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Großbritannien und Europa | APuZ 45/1962 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 45/1962 Großbritannien und Europa Das britisch-deutsche Verhältnis

Großbritannien und Europa

Lord Herbert Gladwyn

Die in dieser Ausgabe veröffentlichten Beiträge werden mit freundlicher Genehmigung des Hoffmann und Campe Verlages. Hamburg aus dem Buch •England deutet sich selbst" abgedruckt.

Ein revolutionärer Entschluß

= Robert Birley Das britisch-deutsche Verhältnis (siehe Seite 569)

Am 31. Juli 1961 gab der britische Premierminister bekannt, daß die Regierung Ihrer Majestät beschlossen habe, die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu beantragen. England ist bereits Mitglied einer Reihe regionaler Allianzen ökonomischer und politisch-strategischer Art, sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas — OEEC, Europarat, Westeuropäische Union, NATO, CENTO etc. — und natürlich auch der Vereinten Nationen. Doch keine dieser Allianzen, nicht einmal die NATO und die WEU, bedeutet irgendeine weitgehende oder revolutionäre Änderung der traditionellen britischen Politik, wie die Zugehörigkeit zur EWG sie erfordern wird. Tatsächlch hat sich das Vereinigte Königreich damit zum erstenmal prinzipiell bereit erklärt, einer internationalen Organisation beizutreten, in welcher eine Reihe offizieller Entscheidungen durch Mehrheitsbeschluß zustande kommen werden. Zum erstenmal hat Großbritannien den Wunsch geäußert, integrierender Bestandteil einer europäischen Gemeinschaft zu werden. Dies ist das Ende einer Ära.

In gewisser Weise war dieser Entschluß bedeutsamer als die Kriegserklärung des Jahres 1939, die kein Abgehen von der traditionellen Politik bedeutete; sie war-eine zwangsläufige strategische Maßnahme der Verteidigung. Der Entschluß dagegen, die Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu beantragen — wenn auch leider einige Leute in England darin vorwiegend eine defensive Maßnahme er-blicken —, kann in mehr als einer Weise als die konstruktivste und positivste Entscheidung angesehen werden, die eine britische Regierung auf außenpolitischem Gebiet seit mehreren Jahrhunderten angebahnt hat. Dieser Entschluß ist an sich natürlich gleichbedeutend mit den 1952 und 1957 von den Regierungen der gegenwärtigen Mitgliedstaaten der EWG gefaßten Entschlüssen, die zur Entstehung der drei europäischen Gemeinschaften führten; tatsächlich aber ist er noch entscheidender als jene Entschlüsse. Denn wenn der britische Antrag angenommen wird, so wird dadurch endgültig der Weg frei zur Entstehung eines völlig neuen Europas, das nach modernen, den Tendenzen des 20. Jahrhunderts entsprechenden Prinzipien aufgebaut ist und einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Welt zu leisten vermag, in unserer Zeit und in kommenden Jahrhunderten.

Die Epoche der „splendid Isolation" ist vorüber

Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir versuchen, die Aktion Großbritanniens in dem Zusammenhang zu sehen, in den sie gehört. Der europäische „Nationalstaat“ ist vorwiegend eine Konzeption des 19. Jahrhunderts. Er entstand zwar sehr viel früher, entwickelte sich aber erst im 19. Jahrhundert zu seiner vollen Höhe, wie die damaligen Kämpfe der Weltmächte sehr deutlich zeigen. Schon mit dem Ende des ersten Weltkriegs war die Idee des Nationalstaats weitgehend bedeutungslos geworden; leider aber waren in England und auch anderswo nur wenige hellsichtig genug, dies zu erkennen. Erst der zweite Weltkrieg ließ die neue Situation klar zutage treten. Daß es in England länger dauerte, bis sich diese Erkenntnis durchsetzte, als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern, ist nicht überraschend. Durch die Jahrhunderte hat England — wie Sir Derek Walker-Smith sagte, als er sich bei der Unterhausdebatte vom 2. August 1961 gegen den Beitritt zum Gemeinsamen Markt aussprach — eine „besondere und separate Stellung" besessen. Das ist an sich völlig richtig, läßt sich aber nur halten, wenn Großbritannien sich weiterhin als völlig separaten »Nationalstaat« betrachtet. In Wirklichkeit sind jedoch Rußland und Amerika die beiden einzigen Staaten, die in diese Kategorie gehören; und selbst das ist fraglich. Auch Sir Derek hofft, daran zweifle ich nicht, daß es den kleinen Staaten — und ich schließe England hier ein -möglich sein wird, diese beiden Riesen zu beeinflussen. Wie aber kann man erwarten, Länder von dem gegenwärtigen Umfang und der Stärke Großbritanniens und der anderen westeuropäischen Staaten könnten irgendeinen Einfluß auf die Riesen haben, wenn sie nicht bereit sind, anzuerkennen, daß sie nicht mehr selbständig und unabhängig sind — und es schon seit Jahren nicht mehr waren —, sondern für ihre nackte Existenz und ihre Sicherheit auf kollektive Aktion angewiesen sind?

Englands „besondere und separate Stellung", auf die sich Sir Derek bei seiner Ablehnung berief, war vielleicht für das vergangene Jahrhundert von Belang, und zu einem geringeren Grade auch noch für den Anfang unseres Jahrhunderts, denn damals war das Vereinigte Königreich in der Tat die führende Macht innerhalb eines weit ausgedehnten politischen Verbandes, der von einem Zentrum aus regiert wurde. Das ist nicht mehr der Fall. Wenn man nun die Ursachen der beträchtlichen Opposition gegen Englands Beitritt zum Gemeinsamen Markt richtig einschätzen will, so muß man versuchen, den britischen „Separatismus" zu analysieren, um zu sehen, wie tief er eigentlich sitzt. Emotionale Regungen spielen dabei zwar auch eine Rolle, aber keineswegs eine entscheidende; die Gründe liegen tiefer.

Die Beziehungen zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent im Mittelalter

Die Beziehungen, die seit dem Beginn der geschichtlichen Zeit zwischen Großbritannien und Kontinental-Europa bestanden haben, waren für gewöhnlich eng — während einiger Perioden enger, während anderer lockerer. Man kann natürlich weit über die Zeit des Römischen Reiches hinaus zurückgehen bis zu den Kelten oder gar den Iberern, also zu den ersten bekann ten Bewohnern des heutigen Englands, die beide vom Kontinent kamen Doch die ersten, die zwischen dem Kontinent und dem Gebiet, das man damals als eine dem Nordosten des europäischen Festlands vorgelagerte Inselgruppe ansah, eine wirkliche Verbindung herstellten, waren die Römer. Die Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Sprache, unserer Kultur, unseres Rechts und unserer Religion waren vielleicht nicht ganz so intensiv wie in den kontinentalen Territorien im Süden Europas, wo die Herrschaft Roms sehr viel länger bestanden hat, aber sie waren auf jeden Fall sehr erheblich.

Selbst nach dem Abzug der Römer zu Beginn des 5. Jahrhunderts dauerte ihr Einfluß viele Jahrhunderte an; tatsächlich behielten die lateinische Sprache und die römische Form des Christentums bei uns für mehr als ein Jahrtausend durchgehend Gültigkeit.

Im Verlauf dieses ersten nachchristlichen Jahrtausends fielen immer wieder verschiedene nordische Stämme in England ein und hinterließen ihre Spuren auf allen Gebieten unseres Lebens. Die Sachsen kamen erstmals im Jahre 495 und überrannten fast ganz England. Dann begann 797 die zweite nordische Invasion mit den ersten Einfällen der Dänen, die in der Folge die Sachsen mehr und mehr aus der Macht verdrängten, was ihnen allerdings erst im 10. Jahrhundert überall gelang, und die dann die herrschende Oberschicht blieben, bis im Jahre 1066 die Normannen kamen. 1066 dürfte wohl die bekannteste Jahreszahl der britischen Geschichte sein; tatsächlich aber war der Einfluß der normannischen Eroberer sehr viel geringer als der Einfluß der Sachsen und Dänen, die sich mit den von ihnen unterworfenen Völkerschaften so innig vermischten, daß sich die rassische Grundsubstanz unseres Landes seither kaum verändert hat. Die aus Frankreich kommenden Normannen waren in sehr viel stärkerem Maße latinisiert als die Bewohner des Landes, das sie eroberten, obwohl bereits vom Jahre 597 an — mit der Ankunft des Benediktinerabtes Augustinus und der Erneuerung des Christentums — eine zweite Welle der Latinisierung eingesetzt hatte; so trugen die normannischen Eroberer außerordentlich dazu bei, den Einfluß Roms in diesem Land zu stärken. Bis zur Reformation im 16. Jahrhundert blieb die römische Kirche Staatsreligion, und bis zu dieser Zeit war das Lateinische nicht nur die Sprache der Kirche, sondern auch die der Wissenschaft und des Rechts. Der gemeinsame Glaube verband England eng mit dem Kontinent, und bei den Kreuzzügen kämpften Streiter von der Insel und vom Kontinent Seite an Seite.

Im Mittelalter bildete der Kanal weniger als zu irgendeiner anderen Zeit unserer Geschichte eine trennende Grenze. Die englischen Könige aus dem Hause Plantagenet herrschten mehrere Jahrhunderte hindurch auch über ausgedehnte Gebiete in Frankreich. Heiraten zwischen englischen und kontinentalen Königshäusern und adligen Geschlechtern waren fast die Regel, und Scholaren aus allen Teilen des südlichen und westlichen Europas, deren gemeinsame Sprache das Lateinische war, bewegten sich frei diesseits wie jenseits des Kanals. Die letzte Spur der Herrschaft Englands auf dem Kontinent verschwand erst vor vierhundert Jahren, als Calais während der Regierungszeit der Maria Tudor 15 5 8 an Frankreich verlorenging. Und obwohl England niemals zum Heiligen Römischen Reich gehörte, war die Lehre der römischen Kirche bis zum Jahre 15 34 die offizielle Religion. Auch nach diesem Datum spielte sie im Leben des Landes weiterhin eine bedeutende Rolle, und die Variante des christlichen Glaubens, die an ihre Stelle trat, war natürlich keineswegs ein rein englisches Phänomen.

Bruch mit Rom leitet die Trennung ein

Dennoch beginnt von diesem Zeitpunkt an Englands »besondere und separate Stellung“ sichtbar zu werden. Wenn auch der Bruch mit Rom im Zuge jener Bewegung erfolgte, die zur Entstehung des heutigen Protestantismus in Deutschland und Holland führte, so war doch die Kirche, die Heinrich VIII, in England zur Staatskirche erhob, völlig autonom und von den protestantischen Kirchen, die auf dem Kontinent entstanden, unabhängig. Dadurch wurde die Religion, die so lange ein Bindeglied zwischen England und Kontinental-Europa gewesen war, jetzt eher zu einer trennenden Instanz. Menschen, die bei uns wegen ihres römisch-katholischen Glaubens verfolgt wurden, flüchteten nach Frankreich und in südlicher gelegene Länder des Kontinents; umgekehrt flüchteten Protestanten, die auf dem Kontinent bedrängt wurden, häufig nach England. Unter den Tudors waren England und die kontinentalen Länder oft erbitterte Feinde — was sie natürlich auch schon vorher verschiedentlich gewesen waren; doch früher hatte zwischen ihnen eine starke religiöse und kulturelle Solidarität bestanden, die jetzt brüchig wurde. Auf religiösem Gebiet war sie praktisch verschwunden, und auf allgemein kulturellem und künstlerischem Gebiet besann England sich wieder stärker auf seine Eigenart — wie übrigens die kontinentalen Länder auch. Der einigende Einfluß der lateinischen Sprache und des römischen Erbes war fast völlig verschwunden. Gewiß hatte es zwischen den europäischen Ländern — zu denen ich hier auch England zähle — während des ganzen Mittelalters heftige Kämpfe gegeben; jetzt aber begann der Bereich der Auseinandersetzungen sich immer mehr auszudehnen, um schließlich auch die Ozeane und die neuentdeckten Welten zu umfassen.

Doch unter den Tudors bestanden immer noch enge Verbindungen, zumal zwischen den Franzosen und den Schotten. Als Elisabeth 1. starb, im Jahre 1603, wurden die Throne Schottlands und Englands unter Jakob VI. von Schottland, dem späteren Jakob I. von Großbritannien, vereinigt. Im Verlauf der etwas über achtzig Jahre, in denen die Könige aus dem Hause Stuart herrschten, erfuhr das Wesen der königlichen Herrschaft an sich selbst eine Veränderung: Großbritannien wurde eine konstitutionelle Monarchie. Zwischen dem Souverän und dem Parlament entbrannte ein langer Kampf um die Macht, den schließlich das Parlament gewann, und die Entwicklung dieses konstitutionellen Systems in einem so frühen Stadium der modernen europäischen Geschichte ist etwas, worauf die Engländer — und ich finde, durchaus mit Recht — stolz sind. Gleichzeitig änderte sich auch Englands Konzeption von der Rolle, die es in Europa zu spielen hatte, von Grund auf. Bei allen früheren Kriegen, die England auf dem Kontinent geführt hat, war es um territorialen Gewinn gegangen. Jetzt aber richtete England seine territorialen Ansprüche auf andere Gebiete — wie das auch einige der kontinentalen Länder taten, teils mehr und teils weniger intensiv — und betrachtete es in bezug auf Europa als seine wichtigste Aufgabe, zu verhüten, daß irgendein Land des Kontinents allzu mächtig wurde.

Seitdem hat England zu verschiedenen Zeiten enge und freundschaftliche Beziehungen zu verschiedenen kontinentalen Ländern unterhalten — doch immer nur aus rein strategischen Erwägungen. Gewiß, wir haben auch später noch zweimal regierende Fürsten des Kontinents auf den englischen Thron erhoben — 1689 Wilhelm von Oranien und 1714 Georg von Hannover —; doch der Kanal begann bereits eine stärker trennende Grenze zu werden, als er es jemals zuvor gewesen war.

Diese Grenze war politischer und strategischer Art. Für Ideen oder für Kunst hat dieser Wasser-streifen von 22 Meilen Breite niemals eine wirkliche Schranke bedeutet. Literarische und künstlerische Bewegungen diesseits und jenseits des Kanals waren in den kommenden Jahrhunderten zwar nicht identisch — in den verschiedenen Teilen des europäischen Kontinents waren sie es natürlich genausowenig —, aber der wechselseitig befruchtende Austausch zwischen Philosophen, Schriftstellern und Künstlern aller europäischen Länder hat sich durch die Jahrhunderte fort-gesetzt bis zum heutigen Tage. Einstmals, unter dem Einfluß der lateinischen Sprache und der römischen Kirche, war fast das gesamte westliche Europa eine kulturelle Einheit gewesen. Diese Einheit war gegen Ende des Mittelalters ausein-andergebrochen, doch der kulturelle Austausch zwischen den einzelnen Ländern hörte niemals ganz auf, wenn natürlich auch unterschiedliche Ideen und Bewegungen zu verschiedenen Zeiten das Feld beherrschten.

Der Kanal erschien breiter als der Nordatlantik

Wenn man an die Fülle des gemeinsamen Erbes denkt, das England mit seinen kontinentalen Nachbarn teilt, ist es eigentlich erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit die Engländer auf ihre „besondere und separate Stellung" in Europa pochen. Mir scheint, dies beruht im wesentlichen auf drei Phänomenen.

Das erste ist der Kanal. Er ist heute nur noch eine psychologische Schranke, doch noch vor weniger als hundert Jahren war er eine echte strategische Grenze. Für Ideen war er, wie gesagt, niemals ein Hindernis, aber er erwies sich seit dem Jahre 1066 als ein außerordentlich wirkungsvoller Schutz gegen feindliche Armeen. Heute wäre es natürlich lächerlich, dem Kanal eine solche Bedeutung beizumessen; doch die Menschen unseres Landes sind in ihrem Wesen und Denken durch das Vorhandensein dieses schmalen Wasserstreifens entscheidend bestimmt worden, und vielen erschien der Kanal sogar noch breiter als der Nordatlantik, der durch eine gemeinsame Sprache überbrückt wird. Die Sprache allein erscheint mir allerdings als trennende Grenze zwischen unserem Land und dem kontinentalen Europa nicht entscheidend, da die gleiche Grenze ja auch zwischen den einzelnen Ländern des Kontinents besteht. Aber es ist nun einmal so, daß für den Engländer die andere Sprache das Gefühl unterstreicht, vom Kontinent abgesondert zu sein, wohl in erster Linie, weil die gleiche Sprache eine augenfällige Verbindung zu verschiedenen außereuropäischen Ländern darstellt, vor allem zu den Vereinigten Staaten.

Während das erste der Phänomene, welche die Engländer veranlaßten, sich nicht als wirkliche und richtige Europäer zu betrachten, vorwiegend geographischer, zum Teil aber auch sprachlicher Art ist, sind die beiden anderen rein historischer Natur. Es sind zwei politische Konzeptionen, die sich in den ersten Jahrhunderten nach der Reformation entwickelten: Die Verlagerung der territorialen Ambitionen Großbritanniens, die sich nun nicht mehr auf Europa, sondern auf die neuentdeckten Länder der Welt richteten; und die „Balance-of-Power-Politik", die England den kontinental-europäischen Ländern gegenüber vom 16. Jahrhundert an verfolgte.

Ausbreitung nach Obersee

Tatsächlich lassen sich die Anfänge der imperialen Ära Großbritanniens bis zum Ende des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen — ebenso verhält es sich ber auch allen anderen ehemaligen europäischen Weltmächten. Diese ganze Entwicklung begann mit den Entdeckungsfahrten, auch wenn sie ursprünglich nicht territorialen Gewinn zum Ziele hatten. Die ersten wirklichen Kolonisatoren waren die Spanier und die Portugiesen. Die conquistadores saßen längst in Süd-und Zentralamerika, ehe die ersten britischen Kolonisten zu neuen Ufern aufbrachen. Diese ersten waren keineswegs „Imperialisten“, wie es die conquistadores zweifellos waren. Es waren Siedler, die aus England, wo sie verfolgt wurden, flohen und sich an der Küste von Nordamerika niederließen. Es ist interessant, die Spanier, die Engländer und die Franzosen auf diesem Gebiet miteinander zu vergleichen. Die Spanier betrachteten sich voller Stolz als Eroberer; die Franzosen definierten ihre imperiale Expansion als la Mission civilisatrice; und beide betrachteten die britischen Ambitionen als eindeutig und penetrant kommerziell. Dies war weitgehend der Fall, traf allerdings nicht für Nordamerika und ebenso-wenig für Australien und Neuseeland zu, wo die englischen Siedler als Emigranten erschienen, die aus allen möglichen Gründen ihre Heimat verlassen hatten, um anderswo in der Welt eine neue Heimat zu finden, und die sehr bald anfingen, sich nicht mehr ausschließlich und in erster Linie als Engländer zu fühlen. Doch in bezug auf Afrika und Asien ist diese Feststellung sicherlich zutreffend, und es ist bezeichnend, daß weite Teile der Kontinente, die unter britische Herrschaft kamen, viele Jahre lang im Namen und Auftrag der Krone von Handelsgesellschaften verwaltet wurden, deren Niederlassungen sich in den betreffenden Gebieten befanden (Britsh South Africa Company, Royal Niger Company, East India Company).

Das 19. Jahrhundert führte das Zeitalter der Kolonisation zum Kulminationspunkt. England erlebte unter der Herrschaft der Königin Viktoria seine höchste imperiale Blütezeit. Die meisten westeuropäischen Länder nahmen an dieser Expansion teil, und man sollte daher annehmen, daß der Konkurrenzneid zu einer Abkapslung dieser Staaten voneinander hätte führen müssen. Doch ungeachtet ihrer Kolonial-Rivalität war es den kontinentalen Ländern auf Grund ihrer geographischen Lage nicht möglich, sich völlig zu isolieren. Bei den Engländern, die in ihrer Wasserburg saßen, hinter einem Graben von zweiundzwanzig Meilen Breite, lagen die Dinge anders. Englands Grenzen sind ein für allemal durch die Geographie festgelegt. Auf dem Kontinent aber haben sich die Grenzen immer und immer wieder verändert, bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges — und einige dieser Grenzen sind sogar heute noch umstritten Während also die kontinentale Lage eine völlige Unabhängigkeit unmöglich machte, begünstigte die insulare Lage das Gegenteil und lenkte die Aufmerksamkeit Englands immer stärker in die Richtung überseeischer Expansion.

Spuren der imperialen Ära haben sich bis heute erhalten. Im großen und ganzen aber hat sich der Abbau der Kolonialisierung in den letzten fünfzehn Jahren mit erstaunlicher Schnelligkeit vollzogen. Dieser Prozeß war keineswegs schmerzlos oder einfach, und die Politik fast aller beteiligten Kolonialmächte war zuweilen alles andere als lobenswert; im ganzen aber erscheint es mir doch recht bemerkenswert, daß die meisten der neuen unabhängigen Länder zu ihren ehemaligen Herren noch immer in einem nahen und freundschaftlichen Verhältnis stehen. Das ist zweifellos ein großes Kompliment für die alten und vielleicht in noch stärkerem Maße für die jungen Länder. Die beiden auffälligsten Beispiele hierfür sind die französische Communaute und das britische Commonwealth. Dieses, das Commonwealth, wird in bestimmten Kreisen als der entscheidende Grund gegen unseren Beitritt zum Gemeinsamen Markt angeführt. Dieser Einwand erscheint mir ganz besonders kurzsichtig, und ich werde noch darauf zurückkommen.

Politik des Gleichgewichts der Kräfte in Europa

Gleichzeitig mit seiner Kolonialpolitik ent-wickelte Großbritannien im 16. Jahrhundert eine neue Politik gegenüber den Ländern des europäischen Kontinents. Sie ist im allgemeinen bekannt als die Balance-of-Power-Politik. Sie bestand darin, daß Großbritannien kein dauerndes Bündnis mit irgendeiner kontinentalen Macht einging, sondern sich in dem beständigen Kampf der europäischen Fürsten und Mächte jeweils auf die Seite des Schwäderen stellte. Die ersten Anzeichen dieser neuen politischen Taktik lassen sich in der Zeit Heinrichs VIII. und seines Ministers, Kardinal Wolsey, feststellen. Bindungen territorialer Art, die den Kanal überbrückten, bestanden nur noch in geringem Umfang; auch das Band der Religion war im Begriff zu reißen.

Frankreich und Spanien wurden immer mäch-tiger, und es war für England vorteilhaft, die beiden mächtigen Nachbarn gegeneinander aus-zuspielen. Jahrhunderte hindurch gelang es Großbritannien auf diese Weise, die Macht der spanischen Könige, des bourbonischen und des napoleonischen Frankreich, der Habsburger und schließlich der Deutschen unter Wilhelm II. und Hitler zu bändigen. England allein wäre hierzu nie und nimmer in der Lage gewesen, aber durch seine Politik des Gleichgewichts der Kräfte vermochte es die Stabilität in Europa, die es zugunsten der ungestörten Entwicklung der eigenen kommerziellen und kolonialen Expansion anstrebte, immerhin in einem gewissen Umfang zu sichern. Die Politik, sich in Europa nicht zu engagieren, außer zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Kräfte, hat ihrerseits dazu beigetragen, die schon bestehende Überzeugung vieler Engländer, daß zwischen ihrem Land und dem Kontinent doch ein gewisser Unterschied bestehe, weiter zu vertiefen Heute sind nur noch wenige dieser Ansicht — sehr viel weniger als je zuvor. Wäre es anders, so hätte England nie und nimmer, davon bin ich überzeugt, den Antrag gestellt, Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu werden. Doch mancherorts ist dieses Gefühl immer noch sehr lebendig. Traditionen abzubauen, die in Jahrhunderten gewachsen sind, dauert seine Zeit. Viele kontinental-europäische Länder haben Traditionen, die den unseren nicht unähnlich sind, besonders Frankreich. Doch in den meisten dieser Länder haben die äußeren Umstände den Durchbruch neuer Ideen erzwungen, was in England nicht der Fall war. Mit Ausnahme derer in Großbritannien, Belgien, Holland und den skandinavischen Ländern sind all die alten europäischen Monarchien heute verschwunden. Die großen Herrscherhäuser, Bourbon, Bonaparte, Habsburg, sind längst nicht mehr an der Macht. Man darf nie vergessen, daß die Monarchie immer Hand in Hand ging mit einem mehr oder weniger intensiven Nationalismus — oft sogar mit einem ausgesprochenen chauvinistischen Nationalismus. Die konstitutionelle Monarchie des heutigen England hat nichts hiervon; gleichwohl aber haben sich jahrhundertealte Traditionen auch bei uns ungebrochen erhalten. In Deutschland und in Italien liegt der Fall wesentlich anders. Beide gelangten erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit zu staatlicher Einheit, und wenn auch die geschichtliche Tradition der einzelnen Länder weit in die Jahrhunderte zurückreichte, so war doch der deutsche und der italienische Nationalismus niemals so stark in der Vergangenheit verwurzelt, wie es in England oder auch in Frankreich der Fall war.

Lind noch einmal müssen wir auf den Umstand zurückkommen, daß Großbritannien seit dem Jahre 1066 nie mehr von einer fremden Streit-macht erobert und besetzt worden ist. Ich denke, es ist durchaus verständlich, daß auch diese Tatsache das Bewußtsein der Unabhängigkeit und Selbständigkeit begünstigen mußte — eine Vorstellung, die vielleicht vor hundert Jahren einiges für sich hatte, die in unserer Gegenwart aber völlig irrelevant und in hohem Maße gefährlich ist.

Schließlich gibt es auch noch eine Reihe kleinerer Bedenken und Erwägungen — unwesentlich im Vergleich zu den meisten der Gründe, von denen ich bisher gesprochen habe —, die dem Engländer das Gefühl gaben, vom kontinentalen Europa weiter entfernt zu sein als von Nordamerika, Australien und selbst von einzelnen Teilen Afrikas und Asiens; — Fragen der Währung, der Maße und Gewichte, des Linien-verkehrs und so weiter.

Aus alledem dürfte zu ersehen sein, daß ungeachtet der unbestreitbaren und engen Bande, die England mit seinen kontinentalen Nachbarn verbinden, die äußeren Umstände im Verlauf der letzten vierhundert Jahre zur Entstehung von Traditionen und Ideen führten, die wesentlich anders sind als jenseits des Kanals; und das wiederum erzeugte die Vorstellung von der besonderen und separaten Stellung Großbritanniens in der Welt. Freilich hat es diese Vorstellung der Besonderheit, die ein integrierender Bestandteil eines jeden Nationalismus ist, zeitweilig in allen europäischen Ländern und häufig sogai in einzelnen Landesteilen gegeben; doch eben jene Umstände, die zur Entstehung der britischen Traditionen führten, in Verbindung mit der insularen Lage unseres Landes, haben diese Vorstellung erstaunlich tief und fest in der britischen Mentalität verankert; es ist darum nicht leicht, hier eine Änderung herbeizuführen.

Wenn also bei uns so viele Leute ernstlich der Meinung sind, daß England Europa gegenüber tatsächlich eine „besondere und separate Stellung“ einnimmt, so sollte man dieses Gefühl auf dem Kontinent nicht unterschätzen. Heute kommt diese Überzeugung vor allem darin zum Ausdruck, daß man meint, England habe mehr mit seinen ehemaligen Kolonien gemein als mit den Mitgliedern des Gemeinsamen Marktes.

Die Idee der europäischen Einheit fand in England keine Gegenliebe

Diese britische Isolation zeigt sich bereits sehr deutlich, wenn man einen Blick auf die historische Entwicklung der sogenannten „europäischen Idee“ wirft. Auf dem Kontinent erscheint diese Idee bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts; damals sagte Pierre Dubois, ein französischer Schriftsteller der Zeit Philipps IV., in seiner Abhandlung De Recuperattone Terrae Santae folgendes: „Wenn man den Frieden sichern will, so genügt es nicht, seine Vorzüge zu preisen, noch auch sich selbst zu verpflichten, ihn einzuhalten. Um den Krieg zu verhüten, braucht man geeignete Institutionen. Was also not tut, ist die Schaffung eines internationalen Schiedsgerichts.“ Erstaunliche. Worte für das 14.

Jahrhundert — Worte, die man erst jetzt allmählich ernst zu nehmen beginnt, ein halbes Jahrtausend später. Und im Jahre 1453, als die Türken Konstantinopel eroberten, äußerte Georg von Podiebrad, König von Böhmen, daß sich die Fürsten von Europa zusammenschließen sollten, um die Türken abzuwehren. Er plante einen Bund der Fürsten zur gemeinsamen Abwehr jedes Angriffs auf eines ihrer Länder; alle internen Streitigkeiten sollten durch den Spruch eines Schiedsgerichts geschlichtet werden. Ungefähr zur gleichen Zeit schrieb ein anderer Franzose, Antoine Marini, man müsse „die Völker und die Fürsten befreien durch die Schaffung eines neuen Europas“. Dies sind nur vereinzelte Stimmen aus einer Zeit, in der die Saat des Nationalismus gesät wurde; doch von da an taucht die europäische Idee im Verlauf der Geschichte immer wieder auf. Die meisten, die sich dafür einsetzen, waren begreiflicherweise Schriftsteller und Philosophen, Romantiker und Idealisten; Grotius, Cruce, Leibniz, Abbe Saint-Pierre, Rousseau, Kant, Saint-Simon, Mazzini, Proudhon und auch Marx — sie alle äußerten sich in ihren Werken, mit größerer oder geringerer Entschiedenheit, zugunsten dieser Idee. Doch auch einzelne aktive Staatsmänner setzten sich dafür ein, zum Beispiel Sully, der Minister Ludwigs XIV.; und sogar Richelieu liebäugelte mit diesem Gedanken. Ich habe nur einige aus einer Fülle von Namen erwähnt, doch es wird aufgefallen sein, daß sich kein einziger Engländer darunter befand. Ganz so schlimm ist die Sache nicht; tatsächlich haben sich zwei be-kannte englische Denker zugunsten der europäischen Idee geäußert. 1693 schrieb William Penn sein Essay for the present and future peace of Europe, in dem er sehr detaillierte Vorstellungen einer europäischen Föderation entwikkelte: jeder Staat sollte entsprechend seiner Größe in einem zentralen Parlament vertreten sein, dessen Vorsitz reihum ging und dessen Beschlüsse durch eine Dreiviertelmehrheit zustande kamen; und es sollte nur eine Streitmacht geben, eine gesamteuropäische Armee. Lim die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert brachte dann der bedeutende Philosoph und politische Denker Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus, die europäische Idee erneut zur Sprache in seiner Schrift Principles of International Law, in der er sich für allgemeine Abrüstung, ein internationales Parlament und Gericht, und völlige Handelsfreiheit einsetzte. Dodt bis auf diese beiden bemerkenswerten Ausnahmen verfing die Idee eines vereinigten Europas im insularen England, dessen Blick nach Westen gerichtet war, einfach nicht, und sie war auch nicht vereinbar mit der britischen Politik, den Frieden in Europa durch ein Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten.

Vom 15. Jahrhundert an sehen wir also die europäische Idee sporadisch da und dort auftreten, meist in Frankreich, zuweilen in Italien und in Deutschland, selten jedoch in England. Sie tauchte in unserem Jahrhundert erneut und mit sehr viel größerer Kraft nach dem Ende des ersten Weltkrieges auf, und jetzt war sie nicht mehr allein eine Sache der Träumer und Denker, sondern auch der aktiven Politiker.

Im Jahre 1922 gründete Graf Coudenhove-Kalergi die Paneuropabewegung — die erste von vielen europäischen Organisationen, die dann in den Jahren zwischen den beiden Kriegen folgten, und der noch sehr viel zahlreicheren, die nach 1945 entstanden. Die Paneuropa-Idee fand in den zwanziger Jahren großen Anklang; die erste offizielle Stellungnahme zugunsten einer europäischen Union erfolgte im Jahre 1925 vor der französischen Abgeordnetenkammer, und zwar durch Herriot, den damaligen Präsidenten des französischen Staatsrats.

Britische Regierung lehnt Europa-Konzeption Briands und Stresemanns ab

Doch der erste Staatsmann, der die Idee ernstlich aufgriff, war Aristide Briand, der große französische Sozialist der Jahre zwischen den Kriegen. Er bemühte sich bei den führenden Politikern Deutschlands, Italiens und Englands um Unterstützung für seine Ideen, fand sie jedoch nur in Deutschland, wo Gustav Stresemann sich rückhaltlos für den Plan einsetzte. Mussolini verhielt sich recht bezeichnend: er sagte zwar anfänglich seine Unterstützung unter der Bindung zu, daß die Kolonien der betreffenden Mächte das gemeinsame Eigentum der Union werden sollten, unternahm dann aber nichts zur Einlösung des gegebenen Wortes. Macdonald, der britische Premierminister, hielt die Idee für verfrüht und sagte das auch.

Auf der zehnten Vollversammlung des Völkerbunds, im Jahre 1929, erläuterte Briand, assistiert von Stresemann, seine Konzeption dessen, was er „eine Art förderativen Zusammenhalts“

zwischen den Völkern Europas nannte. Anschließend ließ er allen europäischen Regierungen ein Memorandum zugehen, das eine detailliertere Darstellung seines Plans enthielt. Die Reaktion darauf war überwiegend positiv; begeistert allerdings war, abgesehen von Stresemann, nur Benesch, und die Engländer waren ausgesprochen dagegen. Auf der nächsten Tagung des Völkerbunds, im September 1930, wurde der Vorschlag ausführlich diskutiert, doch dabei trat die Gegensätzlichkeit der Auffassungen immer deutlicher zutage. Mehrere Mitglieder befürworteten eine Wirtschaftsunion in dieser oder jener Form, doch kein einziges Mitglied war bereit, irgendeine Form von politischer Integration zu akzeptieren. Die Vollversammlung ernannte einen Arbeitsausschuß unter dem Vorsitz Briands zur Prüfung der Frage, doch dieser Ausschuß erzielte in zweijähriger Arbeit keine greifbaren Resultate, und als Briand 1932 starb, starb der Arbeitsausschuß mit ihm.

Wie kam es, daß die Idee, nachdem sie zunächst soviel Resonanz gefunden hatte, schließlich scheiterte? In erster Linie vielleicht durch den Tod Stresemanns und Briands, der bald nach Stresemannn starb. Zum Teil lag es aber auch an der damaligen wirtschaftlichen Situation; das Jahr 1929 brachte den schwarzen Freitag von Wallstreet und den Beginn der großen Depression. Vermutlich hat auch die negative Einstellung Englands dazu beigetragen, diese Idee zu begraben. England war noch immer von seiner „besonderen und separaten Stellung" überzeugt. Denn nicht nur die Engländer, sondern auch fast alle anderen Europäer waren bis nach dem Ende des ersten Weltkrieges weiterhin geneigt, in den überkommenen Kategorien von Siegern und Besiegten zu denken. Sie begriffen nicht, daß es im 20. Jahrhundert am Ende eines Krieges keinen echten Sieger mehr gab. Die Menschenopfer und die wirtschaftliche Belastung, die ein Krieg mit sich brachte, waren schon damals derart, daß niemand mehr etwas gewinnen konnte, auch der Sieger nicht. Es wäre lächerlich, wollte man die Schuld an dem zweiten Weltkrieg Ramsay Macdonald in die Schuhe schieben, indem man sagt, daß ein zweiter Krieg in Europa möglicherweise hätte vermieden werden können, wenn er damals den Plan Briands unterstützt hätte; zahllose andere Faktoren wirkten außerdem mit. Doch man muß zugeben: hätte er den Plan unterstützt, und wäre es gelungen, ihn zu realisieren, so hätte durchaus eine Chance bestanden, den Krieg abzuwenden.

Mir scheint aber, daß in Anbetracht der Zeit-umstände eine andere Reaktion der britischen Regierung gar nicht zu erwarten war. Der Nationalismus war noch immer die alles bestim-mende Kraft in der Welt. Selbst Briand war, als er 1929 vor dem Völkerbund seinen Plan verkündete, sorgsam bemüht, zu betonen, daß der „föderative Zusammenhalt" die nationale Souveränität der beteiligten Staaten in keiner Weise beeinträchtigen würde. Dies erscheint einigermaßen paradox, erklärt sich aber aus dem Umstand, daß es damals in allen Ländern nur sehr wenige Menschen gab, die nicht in nationalen, sondern in übernationalen Kategorien dachten — und die Engländer taten es schon gar nicht. England war damals noch immer die große imperiale Macht. Zwar hatte man Kanada, Australien und Neuseeland bereits die Unabhängigkeit zuerkannt, und das britische Empire hatte seine expansive Periode inzwischen hinter sich; aber die Engländer betrachteten sich noch immer als eine Weltmacht und nicht als eine europäische Macht.

Wandlung nach dem Zweiten Weltkrieg -Churchill fordert „Vereinigte Staaten von Europa”

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs erscholl erneut der Ruf nach europäischer Einheit, und diesmal war die Resonanz wesentlich stärker. Ich denke, ich brauche die einzelnen Etappen der Nachkriegsentwicklung der europäischen Bewewegung hier nicht zu rekapitulieren — die Haager Konferenz im Mai 1948, die noch im gleichen Jahr erfolgte Begründung der Europabewegung und später dann die Entstehung der Westeuropäischen Union, des Europarates und der Montanunion, das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, und schließlich die Schaffung des Gemeinsamen Marktes und der Europäischen Atombehörde —, dagegen würde ich gern ein paar Worte über die gleichzeitige Evolution des britischen Denkens sagen.

Es ist überraschend, festzustellen, daß der erste europäische Staatsmann, der sich nach dem Krieg für die europäische Integration ausgesprochen hat, ein Engländer war, und zwar kein geringerer als Sir Winston, damals noch Mister Churchill. Am 1. September 1946 erklärte er in Zürich, daß man „eine Art Vereinigter Staaten von Europa" ins Leben rufen müsse und daß „der erste Schritt hierzu die Bildung eines Europarats" sei. In England rief Churchill ein UnitedEurope Committee ins Leben; die Arbeit dieses Komitees erfreute sich beträchtlicher Unterstützung, allerdings bis auf wenige Ausnahmen nur von Seiten der Konservativen Partei, die sich damals bekanntlich in der Opposition befand. Die Labour-Bewegung war in ihrer Haltung dezidiert uneuropäisch und betrachtete als ihre vordringlichsten Aufgaben den Wiederaufbau der britischen Wirtschaft, die Einführung des Wohlfahrtsstaates und die Einleitung der Entkolonialisierung. Die Idee einer Beteiligung Großbritanniens an einer europäischen Integration wurde von ihr zu keinem Zeitpunkt unterstützt, und auch noch in letzter Zeit ist ihre Stellungnahme in dieser Frage sehr zögernd und uneinheitlich, was auch auf der letzten Jahreskonferenz der Labour-Partei bei der Debatte vom 5. Oktober 1961 wieder deutlich in Erscheinung trat.

Dennoch keine britische Beteiligung an den europäischen Zusammenschlüssen der fünfziger Jahre

1951 mußte die Labour-Regierung abtreten: sie wurde von den Konservativen unter der Führung von Mr. Churchill abgelöst. Die neue Regierung war zwar nicht so aktiv anti-europäisch wie es ihre Vorgängerin gewesen war; immerhin aber sahen sich viele — um nur soviel zu sagen — in ihren Hoffnungen bitter enttäuscht. Die Konservativen waren nach wie vor für die europäische Einheit, doch ihre Vorstellungen, wie dieses Ziel zu erreichen sei, deckten sich nicht mit den in den kontinentalen Ländern vorherrschenden Anschauungen.

Die Engländer waren gewiß nicht gewillt, den Kurs derjenigen führenden Politiker des Kontinents mitzumachen, deren Ziel die Schaffung eines wahrhaft föderativen Europas war, und sie sind dazu noch immer nicht bereit. Denn sie waren und sind noch heute der Meinung, weltweite Verbindungen und Verpflichtungen zu haben, und befürchten daher, daß selbst der begrenzte Verzicht auf die nationale Souveränität zugunsten einer übernationalen Körperschaft, zu dem einige der kontinentalen Länder bereit zu sein schienen, es für Großbritannien schwierig machen könne, seinen anderweitigen Verpflichtungen nachzukommen. Deshalb beteiligte sich Großbritannien weder an den Verhandlungen, die zur Bildung der Montanunion führten, noch an denen zur Schaffung der Euro-päischen Wirtsdiastsgemeinschaft und der Europäischen Atombehörde. Von der Warte späterer Erkenntnisse aus gesehen, könnte freilich der Eindruck entstehen, die damalige britische Regierung habe die Lage falsch beurteilt. Doch der Grund ihrer Zurückhaltung war zweifellos weitgehend der gleiche, der auch heute noch unseren Beitritt zum Gemeinsamen Markt erschwert — unsere Commonwealth-Verpflichtungen. Großbritannien war lediglich bereit, sich an der Schaffung einer simplen Freihandelszone zu beteiligen, da dies keinerlei Veränderungen der besonderen Handelsvereinbarungen notwendig gemacht hätte, die zwischen ihm und seinen Commonwealth-Partnern bestehen. Es spielten natürlich auch noch andere Faktoren mit, beispielsweise Englands Zweifel an der Lebensfähigkeit einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, doch das entscheidende Problem waren die Commonwealth-Verpflichtungen. Und damit sind wir bei den Problemen angelangt, die sich gegenwärtig aus dem Entschluß Englands ergeben, seine Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu beantragen.

Bevor das Vereinigte Königreich Mitglied der EWG wird, werden langwierige und zweifellos mühsame Verhandlungen stattfinden müssen, die übrigens bereits begonnen haben. Es ist zu hoffen, daß diese Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden und unser Land sobald wie möglich einen Sitz in den Institutionen des Gemeinsamen Marktes einneh-men kann. Im Augenblick sind alle Leute, diesseits wie auch jenseits des Kanals, aber auch überall im ganzen Commonwealth, sehr unruhig und gespannt, denn der Ausgang der Verhandlungen läßt sich schwer vorhersehen. Ein Fehlschlag würde unermeßlichen Schaden anrichten, und ich sehe, falls die Sache jetzt mißlingt, für eine ganze Reihe von Jahren keine Möglichkeit, daß eine britische Regierung erneut die Mitgliedschaft beantragt. Wenn es gelingt, so würden sich für England, davon bin ich persönlich fest überzeugt, unermeßliche Vorteile ergeben — und nicht allein Vorteile wirtschaftlicher Art. Auch würde nicht nur Großbritannien dabei gewinnen; es verfügt über eine ansehnliche Mitgift, die sowohl das politische als auch das ökonomische Gewicht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der Welt von heute erheblich steigern würde. Außerdem würde unsere Mitgliedschaft, meiner Meinung nach, auch unseren Commonwealth-Partnern große Vorteile bringen.

Argumente der britischen Europa-Gegner

Wie allgemein bekannt sein dürfte, bestehen jedoch in England noch immer erhebliche Widerstände und Zweifel. Ich will versuchen, einen kurzen Überblick über die einzelnen Argumente zu geben, mit denen verschiedene Gruppen ihre Ansicht begründen, daß wir dem Gemeinsamen Markt nicht beitreten sollten. Die drei größten Probleme — die von denjenigen, die gegen unseren Beitritt sind, als unüberwindliche Hindernisse hingestellt werden und die auch denen, die dafür sind, sehr ernst erscheinen und gelöst werden müssen, ehe wir beitreten können — sind: die Rücksicht auf das Commonwealth, die Auswirkungen auf unsere einheimische Landwirtschaft und unsere Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern in der EFTA. Es gibt noch andere Schwierigkeiten, von denen später noch kurz die Rede sein soll; doch zunächst die drei entscheidenden Probleme:

Verbundenheit mit dem Commonwealth

Da ist in erster Linie das Commonwealth. Wie ich bereits in großen Zügen zu schildern versuchte, kam England im Zuge der geschichtlichen Entwicklung dazu, seine Blicke stärker auf seine überseeischen Territorien zu richten als auf Europa. Es war England natürlich niemals möglich, die Existenz seiner Nachbarn auf dem Kontinent völlig-außer acht zu lassen, doch sein Interesse in dieser Richtung war einzig und allein, diese Nachbarn im Zaum zu halten und zu verhüten, daß einer von ihnen so mächtig wurde, daß er für den ganzen Kontinent und folglich auch für England eine Gefahr darstellte. Sein eigentliches politisches Ziel war die Erweiterung der überseeischen Territorien, war der Aufbau des britischen Empire. Englands imperiale Ära erreichte ihren Zenit im vorigen Jahrhundert; damals ging sein Einfluß weit über die territorialen Grenzen des Empire hinaus und erstreckte sich auf große Teile Südamerikas und des Mittleren Ostens.

Heute hat England nur noch wenige Kolonien. Fast alle haben ihre Unabhängigkeit erhalten. angefangen von den sogenannten „weißen Dominien“ Australien, Neuseeland und Kanada, die zu Beginn unseres Jahrhunderts aufhörten, Kolonien zu sein, bis zu Indien, Pakistan und Ceylon, die kurz nach dem Kriege unabhängig wurden, und den ehemaligen afrikanischen Territorien, bei denen das gleiche im Verlauf der letzten Jahre geschah. Von den wenigen noch verbliebenen Kolonien dürften die meisten ihre Unabhängigkeit innerhalb der nächsten Jahre erreichen. Doch, obwohl diese Länder jetzt unabhängige und souveräne Staaten sind, sind sic doch mit England noch immer eng verbunden durch das Commonwealth. Einige dieser Länder betrachten unsere Königin als ihr Staatsoberhaupt; die Queen wird in den betreffenden Ländern durch einen Generalgouverneur repräsentiert. Ungeachtet seines Titels, ist der Generalgouverneur etwas völlig anderes als sein Vorgänger, der Gouverneur einer Kolonie; er ist der Repräsentant der Queen und nimmt als solcher in dem betreffenden Lande die gleiche Stellung ein, die die Queen unter unserem System der konstitutionellen Monarchie in unserem Lande einnimmt. Andere Commonwealth-Länder erkennen die Königin nicht an und haben ihren eigenen Präsidenten als Staatsoberhaupt.

Viele Leute auf dem Kontinent finden es sehr schwierig, zu verstehen, worauf der Zusammenhalt des Commonwealth eigentlich beruht. Doch auch vielen Engländern würde es ziemlich schwerfallen, die Art dieses Zusammenhalts zu definieren. Es gibt keine geschriebene Verfassung, keine Verbandsstatuten oder irgend dergleichen. Auch das entspricht der britischen Tradition, denn bekanntlich hat England ebenfalls keine geschriebene Verfassung. Die Mitglieder des Commonwealth — das Völker jeder Farbe und jeden Glaubens in aller Welt umfaßt — verbindet ein zwiefaches Band: Auf der einen Seite ist es eine ökonomische Bindung, da viele Commonwealth-Länder hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Lebensfähigkeit mehr oder weniger auf Großbritannien angewiesen sind; auf der anderen sind es die, wie ich glaube, wichtigeren Bindungen der Freundschaft und der Loyalität.

Es gibt, vor allem in England und in den weißen Dominien, in geringerem Grade aber auch in den anderen Ländern, so etwas wie ein Commonwealth-Mysterium. In England, Australien, Neuseeland und Kanada beruht dies zweifellos darauf, daß die Menschen dort vorwiegend, wenn auch keineswegs ausschließlich, britischer Herkunft sind. Auch der Einfluß der gemeinsamen Sprache ist in allen Commonwealth-Ländern sehr stark, denn selbst in den afrikanischen und asiatischen Ländern, die erst kürzlich unabhängig wurden, ist im allgemeinen Englisch die Amtssprache.

Diesen „Klub", wie das Commonwealth zuweilen genannt wird, betrachten viele bei uns als Vorläufer eines künftigen weltweiten Verbandes aller Völker und Rassen — also sozusagen als Embryo einer Weltregierung. Ich persönlich bin zwar der Meinung, daß dies zu weit geht, aber man muß zugeben, daß das Commonwealth unermeßlich viel Gutes stiften kann und auch bereits gestiftet hat.

Furcht vor wirtschaftlichen Nachteilen für die Commonwealth-Länder

Auf Grund dieses bestehenden Bandes der Freundschaft und Loyalität scheut man sich in England, irgend etwas zu tun, das sich für die Völker der anderen Commonwealth-Länder schädlich auswirken könnte. Diese Furcht ist verständlich und sogar lobenswert, selbst wenn sie, wie ich vermuten möchte, übertrieben ist. Es ist natürlich für mich als Engländer nicht leicht, die Stimmung in den anderen Commonwealth-Ländern richtig zu beurteilen. Die Bande der Freundschaft sind zweifellos stark und fest. Was man befürchtet, ist nicht so sehr, daß diese Freundschaft zerstört werden könnte (warum auch sollte sie nicht weiterhin bestehen?) — es sind vielmehr die ökonomischen Konsequenzen, die sich aus dem Beitritt zur EWG ergeben könnten. Hier ist nicht der Raum für eine detaillierte Darstellung der ökonomischen Verhältnisse aller der Länder, die hiervon betroffen werden könnten; doch ich werde versuchen, kurz zu umreißen, was diesen Ländern Anlaß zur Sorge gibt.

England gewährt einer großen Anzahl von Produkten, die aus Commonwealth-Ländern eingeführt werden, Vorzugszölle. Diese Länder befürchten nun, daß die Vorzugszölle wegfallen und der Markt des Vereinigten Königreiches für den Commonwealth-Produzenten in einem gewissen Umfange ausfallen könnte, wenn England der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitritt und seine Zolltarife nicht mehr selbst festsetzen kann. Das Land, das am ehesten Grund zur Sorge hat, ist zweifellos Neuseeland, das ohne die Möglichkeit, die Nahrungsmittel seiner gemäßigten Zone — in erster Linie Fleisch und Molkereiprodukte — nach England zu exportieren, wirtschaftlich nicht existieren kann. Diese Exportartikel stehen zu den Produkten einiger EWG-Länder in unmittelbarer Konkurrenz. Falls England der Gemeinschaft der „Sechs" beiträte ohne besondere Vorkehrungen zur Sicherung seiner Interessen zu treffen, so würde Neuseeland die Vorzugszölle, die es gegenwärtig genießt. einbüßen, und die Länder der EWG würden neue Vorzugszölle erhalten. Das würde natürlich bedeuten, daß der britische Käufer sich dem kontinentalen Produzenten zuwendet. Wie ernst das Problem ist, dem sich Neuseeland gegenübersieht, möchte ich durch einige Zahlen belegen. England importiert mehr als drei Fünftel dessen, was Neuseeland exportiert. So gehen beispielsweise von den jährlich insgesamt exportierten 155 000 Tonnen Butter 153 000 nach England; von insgesamt 345 000 Tonnen Hammelfleisch sind es 310 000, und von SO 000 Tonnen Käse 74 000, die auf den englischen Markt kommen. Für Australien und Kanada sieht die Sache ähnlich, wenn auch weniger ernst, aus.

Kanada ist von den drei Ländern am wenigsten gefährdet. Australien exportiert außer Molkereiprodukten und Fleisch große Mengen von Weizen nach England; aus Kanada importieren wir vorwiegend Weizen und andere Getreidearten.

Diese Frage der landwirtschaftlichen Produkte der gemäßigten Zone Neuseelands ist also das schwierigste von all den ökonomischen Problemen, die gelöst werden müssen, bevor wir der EWG beitreten können.

Seiner Wichtigkeit nach an zweiter Stelle steht das Problem der Industrieprodukte, die wir zu Vorzugszöllen aus Kanada und ganz besonders aus den asiatischen Gebieten mit niedrigen Arbeitslöhnen importieren: Indien, Pakistan und Hongkong. Diese Industrieprodukte genießen gegenwärtig bei uns gegenüber ähnlichen Waren anderer Herkunftsländer eine erhebliche Vergünstigung, und obwohl diese billigen Waren — in erster Linie Textilien und Schneidwaren — für die britische Industrie eine ernsthafte Konkurrenz darstellen, hat die Regierung es als ihre Pflicht angesehen — und ich glaube, mit Recht — diese Vereinbarungen beizubehalten, da ihre Aufhebung der anfälligen Wirtschaft dieser armen und unterentwickelten Länder großen Schaden zufügen würde und nicht nur für Tausende, sondern für Millionen den Hungertod bedeuten könnte. Ich darf vielleicht hinzufügen, daß sich alle diese Länder bereit erklärt haben, den Export dieser Industrieprodukte nach England freiwillig auf bestimmte Quoten zu beschränken.

Der dritte Punkt betrifft unseren Import von tropischen Nahrungsmitteln aus den Commonwealth-Ländern Afrikas und Asiens. Auch für diese Länder ist es von vitalem Interesse, daß der britische Markt für ihre Produkte — Kaffee, Kakao, Pflanzenöle, Tee usw. — offenbleibt. Die überseeischen Territorien, die gegenwärtig mit der EWG liiert sind, haben selbstverständlich schon Vorzugszölle für die Einfuhr dieser Produkte in die Länder des Gemeinsamen Marktes, und man hofft in England aufrichtig, daß es möglich sein wird, diese Vereinbarungen auf diejenigen Commonwealth-Länder auszudehnen, die in die gleiche Kategorie gehören.

An vierter Stelle kämen dann die Rohstoffe, und diese Frage betrachtet man allgemein als das am wenigsten schwierige der ökonomischen Probleme, die das Commonwealth betreffen. Für die meisten Rohstoffe, wenn auch nicht für alle, besteht auf dem Gemeinsamen Markt bereits jetzt Zollfreiheit, unabhängig davon, aus welchen Ländern sie kommen, und daher sollte es nicht schwer sein, zu einer Regelung zu gelangen, die für die Rohstoff-Exporteure der Commonwealth-Länder annehmbar ist.

Dies also sind, in Kürze, die Einwände, die von den Commonwealth-Ländern gegen unseren Beitritt zum Gemeinsamen Markt erhoben werden. Es gibt zweifellos Leute, die diese Einwände übertreiben; doch sie sind nichtsdestoweniger ein durchaus realer Anlaß zur Sorge, und ich glaube, das Gefühl der Loyalität gegenüber dem Commonwealth ist hier bei uns so stark, daß keine Regierung es wagen würde, selbst wenn sie es wünschte, den Vertrag von Rom zu unterzeichnen, falls die Bedingungen dieses Vertrages eine dauerhafte Schädigung der vitalen Interessen der anderen Angehörigen des Commonwealth bedeuten; der englische Wähler würde eine solche Handlungsweise niemals verzeihen.

Es gibt noch eine weitere Überlegung, diesmal politischer Art, die einigen Commonwealth-Mitgliedern zu schaffen macht, zumal den erst seit kurzer Zeit unabhängigen afrikanischen Ländern. Sie befürchten, daß Großbritannien, indem es der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitritt, gemeinsame Sache mit einer Reihe von Ländern macht, die, in den Augen dieser Afrikaner, auf dem kolonialen Gebiet kein allzu gutes Führungszeugnis haben. Das ist selbstverständlich keine Sache, über die man verhandeln könnte. Ich erwähne sie auch nur der Vollständigkeit halber, da dieser Punkt, ob zu Recht oder zu Unrecht, ein weiterer Grund dafür ist, daß einige Leute Zweifel haben, ob wir der EWG beitreten sollten.

Rücksicht auf die britische Landwirtschaft

Das zweite der größeren Probleme, von denen ich sprach, betrifft unsere einheimische Landwirtschaft. Bekanntlich ist die Landwirtschaft in allen westeuropäischen Ländern ein mehr oder weniger intensiv subventionierter Erwerbszweig. Die riesigen Farmen Amerikas und Kanadas, Australiens und Neuseelands sind in der Lage, Getreide, Fleisch und Molkereiprodukte wesentlich billiger zu produzieren als es die europäischen Landwirte können. Der Gemeinsame Markt hat beschlossen, seine Landwirte gegen diese billigeren Nahrungsmittel durch entsprechende Zölle zu schützen. In England gilt ein völlig anderes System, und es ist schwer vorstellbar, wie wir unser gegenwärtiges System beibehalten könnten, wenn wir der EWG beitreten. Vielleicht sollte ich erwähnen, daß auf Grund dieser Umstände die landwirtschaftlichen Produkte bei dem ursprünglichen britischen Plan einer Freihandelszone ausgenommen sein sollten und bei dem Abkommen, das von den Mitglieds-ländern der EFTA unterzeichnet wurde, tatsächlich ausgenommen sind.

Großbritannien gewährt den landwirtschaftlichen Produkten, die aus Commonwealth-Ländern kommen, Vorzugszölle, und diese Länder können ihre Produkte auf dem englischen Markt zu Preisen verkaufen, die wesentlich unter den Produktionskosten unserer einheimischen Landwirtschaft liegen. Gegen diese Konkurrenz wird der englische Landwirt geschützt durch eine staatliche Subvention oder eine Ausfallvergütung, welche die Differenz zwischen den Marktpreisen und den tatsächlichen Produktionskosten ausgleicht. Das bedeutet natürlich, daß die Nahrungsmittel in England billiger sind — billiger als in den Ländern des Gemeinsamen Marktes. Sollte England der EWG beitreten und das System der Schutzzölle akzeptieren, so ergäben sich zweierlei Auswirkungen. Erstens würde es zur Entstehung einer Zollschranke gegenüber den Produzenten der Commonwealth-Länder führen, und zweitens würden in England die Lebensmittel teurer werden — wobei allerdings die Regierung mehrere Millionen Pfund einsparen könnte, die sie jetzt Jahr für Jahr in Form von Subventionen für die Landwirtschaft ausgeben muß.

Loyalität gegenüber den EFTA-Partnern

Das dritte ernstliche Problem hängt mit der EFTA zusammen. Großbritannien hat gegenwärtig vertragliche Verpflichtungen gegenüber seinen Partnern in dem Verband der »Sieben«, und es kann diese Verpflichtungen selbstverständlich nicht ignorieren. Wollten wir dem Gemeinsamen Markt beitreten, ohne Rücksicht auf die Interessen unserer EFTA-Partner zu nehmen, so würden wir nicht nur einen Vertrag brechen, sondern in vielen Fällen auch unsere Vertragspartner wirtschaftlich schädigen. Es hat indessen jetzt den Anschein, als sei dieses spezielle Problem nicht ganz so schwerwiegend, wie die beiden anderen obenerwähnten Probleme, da Dänemark gleichfalls seine Aufnahme in die EWG beantragt hat und Norwegen vermutlich dasselbe tun wird. Schweden hat beschlossen, nicht beizutreten, und daß die anderen EFTA-Mitglieder es tun, ist in hohem Maße unwahrscheinlich, wenn sich auch irgendeine Form des Anschlusses finden lassen dürfte. Jedenfalls ist es England mit Rücksicht auf seine Verpflichtungen auch hier nicht möglich, den Vertrag von Rom zu unterzeichnen, es sei denn, man käme zu entsprechenden Abmachungen, die den Interessen dieser Länder Rechnung tragen.

Kein Argument ist stichhaltig

Dies also sind die drei Hauptprobleme. Man kann bei uns in England noch eine ganze Reihe weiterer Vorbehalte und Einwände hören, die allerdings meines Erachtens keinerlei ernsthafte Bedeutung haben, da sie entweder auf vagen Emotionen oder auf einer völligen Unkenntnis darüber beruhen, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eigentlich ist und was sie bezweckt — oder häufig auch auf einer Kombination von beidem. So kann man beispielsweise oft hören, unser Beitritt werde sich ungünstig auf unseren Wohlfahrtsstaat und unseren Lebensstandard auswirken. Dieser Einwand beruht offensichtlich einzig und allein darauf, daß man nicht begriffen hat, um was es sich handelt. Aus den Reihen der Laboui-Partei hört man die Behauptung, daß es, wenn England erst einmal dem Gemeinsamen Markt angehöre, einer künftigen Labour-Regierung unmöglich sein wird, den sozialistischen Staat zu verwirklichen, den die Labour-Party anstrebe. Auch dies beruht auf mangelhaften oder falschen Vorstellungen, und ich möchte wirklich wissen, was man in den sozialistischen Parteien der Länder, die gegenwärtig der EWG angehören, von derartigen Argumenten hält.

Schließlich wird natürlich auch die Frage der staatlichen Souveränität wieder und wieder aufs Tapet gebracht. Großbritannien dürfe sich nicht der Möglichkeit unabhängiger Entscheidung und Aktion begeben, heißt es da. Dieses Argument beruht im Grunde auf unkontrollierten Gefühlen und der überholten Konzeption des „Nationalstaates", von dem ich anfangs schon sprach. Von all diesen Argumenten sind die zuerst genannten leicht durch sachliche Feststellungen zu widerlegen. Das letztgenannte dagegen ist sehr viel schwieriger auszuräumen. Ich habe die Ehre, Vorsitzender einer Organisation in England zu sein, 'der Comwon Market Cawpaigtt, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, diese falschen Argumente zu bekämpfen. Es handelt sich um eine private Organisation, die sich aus führenden Mitgliedern aller politischen Parteien zusammensetzt, aus Geschäftsleuten, Industriellen und Gewerkschaftlern, die der Meinung sind, daß es den vitalen Interessen unseres eigenen Landes diene und außerdem sowohl Europa als auch dem Commonwealth zu ungeheurem Vorteil gereiche, wenn Großbritannien und möglichst viele weitere Länder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitreten. Wir haben keine leichte Aufgabe vor uns, denn es gibt, wie ich zu erklären versucht habe, noch immer einen starken Widerstand gegen die Idee, der freilich zu großen Teilen mit falschen Argumenten begründet wird, die man widerlegen kann. Doch es gibt Leute, die sich dieser Argumente — und dazu in der irrationalen Überzeugung, England besitze noch immer diese seine „besondere und separate Stellung" — skrupellos bedienen. Wenn aber die Saat des Zweifels und des Mißtrauens erst einmal ausgesät ist, dann ist es nicht immer leicht, das Unkraut mit der Wurzel auszujäten. Ganz besonders schwer ist der Kampf gegen jene, die sich unkontrollierte Emotionen nutzbar machen und patriotische Gefühle für ihre Zwecke einzuspannen versuchen. Wie gesagt, wir haben eine schwere Aufgabe vor uns und brauchen jede Hilfe, die wir bekommen können.

Europa muß Großbritannien einschließen

Was die drei von mir zuerst geschilderten Probleme angeht, also das Commonwealth, die englische Landwirtschaft und die EFTA, so kann unsere Organisation nur versuchen, sachlich zutreffende Informationen darüber zu geben. Hier kommt wirklich alles darauf an, daß die Regierungen Großbritanniens und der „Sechs" bei ihren Verhandlungen zu Vereinbarungen gelangen, die für alle Teile annehmbar sind. Es wäre denkbar, daß die britische Regierung zu der Überzeugung gelangt, daß die angebotenen Bedingungen keine genügende Sicherung der vitalen Interessen des Commonwealth darstellen und daß sie es daher ablehnen müßte, den Vertrag zu unterzeichnen. Ich hoffe aufrichtig, daß dies nicht der Fall sein wird — und ich halte es in der Tat auch nicht für wahrscheinlich. Doch im Augenblick ist alles noch in der Schwebe. Der britische Entschluß, den Aufnahmeantrag zu stellen, ist, wie ich schon sagte, eine historische Tat, und man kann nur hoffen, daß alle Beteiligten von gutem Willen und dem Geist des echten Kompromisses beseelt sind, wenn die eigentlichen Verhandlungen in Brüssel beginnen. Sollte es nicht so sein, und sollte entweder die britische Regierung sich nicht in der Lage sehen, den Vertrag zu unterzeichnen, oder sollten die Regierungen der „Sechs" nicht gewillt sein, Großbritannien einzubeziehen, so ist die Chance, das neue Europa zu bauen, vielleicht für immer vertan. Wenn dagegen die Verhandlungen erfolgreich sind und mein Land Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird, dann wäre, davon bin ich überzeugt, die Zukunft Europas — zum Segen für die ganze Welt — gesichert.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Lord Herbert Gladwyn, K. C. M. G„ C. M. G„ G. C. V. O., geboren am 25. April 1900, ist in Eton und Oxford erzogen worden. Er trat 1924 in den auswärtigen Dienst ein, wobei er sich insbesondere mit Fragen der internationalen Koordination befaßte. Der rasch avancierende Diplomat nahm fast an allen Gipfelkonferenzen seit dem Beginn des zweiten Weltkrieges teil — an den Verhandlungen in Quebec, Kairo, Teheran, Jalta und Potsdam sowie an den Gründungskonferenzen der UNO in Dumbarton Oaks und San Francisco. Er war bei der Pariser Außenministerkofnerenz stellvertretender Chef der britischen Delegation, daraufhin Botschafter bei der UNO (1950 bis 1954) und in Paris (1954— 1960). Lord Gladwyn gehört heute dem Board of Directors des Bankhauses Warburg an und führt als Präsident der . Campaign Britain in Europe“ den Kampf für den Beitritt seines Landes zur EWG mit ebenso großem politischen Weitblick wie diplomatischer Geschicklichkeit.