Wir veröffentlichen in dieser Ausgabe einen Vortrag von Professor Dr. Hans Rothfels, in dem die gegenwärtige weltpolitische Lage in ihren historischen Beziehungen untersucht wird. Einen erheblichen Teil des Referates widmet Prof. Rothfels der Auseinandersetzung mit dem Buch des Amerikaners David L. Hoggan . Der erzwungene Krieg — Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkrieges" und seinem Verleger Grabert.
Dieses Buch sowie das des britischen Historikers A. J. P. Taylor „Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges", die beide von gewissen Kreisen in der Bundesrepublik zum Anlaß genommen werden, eine Revision des deutschen Geschichtsbildes mit dem Ziel einer Entlastung Hitlers und des Nationalsozialismus von der Verantwortung für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zu fordern, sind Gegenstand einer Rezension aus der Feder Dr. Gotthard Jaspers, des zweiten Beitrages dieser Ausgabe. In etwas ausführlicherer Form ist Jaspers Rezension zuerst in den vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, 3. Heft, Juli 1962, erschienen.
Eine Verfälschung der deutschen Geschichte mit ganz entgegengesetzten Vorzeichen unternimmt der Amerikaner William L. Shirer in seinem Werk „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches". Damit setzt sich der dritte Beitrag dieser Ausgabe, der des amerikanischen Historikers Prof. Klaus Epstein, auseinander. Wir übernehmen diese Besprechung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers — geringfügig gekürzt — den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte, 1. Heft. Januar 1962, die sie aus „The Review of Politics", Vol. 23, No. 2, April 1961, nachgedruckt haben.
Vorbemerkung
Der im folgenden abgedruckte Vortrag ist — bis auf eine verkürzte Einleitung — die wört-liche Wiedergabe von Ausführungen, die am Schluß des Duisburger Historikertages am Sonnabend, dem 20. Oktober, nachmittags gemacht worden sind, zwei Tage, ehe die Kuba-Krise akut wurde. So überraschend die plötzliche Zuspitzung war, so wenig fällt sie im Grunde wohl aus dem Rahmen der angestellten Betrachtungen heraus, insbesondere widerspricht sie nicht der vorgetragenen Interpretation vom Wesen der »Appeasement-Politik“. Und das einstweilige Ergebnis bestätigt eher die aus geschichtlichem Überblick abgeleiteten Grundanschauungen und Postulate. Damit soll in keiner Weise für den Historiker eine Prognostik in Anspruch genommen werden. Es hätte zweifellos die Tatsache, die offenbar ist, aber nie so deutlich war wie heute, daß es nur noch zwei souveräne Weltmächte gibt, sowie die mögliche Rückwirkung dieser Tatsache auf das Problem der Koexistenz, insbesondere auf die deutsche Frage, mehr herausgearbeitet werden können. Und auch die Fragwürdigkeit des indischen Experiments „aktiver Koexistenz“ wäre, nachdem die lange schon schwelende Spannung mit Rotchina sich entladen hat, stärker zu betonen gewesen. Aber bei dem Charakter des Vortrags als geschichtliche Betrachtung ist der Versuchung nachträglicher Modifizierungen widerstanden worden.
Der Vortrag war das Endglied in einer Reihe (Vittinghoff, Das geschichtliche Selbstverständnis der Spätantike — Fuhrmann, Das Zeitalter der Fälschungen. Überlegungen zum Wahrheitsbegriff des Mittelalters — Conze, Nation und Gesellschaft. Grundbegriffe der Geschichte im revolutionären Zeitalter — Erdmann, die Zukunft als Kategorie der Geschichte), die gemeinsam der Standortsbestimmung in unserer Zeit diente. Die einleitende Bezugnahme darauf wie auf andere Sektionen der Duisburger Tagung (Wege der Universalgeschichte, . Nationsbildung in Asien und Afrika, sowjetische und nationalsozialistische Geschichtsauffassung) mußte hier wegbleiben, bzw. stark gekürzt werden.
Im Sinne der Standortsbestimmung und der Kritik eines labilen Geschichtsbewußtseins lag es, daß in den hier folgenden Ausführungen zugleich Anlaß genommen wurde, scharf gegen gewisse Verdunkelungen unserer jüngsten Vergangen-heit Stellung zu nehmen, inbesondere gegen das Buch von Hoggan „Der erzwungene Krieg“ und die damit betriebene Propaganda. In dem vielfach geäußerten Wunsch, daß über diese Angelegenheit einer breiteren Öffentlichkeit Rechenschaft gegeben werde, liegt mit ein Grund dafür, daß dieser Vortrag, der noch einmal im Berichtsheft über Duisburg seinen Platz finden soll, im voraus zum Abdruck gelangt.
Standortbestimmung als Aufgabe der deutschen Historie
Die hier folgenden Ausführungen beruhen auf der Überzeugung, daß die deutsche Historie, soweit ihr an Selbstbesinnung auf ihre mögliche Funktion im geistigen Gesamthaushalt der modernen Gesellschaft, an Selbstaussage dazu und somit an offenem Visier gelegen ist, den so bestimmenden zeitgeschichtlichen Komplex von Sozialstruktur und Außenpolitik ganz gewiß in ihre Betrachtung mit einzubeziehen hat, mit anderen Worten, daß die Standortsbestimmung, die ein durchgehendes Thema unserer Tagung war, an den großen Fragen der Welt-und Mächtekonstellation, die uns sorgenvoll bedrängen und eine Herausforderung auch an die Geschichtswissenschaft sind, nicht vorbeigehen kann. (Es folgt die Bezugnahme auf die vorhergehenden Vorträge, insbesondere auf den Schlußgedanken von Conze, der sich zu einer Relativierung historisch wandelbarer Begriffe, aber nicht zu einem Relativismus der Werte bekennt und sich damit sowohl von einer müden Skepsis wie von Terror einer dogmatischen Theorie abge-setzt hat. Ebenso auf die Bemerkung von Erdmann, daß die Offenheit für die Möglichkeit dessen, was der Mensch sein kann, sich aus der Begegnung mit dem ergebe, was uns die Geschichte als faktisch menschenmöglich vor Augen stellt.)
Diese Bemerkung trifft um so mehr auf unsere geistige Lage zu, als der lebenden Generation dieses Mögliche, man darf wohl sagen sowohl das menschlich wie das unmenschlich Mögliche, in exemplarischer Weise vorexerziert worden ist. Hier wird man in der Tat von einer existentiellen Frage sprechen dürfen, von eipo „existentiellen Historismus", der aus geschichtlicher Erfahrung und einem an geschichtlichem Denken erprobten Gewissen auf die Bewahrung menschlicher Freiheit und menschlicher Verantwortung gegenüber allen totalitären Tendenzen und kollektiven Bedrohungen auch in der Zukunft gerichtet ist. Man könnte wohl den Satz wagen, daß der Historismus, so verstanden, nicht nur ein unentbehrlicher Teil unseres geistigen Haushalts, hinter den wir nicht zurückkönnen, ist, sondern geradezu ein Ordnungsgedanke der Weltpolitik Mit seiner Lehre vom Verstehen ist er Grundlage jeder positiven, d. h. auf Über-zeugung und eigenem Standpunkt ruhenden Toleranz, die parteiischen Verabsolutierungen und nationalen Exklusivansprüchen etwas Normatives, ein Prinzip der Objektivität entgegensetzt. Mit seiner Hochschätzung des Individuellen, des Einmaligen, des so nicht Wiederholbaren, aber auch nicht Umkehrbaren, mit seiner Achtung vor der Würde, vor der Selbstbestimmung des einzelnen wie der Völker und Nationen führt er, weit entfernt von jeder Wertneutralität oder jeder angemaßten Determiniertheit, in die Entscheidungssituation unserer Tage. In ihr wird ja aus den Bedingungen einer mit dem Vermächtnis der Vergangenheit geladenen Gegenwart um das für den Menschen Mögliche, ja um die Möglichkeit zukünftiger und menschenwürdiger Existenz auf dieser Welt überhaupt gerungen.
Polare Gegensätze in einer einheitlich gewordenen Welt
An diese Grundgedanken könnte ich unmittelbar anknüpfen mit Erwägungen darüber, was. aufs große gesehen, die weltpolitische Lage von aller Vergangenheit unterscheidet, aber auch welche Kräfte, welche Problemstellungen, wie immer verwandelt, in ihr fortwirken sowie ebenso darüber, zu welcher Orientierung auf ein zukünftig Mögliches hin sie das historische Denken herausgefordert hat. Was das Neuartige ist, mag uns allen gegenwärtig sein, die globale Einheit des geschichtlichen Schauplatzes, die das Problem einer Weltgeschichte von mehr als buchbinderischen Gnaden ebenso aufwirft wie sie der Weltpolitik einen bisher unerhörten inneren Zusammenhang gegeben hat. Er läßt über die weitesten Räume hin Probleme höchst verschiedenartiger Natur und läßt Örtlichkeiten, die im Ausmaß der beiden, allein übriggebliebenen Riesenreiche kaum mehr als kleine Flekken sind, ineinander und übereinander greifen: " History in a changing world". Wenn 1887 innerhalb des beschränkten festländisch-europäischen Systems und im Rahmen einer Politik von Staaten nicht fundamental verschiedener Struktur gesagt werden konnte, daß Elsaß-Lothringen und Bulgarien „Zwillinge", d. h. also die koordinierten Punkte der Friedensgefährdung seien, so ließe sich etwas Ähnliches heute von Berlin und Kuba behaupten. Die Hemisphären beginnen sich zu durchdringen. Wie die Vereinigten Staaten sich in einem früheren Generationen unvorstellbaren Maße auf dem europäischen Festland engagiert haben, mögliche Partner eines zu integrierenden Europa, schon jetzt bereit und im Begriff, Zollschranken niederzulegen, ja, in Europa selbst auf der Wache stehen und Stützpunkte in 5 Kontinenten besitzen, so haben sie auch die andere Seite der Isolierungspolitik mehr oder weniger aufgeben müssen. Angesichts des sowjetischen „Fischereihafens“ auf Kuba und der möglichen Entwicklungen in Latainamerika hat man — freilich wohl etwas sehr weit vorgreifend — schon von einem Verzicht auf die Monroedoktrin gesprochen. Jedenfalls Isolierschichten sind verschwunden, es gibt keine freien Räume als Mittel des Ausgleichs zwischen den Mächten mehr.
Damit ist zugleich gesagt, was uns allen ja ebenfalls deutlich ist, daß diese so einheitlich gewordene und durch die technische Entwicklung und die neuen Kommunikationsmittel mindestens als geschichtlicher Schauplatz immer einheitlicher werdende Welt durch einen polaren Gegensatz durchzogen ist. Er geht ideologisch über alle Grenzen hinweg und schafft das, was man die potentielle Bürgerkriegssituation unserer Tage zu nennen pflegt. Er hat aber zugleich machtpolitisch sich in den beiden großen Blökken und den Gegensätzen ihrer Sozialstruktur verfestigt und scheint die Chance zu haben, mehr oder weniger entschieden, auch die gerade der modernen nationalen und gesellschaftlichen Entwicklung sich öffnenden Völker zu ergreifen. Diese Zweiteilung hat, wenn man vom Sonderfall China absieht, in Korea und Vietnam zur förmlichen Trennung in zwei Hälften geführt, sie findet die für uns tragische und für die Weltpolitik bedrohlichste Zuspitzung und Verdichtung im Schicksal eines amputierten, eines — ebenso wie das in anderer Weise von Polen gilt — nach Westen verschoben, eines danach zweigeteilten Deutschland und einer zweigeteilten Stadt.
Starre Teilungslinie mitten durch Deutschland
Lassen Sie uns vorweg und unter einem bestimmten Gesichtspunkt diesen uns nächst angehenden engeren Schauplatz einer so veränderten weltpolitischen Lage ins Auge fassen, einer totalen, einer revolutionären Veränderung, die allein schon deshalb, von allen Größendimensionen abgesehen, nicht nur jede hegemonische Möglichkeit oder jeden, neuerdings der deutschen Politik im Kriegsausbruch von 1914 zugeschriebenen „Griff nach der Weltmacht“, sondern auch eine im Bismarckschen Sinne stabilisierende und den Druck nach der Peripherie entlastende Politik von der Mitte Europas her ausschließt. Statt dessen sind die Machtblöcke und die gegensätzlichen Sozialgefüge sich hier am unmittelbarsten, am härtesten auf den Leib gerückt, und es ist — ausgenommen die beiden geschichtlich-geographisch bestimmten Sonderfälle Österreich und Finnland — eine starre Teilungslinie gezogen, die nicht nur Deutsche von Deutschen, sondern auch von jenen baltischen, westslawischen und südslawischen Völkern trennt, die immer ein Teil Europas waren. Niemand wird zweifeln, daß an solchen Umwälzungen viele Ursachen und Kräfte individueller wie kollektiver Art mitgewirkt haSen.
Aber wie immer man die soziale Anfälligkeit im ostmitteleuropäischen Raum, die destruktive Wirkung ungelöster Nationalitätenprobleme und die Anziehungskraft eines kommunistischen Systems, insbesondere da, wo es sich mit älteren östlich messianischen Gedanken verbinden mag, einschätzt, eines dürfte außer Frage stehen: Die Grenzen und Teilungslinien sind das Ergebnis von Diplomatie und Macht-politik, sie sind letzten Endes ebenso mit Gewalt gezogen worden, wie sie unter den Bedingungen der Weltlage und dem atomaren Gleichgewicht des Schreckens nicht mit Gewalt verändert werden können. Man darf es wohl auch so ausdrücken: Das Sowjetsystem ist, was seine äußeren Grenzen jedenfalls und was Europa betrifft, nicht um einen Zentimeter weiter vorgerückt als der Machtbereich der Roten Armee sich erstreckt hat. Hier gilt in Wahrheit „cuius regio eius ordo socialis". Der Territorialismus des konfessionellen Zeitalter wiederholt sich im Bereich der gesellschaftlichen Ordnung und der sie begleitenden Leitbilder. Ich werde die damit angerührte Analogie noch in anderem Zusammenhang aufzunehmen haben.
Die Frage der Verantwortung
Aber zunächst müssen Sie mir erlauben, bei dem engeren Schauplatz zu verweilen, ja den Blickpunkt noch mehr zu verengen. Es wird nicht zu leugnen sein, daß die Macht-und Gesellschaftsrevolution in der Mitte Europas, daß die tren-nede Linie von Nord nach Süd, eben weil mit Gewalt gezogen, Folge des Zweiten Weltkrieges, Folge der Öffnung des Deiches im Osten, zunächst mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt, dann mit dem Juni 1941, und damit im nächsten Kausalzusammenhang Folge deutschen Angriffs und deutscher Niederlage war, daß sie, tiefer gesehen, aber auch Rückschlag war auf die Hybris einer östlichen Großraumpolitik, auf den Herrenanspruch über angeblich minderwertige Rassen, ja auf den totalen Anspruch der Verfügung über Menschen überhaupt. Nicht nur, daß die nationalsozialistische Außenpolitik mit ihrer gewalttätigen Vermessenheit den Haß gegen alles Deutsche schürte, sie hat Methoden in das zwischenstaatliche, das zwischenvölkische und das zwischenmenschliche Verhalten eingeführt, die zum Bumerang wurden. Daß in diesem Rückschlag auch an Deutschen Furchtbares geschehen ist — übrigens nicht nur vom Osten her — zeigt, wie dünn der Firnis über den Möglichkeiten des Barbarischen ist, löscht aber nicht aus, was an Grauenhaftem von der Geschichte mit ehernem Griffel auf dem Konto des nationalsozialistischen Regimes nach innen wie nach außen eingetragen ist und seine weltpolitischen Folgen gehabt hat. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Kein ernst-zunehmender Historiker wird oder sollte von Kollektivschuld reden, was den Anteil des deutschen Volkes an diesem Geschehen betrifft; auch Alleinschuld oder Alleinverantwortung der Führungsschichten sind keine historisch zulässigen Kategorien, weil sie Vielfältiges simplifizieren. Aber ebenso ist der Zynismus des Quittseins widerhistorisch, weil er die ethische Ansprechbarkeit sowohl des geschichtlich Nachdenkenden wie des Handelnden im Nihilismus auflöst. Hier ist die Geschichtswissenschaft ein Wächter des Gewissens.
Ein öffentlicher Skandal
Erst recht werden wir als Historiker auf den Plan gerufen, wenn sich Legenden einzunisten drohen oder wenn man ein in seinem Geschichtsbewußtsein erschüttertes und aus manchen an sich nicht unverständlichen Gründen nach Selbstrechtfertigung, vor allem nach Freisprechung durch Ausländer, sich sehnendes Publikum — und das läßt sich bis hin zur Reaktion auf den de Gaulle-Besuch beobachten — davon überzeugen will, so schlimm sei ja alles nicht gewesen. Das geht in vielen kleinen Rinnsalen vor sich, in bekannten publizistischen Organen der ewig Gestrigen, in apologetischen Memoiren und ist endlich bezüglich eines Zentralproblems mit dem bisher nur in Deutschland erschienenen Buch eines jungen amerikanischen Historikers — wohl gegen dessen eigene Absicht — zum öffentlichen Skandal geworden. Es handelt sich um das Buch von David L. Hoggan: „Der erzwungene Krieg“. Ich gestehe, daß ich angesichts gewisser Vorgänge der letzten Wochen und Monate, die sich an dies Buch geknüpft haben, in besonders beschämender Form in Heidelberg, wo es u. a. zur Anpöbelung eines Kollegen Schweizer Herkunft gekommen ist, die an schlimmste Zeiten erinnert, — ich gestehe, daß ich in Versuchung war, mein Thema in „Betrachtungen zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges“ umzuändern, und zwar aus einem Gefühl der Verpflichtung zu klarer Stellungnahme gerade vor diesem Forum, nicht zum wenigsten auch mit Rücksicht auf die Lehrer der Geschichte an höheren Schulen, deren Teilnahme unserem Kongreß mit das Gepräge gibt. Aus mehreren kleinen Städten ist bekannt geworden, daß das Hoggansche Buch von einer lokalen Notabilität dem Schuldirektor mit einem Anschreiben zugesandt wurde, das kategorisch auffordert, es hinfort dem Geschichtsunterricht auf der Oberstufe zugrunde zu legen. In so mancher Lehrerbibliothek findet es sich bereits. Und in einer süddeutschen Lokalzeitung ist sogar die Subventionierung aus öffentlichen Mitteln für das Werk, das endlich den Durchbruch zur Wahrheit ermögliche, angeregt worden.
Nun, mit dieser Wahrheit eines „neuen Sonnen-tages", wie die Reklame verheißt, sich im einzelnen auseinanderzusetzen, würde, wenngleich eine innere Beziehung zum Thema besteht, doch zu weit von ihm wegfübren. Aber einige Worte müssen zum Grundsätzlichen gesagt werden, im Sinne der Positionsbestimmung, der Maßstabsbildung und der Notwendigkeit des offenen Visiers, wovon eingangs die Rede war.
Ich spreche dabei als Person, nicht als Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands, obwohl ich überzeugt bin und die Beweise dafür vorliegcn, daß wohl die meisten unserer Mitglieder, die sich mit diesen Fragen als Wissenschaftler beschäftigt haben, mir zustimmen werden.
In der Tat hat die Fachkritik sich einmütig gegen Hoggans Buch gewandt. Worum geht es?
Vorangegangen war A. J. P. Taylor, der in seinem auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buch Hitler weitgehend von jeder Verantwortung für Weltkrieg II zu entlasten sucht, wobei er aufs willkürlichste mit den Quellen umspringt, insbesondere die Eroberungspläne des „Führers" für Wachträume und die Zeugnisse dafür als Schmierenschauspielerei erklärt. Diese Überspitzungen und die so deutlich nach Originalität haschende These von dem nur durch Ungeschicklichkeiten aller Beteiligten entstandenen Weltkonflikt, diese fast spielerisch vorgetragenen und im Grunde sich selbst kaum ernstnehmenden Paradoxien haben der Wirkung des Buches trotz schriftstellerischer Brillanz Grimm ihre Stütze suchen, sondern aus bestimmten inneramerikanischen Auseinandersetzungen stammen. Sie gehen uns hier ebenso wenig etwas an, wie die an sich vielleicht sympathische Deutschfreundlichkeit des Autors wissenschaftlich ins Gewicht fällt. Ich übergehe auch Dinge — immerhin so schwerwiegend und symptomatisch — wie die Bagatellisierung der Judenverfolgung und die Diffamierung des deutschen Widerstandes nahezu mit den Schmähworten Hitlers. Darüber hinaus aber lassen sich dem Autor eine Reihe glatter Fälschungen von Quellenaussagen nachweisen, ferner ihre Verzerrung, wobei von den Mitteln falscher Zitierung, unzulässiger Isolierung, irrtümlicher Chronologie und damit der Verkehrung von Ursache und Wirkung ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Am auffallendsten wohl ist, daß Hoggan zwar alle öffentlichen Äußerungen Hitlers, insbesondere in den Reichstagsreden, als voll beweiskräftig heranzieht, also alles Defensive, das dann in den ausgiebig zitierten Memoiren Ribbentrops wiederholt wird, aber die militärischen Anweisungen wie die ganze Kette geheimer oder vertraulicher Auslassungen, die schon vor der Machtübernahme und erst recht danach einsetzen und bis in die retrospektiven Betrachtungen der ersten Kriegsjahre reichen, übersieht oder bagatellisiert. In jedem historischen Proseminar würde über solche Methoden ein vernichtendes Urteil fallen.
Grenzen gesetzt. Hoggan geht sehr viel weiter. Sein umfängliches Werk gibt sich als eine mit Tatsachen gesättigte, fast positivistische Diplomatiegeschichte, auf den Anspruch vermehrter Quellenerschließung, kritisch nüchterner Analyse und umfassenden Wissens gegründet. Seine These ist, daß Hitler im Grunde immer den Frieden wollte, daß der eigentliche Kriegstreiber der britische Außenminister Lord Halifax, der „geschworene Feind des deutschen Staates und Volkes" war, wie denn England überhaupt — indem der Autor das ähnlich für die Politik vor 1914 unterstellt — auf „Erdrosselung“ Deutschlands ausgegangen sei. Die Appeasement-Politik war nur Tarnung der Aufrüstung. Hier sprechen Vorurteile — welcher Historiker wäre wohl ganz frei von ihnen —, in diesem Fall aber fanatische Vorurteile anglophober Art, die nicht nur in Ribbentrops Memoiren und bei Hans Grimm ihre Stütze suchen, sondern aus bestimmten inneramerikanischen Auseinandersetzungen stammen. Sie gehen uns hier ebenso wenig etwas an, wie die an sich vielleicht sympathische Deutschfreundlichkeit des Autors wissenschaftlich ins Gewicht fällt. Ich übergehe auch Dinge — immerhin so schwerwiegend und symptomatisch — wie die Bagatellisierung der Judenverfolgung und die Diffamierung des deutschen Widerstandes nahezu mit den Schmähworten Hitlers. Darüber hinaus aber lassen sich dem Autor eine Reihe glatter Fälschungen von Quellenaussagen nachweisen, ferner ihre Verzerrung, wobei von den Mitteln falscher Zitierung, unzulässiger Isolierung, irrtümlicher Chronologie und damit der Verkehrung von Ursache und Wirkung ausgiebig Gebrauch gemacht wird. Am auffallendsten wohl ist, daß Hoggan zwar alle öffentlichen Äußerungen Hitlers, insbesondere in den Reichstagsreden, als voll beweiskräftig heranzieht, also alles Defensive, das dann in den ausgiebig zitierten Memoiren Ribbentrops wiederholt wird, aber die militärischen Anweisungen wie die ganze Kette geheimer oder vertraulicher Auslassungen, die schon vor der Machtübernahme und erst recht danach einsetzen und bis in die retrospektiven Betrachtungen der ersten Kriegsjahre reichen, übersieht oder bagatellisiert. In jedem historischen Proseminar würde über solche Methoden ein vernichtendes Urteil fallen.
Irreführungen, Fälschungen, Verunglimpfungen
Damit könnte ich die Hoggan-Angelegenheit verlassen, wenn sie nicht noch eine andere Seite hätte, die den Historiker zu einem Wort in eigener Sache nötigt, womit wir dann, wenn auch auf einem Umweg, wieder zum weltpolitischen Thema und der deutschen Entscheidungssituation zurückgeführt werden.
Ich erwähnte einige Beispiele der propagandistischen Methoden, mit denen dem Buch Vorschub geleistet wird. Hinter ihnen steht der Verleger Hoggans, Dr. habil. Grabert, dem 1945 die Lehrbefugnis und Dozentur entzogen worden sind. Er gibt unter einem, wie sich immer wieder gezeigt hat, die Öffentlichkeit grob irreführenden Titel eine „Deutsche Hochschullehrer-Zei-
tung“ heraus. In seinem Vorwort zu Hoggans Buch zitiert er einen Brief des Autors, der sich auf führende amerikanische Historiker beruft, die indessen mit dem Buch, wie das von Raymond Sontag ausdrücklich erklärt worden ist, nichts zu tun haben oder zu tun haben wollen.
Grabert selbst legt ihm zwei Empfehlungen bei, die eine von Harry Elmer Barnes, den wir als Vorkämpfer gegen die Versailler Schuldthese, aber auch als einen der leidenschaftlichsten und maßlosesten Gegner Roosevelts kennen, und eine zweite von „Backhaus", der er selber ist.
Das Buch, das er unter diesem Pseudonym veröffentlicht hat, war Anlaß für einen Spruch des III. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 30. April 1960, der ihm „rein aus dem Ressentiment geborene Wertungen“ bescheinigte und ihn wegen Staatsbeschimpfung in verfassungs-feindlicher Absicht verurteilt hat. Was uns aber näher angeht, ist die Tatsache, daß die Beschimpfung im Grabertschen Schrifttum und ähnlichen Organen sich mit Vorliebe jetzt gegen die angeblich weisungsgebundenen westdeutschen Historiker wendet, Propagandisten im Dienst der Siegermächte, reeducators von „abartigem Verhalten" und was sonst noch. Was mir persönlich dabei unterstellt wird, übergehe ich.
Wer den wahren Sachverhalt kennt, könnte all das leicht nehmen, wir glauben zudem ja zu wissen, wo die „weisungsgebundenen" deutschen Historiker sitzen, die einer Propagandalinie zu folgen gezwungen sind und uns daher als „NATO-Imperialisten" zu plakatieren suchen.
Aber hier tauchen merkwürdige Querverbindungen zwischen ganz rechts und ganz links auf, die unser Thema des Möglichen in der Weltpolitik und der deutschen Gefährdung in ihr in der lat nahe berühren. Gewiß sind die nationalistischen Regungen, die nicht nur einen Freispruch von aller Eigenverantwortung an unserem Schicksal, an der zerbrochenen deutschen Einheit, sondern auch eine autonome, jedenfalls eine unabhängigere und selbstbewußtere Außenpolitik fordern, ja mit angeblichen „deutschen Trümpfen“ den Blick vernebeln, nicht gerade Moskau-oder gar Ulbricht-freundlich. Aber es gibt einen gemeinsamen Grund im antiamerikanischen oder — allgemeiner — im antiwestlichen Ressentiment, das als Enttäuschung über die Verbündeten nach dem 13. August so deutlich wurde und auf das die östliche Propaganda für Neutralität ganz bewußt zielt. Es wäre das eine Art national-
bolschewistisch verbrämter Neutralismus, der uns zwischen die Blöcke fallen und schutzlos ließe, während der sowjetischen Penetration alle Möglichkeiten offen stünden.
Rapallo ist unwiederholbar
Hier nun darf ich den Faden wieder aufnehmen, der mit dem Stichwort Analogie angeschlagen wurde, mit der Frage also, ob in aller Neuartigkeit der Situation wie immer verwandelte Problemstellungen der Vergangenheit fortwirken und Orientierungspunkte in den Entscheidungen über das Mögliche bilden. Es ist kaum nötig zu sagen, daß in den zuletzt berührten Gedankengängen, wie andeutend sie zunächst auch sein mögen, das Gespenst von Rapallo als eine Scheinanalogie herumspukt. Man bekommt das Argument zu hören, und es wird auch vom Osten verführerisch ausgespielt, daß in der Tat ja in der Geschichte ein gutes Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland meist zu beiderseitigem Nutzen gewesen ist. Liegt hier nicht wieder — wie 1922 — der Hebelpunkt zu einer beweglicheren Politik, zur Überwindung des versteinerten Status quo? Von Washington aus liest sich die Frage umgekehrt und ist in warnenden Artikeln Walter Lippmans nicht selten gestellt worden: Wird die Bundesrepublik im Zuge nationalistischer wie neutralistischer Tendenzen, die ja durchaus zusammen gehen können, sich nicht eines Tages der Macht nähern, die jeden Tag durch Preisgabe Pankows die deutsche Einheit wiederherstellen könnte, ja die wohl noch einiges von den Gebieten östlich der Oder und Neiße dazu legen würde, wenn sie dafür Aussicht hätte, die Sowjetisierung ganz Deutschlands zu erreichen? Eben hier zeigt sich, wie schief die Analogie ist. Ich brauche das vor diesem Forum kaum zu betonen. Die Schizophrenie von Rapallo, die Trennung von Innerem und Äußerem, ist unwiederholbar. Nicht nur, daß die Sowjetunion, damals noch um ihre Existenz ringend, heute als beherrschende Militärmacht am Thüringer Wald steht, sie ist auch Träger einer gesellschaftspolitischen Offensive. Es ist daher undenkbar, daß ein irgendwie gearteter Zusammenschluß mit ihr nicht zur Ausdehnung ihres Systems bis an den Rhein führen würde. Ein Rapollo, welcher Art auch immer, hieße daher, die Freiheit einer selbstgewählten und die Persönlichkeitsrechte schützenden Ordnung der Einheit opfern und so selbstmörderisch Verrat begehen an den Prinzipien und Werten, für die der Westen steht. Damit führt die Abwehr der Analogie an einen Punkt, wo eine entscheidende Position ganz konkret einsichtig werden dürfte: Unter den Bedingungen der gesellschaftspolitischen und weltanschaulichen Polarität unserer Tage hat sich die Rangordnung von Freiheit und Einheit im Vergleich zur Epoche der deutschen Nationalstaatsbildung umgekehrt.
Darauf wird zum Ende hin noch zurückzukommen sein.
Beschwichtigungspolitik würde zur Katastrophe führen
Aber zunächst lassen Sie uns dem Ariadnefaden, der mit dem Begriff der historischen Analogie uns in die Hand gegeben ist, noch ein Stück weiter in das Dickicht der Fragen folgen, mit denen die weltpolitische Lage den geschichtlichen Betrachter bedrängt. Ich erwähnte das Schlagwort der . Appeasement" -Politik. Sie war nicht nur taktische Verhüllung der englischen Aufrüstung, die tatsächlich erst spät und zögernd eingesetzt hat. Ihr wird demgegenüber vom Osten nachgesagt, sie sei ein Trick des Monopolkapitals gewesen, um Hitler zum Angriff gegen das Mutterland der Revolution freie Hand zu geben. In der westlichen Geschichtsliteratur hingegen gilt sie weithin als Musterbeispiel illusionärer Be-schwichtigungsversuche, die unter völliger Verkennung der Diktatoren und ihrer hemmungslosen Dynamik den Krieg nur um so unvermeidlicher machen mußte. Psychologische Fehlschlüsse und diplomatische Mißgriffe Chamberlains zugegeben, wird dabei doch die andere Seite seiner Politik zu leicht übersehen: Die Tatsache einmal, daß der öffentlich geführte Nachweis, bis an die äußerste Grenze des Entgegenkommens, ja fast darüber hinaus, gegangen zu sein, im Durchste-hen eines Kampfes auf Leben und Tod ein großes moralisches Plus war. Nur eine falsch verstandene „Realpolitik“ kann die Bedeutung dieses Moments übersehen. Dazu kommt weiter die Tatsache des Vorhandenseins einer höchst verantwortungsbewußten Einsicht und einer sehr klaren Voraussicht, was unter den modernen Verhältnissen ein totaler Krieg bedeute, daß er für ganz Europa mit Selbstzerfleischung und Niederlage enden werde.
Keine Betrachtung der weltpolitischen Lage heute wird an dem appeasement-Problem in seinen verschiedenen Aspekten vorbeigehen können. Zwar wäre auch hier ein voreiliger Analogieschluß der einen oder anderen Art verfehlt. Chruschtschow ist nicht Hitler, als Sozialrevolutionär verfügt er über ganz andere Möglichkeiten kalter Eroberung und ist wohl auch doktrin-gemäß überzeugt, daß die Zeit für die neue Gesellschaft arbeitet und der Zusammenbruch der alten nahe sei. Er ist kein „va banqueSpieler" und hat auch keinen Grund es zu sein. Aber Salami-und Artischockentaktik gehören allerdings auch zu seinem Repertoire. Und mehr als einmal hat sich die Gefahr gezeigt, daß Beschwichtigung, daß Zurückweichen vor Erpressungen nur zu neuen führt!
Es ist indessen ganz offenbar, daß diese Gefahr, wie sie im Münchener Abkommen historisch symbolisiert ist, in den Vereinigten Staaten mit aller Klarheit und auf alle Konsequenzen hin heute gesehen wird, und daß es ein Hauptziel der jetzigen amerikanischen Politik sein dürfte, genau und unmißverständlich und mit dem dringlichsten Bemühen, jede Fehlkalkulation der anderen Seite auszuschließen, die Grenze zu bezeichnen, an der auch das größte und lebensgefährliche Risiko übernommen werden muß.
Das ist die Bedeutung der Kuba-Resolution und der „three essentials" für West-Berlin, die ein Stand mit dem Rücken an der Wand sind. Die letzteren insbesondere haben dazu geführt, daß die Berlin-Frage, die für uns von so zentraler Bedeutung ist, zum Zentrum fast der Weltpolitik zu werden scheint.
Aber eben deshalb sollte der Historiker mit dem, was Droysen den trainierten Wahrheitssinn genannt hat, sich klarmachen können, was dieser Stand bedeutet und daß er einer demokratischen Nation tausende von Meilen entfernt und mit der Zerstörung ihrer Städte und der Vernichtung von Millionen gegebenenfalls bedroht, nur zu-gemutet, nur verständlich und durchhaltbar gemacht werden kann, wenn alle Mittel zu einen; noch eben erträglichen Kompromiß oder einer Entspannnung zu kommen, voll und bis zum letzten ausgeschöpft sind. Das spiegelt sich in den endlosen und bisher so unfruchtbaren Verhandlungen ebenso wie das Hinausschieben des letzten mit der Vernichtung des Lebens überhaupt drohenden Risikos zu jenem Wandel der strategischen Konzeption geführt hat, der für Teile der deutschen Öffentlichkeit so alarmierend gewesen ist, zur Stufenfolge möglicher oder möglich zu machender Defensiven, die an Stelle der unrealistisch gewordenen Abschrekkungstheorie im Sinne des sofortigen massiven Vergeltungsschlages getreten ist. Hier wiederholt sich offenbar in denkbar gesteigerter Form der vorhin herausgehobene Aspekt des Appeasements von 1936— 1939, eben die verantwortungsbewußte Voraussicht, was ein katastrophaler Zusammenstoß, der an einem kritischen Punkt sich auslöst für das Ganze, jetzt nicht bloß Europas sondern der Welt bedeutet.
Historische Parallelen — Konfessionelles Zeitalter und Französische Revolution
Indem so der Blick von der uns unmittelbar angehenden Gefahrenzone in der Mitte des Kontinents sich zur universalen Konstellation zurüdewendet, taucht die eingangs berührte Frage wieder auf, ob in ihr Problemstellungen der Vergangenheit, wie immer verwandelt in Ausmaß, Intensität und den zugrunde liegenden Triebkräften, fortwirken oder zum mindesten dem historischen Denken Anschauungsmaterial und Orientierungsmöglichkeiten liefern, gewiß nicht im Sinne leichter Tröstungen ex analogia — wir sind immer noch mal davongekommen — wohl aber in der Zurückführung auf Grundfragen des Zusammenlebens von Menschen und Völkern.
Es hat in der neueren Geschichte ja offenbar zwei Vorformen von — im weitesten Sinne — weltanschaulichen Fronten über Landesgrenzen hin und Vorformen der Aufspaltung in grundsätzlich entgegenstehende Lager gegeben: in der konfessionellen Epoche und in der Französischen Revolution samt ihrem Nachklang in der Metternichschen Ära. Die erste Parallele — das Wort mit allem Vorbehalt genommen — berührte ich schon in einem speziellen Zusammenhang, und ich brauche gewiß nicht ins einzelne zu gehen, in die Verwandtschaft von Religionskriegen und Bürgerkriegen, in das Hinüber-greifen der religiösen Fronten in die damalige Weltpolitik jenseits des Ozeans, in die Bedrohung der Einheit, etwa Frankreichs, durch konfessionelle Internationalen, ja der Gefahr des Ausbrennens für das religiöse Leben selbst. Es erwies sich, daß keine der konfessionellen Welt-parteien die andere überwinden konnte, ohne Chaos in Staat und Gesellschaft heraufzuführen oder die Glaubenswerte zu zerstören, für die man kämpfte. Das Ergebnis war Verzicht, d. h.
die Anerkenntnis eines Nebeneinanders von Konfessionen in einem gewissen Status quo, aber vielerorts unter Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Uniformität im Sinne des cuius regio. Auch das indessen war nur Übergang. Nachdem die Glaubenseinheit im ganzen praktisch gescheitert war, ließ sie sich oft genug auch im Territorium nicht halten, und der Status quo wurde, wenn auch unter schweren Opfern, durchlöchert durch Freizügigkeit. So war Europa, wie auch ein Teil seiner Länder, religiös pluralistisch verfaßt. Das konnte zur Indifferenz gegenüber den umstrittenen Lehrmeinungen und damit zur Skepsis führen, aber auch zur innerlichen Bejahung der Vielfalt, zur positiven, die Entscheidungsfreiheit achtenden Toleranz, ja in der Formulierung Lord Actons, zu einer der Schutzwehren gegen staatliche Omnipotenz.
Das zweite Beispiel der Aufspaltung in Weltparteien zeigt viele abweichende, aber auch verwandte Züge und ist im Ergebnis nicht unähnlich gewesen. Das Charakteristische war aufs neue die Teilung in gesinnungsmäßige und nunmehr gesellschaftspolitische Fronten, in neue Internationalen horizontaler Art über Europa hin. In Frankreich selbst hatte ein legitimisti-
scher Kreuzzug seine sympathisierenden Bundesgenossen wie einst der katholisch-spanische Eingriff, anderwärts aber wurde die Parteinahme für die bürgerliche Revolution durch Reformbewegungen abgefangen. So war es ein mannigfach erneuertes Europa, das der Uniformierung durch das Herrschaftssystem Napoleons mit Erfolg widerstand. Aber das Denken in universalen Fronten war so eingewurzelt, daß es nach 1815 weiterwirkte in der Abwehrstellung einer monarchisch-ständisch geordneten Gesellschaft gegen revolutionäre und egalitäre Tendenzen, letztlich im Gegensatz zwischen konservativem Osten und liberalem Westen. Nur allmählich hat sich aus der realen Interessenlage der Staaten ein beweglicheres Spiel der internationalen Politik über die prinzipiellen Scheidelinien hin wiederhergestellt und damit zugleich ein Mischungsverhältnis der sozialen und politischen Lebensformen, je nach dem Stand der gesellschaftlichen Kräfte und der Eigenheiten der nationalen Individualitäten.
In ihrem erfrischten Hervortreten sah Leopold von Ranke in seinen bekannten Aufsätzen der 30er Jahre den Beweis, daß, wie nach der konfessionellen Epoche, wiederum die Zukunft der Vielfalt in der Einheit gehöre, daß die horizontalen Überflutungen in Vertikalen sozusagen gebändigt und daß überhaupt die um zwei Pole zentrierten prinzipienhaften Querströmungen Ausnahmefälle der Weltgeschichte seien. Wir können diesen Glauben nicht ohne weiteres mehr teilen und mögen eher im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit seiner nationalstaatlichen Abdichtung eine so nicht wiederholbare Sonderentwicklung erblicken. Jedenfalls: mit gewissen Ansätzen stehen wir schon seit 1917 im Zeichen des Nebeneinander zweier Weltparteien wie ihrer Überschneidungen, und hinter den Meilenstein dieses Jahres wird die Geschichte ebensowenig zurückgehen wie hinter 1789, ja, man könnte in weitester Dimension die Fronten von 1815 erneuert finden, die bewahrende und die revolutionäre, nur daß für beide der gesellschaftspolitische Ansatz sich in die Tiefe verlagert und zugleich die Rolle von Ost und West ins Gegenteil sich verkehrt hat.
Das Problem der Koexistenz
Damit ist, wie in der konfessionellen Epoche, das Problem der Koexistenz gestellt. Wir wissen sehr wohl, wieviel Taktisches in dieser schon 1922 von den Sowjets ausgegebenen Formel steckt; sie findet in der Innenpolitik eine fatale Entsprechung in Koalitionen mit einem totalitären Partner, deren Ausgang in Rom, Berlin und Prag jeweils der gleiche gewesen ist. Unvergessen sind auch die Worte Lenins: „Die eine oder die andere gesellschaftliche Form muß schließlich triumphieren.“ Gleichwohl besteht die Koexistenz als elementare weltpolitische Tatsache, und zwar weithin im Status quo, weil in den entscheidenden Regionen ihn keine der beiden großen Mächte ohne Selbstvernichtung zu ändern vermag — Koexistenz also in einem unerhört drastischen Sinne und weit über jeden geschichtlichen Präzedenzfall hinaus, als Verzicht auf an sich gegebene, aber im Gleichgewicht des Schreckens für jede rationale Politik sich aufhebende Mittel der Vernichtung.
Es bleibt die Frage, ob sie mehr als das Negative sein kann, ob sie Möglichkeiten der Auflocke-rung und der Vielfalt enthält, woran es ja im Westen nicht fehlt — wenn auch dabei mancher Anachronismus mitläuft —, nicht fehlt in dem Sinne, daß Integration kein graues Einerlei bedeuten soll und wofür Ansätze im Osten sich abzeichnen mögen, im polnischen eigenen Weg, in Titos Balanceakt, in Wandlungen der sowjetischen Gesellschaft wie in dem gewiß nicht zu überschätzenden russisch-chinesischen Spannungsfeld. Mehr noch als auf diese äußere jedoch wird die historische Betrachtung sich auf die innere Konstellation richten, auf die Chance echter Konkurrenz, bei der für menschliche Werte freierer Spielraum entstehen mag. Auch die westlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung ist ja nichts der geschichtlichen Dynamik Entzogenes oder gar an sich schon identisch mit den Begriffen abendländisch-christlicher Kultur; es besteht kein Anlaß zur Selbstgefälligkeit, eher eine Herausforderung, die wohltätig sein kann, wenn sie zum Neudurchdenken erstarrter Konventionen und der Pflege einer inhaltsvolleren Freiheit führt.
Herausforderung zum Wettbewerb
Einleuchtend ist ja ohne Frage für den Betrachter, daß diese Wettbewerbssituation in den noch entscheidungsfreien Räumen der Weltpolitik vorliegt, ein Wettbewerb nicht nur der materiellen Mittel und des technischen Könnens, sondern des jeweiligen Gesellschafts-, ja, recht eigentlich des Menschenbildes. Damit ist nicht gesagt, daß die neuen Staaten und Nationen mit Notwendigkeit in die Polarität der Blöcke hineingezogen werden, obwohl trotz der Front-bildung in der UNO im Sinne der „Troika" manche Anzeichen dafür sprechen. Aber die Situation Indiens, als „aktive Koexistenz" beschrieben, weist an sich schon auf eine andere Entwicklungslinie, wie immer problematisch sie sein mag, und die Bandung-Konferenz von 195 5 hat bei aller Schärfe der Stellungnahme gegen Kolonialregime sich nicht weniger energisch gegen den im kommunistischen Gewände vorrückenden Sowjet-Imperialismus erklärt. In der eigenen Nationsbildung unter den allerverschiedensten Voraussetzungen, in der Zugehörigkeit zu übernationalen Gruppenbildungen wie im internationalen Stellenwert ist in Asien und Afrika alles noch in Fluß. Auch wird zu bemerken sein, daß die neue amerikanische Politik nicht mehr das starre Entweder-Oder aufrecht-erhält — wer nicht für mich ist, ist wider mich —, wie denn Kennedys »New Frontier« auf die Wiederbelebung des Pioniergeistes nicht nur im Innern zielt, sondern auf Initiative, persönlichen Einsatz und individuell abgestimmte Kooperation in der neu sich erschließenden Welt. Sofern das geschieht, wird „Entwicklungshilfe" wirklich primär als Hilfe am Menschen gedacht, nicht als Auferlegung einer importierten Staats-und Gesellschaftsstruktur.
Mit dieser Beobachtung einer zeitgeschichtlichen Herausforderung und eines als möglich zu Wollenden verbindet sich eine andere, die uns noch einmal auf die Interdependenz von Sozialpolitik und Außenpolitik im weltweiten Rahmen hinführt. Nach der bekannten These von Lenin wiederholt sich der Proletariatsbegriff im Ver-hältnis der farbigen und der in der Emanzipation begriffenen Völker zu den westlichen Nationen, der Klassenkampf wird zur internationalen Parole. In dem Maße nun, wie in der westlich-egalitären Gesellschaft beide Begriffe, Proletariat und Klassenkampf, zu historischen Relikten geworden sind, erhebt sich die Frage, ob ein analoger nationaler wie interkontinentaler Ausgleich möglich ist, wonach weder in den Entwicklungsländern selbst noch im Verhältnis der EWG zur übrigen Welt notwendigerweise die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Auch das ist Herausforderung und Chance angesichts des Gegenbildes einer ökonomisch-deterministischen Zukunftsperspektive.
Wächteramt der Historie
Doch lassen Sie von diesen unbestimmt bleibenden Erwägungen, bestimmt nur durch eine offene, an verantwortliches Handeln appellierende Frage, zum Schluß uns noch einmal zu dem engeren deutschen Problem wenden. Wenn es Entscheidungscharakter für die Weltpolitik im ganzen hat, weil nirgends die Polarität sdär-fer ausgeprägt ist, so wird es zugleich in besonders akuter Weise von der Konstellation der Koexistenz betroffen, die zum allgemeinen Geschichtsbild unserer Tage gehört. Wie die Spaltung in der Mitte Europas überwunden werden kann, entzieht sich daher jeder beschränkt nationalen Dynamik, aber enthält um so mehr die Herausforderung, vom Menschen her das Verhältnis zwischen zwei Sozialsystemen im gleichen Lande neu zu durchdenken und ebenso das Verhältnis zu den slawischen Nachbarvölkern. Ich darf zurückgreifen auf das früher Gesagte über die Veränderung der Rang-Ordnung von Freiheit und Einheit. Wie wir nationale Einheit nicht auf Kosten der Freiheit erkaufen können, so steht umgekehrt die Sorge um die Ermöglichung einer menschenwür igen Existenz für die Deutschen jenseits der Mauer und jenseits des Vorhangs vor den im engeren Sinn nationalen Erwägungen. Wie in aller Geschichte stellt sich die Frage der richtigen Prioritäten. Ein Mindestmaß von Grundrechten ist wichtiger als das gleiche staatliche Dach. Das mag wie eine Paraphrase von Worten klingen, die vor kurzem von der Tribüne des Bundestags geäußert worden sind. Aber geschichtliches Denken ist nicht das „Nachtönende Passivum“, das ihr Nietzsche vorwarf zu sein, und sie legitimiert auch nicht das Seiende. Im Verstehen dessen, wie es geworden ist, bleibt für den Historiker die Frage nach dem Rechten, nach den Möglichkeiten des Zusammenlebens von Individuen, von getrennten Teilen einer Nation, von Völkern überhaupt unbeirrbar lebendig. Er wird aus eigener Einsicht — und das ist von so manchem schon längst gesagt worden — zu betonen haben, daß es hier primär um ein Verpflichtetsein vor dem eigenen Gewissen, um ein Bewußtsein der Mitverantwortung dafür geht, daß deutschen Menschen und Menschen anderer westlicher Völker, ein Schicksal auferlegt ist, das auch uns zugedacht war und vielleicht noch zugedacht wird. Nicht die Tatsache eines Nebeneinanders von zwei Sozialsystemen an und für sich schon erschwert die Möglichkeit positiver Koexistenz, sondern daß das eine von ihnen mit Gewalt durchgeführt und insbesondere vom Pankow-Regime mit den Mitteln einer totalitären Apparatur aufrecht erhalten wird. Eine Auflocke-rung der internationalen Spannung, eine Über-windung von Spaltungen und starr gewordenen Grenzen, erscheint somit als weitgehend abhängig von freiheitlicherer Entwicklung in Mittel-deutschland wie auch im weiteren Osten. Also davon, daß Selbstbestimmung, Freizügigkeit und Würde des Menschen eine Chance der Verwirklichung erhalten.
Die Historie kann für den Weg dahin keine Rezepte liefern, wohl aber fällt ihr in der Besinnung auf diese Entscheidungsdimension eine Art Wächteramt zu. So hat es Jakob Burckhardt schon in der Vorahnung noch kommender Bedrohungen gefordert, in dem er der Geschichte die Funktion zuwies, „die Erinnerung an das Unverlierbar-Menschliche zu bewahren, das Menschenbild für eine noch unbekannte Zukunft zu retten“.