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Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag Friedrich Meinecke | APuZ 3/1963 | bpb.de

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APuZ 3/1963 Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag Friedrich Meinecke

Zum Gedenken an seinen 100. Geburtstag Friedrich Meinecke

Während seines Lebens, das die Dauer von mehr als 90 Jahren erreicht hat, ist Friedrich Meinecke von der wechselvollen Geschichte seiner Zeit in einer vormals kaum geahnten verschwenderischen Fülle Gelegenheit geboten worden. „Wandlungen deutschen Menschentums" vom 19. zum 20. Jahrhundert zu beobachten und zu interpretieren. Der am 30. Oktober 1862 im altmärkischen Salzwedel Geborene, im Fontaneschen Berlin der 70er und 80er Jahre Ausgewachsene wurzelt in einer väterlichen Welt, auf der noch die Patina einer romantischen Biedermeierzeit lag.

Sein Elternhaus, vor allem der Freundeskreis des Hauses, vermittelte ihm ebenso die Wertmaßstäbe wie das Lebensgefühl einer christlich-germanischen Haltung, die der Historiker einmal als eine bedeutungsvolle Entwicklungsschicht deutschen Lebens im 19. Jahrhundert beschreiben sollte, als er sich selbst allerdings längst davon gelöst hatte.

Wer den Versuch unternimmt, sich in dieses Leben von einzigartiger Kontinuität und Wandlungsfähigkeit zu versenken, vor dessen geistigem Auge tauchen Bilder auf, die Meinecke in einer Reihe von Zeugnissen selbst beschworen hat und denen ein symbolhafter Gehalt für die letzten 100 Jahre deutscher Geschichte innewohnt. Die Vergegenwärtigung solcher Bilder kann dazu dienen, den Weg ins Innere seines denkenden Geistes zu erleichtern, dem stets daran gelegen war, Vergangenheit und Gegenwart im historischen Augenblick zu verknüpfen. Zu solchen Bildern gehört ein Doppel-erlebnis, in dem Aufstieg und Niedergang deutschen staatlichen Lebens enthalten sind. Hinter der Schwelle seiner Salzwedeier Kindheit erlebte der junge Meinecke den Einzug der siegreichen Truppen in das Berlin der Reichsgründung. Er schreibt in seinem ersten

Erinnerungsbuche: „Im Juni 1871 zogen die siegreichen Truppen in das Brandenburger Tor ein. Meine Eltern hatten durch die Gunst eines Verwandten Zuschauerkarten für das Universitätsgebäude erhalten. Im 2. Stock des nördlichen Flügels... standen wir... Von da aus sah ich die breite, glänzende Front der Regimenter ziehen, sah aber auch ein kleines Häuflein alter Herren mit hohen Zylindern. Das waren, so wurde mir gesagt, die Veteranen von 1813." Zwischen 1813 und 1871 vollzog sich jene Entwicklung in Deutschland, die zu den Hauptthemen der Meineckeschen Geschichtsschreibung gehörte und die vor allem die Auseinandersetzung der selbständigen preußischen Staatspersönlichkeit mit der Idee der deutschen Nation wie mit der historisch gewordenen deutschen Staatenwelt zum Inhalt hatte. „Weltbürgertum und Nationalstaat", Ende 1907 erschienen, wurde das klassische Werk, in dem mit neuen Methoden die Genesis des deutschen Nationalstaates und des deutschen nationalen Denkens dargestellt worden ist. — Aber das Erinnerungsbild von 1871 geht über in das Bild einer anderen Entwicklungsstufe deutscher Wirklichkeit: „Und nun 47 Jahre später: Im Dezember 1918 wurde mein Auditorium aus dem Aulagebäude, der alten . Kommode'Friedrichs des Großen, hinüber-verlegt in eben denselben nördlichen Flügel der Universität, weil jenes besetzt war von der kleinen Schar zuverlässiger Soldaten, die für die Regierung Ebert gegen Spartakus und den Bolschewismus kämpfen wollten. Während ich nun in meinem Auditorium über das Zeitalter Ludwigs XIV. vortrug, ertönte in einer Stunde mit einem Male Militärmusik hinein. Truppen, die von Osten aus Rußland kamen und vom Frankfurter Tor her einzogen, marschierten die Linden entlang . mit Paukenschlag und Kling und Klang'. Die Erinnerung an den Juni 1871 ergriff mich. Ich pausierte und überlegte, was und wie ich meinen Studenten von dem Einst und Jetzt, das ich von dieser selben Stelle aus erleben mußte, sprechen könnte. Ich tat es nicht, weil ich spürte, daß der Schmerz meine Stimme ersticken würde, und fuhr fort, von Ludwig XIV. zu erzählen." „Weltbürgertum und Nationalstaat", das den hohen Rang des politischen Ideengeschichtsschreibers begründete und das dem politisch-historischen Denken in Deutschland einen neuen Aufschwung gab, entstand in den glücklichen Jahren der ersten Professur in Straßburg und Freiburg. Sein Erlebnishintergrund bildet „die damalige oberrheinische Kultur-provinz", die nach Meineckes eigenen Worten „in dem allgemeinen Auftriebe deutschen Lebens um die Jahrhundertwende etwas besonders Schönes darstellte". In den Rahmen dieses oberrheinischen Bildes gehört selbstverständlich zuerst die philosophische Bewegung jener Zeit, die sich mit Methoden, Zielen und Abgrenzungen der Geistes-und Naturwissenschaften auseinandersetzte und die in Heinrich Rickert gipfelte, dessen Bedeutung für sich selbst Meinecke oftmals betont hat. Rickert habe in den Jahren um und nach 1900 „für lange Zeit. . . als das festeste philosophische Bollwerk für das Eigenleben des schöpferischen Geistes inmitten des ehernen Kausal-zusammenhanges der Natur gewirkt". In dieser autobiographischen Feststellung ist innuce ein Teil der Forschungsund Lebensproblematik Meineckes enthalten, die seine großen Werke, seine geschichtsphilosophischen Aufsätze, seine Briefe und Gespräche variieren sollten. Der Geschichtsschreiber und der Geschichtsphilosoph Meinecke hat diese Problematik immer von neuem durchdacht, und er hat sich in den Krisen und schließlich in der Erwartung der Katastrophe die Substanz seines Geschichtsund Weltbildes, in der Spannung zwischen „Kausalitäten und Werten", gläubig behauptet.

Es mag dahingestellt bleiben, ob Meinecke noch Anregungen oder Förderungen des eigenen geschichtsphilosophischen Denkens empfing, als er Rickerts Kollege in der Freiburger Philosophischen Fakultät geworden war. Es waren nicht zuletzt dieselben begabten Schüler, die zwischen dem philosophischen und dem historischen Seminar die Verbindung herstellten. Daß Rickert die mit „Weltbürgertum und Nationalstaat" erreichte Stufe einer Geschichtsschreibung anerkannte und guthieß, die tiefer als bisher eintauchen wollte ebenso in Philosophie wie in Politik, erfüllte Meinecke mit Befriedigung. Das „Merkwürdige" und zugleich sehr Willkommene für ihn und seine Schüler sei gewesen, daß der Philosoph „die lebendige Anschauung des individuellen geschichtlichen Lebens" als notwendig für den Historiker verlangte und es nicht übelnahm, „wenn wir es in ihrer logischen Begründung nicht soweit brachten wie er". Die ausdrückliche Erwähnung der Schüler in diesem Zusammenhang ist charakteristisch und bestätigt die Erfahrung seines ältesten Schülers, der sich im Rückblick des bereits selbst Altgewordenen veranlaßt fühlen wird, dem 88jährigen Lehrer zu schreiben: „Es wird kaum einen Professor Ihrer Generation geben,, der seinen Schülern einen solchen Raum im Erlebnisfeld seines Lebens zugestanden hätte." — Zu den Männern, deren Namen den Gang der deutschen Wissenschatts-und besonders der Geistesgeschichte auf dem Höhenzuge jener Zeit wenigstens andeuten können und an deren Urteil Meinecke bei diesem Wagnis eines ersten ideengeschichtlichen Werkes viel gelegen war, gehörten — um nur einige zu nennen — Ernst Troeltsch, dessen Freundschaft zum geistigen und menschlichen Reichtum der Berliner Jahre gehören sollte, sowie Max Weber, der ihn in der Hoffnung bestätigte, daß beide auf verwandten Wegen ähnlichen Zielen der Erfassung historischer Wirklichkeit zustrebten. Und auch der Vertreter einer älteren Generation, nämlich Wilhelm Dilthey, hat das Originale an diesem Werke einer neuen geistesgeschichtlichen Methode im Bezirk der politischen Geschichtsschreibung ausdrücklich anerkannt. '

Es kann nur versucht werden, die kulturelle und soziale Stimmung in der oberrheinischen Zeit mit Hilfe einiger Hinweise zu veranschaulichen. Die jährliche Begegnung der Professoren und Dozenten vom Oberrhein, aus Heidelberg, Straßburg, Freiburg, sogar aus Basel, aber auch aus Tübingen, die in Baden-Baden stattfand, soll erwähnt werden, um an das Gefühl einer kulturellen und auch sozialen Zusammengehörigkeit zu erinnern, das Meinecke damals im deutschen Vorkriegsleben gehabt hat und das er so nie wieder empfinden sollte. Dieses Gefühl, das zu den Voraussetzungen einer Harmonie zwischen Lebens-und Schaffensfreude gehörte, nährte sich aber nicht nur aus dem Bereich der Wissenschaft und aus dem Verkehr mit Kollegen und Schülern, sondern auch aus dem Bezirk eines neuen Kunst-sinnes, wie er etwa in den Bildern Thomas oder Hans von Volkmanns aufblühte. Mit dem Honorar von „Weltbürgertum und Nationalstaat" wurde bezeichnenderweise eine Landschaft Volkmanns erworben, und die sehr verschiedenen Generationen zugehörigen Schüler aus Vor-und Nachkriegszeit konnten zum 70. Geburtstage ihres Lehrers kein sinn-volleres Geschenk aussuchen als ein Original-bild von Hans Thoma, das den „ruhig fließenden Oberrhein bei Säckingen in seinem umbuschten Wiesentale" darstellte und das ihn in einer veränderten Welt an glückliche oberrheinische Jahre erinnern mochte. — Was Meinecke oftmals in so intensiver Weise an der Entwicklung und Wandlung historischer Individualität dargestellt hatte, das hat er gleichsam an sich selbst erfahren: der in Preußen Geborene und Ausgewachsene, der mit preußischem Staatsgefühl erfüllte Mann, der noch dazu im Preußischen Geheimen Staatsarchiv jahrelang den geregelten Dienst einer Behörde, aber auch die gegenüber den eigenen wissenschaftlichen Arbeiten bemerkenswerte Liberalität des damaligen preußischen Staatsdienstes kennengelernt hatte, er wurde am Oberrhein gleichsam „deutscher". Wissenschaftliche Forschung und Erlebnis der Umwelt in räumlicher und zeitlicher Dimension sind gerade bei Meinecke überhaupt nicht zu trennen, und das Suchen nach den Nahtstellen führt tiefer in das Verständnis seines Werkes ein. So fügt sich der Erlebnisreichtum der gesegneten oberrheinischen Zeit mit dem großen Gegenstand seiner Forschung und der Art ihrer Bewältigung harmonisch aneinander.

Der Historiker Meinecke war ein begeisterter Wanderer, und die im Wandern erlebte süddeutsche Welt hat — so darf gesagt werden — dazu beigetragen, den Horizont seines nationalen Bewußtseins zu erweitern. Er hat sein Preußentum, wie er selbst schreibt, nicht etwa verloren, als er im Alter den geglückten Versuch unternahm, sich selbst als eine sich mit der Zeit wandelnde Individualität historisch zu verstehen, sondern es ins Deutsche erweitert. Zur Erweiterung des inneren Erlebnis-bereiches gehörte auch, daß „die übermäßige Spannung zum katholischen Wesen" nachließ, in der der norddeutsche Protestant gelebt hatte und ausgewachsen war, und daß er etwa im Hause des Inhabers der katholischen Geschichtsprofessur, seines Freiburger Kollegen Heinrich Finke, katholische Kultur kennen-und schätzen lernte. Es sollte für den Zusammenhang von Forschung, Leben und Geschichtsschreibung bei Meinecke nicht unterschätzt werden, daß er in den neunziger Jahren in Straßburg noch die Gelegenheit hatte, einer „Nachblüte des liberalen und zugleich leidenschaftlich nationalen Humanismus der Reichsgründungszeit" zu begegnen Es war eine liberal-humane Lebenslust, in der Friedrich Meinecke damals lebte und die sicherlich die innere Lösung von der Konservativen Partei beschleunigt hat. Indem er sich vom politischen Konservativismus löste, hörte er gleichwohl nicht auf, konservativ zu denken. Wir rühren hier an eine Problematik, die für Meinecke bedeutungsvoll, ja eine Lebensfrage geblieben ist.

Seine starke innere Lebensfähigkeit, erst recht in der Krisis und schließlich in der Katastrophe, wurzelt im geistigen Boden des 19. Jahrhunderts. Sie wurzelt aber nicht etwa allein in der Spätphase eines deutschen bürgerlichen Zeitalters, dessen Goldgehalt in seinen Erinnerungen noch einmal zum Leuchten gekommen ist, sondern auch in den Jahrzehnten einer politischen Stabilität. In einem der Briefe zu Beginn des zweiten Weltkrieges hat er selbst von der äußeren Schonung des Daseins gesprochen, die seine Generation doch recht eigentlich der Bismarckschen Friedenspolitik seit 1871 verdanke. Meinecke ist nach seinem Temperament, nach Maßgabe der Eigentümlichkeiten und Wertmaßstäbe seiner Geschichtsschreibung nichts weniger als ein lau-

dator temporis acti gewesen, und gerade deshalb dürfen die Selbstaussagen über die Welt vor 1914, auch wenn sie unter dem Eindruck der Vergewaltigung der von ihm vertretenen Lebenswerte seit 1933 getan sind, für das Verständnis des Mannes und seines Werkes nicht leicht genommen werden. „Nur wer vor 1914 gelebt habe, wisse eigentlich, was leben heiße."

Das ist — im Jahre 1944 niedergeschrieben — weniger im Sinne einer romantisierenden Rückerinnerung gemeint als vielmehr in Erinnerung daran, daß die bürgerliche Welt vor 1914 die Zeit zur Entfaltung der autonomen Persönlichkeit gewährte. Trotz gelegentlicher banger Vorgefühle und Vorausahnungen künftiger Katastrophen — noch die allerdings nichts gemeinsam hatten mit dem tiefen Pessimismus des Baseler Geschichtsschreibers und Philosophen Jacob Burckhardt — und trotz des Ägernisses, das den Bedeutenden unter dieser monarchisch gesinnten Generation das Auftreten Wilhelms II. bot, glaubte sie, auf der politischen Hochstraße — die sich vor wenigen Jahrzehnten, seit der Gründung des Reiches eröffnet hatte — weiterschreiten zu können. Und überdies: der von Friedrich Naumann geförderte und mit kulturellen Idealen innerlich verbundene neue sozialpolitische Sinn gab Friedrich Meinecke das Gefühl einer echten politischen Gegenwartsaufgabe, die seiner Generation zur Lösung gestellt sei. Dem Bemühen um die „Gewinnung der Arbeiterschaft für den nationalen Staat" sowie dem Gedanken einer großen nationalen Mittelpartei lag — bereits vor 1914 wie in den Jahren der Weimarer Republik — der Wunsch nach einer allmählichen Verwirklichung wahrer „Volksgemeinschaft" zugrunde. An solchem Verlangen hatten politische, soziale und kulturelle Motive gleichmäßigen Anteil.

Der allgemeine Hinweis, daß Meinecke seine geistige und seelische Lebenskraft aus einer vom Wilheiminismus unberührt gebliebenen Bürgerlichkeit und aus einer gerade durch ihn selbst im Bereiche der Geschichtsschreibung wieder aufgenommenen und neu belebten idealistischen Tradition schöpfte, sollte durch die Andeutung ergänzt werden, daß seine Entwicklung bis ins reife Mannesalter hinein durch die Philosophie Nietzsches innerlich nicht beunruhigt und belastet wurde. Er ließ sich auch nicht beunruhigen von den Gespenstern, mit denen Strindberg seine bürgerliche Zeitgenossenschaft erschreckte, sondern er griff vielmehr mit wachsendem Selbstgefühl und mit Sicherheit nur d i e Elemente aus den geistigen Strömungen seiner Gegenwart heraus, die der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und der organischen Entwicklung seines Menschen-und Geschichtsbildes dienen konnten. — Belangvoll wurde ferner die sichere Kenntnis und Beherrschung jener Methoden, mit denen sich allerdings ein positivistischer Wissenschaftsbetrieb begnügte. Bevor Meinecke die Gratwanderung über das ideelle Hochgebirge vom „Weltbürgertum und Nationalstaat", über die „Idee der Staatsräson"

bis zur „Entstehung des Historismus" antrat, hatte er in zuchtvoller Arbeit die methodisch-kritischen Voraussetzungen und Grundlagen historischen Erkennens erworben. Weil er den mühevollen Weg der Detailforschung und gleichsam den „Kleinbetrieb der Kausalitätenforschung" gründlich kennengelernt hatte, blieb er nüchtern, skeptisch und auch warnend ebenso vor den unkontrollierten Bedürfnissen nach Irrationalismus wie vor der kurzschlüssigen Errichtung sogenannter „Synthesen". Diese Behutsamkeit kennzeichnet ihn ebenso im geistigen Kampf um die Grundlagen der Weimarer Republik wie in den Veröffentlichungen oder im geistigen Dialog — sei es in der Form des Gespräches oder des Briefes — zwischen 1922 und 1945. Er selbst vertrug die geistige Höhenluft; er mochte sogar das Inter-esse am eigentlich „Konkreten" allmählich verlieren, nachdem er sich aber jahrzehntelang nicht gescheut hatte, einen wissenschaftlich gangbaren Weg durch ein schier unübersehbares Quellenmaterial zu schlagen, das die neuere Geschichte zu hinterlassen pflegt.

Der Ausgangspunkt vom Konkreten, von der Neigung und von der Begabung zur quellen-kritischen Bewältigung von Stoffmassen, aus denen z. B. die nach Meineckes Worten mehr gelobte als gelesene Boyen-Biographie hervorgegangen ist, darf also nicht verkannt werden. Doch leuchtete schon dem Jüngling ein Licht, das immer größere Leuchtkraft bekommen und das sein Schaffen immer stärker durch-glühen sollte. Dieses Licht hat erst recht geleuchtet, als er seit 1933 aus dem öffentlichen Leben und aus der Diskussion zurücktrat, und als er noch mehr denn zuvor das Bedürfnis nach „Diskussion" im Reichtum der geschriebenen und der empfangenen Briefe stillte.

„Aber an einem kann ich nicht irre werden ..."

— so schrieb er 1934 einem befreundeten Schüler — nämlich „an dem guten Sinn unseres historischen Denkens und Weltbildes. Ich werfe einigen optimistischen Ballast unseres bisherigen Historismus über Bord und behalte den Kern. Selbst wenn ein völliger Kultur-bruch eingetreten sein sollte und wir nur Prediger eines untergehenden Glaubens wären — es kann ja wirklich so sein —, bleiben doch unsere Kernideen so wahr und lebendig, wie einst die Ideen Platons und Plotins, aus denen sie sich emporentwickelten. Sie können immer wieder aufleben, auch wenn zeitweise alle Anhänger weglaufen. Weltgeschichte ist nun mal der Kampf zwischen Sinn und Sinnlosigkeit, ewig wogend, nie ganz entschieden." Diese Andeutungen seiner historischen Weltanschauungundseiner Arbeitsgesinnungenthalten Motive, auf die im Zusammenhang mit den geschichtstheoretischen Erörterungen zurückzukommen sein wird. Die Wiederholungen dieser Betrachtung entsprechen überdies der Wiederkehr und der Kontinuität der Motive. Diesel-8) ben Probleme stellen sich dem Betrachter stets von neuem — ähnlich wie ein Bergsteiger auf seiner Gipfelwanderung dieselbe Tallandschaft immer wieder anders sieht.

Die drei großen Werke „Weltbürgertum und Nationalstaat", „Die Idee der Staatsräson"

und „Entstehung des Historismus" sind zwischen 1907 und 1936 entstanden und tragen die Spuren vom Wandel dieser Jahrzehnte.

Ihre Problematik greift ineinander über, und ihr geistiger Nährboden liegt in den ober-rheinischen Jahren. Meinecke hat gerne auf die Einheitlichkeit der Konzeption hingewiesen. „Am Oberrheine stiegen mir einst eigentlich alle die historischen Fragen auf, denen meine weitere Lebensarbeit gewidmet war .

und noch präziser: „Die Wurzeln der drei geistesgeschichtlichen Werke ... liegen in dem, was mir hier durch den Kopf ging, teils schon als fest ergriffener Leitgedanke, teils als Wendung des Interesses auf neue, lockende, mir bisher fernliegende Erscheinungen des geschichtlichen Lebens." Es handelt sich um den Gedanken der Individualität, in den sich der Historiker tief versenkt hat, den er in seiner Geschichtsschreibung zur konkret-geistigen Anschauung gebracht, dessen weit verzweigte Ursprünge er untersucht, den er geschichtsphilosophisch tief durchdacht, den er mit Zweifeln konfrontiert und auf dessen Behauptung er sich zurückgezogen hat, als diese Idee in Frage gestellt oder vergewaltigt wurde. Wir wissen von Meinecke selbst, wann dieser Gedanke erstmals in ihm zündete, und sein Bericht vermittelt geradezu einen Zusammenhang deutscher Wissenschaftsgeschichte. Dieser Zusammenhang beginnt in einer Vorlesung Droysens über „Methologie und Encyklopädie der Geschichte", die der Student im ersten Berliner Semester hörte. „Zweimal hat er (nämlich Droysen) blitzartig etwas, was in mir schon schlummerte, aber noch keine Klarheit erhalten hatte, erweckt. Das eine Mal, als er von der Raffaelschen Sixtina sprach und an ihr das X der Persönlichkeit, das durch keine kritischen Manipulationen, Entlehnungsund Traditionsnachweise erklärt werden könne, zeigte. Das ist es, jubelte es damals in mir, dies Geheimnis der Persönlichkeit liegt allem geschichtlichen Tun und Treiben zugrunde. Und dann die frei gesprochenen Schlußworte der Vorlesung:" — die übrigens nach Meineckes Kollegheft in die Edition dieser Vorlesung übernommen worden sind — „Daß die wirkliche Geschichte und unser Wissen von ihr himmelweit verschieden seien, daß wir von dem Geschehenen nur einen fragmentarischen Schein besäßen, aber zu unserem Troste die Entwicklung der Gedanken der Menschheit auch bei lückenhaftem Material verfolgen können. Und schließlich hat er mir einen bleibenden Ansporn für meine wissenschaftliche Arbeit in die Seele gesenkt, nämlich die Sehnsucht nach dem drängenden, quälenden und antwortheischenden Problem. Das war, wie er auseinandersetzte, was er unter . historischer Frage'verstehe . .

Das geistige Erlebnis der Droysen-Vorlesung kann gar nicht überschätzt werden, und Meinecke hat Stellung und Bedeutung dieses Kollegs für die Wissenschaftsgeschichte wie für sich selbst oftmals beschrieben: „Der deutsche Idealismus der großen Zeit, den Droysen, der Hegelschüler, in seiner Jugend noch unmittelbar in sich ausgenommen hatte, warf hier noch einmal einen hellen Schein in einen durch den Positivismus grau zu werden drohenden Wissenschaftsbetrieb." Wie sich Meineckes im Idealismus ruhende Individualitätsauffassung seit dem Blitzstrahl, der vom Droysenschen Kolleg in sein Denken schlug, über das Studium Diltheys, bei dem ihm offensichtlich erstmals das Wort „Individuum est ineffabile" begegnete, weiter entwickelte, mit dem Entwicklungsbegriff verschmolz und sich mit entgegenstehenden Geschichts-und Kulturinterpretationen auseinandersetzte, das ist in der tief-'grabenden Einleitung zur „Entstehung des Historismus" von Carl Hinrichs deutlich gemacht worden

Der Beitrag dieser Ausführungen zum Meinecke-Verständnis sollte darin bestehen, zu zeigen, wie sich das Wachstum seiner Forschung, die Ausdehnung seines Arbeitsfeldes, die Vertiefung seines geschichtsphilosophischen Denkens jeweils in innerster Verbindung mit der eigenen Lebensproblematik und mit der wachsenden Teilnahme an den politisch-gesellschaftlichen Aufgaben vollzog. Es ist soeben gesagt worden: seine Werke spiegeln die Zeichen der Epochen, in denen sie entstanstanden, deutlich wider, aber gleichwohl vermitteln sie einen Eindruck vom Verfasser als von einer Individualität, der in einer sich radikal wandelnden Welt das seltene Glück zuteil wurde, sich ganz zu entfalten, sich geistig auszuleben und sich dabei im Kerne treu bleiben zu können. „Sich zu entwickeln" empfand er als das Charisma des einzelnen Menschen, aber wechselnd mußte im Laufe dieses Lebens die Antwort auf die Frage ausfallen, ob der Mensch „auch die Glücksgefühle der eigenen Entwicklung . . . aus der Weltgeschichte schöpfen könne?" Was hier nur knapp angedeutet wird, soll später noch einmal ausgenommen werden. Ein für die Glaubwürdigkeit der Geschichtswissenschaft ebenso einfacher wie wesentlicher Gesichtspunkt soll aber schon an dieser Stelle hervorgehoben werden: Meinecke bestand als Mensch und als Historiker die Prüfungen der politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen nicht zuletzt deshalb, weil er sich im Wandel charaktervoll verhielt und weil seine Geschichtsund Individualitätsauffassung niemals des ethischen Inhalts entbehrte.

Aus der intensiven Versenkung in den Gedankenstrom des 19. Jahrhunderts, aus der Einfühlung in das Eigenleben der historischen Individualitäten der Epochen dieses Jahrhunderts, aus der Würdigung der geschichtlichen Momente, aus der Bejahung einer Machtpolitik, die sich ihrer Grenzen bewußt blieb, sowie aus der Gewißheit, daß der gemäß seinem Ursprung mit humanen Elementen durchsetzte und nach innen wie nach außen entwicklungsfähige deutsche Nationalstaat der Sinnhaftig-keit der Geschichte entspreche, ist das Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat" entstanden. Hatte Meinecke einst bei Droysen „die Sehnsucht nach dem drängenden, quälenden und antwortheischenden Problem" kennen-8 gelernt, so fand er in diesem Buch ein solches echtes Problem in der wissenschaftlich begründeten und zugleich mit dem Zeitgefühl zusammenhängenden Frage nach der besonderen Entstehung eines deutschen nationalen Staates. Hinter dem Ringen zwischen einem liberalen und einem konservativen Staats gedanken suchte er die Kräfte, die auf das Naturrecht und auf eine ihm entgegengesetzte Welt-und Persönlichkeitsauffassung zurückführten, wie sie die Deutsche Bewegung hervorgebracht hatte. Indem er den „Entdeckungszug in das Reich des Individuellen nachvollzog, den der deutsche Geist mit glühender Begierde" unternommen habe, gewann er zugleich Einsichten, die den Keim zu den Konzeptionen der beiden folgenden Werke enthalten sollten.

Für die Idee der Individualität war es bezeichnend, daß sie sich ausweitete und sich auch auf die sogenannten überindividuellen Verbände bezog. „Die Nation trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben." Der mit konkretem Leben erfüllte Prozeß der Individualisierung erscheint somit als „eine großartige Erweiterung der Einzelpersönlichkeit und ihres Lebenskreises". „Der Mensch bedarf der Gemeinschaft, sowohl um sich von ihr tragen zu lassen, als auch um in sie selbst hin-einzutragen, was in ihm lebt; und je autonomer. je individueller er selbst wird, um so weiter und kühner zieht er die Kreise dessen, was auf ihn wirken soll und worin er sich auswirken will, um so reicheren Inhalt, um so kräftigere Umrisse werden diese Lebenskreise erhalten."

Meinecke untersucht sowohl die Genesis eines aristokratischen wie die eines demokratischen Individualismus und weist nach, auf wie verschiedene Weise beide nationalbildend wirken konnten. Er verweilt allerdings ausführlicher beim ersteren, und dem entspricht auch die Methode der Arbeit, vor allem die wertende Auswahl des Stoffes, die übrigens auch für die anderen Werke charakteristisch blieb und wel-ehe die Eigentümlichkeiten und Grenzen der Meineckeschen Geschichtsschreibung erkennen läßt: „Die Natur des Problems erfordert eine mehr monographische und intensive Behandlungsweise. Die Untersuchung politischer Gedanken darf niemals losgelöst werden von den großen Persönlichkeiten, den schöpferischen Denkern; dort an der hochgelegenen Quelle und nicht an der breiten Ebene der sogenannten öffentlichen Meinung, der kleinen politischen Tagesliteratur, muß man sie zunächst zu fassen versuchen."

Je intensiver Meinecke ins Innerste der Individualitäten eindrang, desto durchsichtiger wurde für ihn der Prozeß, in dessen Verlauf das moderne geschichtliche Denken entstand. Und in seinen Erinnerungen bestätigte er die Bedeutung, welche die Einsicht in neue Zusammenhänge für den Fortgang seiner Arbeiten bekommen hat: „Bei der Arbeit am ersten Buche des Weltbürgertums war mir ferner die Einsicht gekommen, daß unsere moderne historische Denkweise ganz wesentlich auf einem neuen Sinne für das Individuelle beruhe. Es bestanden, wie ich mir jetzt sagen mußte, innere Zusammenhänge zwischen dem neuen realpolitischen und dem neuen historischen Sinne." Solche Bemerkungen lenken die Aufmerksamkeit auf die Fortsetzung des Lebenswerkes hin, nämlich auf die Arbeit an der „Idee der Staatsräson" sowie an der „Entstehung des Historismus", aber es hing mit der erlebten Zeitgeschichte, dem Wandel des Lebensgefühls ebenso wie mit der fortschreitenden Einsicht in die Voraussetzungen des Historismus zusammen, wenn sich die Ausführung dieser Werke schließlich von den ursprünglichen Konzeptionen ihres Verfassers entfernte. Für diese war ja die innere Einheitlichkeit charakteristisch. Erfüllt vom Sinne für das Individuelle im Leben und in der Geschichte schien es Meinecke damals, vor 1914, möglich, das moderne historische Denken und die sich entwickelnde Fähigkeit moderner Staatskunst, die konkreten Interessen sowohl des eigenen als auch fremder Staaten wahrzunehmen, in einer inneren, wechselseitigen Abhängigkeit zu sehen und zu behandeln. Dem aufstrebenden Lebensgefühl vor 1914 entsprach die Sicht der Forschungsproblematik: geschichtlicher Sinn als Voraussetzung zu realistischem bzw. realpolitischem Handeln und Vertrauen zur Entwicklungsfähigkeit der großen Staaten gingen nahtlos ineinander über.

Als Meinecke 1914, beim Eintritt in die Akademie der Wissenschaften befragt wurde, was er „fortan für die Wissenschaft zu leisten gedächte", konnte er die beiden Aufgaben nennen, die ihm aus „Weltbürgertum und Nationalstaat" erwachsen seien: „... einmal die Geschichte der modernen Staatskunst und Machtpolitik als etwas sich Entwickelndes und in jeder Epoche neue Farbe Annehmendes zu untersuchen, und dann die Entstehung des geschichtlichen Sinnes seit dem 18. Jahrhundert, der unser aller geisteswissenschaftliche Arbeit leitete, aufzuhellen". Damals hatte er noch vor, beide Untersuchungen „zu einer höheren Einheit" zu verschmelzen und ein Buch zu schreiben, für das etwa der Titel „Staatskunst und Geschichtsauffassung" vorgesehen war.

Aus der Geschichte der Saatskunst, einer Geschichte der politischen Interessenlehren seit Machiavelli, wurde indessen das selbständige Werk „Die Idee der Staatsräson". Das in den Friedensjahrzehnten derVor-Weltkriegszeit gewachsene gläubige Vertrauen auf den letztlich „guten Sinn und Gehalt der Machtpolitik", die seit Ranke kaum wankend gewordene „Hoffnung auf den immer wieder sich rettenden Genius des Abendlandes" waren einem Lebensgefühl gewichen, das um eine neue Weltanschauung rang. Meinecke begann nicht etwa, die Macht an sich tür böse zu erklären, aber er hatte das „Sphinx-Antlitz" der Staatsräson entdeckt; sie gehörte jetzt zu den „nur zu vielen Dingen in denen Gott und Teufel zusammengewachsen sind". Der Gang des Weltkrieges und das Versailler Friedensdiktat hatten seiner Generation in reichem Maße Gelegenheit geboten, die Neigung der Machtpolitik zu hybrider Entartung in Gewaltpolitik zu studieren, und ferner gehörte Meinecke zu denen, die an der Bildungsschicht, der er selbst angehörte, erschreckt die Versuchungen der Macht beobachtet hatten.

Die neue Richtung, in die Meineckes politisch-historisches Denken seit Ausgang des ersten Weltkrieges einmündete, wird an den Veränderungen, welche die alte Individualitätsidee im Denken und im Urteil Meineckes erfuhr, besonders deutlich. Sie hatte hell über der Arbeit am „Weltbürgertum" gestrahlt und die Freude an der Geschichte eigentlich hervorgerufen; jetzt wird auch sie in den Sog des Zweifels hineingezogen, aber dieser Zweifel sollte befruchtend auf die Auseinandersetzung mit dem westeuropäischen Denken wirken und ein neues Verständnis für das Fortwirken des Naturrechts hervorrufen. Hatte er noch in „Weltbürgertum und Nationalstaat" eine individuelle Sittlichkeit der großen Mächte nach Maßgabe des ihnen innewohnenden Lebenstriebes freudig angenommen und daraus gefolgert: .....denn unsittlich kann nicht sein, was aus der tiefsten individuellen Natur eines Wesens stammt", so heißt es im Hegel-Kapitel der „Staatsräson", und zwar in einer anderen, von historischer Erfahrung gesättigten und kritisch gewordenen Stimmung: Die neue Individualitätslehre „konnte schon die Sittlichkeit des Einzelwesens in Versuchung führen, wenn das Recht der Individualität, sich auszuleben, schrankenlos galt und als höhere Sittlichkeit gegenüber der allgemeinen Moral ausgespielt wurde. Sie konnte, angewandt auf die überindividuelle Individualität des Staates, auch alle Exzesse seiner Machtpolitik als unvermeidliche und organische Ausflüsse seines Wesens legitimieren." An dieser Stelle seines Hegel-Kapitels hebt Meinecke hervor, wie sehr Hegel unter dem starken Einfluß Napoleons gestanden habe und wie er „jedes Moralisieren gegenüber den großen Eroberernaturen der Weltgeschichte" abgelehnt habe. Und dann fährt er fort: „Wohl brach er dadurch Bahn für eine freiere und großherzige Auffassung weltgeschichtlicher Persönlichkeiten, aber auch für eine laxere Behandlung des Problems der politischen Ethik." Der Schluß dieses Kapitels über Hegel ist für Meineckes Art des ge-schichtlichen Denkens, das aus den Fragen an die Vergangenheit Antworten zu finden sucht, die auch für die Gegenwart und Zukunft Hilfen geben können, in besonderem Maße charakteristisch und aufschlußreich. Er erwähnt „den schwachen Damm", den Hegel „gegen Ausschreitungen eines modernen Macchia-

vellismus" aufgerichtet habe, „der sich in Zukunft auch mit einer besonderen, neuen zeitgeschichtlichen Situation rechtfertigen könnte, wenn er aus ihr neue fruchtbare und im Kerne vielleicht ebenso unsittliche Mittel entnahm". Die Vorausahnung solcher zeitgeschichtlichen Situationen, die etwa zum Alibi irgendeiner nach innen und nach außen unbegrenzten Machtpolitik dienen mochten, sollte in zunehmendem Maße zum Bestandteil des Lebensgefühls werden, und doch konnte der Historiker nicht darauf verzichten, das „Sowohl" und das „AIs auch" in der Geschichte zu suchen und zu werten. So schließt das Kapitel über Hegel: „Identitätsund Individualitätsgedanke, die beiden höchsten und fruchtbarsten Ideen des damaligen deutschen Geistes, zeigten so die innere tragische Zweischneidigkeit aller großen historischen Ideen und Kräfte." über dem Neuen, das mit der „Idee der Staatsräson" eindrucksvoll sichtbar wird, darf indessen die schon mehrfach angedeutete wachstümliche Einheitlichkeit des Meineckeschen Gesamtwerkes nicht vergessen werden. Die Einsicht in die Problematik der Individualitätslehre, mit der er seit 1918 rang und welche im zweiten Teil dieser Betrachtung dargestellt werden soll, sie hat nämlich nicht verhindert, daß die „Entstehung des Historismus" das Lebenswerk vollendete. Es ist von Carl Hinrichs mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieses Buch als das am wenigsten mit allgemeiner und Zeitproblematik belastete seiner Werke dasteht und sich ganz dem wissenschaftlichen Problem widmen kann, das seinen Gegenstand bildet Ja, man könnte sogar meinen, daß die fortschreitende Erforschung der Ursprünge eines neuen historischen Weltbildes gleichsam eine „Entpolitisierung" der Thematik herbeigeführt habe. Er löste oder er befreite das Wurzelgeflecht des neuen historischen Sinnes aus einer allzu engen Verbindung mit der Erkenntnis-und Deutungsweise, wie sie etwa in den politischen Interessenlehren der großen Staaten zum Ausdruck kommt. So durchbrach er also in seinem reifen Alterswerk den Boden des Politischen und suchte nach einer Aszendenz des neuen historischen Sinnes, die auf das Gebiet „seelischer und weltanschaulicher Wandlungen"

im 18. Jahrhundert zurückführte. Das Werk gipfelt in Goethe, bei dem er jene heilenden Kräfte zu finden glaubte, welche die mit dem Historismus unvermeidlich verbundenen Gefahren bannen könnten. In ihm sei es nämlich „zu der vielleicht einzig möglichen Synthese von relativierendem und absolutierendem, von idealisierendem und individualisierendem Denken" gekommen. Logisch möge man diese Synthese bemängeln: „Aber bei der Entscheidung über die letzten und innersten Bindeglieder unseres Denkens und Wollens verliert der Intellekt seine Kompetenz an die Seele, die sich die Teilhaberschaft der eigenen begrenzten Individualität an einem sinnvollen Alleben nicht rauben lassen will.“ In solchen Sätzen fällt noch einmal helles Licht zurück auf den Weg, den Meinecke als Forscher, Geschichtsschreiber und als ein im 19. Jahrhundert wurzelnder Mensch zwischen den Antinomien des europäischen Denkens sowie zwischen ihren Ausprägungen in der politischen Wirklichkeit zurückgelegt hat.

Die Feststellung, daß das Werk seine Thematik „entpolitisiert" habe, bedarf jedoch der Ergänzung, damit sein Standort in der Geistesgeschichte richtig bestimmt wird. Friedrich Meinecke hat das Buch in den Jahren vollendet, in denen eine totalitäre Ideologie den Wert des einzelnen Menschen an Maßstäben maß, die diametral den Werten entgegengesetzt waren, die er selbst im Kern für unzerstörbar hielt. Wohl mochte er gelegentlich glauben, nur noch „den Trost der letzten Homeriden“ zu haben, aber sein geistiges Auge sah eine Entwicklung voraus, in der neue Glieder die goldene Kette der Gedanken fortsetzen würden. Er konnte sein scheinbar zeit-fremdes Alterswerk in „bejahender Stim-mung" schreiben, und er hat es sich nicht leicht gemacht, die Zweifel zu widerlegen, welche seine Weltanschauung in Frage stellten.

Auf dem fruchtbaren Arbeitsfelde Friedrich Meineckes sind aber nicht nur die Gipfel seiner großen Werke gewachsen — er hat uns in der Fülle seiner geschichtsphilosophischen und geschichtstheoretischen Aufsätze die reiche Ernte eines langen Lebens hinterlassen, und es handelt sich um Aufsätze, in denen sein eigentümlicher Geist in der Auseinandersetzung mit Wissenschaftsund Zeitproblemen charakteristischen gefunden Ausdruck einen hat Je krisenhafter seine Gegenwart wurde, desto intensiver ließ er es sich angelegen sein, in der Form des Essays auszusprechen, was ihm am Herzen lag. Auf alte Fragen werden neue Antworten gesucht. So ist die Frage nach „Kausalitäten und Werten in der Geschichte" durchaus nicht neu bei Meinecke, aber die zeitgeschichtlichen Erfahrungen haben ihr eine drängende Aktualität gegeben. Im Zusammenhang mit der Erforschung der Ursachen des Zusammenbruches von 1918 z. B. konnte es ihm nicht genügen, allein nach den Kausalitäten zu suchen, sondern es kam ihm vielmehr auch darauf an, bestimmte Werturteile zu fällen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Von der erlebten Geschichte empfängt der Historiker die Impulse für die Bewegung seines Denkens. Meinecke knüpft in diesen Überlegungen, die für die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen charakteristisch sind, wieder an Heinrich Rickerts Lehre von den Kulturwerten an; er stimmt ihm zu, daß „sich die kleine Auswahl dessen, was wir aus der ungeheuren Masse des Geschehenen als erforschenswert ansehen, gemäß der Beziehung vollziehe, die dies Geschehen für die großen Kulturwerte hatte", aber er beschränkt sich nicht darauf, solche „wertbezogenen Tatsachen" nur zu erforschen und darzustellen, sondern er will selbst werten. Dem Historiker vermittelt bereits seine praktische Arbeitserfahrung die Einsicht, daß „das Auswählen wertbezogener Tatsachen nicht ohne ein Werten möglich ist". Ihm, der die Funktion des „Unterscheidens, Wählens und Richtens" ausübt, stellt sich die Aufgabe, „auf Grund seiner eigensten Erfahrungen ein Bild vom Wesen der Werte zu gestalten". Ein aus „der Praxis historischer Forschung" gewonnenes Bild wird einer logisch-abstrakten Deutlichkeit sicherlich entbehren müssen, aber sich vielleicht um so mehr durch praktische „Instinktsicherheit" auszeichnen. Meinecke ließ sich von der Philosophie anregen, aber der Historiker hielt die Geschichte für sättigender.

Wollten wir einen höchst differenzierten Sachverhalt auf vereinfachende Weise zum Ausdruck bringen, so könnten wir etwa sagen, daß sich Meineckes „historisches Interesse"

von den „Kausalitäten" zu den „Werten" verlagerte. Daß aber der „Weg der Kausalitäten erst unbeirrt bis zum letzten erreichbaren Punkte gegangen werden müsse", bevor „dem aus der Tiefe wirkenden Bedürfnisse nach Lebenswerten" nachgegeben werden dürfe, ist eine Aufforderung und Mahnung, hinter der die politisch-geistigen Erfahrungen der Weimarer Jahre liegen. Die geistespolitische Situation wurde ja schon angedeutet, und diese Andeutung soll an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden. In der schrankenlosen Hinwendung „zu den großen überragenden Werten des Lebens und der Vergangenheit", in dem Drange nach „unmittelbarer Vereinigung mit der Seele der Vergangenheit", in der Sehnsucht nach dem Zeitlosen und Ewigen erblickte Meinecke die charakteristischen Symptome „der geistigen Gesamt-konstellation seiner Zeit". Der Historiker empfand indessen viel zu sehr mit seiner Gegenwart, fühlte ihren Pulsschlag, um nicht die innere Notwendigkeit solcher Tendenzen, aber zugleich auch ihre großen Gefahren zu erkennen. Die jahrzehntelange Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift hatte ihm überdies eine sehr intime Kenntnis der Richtungen und Strömungen in den Bereich der Geisteswissenschaft eingebracht. So wußte er, daß „die Bedürfnisse des jungen Nachwuchses" auch der eigenen Wissenschaft von dem schon seit der Vor-Weltkriegszeit vordringenden Irrationalismus nicht unberührt geblieben waren. „Aus einigen frappanten Spuren in der Überlieferung und mit übermäßigem Zuschuß eigener Ideale" — „ohne viele Induktion" — das eigentlich schon vorweggenommene Ergebnis abzuleiten und dann noch „das selbstgeschaffene Phantasiegebilde zu umarmen", das schien ihm charakteristisch für den Geist der Zeit, ja für ein allerdings nur zu begründetes Streben „nach den hohen und höchsten Kulturwerten" zu sein. Er glaubte, ein solches Streben besonders charakteristisch in der Schule Stefan Georges zu finden, deren beste Leistungen er „von den Fehlern einer saloppen Arbeitsweise" ausdrücklich freisprach, von deren „Tendenz zur überfeinerung und Verdünnung der geistigen Luft" er indes eine Auflösung „der groben irdischen Kausalitäten" befürchtete. — Die Auseinandersetzung mit Oswald Spengler jenem Geist von „epigonenhaftem Raffinement", hatte Friedrich Meinecke Gelegenheit gegeben, die das Zeitgefühl beherrschende „subjektive Wesensschau" im Zusammenhänge „der modernen expressionistischen Bemühungen" zu entlarven. Der Erfolg des Buches war ja mit ein Symptom der Müdigkeit an rationaler Erkenntnismethode, am mühevollen Nachweis der Kausalitäten. „Man ist ... wissensmüde und lebensdurstig geworden und will das Leben, das in der geschichtlichen Menschheit steckt, ohne Umwege durch rasche Umarmung gewinnen."

Nach seiner Meinung sollte der Unterschied zwischen den Repräsentanten einer kritischen Geschichtsschreibung und den „modernen Synthetikern" gar nicht so sehr in den „Zielen der Erkenntnis" gesucht werden; er wurzelt vielmehr in einer verschiedenen Arbeitsgesinnung; es handelt sich letztlich um ein anderes Maß „von Verantwortung-und Pflichtgefühl, von Bescheidenheit und Selbstzucht", womit die historische Arbeit jeweils betrieben wird. Meinecke hatte so großen Anteil an der Über-windung des Positivismus, daß er sich mit gutem Grunde berufen und berechtigt fühlen durfte, vor den Gefahren einer Geschichtsschreibung zu warnen, welche die Institution der mühevollen Forschung vorzog. Und ein ganz persönlicher Zug wird in diesen geschichtstheoretischen Auseinandersetzungen überdies sehr deutlich, nämlich eine Bescheidenheit, welche sein begründetes Selbstgefühl ergänzte; sein Unvermögen und sein Unwillen, die ganz individuelle Art seiner Geschichtsschreibung etwa dogmatisieren zu wollen, seine Unlust, eine Schule im strengen Sinne zu bilden; denn die Freude am Individuellen empfand er auch gegenüber der Fülle der Individualitäten seiner Schüler. So lag es ihm also fern, eine Schule zu stiften oder gar ihr Haupt zu sein; aber vielleicht gerade deshalb wirkte der Professor im Kreise seiner Schüler um so gemeinschaftsbildender.

Der Ideenhistoriker konnte bekennen: „Ich selber würde, wenn ich die Begabung dazu hätte, mich vielmehr mit konkreter als mit ideeller Geschichte beschäftigt haben. Aber meine durch und durch unpraktische und mit schlechten Sinnesorganen ausgestattete Natur hat sozusagen aus der Not eine Tugend zu machen versucht, als sie in das ideelle Hochgebirge zu klettern versuchte, was ohne Absturzgefahr ja nicht möglich ist. Mein eigener Weg ist keineswegs nachahmenswert für Viele, und die . konkrete’ Geschichte, wofern sie nur geistig durchhaucht wird, ist und bleibt die Hauptsache für uns."

Es ist vorhin von einem nachlassenden Interesse am „Konkreten" bei Meinecke gesprochen worden, aber er lebte doch viel zu sehr in der geistigen Nähe Wilhelm von Humboldts, um nicht daran zu glauben, daß „in jedem Konkreten auch immer, wenn auch versteckt, ein ideelles, ein geistig von innen nach außen formendes Prinzip lebt".

Es hängt mit der erwähnten historischen „Instinktsicherheit" zusammen, wenn sich Mei-necke bewußt blieb, daß eine „Darstellung ideeller Werte ihren natürlichen Nährboden verliert und leer und willkürlich wird, sobald die unmittelbare Freude an der konkreten Wirklichkeit und ihren groben oder feinen Kausalzusammenhängen" schwindet Der Hinweis auf die nicht aufzugebende Bindung des Historikers an die konkrete Geschichte verbindet sich mit der Mahnung: „Ohne starken Hunger nach Werten wird die Kausalitätenforschung, und mag sie mit noch so virtuoser Technik betrieben werden, zum ledernen Handwerk." Geschichtsschreibung sollte also dem Leitstern folgen: „Keine Kausalitäten ohne Werte, keine Werte ohne Kausalitäten."

Die Frage nach Entstehung und Wesen der Werte beantwortet Meinecke mit den Worten:

„Offenbarung und Durchbruch eines geistigen Elements innerhalb des allgemeinen Kausal-zusammenhanges." Angedeutet sei an dieser Stelle der Versuch, Stufungen der Kulturwerte zu „Die absichtsvoll beschreiben. einen werden in einer von vornherein darauf gerichteten Anstrengung erarbeitet — religiöse und philosophische, politische und soziale Gedanken-gebilde, Kulturwerke, Wissenschaft . . . Die anderen erblühen mittelbar und nicht von vornherein beabsichtigt aus den Notwendigkeiten des konkreten praktisch gerichteten Lebens." So sehr der dem Gang der Weltgeschichte nachsinnende Historiker „den geradesten und steilsten Aufstieg aus der Natur zur Kultur" nachzuvollziehen das Bedürfnis haben mochte — das übrigens selbst einen Lebenswert darstellt —, so sollte sein Interesse doch gerade jenen Bereichen gelten, in denen es zunächst einfach um die Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten geht, in denen sich aber gleichwohl der Blick „zu den leitenden Hochgipfeln der Werte" erhebt. Dazu gehört vor allem der Staat, der deshalb nicht aus dem Mittelpunkt der historischen Forschung rücken darf. Auf die Frage, ob „der Staat auch den höchsten möglichen Kulturwert" darstelle, fällt die in den zwanziger Jahren gegebene Antwort selbstverständlich skeptischer aus, als sie in der Vorweltkriegsgeschichte ausgefallen wäre. Aber gerade weil die Beziehungen des Staates zu den Kulturwerten mit Problematik belastet, mit Fragezeichen versehen werden müssen, gilt die Aufmerksamkeit des Historikers diesem Gebilde mit dem Sphinxantlitz in besonderem Maße. „Und der Staat ist es in erster Linie, in dem auf diese Weise, durch eine Achsendrehung Natur und Kultur wird."

Er bleibt stärker „als fast alle anderen historischen Individualitäten an naturhafte, biologische Notwendigkeiten gebunden und wird von ihnen gehindert, sich ganz zu vergeistigen". Der Historiker der Staatsräson — auch der den Staat der Gegenwart bejahende Zeitgenosse der Zwanziger Jahre — mußte um so mehr von der Aufgabe gefesselt werden, den Staat auf seine unmittelbaren Kulturleistungen im Laufe der Geschichte hin zu untersuchen.

Mochte Meinecke niemals angerührt worden sein von der Hegeischen Staatsidee und mochte ihn das Sphinxantlitz der Staatsräson erschrek-

ken, so hörte er doch niemals auf, den Staat als „die wirksamste und umfassendste aller Lebensgemeinschaften" zu durchdenken. Die Dinge des Staates behielten einen großen Anteil am Denken und Wirken dieses politischen Professors, wie aus den von G. Kotowski besorgten Bande der Politischen Schriften eindrucksvoll hervorgeht Wohl galt die vita contemplativa selbst als höchster Lebenswert, aber die verantwortliche Teilnahme am schaffenden Leben wurde letztlich als dringender und unabweisbarer gehalten, denn das Vermögen, „Kulturwerte der rein geistigen Sphäre" hervorzubringen und zu empfinden. Längst waren die Stimmen des 19. Jahrhunderts verklungen, die in Deutschland nicht nach dem besten, aber nach einem „guten und schönen Staat" gerufen hatten. Das ethische Erbe dieser Tradition wirkte in Meinecke indessen fort: „Den Staat, in dem man lebt, zu vergeistigen und zu versittlichen, auch wenn man weiß, daß es nie ganz gelingen kann, das ist, nächst der Forderung, die eigene Persönlichkeit geistig und sittlich zu erhöhen, die höchste der Forderungen, die an ethisches Handeln gestellt werden kann." Auf dem Hintergründe solcher Bekundungen sind seine politischen Bemühungen zwischen 1918 und 1933 erst ganz zu verstehen, und es wäre aufschlußreich und interessant, die Einzelheiten, die Tendenzen dieser Bemühungen zu veranschaulichen. Von solcher ethischen Staatsauffassung her, die keineswegs in der Abgeschlossenheit des Studierzimmers die Nachtseiten staatlicher Wesenheiten außer acht ließ, aber auch von der Verwurzelung in der seit 1871 gewachsenen staatlichen Lebensgemeinschaft aus ist seine am 28. Februar 1932 getane Äußerung verständlich: „Nur für ein Schicksal, das uns allen einen Hitler als Reichschef aufbrummen könnte, habe ich gar kein Februar 1932 getane Äußerung verständlich: „Nur für ein Schicksal, das uns allen einen Hitler als Reichschef aufbrummen könnte, habe ich gar keine Fassung. Da hört denn mein Verstand auf." 26) Der Staat blieb im Mittelpunkt des Denkens des Ideenhistorikers — wenn dieses Wort richtig verstanden wird, und die Bindung an den Staat und an seine Institutionen sollte im Interesse am staatlichen Neubeginn nach 1945 wieder aufleben. Eindrücklicher als geistesgeschichtliche Erläuterungen vermag eine ganz nebenher getane autobiographische Feststellung die ethisch unzerstörbare Bejahung staatlicher Ordnung zu veranschaulichen. Nur einmal im Leben — so erinnerte sich der Achtzigjährige 1945 — sei er polizeilich angehalten worden, als er nämlich vor 40 Jahren, „im Zeitalter der Sekurität", in der Dunkelheit ohne Laterne von Baden über die. Kehler Brücke geradelt sei 27).

Das Durchdenken der Kausalitäten und Werte führt ihn zu Erkenntnissen, die seiner Standortbestimmung in der Gegenwart zugute gekommen sind. Gewiß fühlte er sich immer wieder „mit magnetischer Gewalt zu den großen Staatsmännern der Weltgeschichte hingezogen, in denen das Ringen von Natur und Kultur grandios wird". 28) Es mußte mit den Akzentverschiebungen Zusammenhängen, welche die historische Wertlehre in jener Zeit erfuhr, wenn hinfort der Blick nicht nur an den Höhenzügen der Kultur und nicht an den spektakulären Vorgängen der Weltgeschichte hängen-blieb. Der Begriff des historischen Wertes sollte erweitert und vertieft werden. Er umfaßte nämlich „nicht nur die eigenen politischen oder unpolitischen Ideale, sondern jede stärkere Offenbarung eigentümlichen geistigen Lebens, also auchdie Ideale derGegner “. Von solcherAußerungfälltLicht auf einen Weg, der nicht mehr im Nationalstaat endet. Indem der Historiker das Wertvolle und Werthafte sucht, wird er auch die Werte nicht mehr übersehen können, welche die jeweils Besiegten einer Epoche dargestellt oder vergeblich erstrebt haben:

denn „große Kulturleistungen und Offenbarungen eines geistigen Elements dürfen nie und nimmer nur nach dem Grade ihrer kausalen Einwirkung auf den Fortgang der Kultur eingeschätzt werden. Sie ruhen, ganz gleichgültig ob sie auf ihre Zeit gewirkt haben oder nicht, auch in sich selbst, sind um ihrer selbst willen allein schon der Erforschung, Darstellung und Verehrung würdig". Und eine historische Gesinnung, welche die Kausalitäten nicht vernachläßigt und zugleich nicht überschätzt, führt zu einem verinnerlichten Mitgefühl mit dem Einzelleben und zu einer Bejahung seiner Berechtigung, zumal „jede einzelne Menschenseele fähig ist, Kulturwerte, und sei es auch nur den der schlichten Pflichterfüllung um des Guten willen zu erzeugen".

So blieben letztlich alle Bemühungen um eine historische Wertlehre von der Sehnsucht erfüllt, eine gedankliche Brücke zu schlagen, die Geschichte und Ethik verbinden kann. Sie waren sowohl die Reaktion auf die Erfahrungen des Weltkrieges und des Zusammenbruches als auch Ausdruck und Furcht vor dem Durchbruch neuer Massengewalten.

In engstem Zusammenhang mit der Ausarbeitung einer Wertlehre steht die Interpretation des Historismus. Daß er „Wunderwelten eines neuen geschichtlichen Verständnisses für alles, was Menschenantlitz trägt, erschlossen hat", ließen auch die Gedanken über eine historische Wertlehre deutlich genug erkennen, in deren Mitte die Individulität ihre unverrückbare Stellung behalten hat. Die Frage zu den geistig-sittlichen Werten wurde mit neuer Leiden-schäft gestellt und durchdacht. Daß der Historismus Gefahren mit sich gebracht und verbreitet hatte, war bereits in der „Idee der Staatsräson" zu machtvollem Ausdruck gekommen. Die Versuche, diese Gefahren zu erkennen und zu überwinden, füllen die Nachkriegszeit aus und begleiten die Jahre der Weimarer Republik. Hat sich dieser Historismus — so lautet die immer von neuem gestellte Frage — „nach und nach den festen Boden bestimmter absoluter Ideale erschüttert, auf dem die Menschheit bis dahin zu stehen geglaubt hatte"? Hat er nicht zu einem Relativismus und zu einer Anarchie der Werte geführt? Im Bereiche des Kirchlich-Religiösen ebenso wie im Bereiche des Staatlich-Politischen glaubte Meinecke die auflösende Wirkung des Relativismus beobachten zu können.

Wer sich selbst — wie Meinecke — gelegentlich als „christlichen Heiden" bezeichnet, wird nur allgemein von den religiösen Problemen seiner Gegenwart sprechen können und wollen. Meineckes Weltfrömmigkeit hat den Zugang zu einem geoffenbarten Christentum und gar zur Kirche sicherlich nicht erleichtert aber trotz dieses wohl unbestreitbaren Sachverhalts bedarf es einer sehr zarten Behutsamkeit, wenn diese Fragen zur Beantwortung gestellt werden. Die Unterstützung der Bekennenden Kirche war mehr als nur Symptom einer geistigen Kampfgemeinschaft seit 1933. Den für verbindlich erklärten dogmatischen Weg konnte Meinecke nicht mitgehen, und doch fühlte er sich veranlaßt, von einer „Alterswendung" zu sprechen, die „in der Konsequenz seines Denkens liege". Daß die Lektüre der synoptischen Evangelien die Lektüre Goethes ergänzte, soll aber nicht erwähnt werden, um in das Geheimnis etwa einer „Wandlung" einzudringen, sondern nur deshalb, um die geistig-seelische Offenheit des Mannes zu veranschaulichen, der längst das biblische Alter erreicht hatte. Bei aller gebotenen Zurückhaltung wird man wohl nicht verkennen können, daß es sich um eine christliche Glaubenserfahrung handelte, wenn Friedrich Meinecke am Abend seines 90. Geburtstages zu seiner Frau sagte: „Was feiern sie bloß an mir? Ich habe doch nur weitergegeben, was Gott in mich gelegt hat."

Auf wohlbekanntem Gelände eigenster Erfahrungen stand Meinecke, als er sorgenvoll den Sog des Relativismus auf die Staatsidee, auf die Stellung der Bürger im und zum Staat beobachtete. Er selbst war 1918 bekanntermaßen Vernunftsrepublikaner geworden und Herzensmonarchist geblieben. Sein historisch-pädagogisches Ideal erblickte er darin, „die Liebe für unsere geschichtliche Vergangenheit mit der Liebe und Treue für den Staat der Gegenwart zu vereinigen" und beiden gegenüber „den Geist einer unbestechlichen Kritik" walten zu lassen „Daß es für viele eine höhere, zwingende, gewissermaßen für heilig gehaltene Staatsidee nicht mehr gebe", führte der Historiker auf einen sich ausbreitenden „glaubenslosen und müden Skeptizismus" zurück, und er fragte nach der Verantwortung, die dem Historismus für diesen politisch-seelischen Sachverhalt zugeschrieben werden müsse. Seinen Gedanken entsprach im Bereiche des praktischen Verhaltens die Hoffnung auf die Chancen einer „autoritären Demokratie" seit Brüning

Meinecke täuschte sich nicht über die nachlassende Anziehungskraft von Historismus und Individualismus, ohne allerdings je am bleibenden Werte ihrer Weltanschauung irre zu werden. Der repräsentative Historiker dieser Geistesrichtung hat deren Schwächen selbst am schärften erkannt, ja in Kauf genommen und ist den Angriffen der wachsenden Schar der Gegner gewissermaßen zuvorgekommen. „Was aber Wissenschaftlich (die Stärke des Historismus), ist ethisch und praktisch seine Schwäche. Er ist nicht imstande, etwas Festes und Handgreifliches, vor allem nicht etwas Allgemeingültiges und die Massen Hinreißendes über die höchsten Lebenswerte zu sagen. Er muß sich begnügen, den Menschen zu sagen, den Sinn der individuellen Lebenseinheiten, in denen sie stehen, zu erfassen und ihnen hingebend zu dienen, um sie zur höchsten individuell möglichen Vollkommenheit zu führen, und er spendet seinen metaphysischen Welttrost nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung." Eine in doppelter Hinsicht aufschlußreiche Äußerung! Er gab nämlich in diesen Sätzen selbst die Gründe für die Grenzen an, die einer breiteren Wirksamkeit seines Gesinnungskreises seit dem Weltkriege gezogen waren. Er war sich durchaus klar über die Stärke des Mißtrauens, das gerade breite Teile der Jugend gegen einen Idealismus erfüllte, der im Weltkrieg und in der Revolution erschüttert worden war. Und mit dem Hinweis auf einen „methaphysischen Welttrost", der „nur den erlesenen Geistern von höchster Bildung" vorbehalten sei, wiederholte Meinecke letztlich nur das Bekenntnis zu einer aristokratischen Bildungstradition, die im Grunde genauso der Gegenstand seiner Forschung wie die Grundlage seines Lebens blieb. Die einer solchen Tradition entstammenden Kulturwerte auszubreiten und ihnen an einer wirklichen Volksgemeinschaft Rückhalt zu geben, blieb dabei sein praktisch-politisches Ziel.

Die heilenden Kräfte, die imstande sind, das Gift des Historismus wieder unschädlich zu machen, hat Meinecke in der Kraft des Gewissens gefunden Es rückt in den Mittelpunkt seiner Wertelehre und auch in den Mittelpunkt seiner Historik. So rettet sich der Historismus gewissermaßen durch sich selbst, durch „ ... das wundersame Vermögen in uns, das wir Gewissen nennen". — Neben Dilthey wird Droysen zitiert: „Nur sein Gewissen ist jedem das absolut Gewisse, es ist für ihn seine Wahrheit und der Mittelpunkt seiner Welt." Die beiden Leitsterne seiner akademischen Jugend haben ihre Leuchtkraft behalten; und es ist bezeichnend, daß der ethische Inhalt der Individualitätsidee in der Krisis scharf akzentuiert wird.

Das Gewissen empfängt eine regulative Funktion sowohl für das Einzelleben als auch für das Leben in der Gemeinschaft. Es sagt uns, meint Meinecke, „was böse und gut ist", und es ist „das mächtige Bindemittel der mensch-

lischen Gesellschaft". Um die Stellung des Gewissens richtig zu würdigen, bedarf es noch einmal des Hinweises auf die an ethische Maßstäbe gebundene Individualitätsauffassung und auch auf den Glauben, daß „Individualität nur die Leihgabe einer höheren Macht" darstelle, wobei es jedoch falsch wäre, etwa das Neue an ihr übermäßig hervorzuheben.

Richtig ist vielmehr, daß das schon immer Gewußte und Geglaubte unter dem Druck erlebter Geschichte zu stärkerem Ausdruck gelangte. Mit Ernst Troeltsch stimmte Meinecke darin überein, daß gerade individualitätsstarke Menschen „nicht auf die Interessantheit ihrer Persönlichkeit, sondern auf die Besonderheit ihrer Aufgabe reflektieren". Die sachliche Hingabe an die Pflichten der dem Historiker und dem Professor aufgegebenen Arbeiten ist für Meinecke charakteristisch gewesen. Dazu gehörte auch — um nur ein ganz schlichtes Beispiel anzuführen —, daß der erfahrene Professor zwei Tage ruhiger Arbeitsvorbereitung für notwendig hielt, damit eine Seminarsitzung gelingen konnte. Anders als Troeltsch wollte Meinecke der historischen Wissenschaft nicht die Aufgabe stellen, „ein praktisches Kultur-programm" hervorzubringen, aber er glaubte daran, daß sie einer „praktischen Weltorientierung" dienen könne. Die Bindungen, in denen der Mensch zu geschichtlichen Mächten wie etwa Volk, Staat und Religion steht, erhalten erst durch die Instanz des Gewissens ihren „schlechthin verpflichtenden Charakter", und „alle Ewigkeitswerte der Geschichte stammen letzten Endes aus den Gewissensentscheidungen der handelnden Menschen". Zwischen den Deutungen Rankes und Jacob Burckhardts ringt Friedrich Meinecke in der Krisis der dreißiger und der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts um den Sinn der Geschichte. Er geht von Ranke aus und bleibt in seiner Tradition, aber im Bemühen um den Sinn der Geschichte können ihn Rankes „fromme Worte" nicht mehr als „nur bewegen, da er sich ja mitteninne zwischen christlicher Gläubigkeit und Unglauben fühlt". Der fast achtzigjährige Ranke hatte seinem Sohne von „der göttlichen Ordnung der Dinge" geschrieben, „welche zwar nicht geradezu nachzuweisen, aber doch zu ahnen" sei Der achtzigjährige Meinecke wollte letztlich auch nicht darauf verzichten, „das geschichtliche Leben so gottnah wie möglich betrachten zu können". Er glaubte die Stufe zu solcher Betrachtung im Gewissen finden zu können. „Das Gewissen als das Gottverwandteste in uns zeigt gleichsam nur eine goldene Umrandung, innerhalb derer (der Sinn der Geschichte) liegen muß.“ Vom absoluten Sinn der Geschichte unterschied er den Sinn, den sie für uns haben könne und der darin gipfelte, „die Offenbarung des Gott-verwandten in der Menschheit verstehend in uns aufzunehmen und nachzuerleben".

Während Friedrich Meinecke über den Sinn der Geschichte und über den geschichtlichen Sinn reflektierte, vollzogen sich in Deutschland und in der Welt politische und gesellschaftliche Umwälzungen, vor deren Hintergrund solche Reflexionen erregend oder vielleicht auch befremdend wirken mögen. Daß die weltanschaulichen Maßstäbe, die der Geschichtsschreibung und der Gesichtsphilosophie Friedrich Meineckes zugrunde lagen, in den Jahren des Nationalsozialismus den beherrschenden Zeittendenzen entgegenstanden, bedarf nicht der Erwähnung.

Um so bedeutungsvoller bleibt — auch für unser inneres Verständnis der Jahre zwischen 1919 und 1945 — die Diskussion, in der Friedrich Meinecke die Positionen seines Denkens verteidigte. Es handelte sich um die geistige Zwiesprache mit seinem Schüler Siegfried Kaehler, in der dieser — bis zu einem gewissen Grade — stellvertretend für die Generation des ersten Weltkrieges gesprochen hat. Diese Zwiesprache hat ihren Niederschlag in dem jüngst veröffentlichten Briefband gefunden, und sie ist um so eindrucksvoller, als sich in ihr Verehrung des Lehrers, Dankbarkeit und Treue sowie das wechselvolle in Jahrzehnten gewachsene Gefühl innerster Verbundenheit mit dem ehrlichen Bewußtsein von Auffassungen verschiedener Aszendenz verbinden. Die in der Not der Zeit gestellten Fragen haben Friedrich Meinecke genötigt, über die Tragfähigkeit seines Geschichts-und Weltbildes zu reflektieren und zu behaupten. Ob es wohl „eine im tiefsten Grunde optimistischere Färbung besitze, als sie mit dem seit 30 Jahren mehr und mehr hervortretenden Schreckenscharakter des Weltgeschehens verträglich erscheint" ? Meinecke ist „die Domestikationsfähigkeit des Menschen" nicht unbekannt geblieben, und gleichwohl singt er „das Hohelied der Individualität". Er hat von der Umwälzung moderner Naturwissenschaft, in der der Kausalnexus in Frage gestellt wird, noch Kenntnis genommen. Er kennt das „irrende Gewissen", und er weiß, daß das Gewissen „mehr als subjektiv befriedigende Antworten nicht geben kann", aber zur subjektiven Befriedigung rechnet er „die religiöse Ahnung, die sogar zur Glaubensgewißheit werden könne, daß unseren Gewissensaussagen, so verschieden sie auch in verschiedenen Zeiten und Menschen sein mögen, ein metaphysischer Kern, ein öslov zugrunde liegt, das sich in diesen Verschiedenheiten ebenso tausendfach differenziert, wie das reine Licht in den Farben". Die Verwurzelung im 19. Jahrhundert, von der einleitend die Rede gewesen ist, bewährt sich in der Krisis und in der Katastrophe: „Wir aus dem 19. Jahrhundert Stammende wollen diesem Jahrhundert auch darin Ehre machen, daß wir seinem positiven Hochgedanken treu bleiben bis zuletzt und nur den verruchten Optimismus, dessen sich dies Jahrhundert in seiner Breite wenigstens schuldig gemacht hat, auf den Müllhaufen schütten." Es handelt sich ganz gewiß nicht um eine sentimentale Rückerinnerung an eine gute alte Zeit, und die Worte „bis zuletzt" sind wörtlich gemeint und spiegeln die seltenen Eigenschaften von Tapferkeit und Treue wider. Mag ihm im „Katarakte jener Tage“ auch Rankes „Welttrost" allzuleicht erobert erscheinen, und mögen ihn in zunehmendem Maße Burckhardts Geschichtsdeutungen anziehen, so richtet sich seine Kritik doch mehr „gegen das wildgewordene 20. Jahrhundert"

als gegen das 19. Jahrhundert; denn dieses Jahrhundert war — wie er am 4. September 1944 schreibt — für ihn keine „Fata Morgana, sondern echteste, wenn auch natürlich vergänglichste an Lebens-wie an Todeskeimen überreiche Wirklichkeit". Er hat in der ihm unentbehrlichen Toleranz, die übrigens eine notwendige Ergänzung seiner Individualitätsauffassung bedeutete, niemals bestritten, daß es auch einen anderen Wirklichkeitsbegriff als den gebe, den er sich erarbeitet hatte, daß die moderne Theologie und Philosophie, deren Fragestellungen noch den Greis interessierten, andere Antworten vor den Abgründen, in die auch er schaute, bereithalten könne. So erlebte er seine Gegenwart als eine Herausforderung und als eine Probe auf seine Ideale.

In der Erwartung der unausweichlichen Katastrophe empfand der Historiker „alle Schauer und Abgründe der Weltgeschichte, einstiger und jetziger, ständig und unbeweisbar" — aber er fügte hinzu: „ .. . und atme trotzdem sogleich wieder auf, sobald ein heller Sonnenstrahl wieder durchbricht". Daß „die Zeit des Gewissens vorüber ist", wie Dietrich Bonhoeffer in der Not und in der religiösen Besinnung der Haft schrieb, das gerade wollte Friedrich Meinecke vom errungenen Standort seiner Weltanschauung aus nicht anerkennen. Als der Damm der Ostfront endgültig eingebrochen war und Berlin den russischen Angriff erwartete, lautete die Antwort auf den Zuruf des Freundes, am „verhängten Schicksal" nicht zu zerbrechen: „Das wird sich (aber) erst entscheiden, wenn ein Allerschlimmstes, wie es Unzähligen um uns herum schon widerfahren ist, auch uns selber trifft und so an uns die Nagelprobe gemacht wird, ob ein solcher innerer Halt in uns da ist oder nicht, ob die Ideale, die wir bisher im Herzen zu tragen glaubten, hieb-und stichfest sind oder nur Wortgeklinge waren". Sein persönliches Verhalten in den dunkelsten Stunden unserer Geschichte hat seinen Idealismus und seine Geschichts-und Weltauffassung glaubwürdig gemacht; die in der geistigen Welt vor 1914 gewachsene Lebensfähigkeit hat sich in der Katastrophe behauptet. Es ist ein bewegender Eindruck, Friedrich Meineckes Stimme nach 1945 wieder zu vernehmen und festzustellen, daß die alten Leitmotive in einer veränderten Welt fortwirken. Hatte der Historiker einst seinen Ruhm mit „Weltbürgertum und Nationalstaat" begründet, so rückt nach mehr als einem halben Jahrhundert erlebter Geschichte dieselbe Frage nach der dialektischen Spannung beider Mächte in den Mittelpunkt der Schrift „Die deutsche Ka-tastrophe" in der er 1945 den „Zersetzungsprozeß" sichtbar zu machen versuchte, der seiner Ansicht nach das Dritte Reich ermöglicht habe. Nach dem Verlust des nationalen Staates bekam „Weltbürgertum" einen neuen Sinn, aber es war „kein blasses, inhaltsarmes, abstrahiertes Weltbürgertum", „sondern ein von individuellster deutscher Geistesleistung einst mit geformtes und auch künftig weiter zu formendes Weltbürgertum". Nachdem er selbst trotz aller konservativen Gesinnung die schärfste Kritik ausgesprochen hatte, konnte er mit der ihm zustehenden Autorität nur scheinbar widersprüchlich, vor allem aber überlegen feststellen, daß „wir keiner radikalen Umschulung bedürfen, um wieder als Glied der abendländischen Kulturgemeinschaft wirksam zu werden".

Wieder und bis zuletzt entsprach sein schlichtes persönliches Verhalten unter der drückenden Last der Nachkriegsjahre den Ansprüchen, die er an den „hohen Beruf deutscher Historie" stellte. Es drängte ihn von Göttingen, wo er nach der Flucht sein Asyl gefunden hatte, zurück nach Berlin, wo er sich „wie am Kraterrande eines brodelnden Vulkans" fühlte. Er sah jetzt die Chance gegeben, Weltgeschichte neu zu schreiben, wozu seiner Ansicht nach aber nicht nur „wirkliches historisches Talent", sondern zugleich auch Charakter gehörten Die dieses Leben begleitende Harmonie private Ideale, Werten und täglichem Leben bestätigt — bewahrte sich auch jetzt. Im Blockadewinter „zu hungern und zu frieren" war er bereit, wenn nur das Entscheidende erreicht werde, nämlich „frei" zu bleiben. Es handelt sich um die alten Ideale, die sich lebens-und entwicklungsfähig erwiesen „Es ist heute die höchste und weiseste Staats raison jedes europäischen und dem Geiste nach europäisch bleiben wollenden Einzelstaates, die eigene Staatsraison nicht etwa zu vergessen, sondern aufgehen zu lassen in der allgemeinen Staatsraison des alten Europas." Und sein in Gesprächen mit Ernst Reuter gefaßter Entschluß, an der Gründung der Freien Universität teilzunehmen, gab diesem Professorenleben die Krönung. Als erster Rektor sprach der Sechsundachzigjährige auf der Gründungsfeier die Worte: „Und ich als Ältester der Lehrerschaft schlage mit tiefer Über-zeugung in die mir dargestreckte Hand der Jugend .... das empfinden wir doch heute übermächtig, daß die segensreichste Tradition Deutschlands und des ganzen Abendlandes heute verteidigt werden muß gegen tödliche Gefahren: die Idee der Freiheit und eng mit ihr verbunden die Idee der Persönlichkeit. Aus Freiheit und Persönlichkeit wächst auch wahre Wissenschaft und deren Lehre hervor"

Sein Name verknüpft diese Universität mit der hochgelegenen Quelle, der der geistige Strom der alten Friedrich-Wilhelm-Universität entsprungen ist, und mahnt diese Universität, mahnt uns zur Bereitschaft, für die Erhaltung der Freiheit Opfer zu bringen, mahnt uns zur Wahrhaftigkeit im persönlichen und im öffentlichen Leben, in Forschung und in Lehre.

Literatur über Friedrich Meinecke:

Walther Hofer: Geschichtsschreibung und Weltanschauung, Gedanken zum Werk Friedrich Meineckes, München 1950.

Ludwig Dehio: Friedrich Meinecke, Der Historiker in der Krise, Veröffentlichungen der Freien Universität, Berlin 1953.

Siegfried A. Kaehler: Friedrich Meinecke, Zum Gedächtnis des großen Historikers, Deutsche Universitätszeitung, Göttingen, April 1954.

Hans Rothfels: Friedrich Meinecke, Ein Rückblick auf sein wissenschaftliches Lebenswerk, Veröffentlichungen der Freien Universität, Berlin 1954.

Sterling, R W.: Ethics in a World of Power, The Political Ideas of Friedrich Meinecke, Princeton 1958. aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der nächsten Beilagen:

Robert J. Alexander:

Die kommunistische Durchdringung Lateinamerikas Jakob Hommes:

Kommunistische und freie Gesellschaft philosophisch kontrastiert K. A. Jelenski:

Die Literatur der Enttäuschung Wanda Kampmann:

Die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution als Einführung in das politische System dei Sowjetunion Frhr. v. Lansdorf:

Sowjetische Wirtschaftspolitik Walter Z. Laqueur:

Rußland mit westlichen Augen Boris Meissner:

Die marxistisch-leninistische Lehre von der „Nationalen Befreiung" und dem „Staat der nationalen Demokratie" aus politik und Zeitgeschichte Aus dem Inhalt der. nächsten Beilagen:

Felix Messerschmid:

Historische und politische Bildung Günther Rönnebeck:

Die Saarbrücker Rahmenvereinbarung Helmut Schmidt:

Was bedeutet heute eigentlich rechts?

Gerhard Stoltenberg:

Was heißt heute eigentlich links?

Helmut Wagner:

Ich habe nur das Beste gewollt Hermann Weber:

Die Parteitage der KPD und SED Egmont Zechlin:

Friedensbestrebungen und Revolutionierungsversuche (IV. Teil)

Epstein, Gollwitzer, Herzfeld, Snell:

Dreißig Jahre danach. Hitlers Machtergreifung in der Sicht deutscher und ausländischer Historiker

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. im folgenden Friedrich Meinecke: Erlebtes 1862— 1901, Leipzig 1941, S 40 f.

  2. Siehe Friedrich Meinecke: Straßburg/Freiburg/Berlin 1901— 1919, Stuttgart 1949, S 48 f.

  3. Siegfried A. Kaehler am 20 April 1950, in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. VI, „Ausgewählter Briefwechsel", hrsg u. eingel. v Ludwig Dehio und Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 556 f.

  4. Straßburg/Freiburg/Berlin, a. a. O., S. 81.

  5. Ebenda, S. 23.

  6. An Siegfried A. Kaehler am 3. Oktober 1939, Werke VI, a. a. O., S. 357.

  7. Vgl. hierzu Friedrich Meinecke, Werke, Bd. II, „Politische Schriften und Reden", hrsg. u. eingel. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1958, passim.

  8. Friedrich Meinecke: Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, 2 Bde., Stuttgart 1896/1899.

  9. An Siegfried A. Kaehler am 17. April 1934, Werke VI, a. a. O., S. 348.

  10. Straßburg/Freiburg/Berlin, a. a. O., S. 191.

  11. Erlebtes, a. a. O., S 87 f

  12. Friedrich Meinecke, Werke, Bd III: „Die Entstehung des Historismus“, hrsg u eingel v Carl Hinrichs, München 1959. S VII ff — Der Verfasser verdankt reiche Anregungen den Forschungen Car] Hinrichs sowie vielen Gesprächen mit ihm über dieses Problem

  13. Friedrich Meinecke: Weltbürgertum und Nationalstaat, München/Berlin 1922®, S. 300 f.

  14. Ebenda, S. 9.

  15. Straßburg/Freiburg/Berlin, a. a. O., S. 105 f.

  16. Weltbürgertum und Nationalstaat, a. a. O., S. 510.

  17. Friedrich Meinecke, Werke, Bd. I: „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte", hrsg. u. eingel. v. Walther Hofer, München 1957; hier und im folgenden vgl. S. 433.

  18. A. a. O„ S. XLVII.

  19. Ebenda, S. 580.

  20. Friedrich Meinecke, Werke, Bd. IV: „Zur Theorie und Philosophie der Geschichte", hrsg. u. eingel. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1959. Die Aufsatz „Kausali -nachstehenden Zitate sind dem täten und Werte in der Geschichte", S. 61 ff., entnommen.

  21. „über Spenglers Geschichtsbetrachtung", ebenda, S. 181 ff.

  22. Derselbe am 21. August 1938, ebenda, S. 335 f.

  23. Vgl. dieses und die weiteren Zitate in: „Kausalitäten und Werte in der Geschichte", a. a. O.

  24. Friedrich Meinecke, Werke, Bd. II: „Politische Schriften und Reden", hrsg. u. eingel. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1958.

  25. Vgl. im folgenden „Kausalitäten und Werte in der Geschichte", a. a. O., S. 86 f.

  26. Vgl. „Kausalitäten und Werte in der Geschichte", a. a. O.

  27. Siehe etwa den Brief Meineckes vom 24. September 1934 an seine Frau, a. a. O., S. 147 f.

  28. Mitteilung von Frau Antonie Meinecke.

  29. Vgl.den Aufsatz „Geschichte und Gegenwart" in: Werke, Bd. IV, S. 90 ff.

  30. An Siegfried A. Kaehler am 13. April 1931, a. a. O., S. 334 f.

  31. Das Folgende vgl. in: „Geschichte und Gegenwart", a. a. O., S. 100 f.

  32. Vgl. hierzu den Nachruf aut Ernst Troeltsch, in: Werke, Bd IV, a a O., S 364 f, besonders S 376 ff.

  33. In diesem Zusammenhang siehe die „Deutung eines Rankewortes“, in: Werke, Bd. IV, S. 117 ff.

  34. An Siegfried A. Kaehler am 7. März 1944, a. a. O., S. 447.

  35. An denselben am 14. Mai 1940, ebenda, S. 362.

  36. An denselben am 6. Dezember 1943, ebenda, S. 440.

  37. An denselben am 4. September 1944, ebenda, S. 458.

  38. An denselben am 8. März 1945, ebenda, S. 491.

  39. Wiesbaden 1946.

  40. An Siegfried A. Kaehler am 16. April 1947, a. a. O., S. 514.

  41. Vgl.den Aufsatz „Ein ernstes Wort* vom 31. Dezember 1949 in: Werke, Bd. II, a. a. O., Nr. 70, S. 492 f.

  42. Ebenda, Nr. 69, S. 490 f

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