I. Vorbemerkungen
Sowohl in der obligatorischen und freien Jugendbildung als auch in der Erwachsenenbildung hat sich in den letzten Jahren immer stärker die Einsicht durchgesetzt, daß der Behandlung von Ostfragen, der Ostkunde, innerhalb der politischen Bildungsarbeit eine zentrale Stellung zukommt. Durch sein Gutachten „Osteuropa in der deutsdien Bildung“ vom 16. März 1956 ist der Deutsche Ausschuß für Erziehungsund Bildungswesen zum prominenten Sprecher all derer geworden, die in den vergangenen Jahren als Einzelpersönlichkeiten oder als Vertreter öffentlicher und privater Institutionen auf die grundsätzliche Bedeutung dieser Aufgabe erschöpfend hingewiesen haben. Der vorliegenden Untersuchung seien daher nur zwei Vorbemerkungen vorangestellt, welche die Situation in diesem Bereiche aus der Sicht dessen beleuchten, der sich um die Verwirklichung der Aufgabe in der pädagogischen Praxis bemüht. 1. Ostkunde als Daueraufgabe Da sei zunächst darauf hingewiesen, daß die Einsicht in die Notwendigkeit, Ostfragen zu behandeln, der Ostkunde also einen bevorzugten Platz in der politischen Bildung einzuräumen, zur Folgerung zwingt, daß wir damit eine Dauer-aufgabe übernehmen, deren Erfüllung uns immer wieder zu neuen Überlegungen über Möglichkeiten und Perspektiven in der Behandlung des Gegenstandes anregen sollte. Es sei anfangs sogleich betont, daß es verhängnisvoll wäre, wenn die Ostkunde zu einem regelmäßig zelebrierten Ritual erstarrte oder einer Ideologisierung anheimfiele! Folgende Thesen mögen diesen Gedankengang unterstreichen: a) Der Hinweis darauf, daß nur eine stete aktive und dynamische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der gestellten Aufgabe gerecht wird, ist, wie der Blick auf die Bildungssituation zeigt, nicht überflüssig, weil trotz der Bemühungen mannigfacher Stellen Unkenntnis und Desinteressement in weiten Kreisen der westdeutschen Öffentlichkeit noch erschreckend groß sind. Von Statistiken und allgemein gehaltenen Reportagen sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen lassen, weil der durch eindrucksvolle Zahlenreihen und geschickte Formulierungen erweckte Eindruck der Wirklichkeit oftmals nicht entspricht. Daß diese Erscheinung nicht auf bestimmte Klassen und Generationen unseres Vol-kes beschränkt ist und auch die sogenannte Bil-dungsschicht erfaßt, sei hier nur ergänzend bemerkt und durch folgendes Beispiel veranschaulicht: In einem Kreise, dessen Angehörige sich auf ihre „Allgemeinbildung" etwas zugutehalten, gilt es als peinlich, wenn jemand ein englisches oder französisches Wort nicht lautrichtig ausspricht oder bestimmte Daten aus der antiken Mythologie nicht weiß. Daß dieselben Leute russische und polnische Namen falsch aussprechen und verstummen, wenn das Gespräch über russische Literatur über Tolstoj und Dostojevskij hinausgeht, mag entschuldbar und auf die einseitige, traditionsbedingte Auswahl der Bildungsgüter an unseren allgemeinbildenden Schulen zurüdezuführen sein; bestürzend dagegen ist die häufig zu machende Beobachtung, daß man diesen Zustand für „in Ordnung“ hält! b) Mit diesem Desinteressement gegenüber Ost-fragen und der daraus resultierenden Unkenntnis in diesem Bereiche verbindet sich die Gefahr einer unbewußt und leider auch bewußt vollzogenen unsachlichen Beschäftigung mit ihm. Diese äußerst sich in oberflächlichen, schein-objektiven Verallgemeinerungen und in Schwarzweißzeichnungen, deren tendenziöser Charakter durch „ausgewählte Wahrheiten“ verschleiert wird. Die Ergebnisse dieses Irrweges werden sichtbar einmal in der „Verniedlichung“ der Probleme (z. B. in der Meinung: „Die Gesellschaftsstrukturen in Ost und West sind heute bereits auf dem besten Wege, sich in der Mitte zu begegnen“ u. dgl.), zum anderen in der „Verteufelung“ des Ostens als Alibi für eigene geistige Trägheit, wenn nicht gar als Tarnung un-bzw. antidemokratischer Intentionen („Alles Böse kommt von den Sowjets“ usw.). 2 Ostkunde als Modell politischer Bildungsarbeit Die Ostkunde bietet, wie uns scheint, einen vortrefflichen Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem Politischen überhaupt, wenn wir darunter im aristotelischen Sinne die unabdingbare Existenz des Menschen in einer Ordnung verstehen, die sich allein in der Spannung von Recht und Macht begreifen läßt, nämlich im Staate, der auch in seiner gegenüber der griechischen Polis vergrößerten Dimension dieser Spannung als seinem Grundgesetz unterworfen ist.
Der exemplarische Charakter der Behandlung von Ostfragen für die allgemein-politische Orientierung sei im folgenden durch einige politische, psychologische und didaktisch-methodische Argumente begründet. Diesen liegt die Voraussetzung zugrunde, daß die Ostkunde zwei Probletnkreise umfaßt:
I. die Auseinandersetzung zwischen der „freien"
Welt des Westens und der kommunistisch-bolschewistischen Welt des Ostens;
II. die Frage nach den Beziehungen zwischen dem deutschen Volke und seinen westslawischen Nachbarvölkern in Vergangenheit und Gegenwart.
a) Die Kenntnis des ersten Problemkreises, des „globalen“ Ost-West-Problems, bildet im gegenwärtigen Zeitalter den Schlüssel zum Verständnis aller wesentlichen Vorgänge in der Weltpolitik. Dieser Sachverhalt wird dem Schüler oder Studierenden täglich nahegebracht, wenn er die Zeitung liest und erfährt, daß sowohl Ereignisse in „fernen" Gegenden (Laos; Kuba usw.) als auch die Krisenerscheinungen im „nahen“ Berlin Teil der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt des Westens und der kommunistisch-bolschewistischen Welt des Ostens sind. Daß die weltpolitische Spannung uns Deutsche besonders hart »betrifft“, lehrt uns die täglich bestätigte Einsicht in die schicksalhafte Lage des geteilten Deutschlands in der Mitte des gespaltenen Europas. Der Eiserne Vorhang durchschneidet ja nicht nur unser Land, sondern gerade die Zonengrenze ist heute der Teil der europäischen Trennungslinie, an dem das Attribut „eisern“, wie die Geschehnisse vor allem seit dem 13. August 1961 zeigen, sichtbar und furchtbar verifziert wird. Eine Reise in die meisten Ostblockländer ist für einen Westdeutschen heute in der Regel nur noch ein finanzielles Problem; dagegen ist es z. B. unmöglich, als Tourist in den Ostharz oder nach Rügen zu fahren! Der zweite Problemkreis, unser „nationales“ Ostproblem, nimmt zwar gegenüber dem ersten eine untergeordnete Rangstellung ein, doch stellt seine Bewältigung eine unerläßliche Voraussetzung für unser Selbstverständnis als Nation dar; dazu bedarf es einer Korrektur des bisher vorherrschenden Geschichtsbildes, das „einseitig durch die Zugehörigkeit der germanisch-romanischen Völkergruppe zum Kulturkreis des westlichen Abendlandes bestimmt war“
d) Die Ostfragen bieten in ihrer Komplexität und Aktualität ein Modell für die Erarbeitung grundlegender Kategorien, auf deren Ergebnis die weitere politische Bildungsarbeit sinnvoll aufbauen kann. Drei Schritte lassen sich hierbei feststellen:
aa) die Einführung in die Problematik der Beziehung zwischen Individuum und Staat durch die Analyse der Lebensordnungen in Mittel-deutschland, den östlichen Nachbarländern Deutschlands, der Sowjetunion und den übrigen Ländern des Ostens; bb) die Erhellung des Problems der Beziehung von Nation und Staat durch die Beschäftigung mit dem Werden und Zerfall der deutsch-westslawischen Schicksalsgemeinschaft im ostmitteleuropäischen Raum und mit der Bedeutung ihrer Wiederherstellung für den Bestand und die Zukunft Europas;
cc) die Vermittlung von Einsichten in das Wesen des Staates durch die Konfrontation des von der kommunistisch-bolschewistischen Ideologie bestimmten totalitären Machtstaates mit dem demokratischen Rechtsstaat.
Eng verbunden mit der Stiftung dieser Erkenntnis vollzieht sich die Weckung des Verständnisses für die Gesdtichtlichkeit des Menschen und aller menschlichen Ordnungen, eine Aufgabe, die angesichts der Traditionslosigkeit und des Traditionsmißbrauches — beides Erscheinungen, die in unserem Lande weit verbreitet sind — sehr ernst genommen werden muß.
Diese aufbauende Arbeit, die sich über eine geraume Zeit erstrecken muß, läßt sich an einem so komplexen Gegenstand, wie er sich uns in der Ostkunde mit ihren beiden Problemkreisen darbietet, in jedem Falle zielstrebiger und gediegener durchführen als in der wahllosen Beschäftigung mit tagespolitischen Fragen. Diese birgt nämlich die Gefahr in sich, daß durch eine „Flucht in die Aktualität“ die geistigen und realen Hintergründe des politischen Geschehens unerkannt oder mißverstanden bleiben. Daß damit keineswegs der methodische Wert des „aktuellen Einstiegs“ bestritten wird, ist oben bereits dargelegt worden. e) Die Auseinandersetzung mit dem „Gegenbild“ unserer demokratischen Gesellschafts-und Staatsordnung fördert die Bemühungen um die Gewinnung eines positiven Grundverhältnisses zur Demokratie besser als die Beschränkung auf deren innere Problematik, etwa anhand einer Interpretation des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland oder eines Vergleichs zwischen der deutschen und der amerikanischen bzw. britischen Demokratie. Der Weg zur Behandlung dieser Themen wird durch die vorherige Konfrontation von kommunistisch-totalitärer und demokratisch-freiheitlicher Lebensordnung sogar geebnet. Dasselbe gilt bezüglich der Bevorzugung der deutsch-slawischen gegenüber der deutsch-französischen Frage. Während sich nämlich die politischen und allgemein-menschlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem französischen Volke in den letzten Jahren zur Überraschung aller Beteiligten in erfreulichem Maße gebessert haben — von der wachsenden Verknüpfung der Wirtschaftsstrukturen ganz zu schweigen —, manifestiert sich im Verhältnis zwischen Deutschen und Westslawen die europäische Krise auch heute noch in ihrer vollen Problematik und Tiefe. Dies wird nicht nur in Begegnungen zwischen Deutschen und offiziellen Vertretern Polens und der Tschechoslowakei deutlich, sondern auch im Gespräch mit im Westen lebenden Emigranten aus diesen Ländern; die Krise kann daher mit dem Hinweis auf die gegenwärtigen ideologischen und machtpolitischen Spannungen nicht hinreichend erklärt werden. Andererseits sollte uns die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen den Mut geben, Wege zu einer Lösung des deutsch-slawischen Problems zu suchen und dabei die Notwendigkeit der Einigung Europas nachhaltig zu begründen.
Nach diesen beiden Vorbemerkungen möchten wir uns erlauben, allgemeine Gesichtspunkte zur Didaktik des Gegenstandes vorzutragen, und aufzuzeigen versuchen, wodurch der Inhalt, das „Was“ also, bestimmt ist. Anschließend sollen die, wie uns scheint, daraus erwachsenden Folgerungen für die Methodik erörtert und damit die Frage gestellt werden: kann man den „Wie gegebenen Gegenstand vermitteln?"
II. Gesichtspunkte zur Didaktik
Die Didaktik der Ostkunde ist durch die Prinzipien der allgemeinen Bildungslehre gegeben, die sich uns A) als Einsicht in den Bildungsgehalt und Bildungswert des Stoffes, B) als Einsidit in die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Lernenden und O als Einsicht in den geistigen Standort des Lehrenden kundtun. Erst auf der Grundlage dieser Einsichten ist die methodische Planung und Durchführung eines bestimmten Arbeitsvorhabens sinnvoll. Wesentlich ist in dieser grundsätzlichen Überlegung, daß den beiden ersten Einsichten in den einzelnen Bildungsbereichen eine jeweils unterschiedliche Bedeutung zukommt. So verlangt in der Jugendbildung das von der zweiten Einsicht bestimmte psychologische Moment entscheidende Beach-tung, weil die Auswahl der Bildungsgehalte auf die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen der Jugendlichen in den Perioden der Pubertät und Adoleszenz sorgfältig abzustimmen ist; demgegenüber ist die Arbeit in der Erwach-senenbildung in der Regel vom Primat des von der ersten Einsicht bestimmten thematischen Moments geprägt. Das situationsbedingte Zu-rüdetreten einer dieser beiden Einsichten bedeutet jedoch nicht ihr Verschwinden. Erst die Berücksichtigung aller drei Einsichten schafft die Voraussetzung für die pädagogische Wirksamkeit der geplanten Bildungsarbeit. Was lehren uns die drei didaktischen Grundeinsidtten?
A. Die Einsicht in den Bildungsgehalt und Bildungswert des zu vermittelnden Stoffes Die Einsicht in den Bildungsgehalt und Bildungswert des zu vermittelnden Stoffes gründet sich einerseits auf die Frage danach, wie und inwieweit die Behandlung gerade dieses Stoffes die allgemeine politische Bildung des Lernenden fördert. Daß die Ostkunde ein vorzügliches Modell hierfür bietet, wurde anfangs schon dargelegt. Zum anderen meldet sich die Frage nach Sinn und Ziel des spezifischen Gegenstandes zu Worte, die wir für unser Vorhaben so formulieren möchten: . Welche ostkundlichen Kenntnisse müssen dem Lernenden vermittelt werden, daß er mit ihrer Hilfe nicht nur das politische Geschehen der Gegenwart besser verstehen und kritischer beurteilen lernt, sondern darüber hinaus als verantwortungsbewußter Staatsbürger vertretbare Entscheidungen fällen kann, an welchem Platze in der demokratischen Lebensordnung auch immer diese von ihm verlangt werden?“ Die Antwort auf diese Frage erwächst nun aus der Thematik der beiden bereits eingeführten ostkundlichen Problemkreise. Wir beschränken uns in der vorliegenden Untersuchung auf den ersten Problemkreis, dessen Thematik wir im folgenden skizzieren.
Die Aufgabe, die Ursachen und Kräfte zu studieren, welche die Auseinandersetzung zwischen der .freien“ Welt des Westens und der kommunistisch-bolschewistischen Welt des Ostens bestimmen, verlangt, daß der Lernende den „Osten" in seiner gegenwärtigen Dynamik erfaßt. Daraus resultiert die Konzentration auf die Gegenwartsproblematik, die Gegenstand der -Sowjetologie" ist
Nach dieser generellen Bestimmung des dem ersten Problemkreis immanenten Bildungsgehaltes seien nun die im einzelnen notwendigen thematischen Ausgangsüberlegungen umrissen. Diese berühren zunächst (1— 3) die Kriterien für das Verstehen des Ostens von seinen inneren Voraussetzungen und Erscheinungen her und beinhalten dann (4— 6) die Problematik der Konfrontation zwischen freier und kommunistischer Welt. 1. Der . Osten“ ist keine „monolithische Einheit“; selbst in der Epoche der letzten Stalin-jahre entsprach diese weit verbreitete Vorstellung trotz der hegemonialen Macht des Diktators nicht der vollen Wirklichkeit. Neben Moskau haben sich im vergangenen Jahrzehnt Peking und Belgrad als ernstzunehmende Konkurrenten angemeldet, welche entscheidende Mitsprache an der Vollstreckung des Leninschen Testaments beanspruchen. Daneben spielen auch die übrigen Staaten des Ostblocks nicht mehr die „SateIIiten“ rolle, die man ihnen in unzureichend informierten Kreisen der westlichen Welt zuschreibt. Das gilt nicht nur für Polen, sondern auch für die unserem Blickfeld „ferner-liegenden“ Staaten wie Ungarn, Rumänien und Nord-Vietnam. Die durch die Presse gehenden Berichte, daß sich die Politik der „Deutschen Demokratischen Republik“ heute nicht mehr mit der Moskaus ohne weiteres deckt und in vieler Hinsicht aggressiver und härter als die des Kremls ist, verdienen in diesem Zusammenhang um so größere Beachtung, als die Betrachtung, der inneren Situation Mitteldeutschlands wie immer man sie erklären mag, gegenüber der in den übrigen Staaten des Ostens spezifische Merkmale zeigt.
Die in unseren Tagen ebenfalls sichtbar werdenden Eigenständigkeitsbestrebungen kommunistischer Parteien außerhalb des eigentlichen „Ostblocks“ seien in diesem Zusammenhang nur als ein Phänomen erwähnt, das möglicherweise bereits in naher Zukunft unsere gesonderte Aufmerksamkeit erfordern dürfte.
Die Kenntnisnahme dieses Faktums zeitigt zwei Folgerungen für unsere Arbeit: a) über allgemeine Erscheinungen des „Ostens“, die es selbstverständlich gibt, darf nur da gesprochen werden, wo dies berechtigt ist; b) die Behandlung von Ostfragen verlangt getrennte Untersuchungen über Erscheinungen und Probleme der einzelnen Länder des Ostens. Daß allein die jeweils spezifischen Bildungsziele und Unterrichts-bedingungen unterschiedliche Akzentuierungen notwendig machen, wird uns im methodischen Teil noch beschäftigen.
2. Der „Osten“ muß in seiner inneren Dynamik erkannt und behandelt werden, was nur möglich ist, wenn bei der Betrachtung der Geschehnisse und Dokumente das zeitgeschichtliche Moment gebührend berücksichtigt wird. Erlebnisberichte von Kriegsgefangenen über die Sowjetunion der späten Stalinjahre sind, • enn sich die Verfasser um Wahrheitsfindung und Sachlichkeit bemühen, „geschichtliche“ Quellen ersten Ranges, helfen uns aber bestenfalls nur dazu, Erscheinungen in der heutigen Sowjetunion von ihrer Vorgeschichte her zu begreifen. Wenn eingangs von den Gefahren der „Verniedlichung“ und „Verteufelung" des Ostens die Rede war, so scheint uns besonders die — unbewußt oder bewußt angewandte — ungeschichtliche Sichtweise die Ursache vieler Mißverständnisse und Verzerrungen zu sein. 3. Die Gesellsdtafts-und Staatsordnungen des „Ostens“ sind Lebensordnungen, welche Definition ja auch auf die westlichen Demokratien zutrifft. Wer ihre innere Entwicklung verstehen will, ist genötigt, die ihnen innewohnende Polarität von wisdier Lebenswirklidtkeit aufzuspüren, denn einerseits prägt die Ideologie der Realität ihren Stempel auf — man denke allein an die Wirksamkeit des monopolisierten Schul-und Erziehungswesens 1 —, zum anderen jedoch gebiert diese Realität eigene, von der Ideologie unabhängige, ihr sogar entgegenwirkende Tendenzen und zwingt die Ideologen zur Modifikation ihrer Thesen. Das Bemühen Chruschtschows, den Forderungen dieser Lebenswirklichkeit in seinem Lande gerecht zu werden, ohne die Ideologie in ihren Fundamenten in Frage stellen zu müssen, bildet, wie uns scheint, einen wesentlichen Ansatz zum Verstehen der „sowjetischen Gegenwart“. Die Beobachtung der jüngsten Entwicklung in den übrigen Staaten des Ostens führt zu ähnlichen Ergebnissen.
Die Behandlung von Ostfragen muß daher sowohl dem einen Pol, der heutigen Ideologie — in ihrer von Karl Marx und Friedrich Engels her entwickelten und mehrmals modifizierten Struktur — und dem ihren Interpreten zur Verfügung stehenden Machtapparat als auch dem anderen Pol, der eigendynamischen Lebenswirklicltkeit, gewidmet sein. Beim Studium dieser wiederum sind drei Faktoren zu untersuchen: a) der „personale“, nämlich die anthropologische Grundfrage nach dem Wesen des Menschen; b) der „nationale“ (oder „regionale“), wozu der Raum, noch mehr aber die Grundzüge aer Geschichte des Landes gehören; c) der „universale“, der sich aus der Auseinandersetzung mit der globalen Dynamik der modernen Industriegesellschaft herleitet (die Industrialisierung Rußlands ist zwar vom bolschewistischen Staat in gewalti-gern Ausmaße forciert und beschleunigt worden; die wirtschaftlichen und sozialen sowie möglicherweise auch die politischen Folgen äußern sich jedoch in Erscheinungen, die sich unabhängig von den Intentionen der Partei-und Staatsführung einstellen und die sich in allen Industriegesellschaften beobachten lassen). 4. Die soeben skizzierten Ausgangsüberlegungen haben miteinander gemein, daß sie sich auf das Bemühen um das Verstehen des „Ostens" von seinen inneren Voraussetzungen . und Erscheinungen her beziehen. Die politische Bildungsarbeit kann sich mit ihnen im Sinne der oben formulierten Zielsetzungen nicht begnügen, sondern muß den Lernenden als Angehörigen der westlichen Welt dazu führen, daß er den kowntunistischen Osten als Herausforderung (»challenge") erkennt. Dabei müssen neben dem militärischen und dem naturwissenschaftlichtedinisdien Bereich folgende Bereiche beachtet werden: a) der soziale Bereich, in dem die Sowjetunion — teilweise fiktiv, teilweise aber auch realiter — bemüht ist, die Chancen des gesellschaftlichen Aufstiegs gerechter, nämlich nach dem Leistungsprinzip, zu Vertilen;
b) der wirtschaftliche Bereich, in dem in der Sowjetunion möglicherweise Tendenzen einer Vermenschlichung der Arbeit (z. B. durch wesentliche Arbeitszeitverkürzung u. ä.) wirksam sind, die zwar auch in der westlichen Welt — und zwar bisher mit weit eindrucksvolleren Ergebnissen! — verfolgt werden, die aber auch bei uns noch keineswegs überholt sind und daher weiterhin bewußt vertreten werden müssen; c) der philosophische Bereich, wo aus dem Osten — insbesondere aus Polen, aber auch aus der Sowjetunion — in den letzten Jahren Diskussionen bekanntgeworden sind, die erkennen lassen, daß sich innerhalb der kommunistischen Ideologie die Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Individuum und Kollektiv aus der Stagnation der stalinistischen Epochen zu lösen scheinen, und zwar durch das bis dahin verbotene Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Wesen des menschlichen Glücks und dem Verhältnis von Leben und Tod; d) der pädagogische Bereich, in dem die Monopolisierung und Ideologisierung des Schul-und Erziehungswesens im Osten nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß dort für den Bereich der Lebenswirklichkeit, als dem einen Pol der Lebensordnung, wesentliche Bemühungen um eine sinnvolle Verbindung von Schule und moderner Arbeitswelt getätigt werden, die dem jungen Menschen den Weg von der „primären Gruppe“ zum „sekundären System“ ebnen sollen
Die Suche nach Möglichkeiten, dieser ernstzunehmenden Herausforderung zu begegnen, weckt und fördert die Frage nach dem eigenen Stand- ort und erweist sich somit als Motivation für das Studium der „westlichen Position“.
5. Die Konfrontation mit dieser Herausforderung des Ostens mündet in die Frage nach dem wesentlichen Unterscheidungskriterium zwischen kommunistisch-totalitärer und demokratisch-freiheitlicher Haltung im Denken und Handeln ein, welches das statische Element in der erwähnten Dynamik darstellt. Hierbei muß deutlich werden, daß der kommunistische Freiheitsbegriff, der auf Karl Marx zurückweist, für den Menschen der freien Welt deswegen unannehmbar ist, weil seine Interpreten nicht nur die Freiheit des geschichtlichen Menschen leugnen, indem sie die soziale Komponente des Mensch-seins absolut setzen und daher die personale negieren, sondern diese Vorstellungen auch, wie die Äußerungen S. Strumilins aus dem Jahre 1960 zeigen
B. Die Einsicht in die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Lernenden Wenn der Lehrer vor der Notwendigkeit steht, seine Einsichten in den Bildungsgehalt und Bildungswert des Stoffes in die Planung eines bestimmten Unterrichtsvorhabens zu transformieren, ist er, wie schon angedeutet wurde, gezwungen, in der Auswahl des Stoffes Akzente zu setzen und den Stil seines Unterrichts auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Lernenden abzustimmen. Tut er dies nicht, so begibt er sich von vornherein möglicher Chancen eines erfolgreichen Arbeitsverlaufs, der seine Schüler wie ihn selbst zu befriedigen vermag. Was muß bedacht werden, wenn man der Einsicht in die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Lernenden gerecht werden will?
1. Zum ersten entscheidet die Altersstufe der Schüler über Stoffauswahl, Unterrichtsstil und spezifisches Bildungsziel innerhalb des allgemei-nen Bildungsauftrages. Die „Grundstufe“ der politischen Bildungsarbeit, die den Abschnitt zwischen dem 7. und 10. Schuljahr umfaßt, ist dadurch gekennzeichnet, daß der Schüler an konkreten Sachverhalten, die dem Alltag der Gegenwart entnommen sind, oder an markanten historischen Geschehnissen in anschaulicher Form der situativen und pragmatischen Orientierung zugeführt wird
3. Schließlich sind in der konkreten Situation der voraussichtliche Wissensstand im Bereich der Ostkunde, die intellektuellen Voraussetzungen der Lernenden (Klasseniveau in der Schule, Schulbesuch und Beruf in der Erwachsenenbildung und der freien Jugendbildung) sowie die Interessenrichtung und der Leistungswille der Gruppe zu bedenken. Vor allem tm Bereich des freiwilligen Bildungserwerbs muß diesem Faktor Rechnung getragen werden, weil von ihm gewöhnlich Zeit und Energien abhängen, die der Lernende zu investieren bereit ist. Es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob sich ein Bildungsinstitut an Menschen wendet oder mit ihnen rechnen muß, die entweder bloße Information erstreben oder aber gewillt sind, inten- in den Gegenstand und seine Probleme einzudringen und durch eigene Lektüre die Gruppenarbeit zu bereichern.
Diese didaktisdie Vorüberlegung schließt die psychologische Erwägung nicht aus, daß die Planung eines Vorhabens zwar den „nur Informationshungrigen" entgegenkommt, die Darbietung — eine Vortragreihe etwa — aber so gestaltet wird, daß das Interesse für eine weitere und nun gründlichere Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Problemen geweckt wird. Wenn erreicht wird, daß sich Besucher einer von einer Volkshochschule veranstalteten Vortragsreihe z. B. über Städtebilder des „Ostens“, in der der Vortragende auch die Rolle der Architektur im totalitären Staat erläutert, im darauffolgenden Trimester in einem Seminar wiederfinden, dessen Thema die phänomenologische Betrachtung der heutigen Sowjetunion ist, kann dies der Veranstalter als erfreulichen pädagogischen Erfolg seiner Bemühungen buchen.
C. Die Einsicht in den geistigen Standort des Lehrenden Die Aufzählung der didaktischen Prinzipien wäre unvollständig, wenn man den geistigen Standort des Lehrenden vergäße. Die hierfür geforderte Einsicht äußert sich einmal für den Lehrer als kritische Beurteilung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten, als Selbsterkenntnis. also, zum anderen für den Leiter einer Schule oder eines anderen Bildungsinstituts als Bemühen, den oder die geeigneten Lehrer für ein Unterrichtsvorhaben zu gewinnen, in dem es darauf ankommt, einen bestimmten Stoff einer bestimmten Gruppe von Lernenden zu vermitteln. Zwei Fragen resultieren aus dieser didaktischen Einsicht: 1. Welcher Lehrer kommt auf Grund seiner speziellen ostkundlichen Kenntnisse und auf Grund seiner allgemeinen intellektuellen Substanz für den Unterricht in Frage? 2. Wer ist am besten geeignet, einen bestimmten Schülerkreis anzusprechen in bezug auf Vortragsstil, Kontaktfähigkeit, Gewandtheit in der Diskussionsleitung usw. Diese zweite Frage sollte auf keinen Fall, etwa aus Prestigegründen, bei der Planung des Vorhabens unterdrückt werden. Über den Erwägungen darüber, wie man die vorhandenen Lehrer und Dozenten so einsetzt, daß sie ihre ostkundlichen Kenntnisse der politischen Bildungsarbeit sinnvoll zur Verfügung stellen, dürfen die Bemühungen um die Heran-bildung geeigneter Lehrer nicht vergessen werden. Es genügt ja keineswegs, daß in Fachtagungen, die von den hierfür zuständigen Institutionen veranstaltet werden, qualifizierte Wissenschaftler zu Worte kommen, sondern die Kleinarbeit im Alltag der Schulen und den Instisiv tuten des freien Bildungserwerbs ermöglicht die erfolgreiche Auseinandersetzung mit den hier verhandelten ostkundlichen Problemkreisen.
Den verantwortlichen Behörden obliegt es daher, die Ausbildung von Fachkräften an den Universitäten und pädagogischen Hochschulen zu fördern, und zwar im Rahmen der vorhandenen Ausbildungsgänge. So ist z. B. vom künftigen Geschichts-und Gemeinschaftskundelehrer am Gymnasium zu verlangen, daß er sich während seines Unterrichtstudiums intensiv mit Ost-fragen auseinandersetzt. Daneben muß den Lehrerfortbildungswerken und staatlichen Akademien die Möglichkeit gegeben werden, Kurse und Tagungen abzuhalten, in denen die Lehrer, welche die Ostkunde an ihren Schulen und Instituten vertreten und betreuen, regelmäßig über den Forschungsstand unterrichtet werden, Gelegenheit zum Gedanken-und Erfahrungsaustausch erhalten und in didaktisch-methodischen und unterrichtspraktischen Fragen beraten werden.
Intellektuelle Substanz und Kontaktfähigkeit allein allerdings prägen nicht den geistigen Standort des Lehrenden. Von einem solchen kann erst dann gesprochen werden, wenn hinter der Sachkenntnis und Formbeherrschung das Verantwortungsbewußtsein dessen spürbar wird, der sich dem politischen Bildungsauftrag verpflichtet weiß. Es wäre eine Utopie, wollte man allein von institutionellen und organisatorischen Maßnahmen, so notwendig diese sind, die Verwirklichung der im eingangs erwähnten Gutachten des Deutschen Ausschusses ausgestellten Leitsätze erwarten. Der Erfolg aller Bemühungen hängt letztlich von der Resonanz ab, die sie beim einzelnen Lehrer auslösen.
III Gesichtspunkte zur Methodik mit besonderer Berücksichtigung der treien Jugendbildung und der Erwachsenenbildung
Die Folgerungen, die sich aus der Erhellung der didaktischen Prinzipien für die Methodik der Ostkunde ergeben, können in einer allgemeinen Betrachtung nicht abgehandelt werden. Detaillierte Untersuchungen wären hierfür nötig, in denen nicht nur die für unseren Gegenstand entwickelten didaktischen Einsichten auszuwerten wären, sondern auch für jeden einzelnen Schulberetch die Frage nach der jeweiligen Stellung der Ostkunde nicht nur innerhalb der politischen Bildungsarbeit, sondern auch im Gesamtgefüge des spezifischen Bildungsauftrags durchdacht, formuliert und an Einzelbeispielen veranschaulicht werden müßte. Die auf Grund der Kulturhoheit der Länder vorhandene Differenziertheit des westdeutschen Schulwesens in bezug auf Lehrpläne und Schultypen wird zudem in einem „Neuland" wie der Ostkunde noch stärker spürbar als im Bereich der tradierten Bildungsgüter. Diese Situation zeigt große Mängel, weil regionale Vorbehalte gegen die Intensivierung der ostkundlichen Arbeit leichter übersehen werden können, hat aber auch den Vorteil, daß die. im „Neuland* unerläßliche Experimentierfreudigkeit durch die Konkurrenz unter den regionalen Zentren politischer Bildung — in Gestalt der Landeszentralen für Heimatdienst und anderer Institute — gefördert wird Aus diesen Gründen wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung darauf verzichtet, die Methode der Ostkunde für die obligatorische Jugendbildung, d. h. für die verschiedenen Bereiche des Schulwesens, zu erörtern
A, Bemerkungen zur formalen Arbeitsgestaltung Bezüglich der formalen Arbeitsgestaltung sei besonders angesichts der schon erwähnten Gefahren darauf verwiesen, daß in jedem Unterrichtsgespräch und jeder Arbeitskreissitzung Sauberkeit und Korrektheit den Gang der Bemühungen bestimmen müssen; daß die Erörterung ostkundlicher Fragen oftmals in hitzige und vielleicht auch polemische Debatten einmündet, ist wegen der Aktualität des Gegenstandes und des „Betroffenseins“ der Beteiligten nicht zu vermeiden, doch muß der Lehrer darauf bedacht sein, daß solche Debatten stets wieder rasch der sachlichen Arbeit Platz machen.
Für die Behandlung der Problemkreise und der Einzelthemen ist wesentlich, daß dem Lernenden folgende Arbeitsbereiche als solche verdeutlicht werden: 1. die Wiedergabe des durch Zahlen und andere Daten belegten objektiven Sachverhalts (in ihrer inneren Problematik, weil jede Aussage von einem Subjekt getroffen wird, das allein durch die Auswahl des vorhandenen Materials Akzente setzt!);
2. die klärende und deutende Interpretation des Sachverhalts aus „östlichem" Munde (in Form primärer und sekundärer Quellen);
3. die Interpretation aus „westlidtem“ bzw.
„neutralem" Munde;
4. die Interpretation des Lehrers, die auf den ersten drei Aussagebereichen beruht;
5. die Stellungnahme des Lernenden selbst, die aus der Berücksichtigung aller übrigen Aussagebereiche erwachsen soll.
B. Allgemeine Gedanken über Art und Ort der Arbeit Die Beantwortung der Frage nach Art und Ort der Arbeit wird durch die in der freien politischen Bildungsarbeit allgemein üblichen Verfahren bestimmt:
1. Einzelvortrag und Vortragszyklus erfüllen den Zweck, durch Information über aktuelle Geschehnisse und Probleme das Interesse am Gegenstand zu wecken sowie nicht nur Inte-essierte, sondern auch — bzw. besonders auch I — die abseits Stehenden zu gewinnen. Auf die Auswertung des Ertrags solcher repräsentativer Darbietungen hat das veranstaltende Institut oder einladende Gremium keinen unmittelbaren Einfluß; sie bleibt der Neigung des einzelnen Hörers überlassen. 2. Wird eine solche Vortragsreihe mit regelmäßigen Kolloquien verbunden, im bestmöglichen Falle im Anschluß an jeden einzelnen Vortrag, so besteht die Chance der Klärung offengebliebener und mißverstandener Aussagen. Die Verbindung von Vortrag und Kolloquium ermöglicht dem Hörer nicht nur zusätzliche Information, sondern kann sich auch bei geschickter Gesprächsleitung als außerordentlich fruchtbare Motivation für die weitere Beschäftigung mit Ostfragen erweisen. 3. Während der Vortrag ohne oder mit Kolloquium unter optimalen Bedingungen beim . Neuling* nur Interesse und Problembewußtsein wecken kann, eröffnen erst der Arbeitskreis und das Seminar den Weg zu intensiver Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, in unserem Falle also mit den Problemen der Ostkunde. (Der Sachkundige schöpft dagegen aus jeder Darstellung allein auf Grund der individuellen Sicht des Vortragenden neue Anregungen!)
Der Quellenarbeit als Grundlage fundierter Beschäftigung mit Ostfragen gebührt dabei ein zentraler Platz in jedem Arbeitsgang, weil die Interpretation des Textes — sei es auch nur der Nachricht oder des Kurzberichts aus einer Tageszeitung — sowie die kritische Analyse eines Bildes, einer Lichtbildreihe, eines Filmes oder eine Schallplattenaufnahme den Lernenden mit den Gehalten vertraut macht, an deren Bewältigung er sich durch eigenes Denken und Fragen „bilden" kann. Unsere Vorbemerkungen und die darauffolgenden Ausführungen zur Didaktik dürften aufgezeigt haben, daß auch die Interpretation eines „schlechten* Textes in die politische Bildungsarbeit einbezogen werden sollte, damit der Lernende — auf allen Stufen — tendenziöse Darstellungen, mögen sie im Osten oder Westen erschienen sein, als solche erkennen und die in ihnen gewöhnlich enthaltene halbe Wahrheit von der Tendenz scheiden lernt. C Vorschläge zum thematischen Aufbau von Arbeitsgängen und Kursen Zum thematisdteH Aufbau werden im folgenden einige methodische Gesichtspunkte zur Diskussion gestellt, die sich für alle Bereiche des freiwilligen Bildungserwerbs, d. h. in Vortrags-zyklen, Arbeitskreisen und Seminaren unter Beachtung der didaktischen Prinzipien und der thematischen Ausgangsüberlegungen auswerten lassen
Die Einführung erfolgt sinnvollerweise durch einen Vortrag, in dem die allgeweine Analyse der heutigen Situation im »Osten“ mit dem Hinweis auf die oben dargestellten Faktoren, die zu ihrem Verständnis notwendig sind, verbunden sein sollte. Diese Einführung erleichtert bei straffer Darstellung und Gliederung den Einstieg in die exemplarisdte Behandlung des Gegenstandes, für die sich zwei Ausgangspunkte anbieten: 1. die Erörterung der Lage MitteldeutsMands, mit Herausarbeitung der Erscheinungen, welche 'das Leben des mitteldeutschen Menschen im Spannungsfeld von Ideologie und Realität cha-rakterisieren; 2. die Beschäftigung mit der Sowjetunion unter demselben Aspekt.
Im ersten Fall muß die Arbeit in die Erkenntnis einmünden, daß Mitteldeutschland als Folge des zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands in die Sowjetisierung Ostmitteleuropas einbezogen worden ist, und daß die Existenz und Funktionsfähigkeit der „Deutschen Demokratischen Republik“ im wesentlichen auf sowjetischen Garantien militärischer und politischer Natur beruht. Die Brücke zur Auseinandersetzung mit der Sowjetunion in einem zweiten Arbeitsgang ist damit geschlagen.
Der zweite Weg, dem wir den Vorzug geben, ist unter der Voraussetzung konzipiert, daß ungeachtet der ideologischen und realpolitischen Rivalitäten innerhalb des Ostblocks — vor allem in bezug auf die Spannung Moskau — Peking — die Sowjetunion das Zentrum der kommunisti-schen Welt ist (die Problematik der Spannung Moskau — Belgrad kann hier zurückgestellt werden). Die Auseinandersetzung mit den strukturellen Grundzügen der „DDR“ als des uns am stärksten „interessierenden“ Gliedes der kommunistischen Welt wird in diesem Falle von der Analyse der Sowjetunion her entwickelt.
Bei beiden Wegen beginnt die Arbeit mit einer pkänowenologisdten Betrachtung der jeweiligen Lebensordnung, wobei folgende Bereiche zweck-mäßigerweise berücksichtigt werden, damit die Fülle der Erscheinungen geordnet werden kann: a) die Ideologie in ihrer gegenwärtigen Struktur und Problematik (mit Beachtung ihrer Stellung innerhalb des Weltkommunismus); b) die Innenpolitik (vor allem in bezug auf das Verhältnis von Partei und Staat); c) Wirtschaft und Gesellschaft (mit Hervorhebung der durch die Entwicklung zur modernen Industriegesellschaft gestellten Probleme)
; d) Recht und Rechtsprechung (mit Klärung der normativen und realen Funktion des Rechtes in der kommunistischen Lebensordnung); e) Schulund Erziehungswesen (mit besonderer Berücksichtigung der „polytechnischen Bildung");
f) das religiöse Leben (in einem Staate, dessen Leitbild von einer atheistischen Ideologie bestimmt ist); g) Kunst und Literatur (mit Vergegenwärtigung der Lage des Künstlers im totalitären Staat); h) Naturwissenschaft und Technik (mit Betonung des Wettlaufs zwischen West und Ost in seinem realen und ideologischen Aspekt); 0 Probleme der Außenpolitik (mit Berücksichtigung der Beziehungen zu den übrigen Ostblockstaaten, zur „neutralen“ und zur „westlichen" Welt).
Ob diesen aufgewiesenen Bereichen jeweils eine Stunde gewidmet wird oder Erweiterungen bzw. Straffungen geboten sind, muß im Einzelfall entschieden werden. Fruchtbar ist diese phänomenologische Betrachtung nur dann, wenn einerseits an primären Quellen grundsätzlichen Inhalts (wie z. B. am neuen Parteiprogramm der KPdSU) und andererseits an Beispielen, die dem konkreten Alltagsleben entnommen sind, der jeweils wesentliche Gehalt verdeutlicht wird. Der Auswahl geeigneten Arbeitsmaterials kommt daher für die Vorbereitung große Bedeutung zu.
Der Gang des zweiten Kurses ist stark durch die vergleichende Methode geprägt. So ist z. B. beim Thema „religiöses Leben“ die spezifische Situation in Mitteldeutschland (evangelische und römisch-katholische Kirche) bzw. in der Sowjetunion (orthodoxe Kirche, Islam; bereits 45 Jahre währende Herrschaft des Bolschewismus) herauszuarbeiten. Die Erörterung der einzelnen Bereiche der sowjetischen Lebensordnung läßt notwendigerweise immer wieder die Frage nach den „russischen“ Wesenszügen im Verhalten des . Sowjetmenschen" aufkommen. Diese zentrale Frage motiviert einerseits die Behandlung der Crundzüge der russischen Geschichte und zum anderen die Beschäftigung mit der Genese der kommunistisch-bolschewistischen Ideologie, denen der folgende oder die folgenden Kurse gewidmet werden können. Der „Blick in die Geschichte“ ist gegenüber dem „Gang durch die Geschichte“ methodisch insofern schwieriger, als zunächst in der phänomenologischen Betrachtung der Gegenwart nur auf das geschichtlich „Bedeutsame" verwiesen wird — und das auzsuwählen und herauszuheben erfordert methodisches Geschicks Dem politischen Bildungsauftrag aber ist, wie bereits betont wurde, dieser „Blick in die Geschichte“ gemäßer, weil der Stoff selbst dem Lernenden ständig vor Augen führt, daß „sua res agitur“. Vor allem die mancherorts beliebte Analyse des „marxschen Menschenbildes“ ist für die politische Bildungsarbeit oftmals unfruchtbar, wenn nicht sogar gefährlich, weil sie gerade dort haltmacht, wo die Philosophie — mit ihren Bezügen zur Theologie — aufhört und die politische Praxis beginnt, also gerade an entscheidender Stelle. Die Zuordnung der Marxstudien zur Analyse der „östlichen“ Lebensordnung der Gegenwart provoziert dagegen geradezu die Frage nach den Ursachen der „Abweichungen“ Lenins und seiner Nachfolger von dem „ersten Klassiker“ Karl Marx und leitet zur Klärung hinüber, daß die Revolution in Ruß-land unter völlig anderen realen und geistigen Voraussetzungen als den von Marx angenommenen vorbereitet und durchgeführt werden mußte. Als methodisch sinnvoll erweist sich diese Herausarbeitung der Genese des russischen Bolschewismus mit seiner Partei der intellektuellen Berufsrevolutionäre durch dessen Vergleich mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie als echter Arbeiterpartei (bis 193 3).
Wie das Studium der Sowjetunion zur russischen Geschichte, so führt die Auseinandersetzung mit der mitteldeutschen Situation notwendigerweise zu den Grundfragen der deutschen Geschichte und zu den Elementen des „deutschen" Geschichtsbewußtseins. Der Schwimmende entdeckt also stets neue Ufer, doch diese uns ständig begleitende Erkenntnis darf weder die Konzentration auf einen jeweils bestimmten Bereich noch die Exemplifikation in diesem Bereich beeinträchtigen.
Nach der Erarbeitung des sowjetischen Modells (an erster Stelle oder im Anschluß an die Behandlung der SBZ) ist der Weg zur phänomenologischen und späteren historischen Betrachtung der Lebensordnungen in den übrigen Staaten des Ostens offen. Dabei nehmen einerseits Polen und die Tschechoslowakei als die Nachbarstaaten Deutschlands und andererseits China (im Hinblick auf die Entwicklung des Weltkommunismus und den Gang der Weltpolitik überhaupt) einen dominierenden Platz ein. Die methodische Planung und Durchführung orientiert sich auch hier daran, welche äußere — vor allem zeitliche — und innere Intensität dem bestimmten Vorhaben gewidmet werden kann, und berücksichtigt grundsätzlich denselben Weg wie bei der Betrachtung der Sowjetunion und Mitteldeutschlands Ein anderes Verfahren ist durch die Beschränkung auf die Untersuchung eines einzigen Lebensbereiches, etwa der Kunst (bzw. auch nur eines ihrer Teilbereiche, etwa der Architektur) bestimmt, den man durch alle oder einige Staaten des Ostens verfolgt. Ein Ertrag für die politische Bildung ist von einem solchen Arbeitsgang allerdings nur dann zu erwarten, wenn man im Modell der Sowjetunion die oben aufgewiesenen Grund-einsichten erarbeitet hat. Andernfalls bleibt die Erörterung des Gegenstandes in unserem Falle auf die ästhetische bzw. technologische Analyse beschränkt.
IV. Schlußbemerkungen
Wenn die vorliegende Untersuchung den Themen „USA", „Großbritannien" oder „Frankreich“ gewidmet wäre, würden wir gewiß am Ende konkrete Hinweise darauf zu geben versuchen, auf welche Weise die geistige Auseinandersetzung zugleich zur Vorbereitung einer Studienreise bzw eines Sdiüleraustausdies werden könnte, die nicht nur den sinnvollen Abschluß der Arbeit, sondern auch Anregung und Ausgang für weiteres Bemühen bildeten. Allein das Fehlen eines deutsch-sowjetischen Kultur-abkommens und des Vorhandenseins diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den übrigen Staaten des Ostblocks, von anderen Hindernissen zu schweigen, mögen die Überlegungen als verfrüht erscheinen lassen, ob und inwieweit es einmal Schulen und anderen Bildungsinstitutionen möglich sein wird, Studienreisen, die innnerhalb der westlichen Welt selbstverständlich geworden sind, auch nach dem Osten durchzuführen. Daß solche — gut vorbereitete! — Reisen von unschätzbarem Wert für die politische Bildungsarbeit sein könnten, bedarf wohl keiner besonderen Begründung, wenngleich die Schwierigkeiten, die durch die allgemeine politische Lage bedingt sind, nicht unterschätzt werden dürfen.
Wir möchten unsere Ausführungen damit beschließen, daß wir noch einmal die Aufmerksamkeit des Lesers auf das dritte didaktische Prinzip, nämlich die Einsicht in den geistigen Standort des Lehrers, lenken. Die sorgfältigste didaktische und methodische Planung und die gründlichste Auseinandersetzung mit dem objektiven Sachverhalt dienen nur dann den Zielen der politischen Bildung, wenn der Lehrer glaubwürdig erscheint. Diese Glaubwürdigkeit kann nur erwachsen aus der Überzeugung von dem Wert einer „offenen Freiheit“, zu der auch die Möglichkeit gehört, „sich um die Deutung und Verwirklichung der Freiheit selbst in vielfältiger Weise zu bemühen"
Gerade diese Offenheit muß den Lehrenden davor bewahren, „schulend“ oder „unverbindlich“ zu wirken. Während der erste Irrweg — und sei es auch nur durch die Verkündung „moralischer Schwänzchen", die der Lehrer an den Schluß seines Unterrichts setzt! — die Gefahr der Aufrichtung einer „antibolschewistischen Ideologie“ in sich birgt, mündet der zweite notwendigerweise in einen nicht weniger abzulehnenden „neutralen“ Intellektualismus ein. Wie in der Beschäftigung mit allen anderen Gehalten der politischen Bildung ist es dem Lehrer auch in der Behandlung von Ostfragen nicht nur möglich, den Lernenden Kenntnisse zu vermitteln und sie zu weiterem Studium anzuregen, sondern er vermag ihnen darüber hinaus zu helfen, Gesichtspunkte zur Gewinnung eines eigenen politischen Standortes zu finden, durch Inhalt und Stil seines Vortrags, mehr aber noch durch das Argument in dem sich anschließend entzündenden Gespräch.
Die pragmatische und erst recht die existentielle Entscheidung allerdings beginnen erst dort, wo Studium und Diskussion enden. Wenn jedoch, so meinen wir, die Lernenden spüren, daß der Lehrer in seinem Wirken selbst um Deutung und Verwirklichung der „offenen Freiheit“ ringt, sich also selbst im Stadium des „sich politisch Bildenden“ befindet, mag ihnen das ein nicht zu unterschätzender Ansporn zum eigenen Suchen und im bestmöglichen Falle zum eigenen Engagement zu werden. Damit wäre dann an einer Stelle das Fundament für die Entfaltung einer freiheitlichen Ordnung gelegt; das ist die Aufgabe, der sich der einzelne Lehrer unterziehen soll und kann.