinandersetzungen überdies sehr deutlich, nämlich eine Bescheidenheit, welche sein begründetes Selbstgefühl ergänzte; sein Unvermögen und sein Unwillen, die ganz individuelle Art seiner Geschichtsschreibung etwa dogmatisieren zu wollen, seine Unlust, eine Schule im strengen Sinne zu bilden; denn die Freude am Individuellen empfand er auch gegenüber der Fülle der Individualitäten seiner Schüler. So lag es ihm also fern, eine Schule zu stiften oder gar ihr Haupt zu sein; aber vielleicht gerade deshalb wirkte der Professor im Kreise seiner Schüler um so gemeinschaftsbildender.
Der Ideenhistoriker konnte bekennen: „Ich selber würde, wenn ich die Begabung dazu hätte, mich vielmehr mit konkreter als mit ideeller Geschichte beschäftigt haben. Aber meine durch und durch unpraktische und mit schlechten Sinnesorganen ausgestattete Natur hat sozusagen aus der Not eine Tugend zu machen versucht, als sie in das ideelle Hochgebirge zu klettern versuchte, was ohne Absturzgefahr ja nicht möglich ist. Mein eigener Weg ist keineswegs nachahmenswert für Viele, und die . konkrete’ Geschichte, wofern sie nur geistig durchhaucht wird, ist und bleibt die Hauptsache für uns."
Es ist vorhin von einem nachlassenden Interesse am „Konkreten" bei Meinecke gesprochen worden, aber er lebte doch viel zu sehr in der geistigen Nähe Wilhelm von Humboldts, um nicht daran zu glauben, daß „in jedem Konkreten auch immer, wenn auch versteckt, ein ideelles, ein geistig von innen nach außen formendes Prinzip lebt".
Es hängt mit der erwähnten historischen „Instinktsicherheit" zusammen, wenn sich Mei-necke bewußt blieb, daß eine „Darstellung ideeller Werte ihren natürlichen Nährboden verliert und leer und willkürlich wird, sobald die unmittelbare Freude an der konkreten Wirklichkeit und ihren groben oder feinen Kausalzusammenhängen" schwindet
Die Frage nach Entstehung und Wesen der Werte beantwortet Meinecke mit den Worten:
„Offenbarung und Durchbruch eines geistigen Elements innerhalb des allgemeinen Kausal-zusammenhanges." Angedeutet sei an dieser Stelle der Versuch, Stufungen der Kulturwerte zu „Die absichtsvoll beschreiben. einen werden in einer von vornherein darauf gerichteten Anstrengung erarbeitet — religiöse und philosophische, politische und soziale Gedanken-gebilde, Kulturwerke, Wissenschaft . . . Die anderen erblühen mittelbar und nicht von vornherein beabsichtigt aus den Notwendigkeiten des konkreten praktisch gerichteten Lebens." So sehr der dem Gang der Weltgeschichte nachsinnende Historiker „den geradesten und steilsten Aufstieg aus der Natur zur Kultur" nachzuvollziehen das Bedürfnis haben mochte — das übrigens selbst einen Lebenswert darstellt —, so sollte sein Interesse doch gerade jenen Bereichen gelten, in denen es zunächst einfach um die Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten geht, in denen sich aber gleichwohl der Blick „zu den leitenden Hochgipfeln der Werte" erhebt. Dazu gehört vor allem der Staat, der deshalb nicht aus dem Mittelpunkt der historischen Forschung rücken darf. Auf die Frage, ob „der Staat auch den höchsten möglichen Kulturwert" darstelle, fällt die in den zwanziger Jahren gegebene Antwort selbstverständlich skeptischer aus, als sie in der Vorweltkriegsgeschichte ausgefallen wäre. Aber gerade weil die Beziehungen des Staates zu den Kulturwerten mit Problematik belastet, mit Fragezeichen versehen werden müssen, gilt die Aufmerksamkeit des Historikers diesem Gebilde mit dem Sphinxantlitz in besonderem Maße. „Und der Staat ist es in erster Linie, in dem auf diese Weise, durch eine Achsendrehung Natur und Kultur wird."
Er bleibt stärker „als fast alle anderen historischen Individualitäten an naturhafte, biologische Notwendigkeiten gebunden und wird von ihnen gehindert, sich ganz zu vergeistigen". Der Historiker der Staatsräson — auch der den Staat der Gegenwart bejahende Zeitgenosse der Zwanziger Jahre — mußte um so mehr von der Aufgabe gefesselt werden, den Staat auf seine unmittelbaren Kulturleistungen im Laufe der Geschichte hin zu untersuchen.
Mochte Meinecke niemals angerührt worden sein von der Hegeischen Staatsidee und mochte ihn das Sphinxantlitz der Staatsräson erschrek-
ken, so hörte er doch niemals auf, den Staat als „die wirksamste und umfassendste aller Lebensgemeinschaften" zu durchdenken. Die Dinge des Staates behielten einen großen Anteil am Denken und Wirken dieses politischen Professors, wie aus den von G. Kotowski besorgten Bande der Politischen Schriften eindrucksvoll hervorgeht
Das Durchdenken der Kausalitäten und Werte führt ihn zu Erkenntnissen, die seiner Standortbestimmung in der Gegenwart zugute gekommen sind. Gewiß fühlte er sich immer wieder „mit magnetischer Gewalt zu den großen Staatsmännern der Weltgeschichte hingezogen, in denen das Ringen von Natur und Kultur grandios wird". 28) Es mußte mit den Akzentverschiebungen Zusammenhängen, welche die historische Wertlehre in jener Zeit erfuhr, wenn hinfort der Blick nicht nur an den Höhenzügen der Kultur und nicht an den spektakulären Vorgängen der Weltgeschichte hängen-blieb. Der Begriff des historischen Wertes sollte erweitert und vertieft werden. Er umfaßte nämlich „nicht nur die eigenen politischen oder unpolitischen Ideale, sondern jede stärkere Offenbarung eigentümlichen geistigen Lebens, also auchdie Ideale derGegner “. Von solcherAußerungfälltLicht auf einen Weg, der nicht mehr im Nationalstaat endet. Indem der Historiker das Wertvolle und Werthafte sucht, wird er auch die Werte nicht mehr übersehen können, welche die jeweils Besiegten einer Epoche dargestellt oder vergeblich erstrebt haben:
denn „große Kulturleistungen und Offenbarungen eines geistigen Elements dürfen nie und nimmer nur nach dem Grade ihrer kausalen Einwirkung auf den Fortgang der Kultur eingeschätzt werden. Sie ruhen, ganz gleichgültig ob sie auf ihre Zeit gewirkt haben oder nicht, auch in sich selbst, sind um ihrer selbst willen allein schon der Erforschung, Darstellung und Verehrung würdig". Und eine historische Gesinnung, welche die Kausalitäten nicht vernachläßigt und zugleich nicht überschätzt, führt zu einem verinnerlichten Mitgefühl mit dem Einzelleben und zu einer Bejahung seiner Berechtigung, zumal „jede einzelne Menschenseele fähig ist, Kulturwerte, und sei es auch nur den der schlichten Pflichterfüllung um des Guten willen zu erzeugen".
So blieben letztlich alle Bemühungen um eine historische Wertlehre von der Sehnsucht erfüllt, eine gedankliche Brücke zu schlagen, die Geschichte und Ethik verbinden kann. Sie waren sowohl die Reaktion auf die Erfahrungen des Weltkrieges und des Zusammenbruches als auch Ausdruck und Furcht vor dem Durchbruch neuer Massengewalten.
In engstem Zusammenhang mit der Ausarbeitung einer Wertlehre steht die Interpretation des Historismus. Daß er „Wunderwelten eines neuen geschichtlichen Verständnisses für alles, was Menschenantlitz trägt, erschlossen hat", ließen auch die Gedanken über eine historische Wertlehre deutlich genug erkennen, in deren Mitte die Individulität ihre unverrückbare Stellung behalten hat. Die Frage zu den geistig-sittlichen Werten wurde mit neuer Leiden-schäft gestellt und durchdacht. Daß der Historismus Gefahren mit sich gebracht und verbreitet hatte, war bereits in der „Idee der Staatsräson" zu machtvollem Ausdruck gekommen. Die Versuche, diese Gefahren zu erkennen und zu überwinden, füllen die Nachkriegszeit aus und begleiten die Jahre der Weimarer Republik. Hat sich dieser Historismus — so lautet die immer von neuem gestellte Frage — „nach und nach den festen Boden bestimmter absoluter Ideale erschüttert, auf dem die Menschheit bis dahin zu stehen geglaubt hatte"? Hat er nicht zu einem Relativismus und zu einer Anarchie der Werte geführt? Im Bereiche des Kirchlich-Religiösen ebenso wie im Bereiche des Staatlich-Politischen glaubte Meinecke die auflösende Wirkung des Relativismus beobachten zu können.
Wer sich selbst — wie Meinecke — gelegentlich als „christlichen Heiden" bezeichnet, wird nur allgemein von den religiösen Problemen seiner Gegenwart sprechen können und wollen. Meineckes Weltfrömmigkeit hat den Zugang zu einem geoffenbarten Christentum und gar zur Kirche sicherlich nicht erleichtert
Auf wohlbekanntem Gelände eigenster Erfahrungen stand Meinecke, als er sorgenvoll den Sog des Relativismus auf die Staatsidee, auf die Stellung der Bürger im und zum Staat beobachtete. Er selbst war 1918 bekanntermaßen Vernunftsrepublikaner geworden und Herzensmonarchist geblieben. Sein historisch-pädagogisches Ideal erblickte er darin, „die Liebe für unsere geschichtliche Vergangenheit mit der Liebe und Treue für den Staat der Gegenwart zu vereinigen" und beiden gegenüber „den Geist einer unbestechlichen Kritik" walten zu lassen
Meinecke täuschte sich nicht über die nachlassende Anziehungskraft von Historismus und Individualismus, ohne allerdings je am bleibenden Werte ihrer Weltanschauung irre zu werden. Der repräsentative Historiker dieser Geistesrichtung hat deren Schwächen selbst am schärften erkannt, ja in Kauf genommen und ist den Angriffen der wachsenden Schar der Gegner gewissermaßen zuvorgekommen. „Was aber Wissenschaftlich (die Stärke des Historismus), ist ethisch und praktisch seine Schwäche. Er ist nicht imstande, etwas Festes und Handgreifliches, vor allem nicht etwas Allgemeingültiges und die Massen Hinreißendes über die höchsten Lebenswerte zu sagen. Er muß sich begnügen, den Menschen zu sagen, den Sinn der individuellen Lebenseinheiten, in denen sie stehen, zu erfassen und ihnen hingebend zu dienen, um sie zur höchsten individuell möglichen Vollkommenheit zu führen, und er spendet seinen metaphysischen Welttrost nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung." Eine in doppelter Hinsicht aufschlußreiche Äußerung! Er gab nämlich in diesen Sätzen selbst die Gründe für die Grenzen an, die einer breiteren Wirksamkeit seines Gesinnungskreises seit dem Weltkriege gezogen waren. Er war sich durchaus klar über die Stärke des Mißtrauens, das gerade breite Teile der Jugend gegen einen Idealismus erfüllte, der im Weltkrieg und in der Revolution erschüttert worden war. Und mit dem Hinweis auf einen „methaphysischen Welttrost", der „nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung" vorbehalten sei, wiederholte Meinecke letztlich nur das Bekenntnis zu einer aristokratischen Bildungstradition, die im Grunde genauso der Gegenstand seiner Forschung wie die Grundlage seines Lebens blieb. Die einer solchen Tradition entstammenden Kulturwerte auszubreiten und ihnen an einer wirklichen Volksgemeinschaft Rückhalt zu geben, blieb dabei sein praktisch-politisches Ziel.
Die heilenden Kräfte, die imstande sind, das Gift des Historismus wieder unschädlich zu machen, hat Meinecke in der Kraft des Gewissens gefunden
Das Gewissen empfängt eine regulative Funktion sowohl für das Einzelleben als auch für das Leben in der Gemeinschaft. Es sagt uns, meint Meinecke, „was böse und gut ist", und es ist „das mächtige Bindemittel der mensch-
lischen Gesellschaft". Um die Stellung des Gewissens richtig zu würdigen, bedarf es noch einmal des Hinweises auf die an ethische Maßstäbe gebundene Individualitätsauffassung und auch auf den Glauben, daß „Individualität nur die Leihgabe einer höheren Macht" darstelle, wobei es jedoch falsch wäre, etwa das Neue an ihr übermäßig hervorzuheben.
Richtig ist vielmehr, daß das schon immer Gewußte und Geglaubte unter dem Druck erlebter Geschichte zu stärkerem Ausdruck gelangte. Mit Ernst Troeltsch stimmte Meinecke darin überein, daß gerade individualitätsstarke Menschen „nicht auf die Interessantheit ihrer Persönlichkeit, sondern auf die Besonderheit ihrer Aufgabe reflektieren".
Während Friedrich Meinecke über den Sinn der Geschichte und über den geschichtlichen Sinn reflektierte, vollzogen sich in Deutschland und in der Welt politische und gesellschaftliche Umwälzungen, vor deren Hintergrund solche Reflexionen erregend oder vielleicht auch befremdend wirken mögen. Daß die weltanschaulichen Maßstäbe, die der Geschichtsschreibung und der Gesichtsphilosophie Friedrich Meineckes zugrunde lagen, in den Jahren des Nationalsozialismus den beherrschenden Zeittendenzen entgegenstanden, bedarf nicht der Erwähnung.
Um so bedeutungsvoller bleibt — auch für unser inneres Verständnis der Jahre zwischen 1919 und 1945 — die Diskussion, in der Friedrich Meinecke die Positionen seines Denkens verteidigte. Es handelte sich um die geistige Zwiesprache mit seinem Schüler Siegfried Kaehler, in der dieser — bis zu einem gewissen Grade — stellvertretend für die Generation des ersten Weltkrieges gesprochen hat. Diese Zwiesprache hat ihren Niederschlag in dem jüngst veröffentlichten Briefband gefunden, und sie ist um so eindrucksvoller, als sich in ihr Verehrung des Lehrers, Dankbarkeit und Treue sowie das wechselvolle in Jahrzehnten gewachsene Gefühl innerster Verbundenheit mit dem ehrlichen Bewußtsein von Auffassungen verschiedener Aszendenz verbinden. Die in der Not der Zeit gestellten Fragen haben Friedrich Meinecke genötigt, über die Tragfähigkeit seines Geschichts-und Weltbildes zu reflektieren und zu behaupten. Ob es wohl „eine im tiefsten Grunde optimistischere Färbung besitze, als sie mit dem seit 30 Jahren mehr und mehr hervortretenden Schreckenscharakter des Weltgeschehens verträglich erscheint" ? Meinecke ist „die Domestikationsfähigkeit des Menschen" nicht unbekannt geblieben, und gleichwohl singt er „das Hohelied der Individualität".
als gegen das 19. Jahrhundert; denn dieses Jahrhundert war — wie er am 4. September 1944 schreibt — für ihn keine „Fata Morgana, sondern echteste, wenn auch natürlich vergänglichste an Lebens-wie an Todeskeimen überreiche Wirklichkeit". Er hat in der ihm unentbehrlichen Toleranz, die übrigens eine notwendige Ergänzung seiner Individualitätsauffassung bedeutete, niemals bestritten, daß es auch einen anderen Wirklichkeitsbegriff als den gebe, den er sich erarbeitet hatte, daß die moderne Theologie und Philosophie, deren Fragestellungen noch den Greis interessierten, andere Antworten vor den Abgründen, in die auch er schaute, bereithalten könne. So erlebte er seine Gegenwart als eine Herausforderung und als eine Probe auf seine Ideale.
In der Erwartung der unausweichlichen Katastrophe empfand der Historiker „alle Schauer und Abgründe der Weltgeschichte, einstiger und jetziger, ständig und unbeweisbar" — aber er fügte hinzu: „ .. . und atme trotzdem sogleich wieder auf, sobald ein heller Sonnenstrahl wieder durchbricht".
Wieder und bis zuletzt entsprach sein schlichtes persönliches Verhalten unter der drückenden Last der Nachkriegsjahre den Ansprüchen, die er an den „hohen Beruf deutscher Historie" stellte. Es drängte ihn von Göttingen, wo er nach der Flucht sein Asyl gefunden hatte, zurück nach Berlin, wo er sich „wie am Kraterrande eines brodelnden Vulkans" fühlte. Er sah jetzt die Chance gegeben, Weltgeschichte neu zu schreiben, wozu seiner Ansicht nach aber nicht nur „wirkliches historisches Talent", sondern zugleich auch Charakter gehörten
Sein Name verknüpft diese Universität mit der hochgelegenen Quelle, der der geistige Strom der alten Friedrich-Wilhelm-Universität entsprungen ist, und mahnt diese Universität, mahnt uns zur Bereitschaft, für die Erhaltung der Freiheit Opfer zu bringen, mahnt uns zur Wahrhaftigkeit im persönlichen und im öffentlichen Leben, in Forschung und in Lehre.
Literatur über Friedrich Meinecke:
Walther Hofer: Geschichtsschreibung und Weltanschauung, Gedanken zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950.
Ludwig Dehio: Friedrich Meinecke, Der Historiker in der Krise, Veröffentlichungen der Freien Universität, Berlin 1953.
Siegfried A. Kaehler: Friedrich Meinecke, Zum Gedächtnis des großen Historikers, Deutsche Universitätszeitung, Göttingen, April 1954.
Hans Rothfels: Friedrich Meinecke, Ein Rückblick auf sein wissenschaftliches Lebenswerk, Veröffentlichungen der Freien Universität, Berlin 1954.
Sterling, R W.: Ethics in a World of Power, The Political Ideas of Friedrich Meinecke, Princeton 1958. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:
Robert J. Alexander:
Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Jakob Hommes:
Kommunistische und freie Gesellschaft philosophisch kontrastiert K. A. Jelenski:
Die Literatur der Enttäuschung Wanda Kampmann:
Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System dei Sowjetunion Frhr. v. Lansdorf:
Sowjetische Wirtschaftspolitik Walter Z. Laqueur:
Rußland mit westlichen Augen Boris Meissner:
Die marxistisch-leninistische Lehre von der „Nationalen Befreiung" und dem „Staat der nationalen Demokratie" aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der. nächsten Beilagen:
Felix Messerschmid:
Historische und politische Bildung Günther Rönnebeck:
Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung Helmut Schmidt:
Was bedeutet heute eigentlich rechts?
Gerhard Stoltenberg:
Was heißt heute eigentlich links?
Helmut Wagner:
Ich habe nur das Beste gewollt Hermann Weber:
Die Parteitage der KPD und SED Egmont Zechlin:
Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)
Epstein, Gollwitzer, Herzfeld, Snell:
Dreißig Jahre danach. Hitlers Machtergreifung in der Sicht deutscher und ausländischer Historiker