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Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages | APuZ 26/1962 | bpb.de

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APuZ 26/1962 Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages

Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages

WALTER GROTTIAN

Fortsetzung:

III. Einige Überraschungen während der Konferenz von Genua

Abbildung 1

Die bereits geschilderte französisch-britische Uneinigkeit hielt auch in den letzten Tagen vor dem Beginn der Konferenz von Genua an. Die französische Delegation drohte, der Konferenz fernzubleiben, falls die sowjetische Delegation nicht vorher Garantien gebe, daß sie die Resolution von Cannes vom 6. 1. 1922 wirklich anerkenne. Hätte die Resolution von Cannes nur die erwähnten Prinzipien der Koexistenz von Staaten mit verschiedenen Strukturen und nur allgemein gehaltene Hilfsmaßnahmen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau besonders hart betroffenen Länder verkündet, dann wäre es bei der Freiheit der Interpretation nicht klar gefaßter Formulierungen der sowjetischen Delegation leicht gefallen, dem französischen Wunsch zu entsprechen. In der Resolution von Cannes wurden jedoch eine Reihe viel enger gefaßter Forderungen ausgenommen, die für die Sicherheit der Kreditgeber vor Verlusten als unerläßlich betrachtet wurden So forderte die Resolution, daß die ausländischen Personen und Gruppen, die Kapital einem wirtschaftlich schwachen Staat zur Verfügung stellen, die Unantastbarkeit dieses Kapitals und einen Gewinn aus ihrer Kapitalanlage garantiert erhalten. Um dieses Gefühl der Sicherheit für den Kreditgeber zu schaffen, war es der Resolution zufolge notwendig, daß alle Nationen, die ausländische Kredite zu erhalten wünschen, sich freiwillig verpflichteten: 1. alle öffentlichen Schulden, die ein Staat und die ihm untergeordneten öffentlichen Einrichtungen gemacht haben oder machen werden, anzuerkennen, und sich ausdrücklich zu verpflichten, diese Schulden zurückzuzahlen und alle Verluste zu ersetzen, die den ausländischen Besitzern durch die Enteignung oder Beschlagnahme des Vermögens entstanden sind: 2. Gesetze zu erlassen und ein Gerichtsverfahren wiederherzustellen, die eine unparteiische Erfüllung von Handels-und anderen Kontrakten sichern.

Ohne Sowjetrußland dabei zu nennen, dachten die Verfasser der Resolution von Cannes vor allem daran, mit diesen Bedingungen Sowjetrußland zu einem Verzicht auf eine bisher geübte Praxis zu bewegen. Sie erwarteten damit von Sowjetrußland die Anerkennung der Schulden des zaristischen und des demokratischen Ruß-land durch das bolschewistische Rußland. Ebenso sollte Sowjetrußland die Verpflichtung anerkennen, die Sozialisierung einer Reihe ausländischer Betriebe in Sowjetrußland entweder rückgängig zu machen oder eine angemessene Entschädigung den einstigen ausländischen Eigentümern zu zahlen. Der Hinweis auf die notwendigen Änderungen der Gesetze und des Gerichtsverfahrens im Sinne von Unparteilichkeit griff indirekt die sowjetische Klassenjustiz an; richtete sich doch die sowjetische Justiz eindeutig u. a. gegen die „Kapitalisten" jeglicher Art.

Der in Genua eingetroffenen Delegation aus Sowjetrußland mußte es natürlich sehr schwer fallen, Garantien im Sinne der Erfüllung der Bedingungen der Resolution von Cannes überhaupt zu geben, ganz abgesehen davon, daß Frankreich solche Garantien bereits vor dem Beginn der Konferenz von Genua forderte. Tschitscherin und Litwinow, der Führer bzw.der stellvertretende Führer der sowjetischen Delegation von Genua, wurden über die französische Stellungnahme bei dem Gespräch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Facta und dem italienischen Außenminister Schanzer am 9. April unterrichtet. Die Lage für Tschitscherin und Litwinow sah nur im ersten Augenblick ungünstig aus. Beide erkannten bei ihrem Gespräch mit den genannten Italienern deutlich, wie wenig von einer Einigkeit unter den drei europäischen Mächten Frankreich, Großbritannien und Italien die Rede sein konnte. Noch am gleichen Tage sandte Litwinow ein Telegramm nach Moskau, worin er die Uneinigkeit und Unsicherheit der westeuropäischen Regierungen schilderte. Anders ließ sich die im Namen von Lloyd George durch den italienischen Außenminister Schanzer ausgesprochene Bitte um ein braves Verhalten der sowjetischen Delegation auf der letzten Sitzung der

Konferenz nicht auslegen. Es fiel Litwinow nicht schwer, daraus befriedigende Folgerungen für die Position Sowjetrußlands zu ziehen: „Heute trafen wir uns, Tschitscherin und ich, mit dem italienischen Premierminister und mit Schanzer und erläuterten das Arbeitsprogramm. Anscheinend versuchen die Franzosen immer noch die Konferenz zu sprengen, indem sie mit der Abreise für den Fall drohen, daß sie von uns im voraus keine Garantien erhalten. Lloyd George und die Italiener, die eine Sprengung befürchten, schlagen den Franzosen eine Kompromißlösung vor, nämlich: die russische Delegation nimmt an der Eröffnung teil, erhält das Wort ebenso wie die alliierten Länder und Deutschland, dann werden vier Kommissionen gewählt — eine für die russische Frage und drei für ökonomische Fragen. Die russischen Delegierten nehmen vorläufig an der ersten Kommission teil und werden, je nach den dort vorgesehenen Vereinbarungen, in den übrigen Kommissionen zugelassen. Die Franzosen sind auch damit nicht einverstanden; auch wir protestieren. Schanzer hat uns im Namen von Lloyd George flehentlich gebeten, in der ersten Rede alle Streitfragen zu vermeiden und wenigstens obenhin die Annahme der Resolution von Cannes zu erwähnen. Daraus geht klar hervor, daß sie uns keineswegs durch diese Resolution für gebunden halten."

Mit Recht konnte Litwinow so folgern, d. h. die sowjetische Delegation brauchte einen Ausschluß von dieser Konferenz nicht zu befürchten. Je nach den Reden der Vertreter der anderen Mächte auf der bevorstehenden Konferenz ergaben sich Möglichkeiten oder Hindernisse, die der sowjetischen Delegation ein provozierendes oder sehr vorsichtiges Auftreten nahelegen würden. 1. Reden zur Eröffnung der Konferenz Zur Eröffnung der Konferenz am 10. April 1922, an der die Vertreter von 29 europäischen Staaten teilnahmen, begrüßte zunächst der italienische Ministerpräsident Facta die erschienenen Teilnehmer, skizzierte die allgemeine wirtschaftliche Lage in Europa und die Notwendigkeit, diese Not durch gemeinsame Anstrengungen zu überwinden. Mehrfach betonte er den Segen des Friedens für die Völker. Diese, durch originelle Gedanken sich nicht auszeichnende Rede, wird hier nur erwähnt, weil sie bei allen freundlichen Worten auch für Sowjetrußland, dieses Land indirekt noch einmal auf die Bedingungen der Einladung zu dieser Konferenz hinwies: „Bevor ich das Wort denen erteile, die zu sprechen wünschen, möchte ich Ihnen folgende Erklärung vorlesen: , Die gegenwärtige Konferenz ist einberufen auf der Grundlage der Resolutionen von Cannes. Diese Resolutionen wurden allen Mächten mitgeteilt, die die Einladung erhalten haben. Gerade die Tatsache der Annahme der Einladung beweist schon, daß alle, die sie angenommen haben, dadurch die Prinzipien angenommen haben, die in den Resolutionen enthalten sind.'“

Das war eine Deutung, die manchen Anhänger der Logik gleich zu befriedigen vermochte. Ob die eingeladene und anwesende sowjetische Delegation sich durch die indirekte Ermahnung bedrängt fühlte und danach ihr Handeln ausrichten würde, konnten erst die folgenden Tage klären.

Als zweiter Redner ergriff der französische Delegationsführer Barthou das Wort. Die ablehnende Haltung gegenüber den Aufgaben dieser Konferenz, gegen die Teilnahme der sowjetischen Delegation unter für Frankreich unerwünschten Bedingungen einerseits, und die Rücksicht auf die Verbündeten Frankreichs andererseits, stellten die französische Regierung vor ein Dilemma. Sich weder für die volle Ablehnung noch für die volle Unterstützung der Konferenz entscheidend, beschloß Poincare als französischer Ministerpräsident und Außenminister an dieser Konferenz persönlich nicht teilzunehmen. Statt dessen beauftragte er seinen Justizminister, die französische Delegation zu führen. Barthou unterstrich in seiner Rede die unantastbaren Rechte Frankreichs, die kein Hindernis für die Konferenz sein könnten und warnte die Konferenz davor, sich zum Richter über bestehende Verträge zu erheben. Nach seiner Meinung sollten nur Finanz-und Wirtschaftsfragen auf dieser Konferenz frei diskutiert werden. Auch er bezog sich auf die Resolution von Cannes und verlangte ihre Beachtung durch die Teilnehmer der Konferenz.

Der dritte Redner, der eigentliche Initiator der Konferenz, der britische Premierminister Lloyd George, sprach verbindlicher als Barthou über die verschiedenen Aufgaben der Konferenz und der Völker, beschränkte sich aber bei dem Thema „Resolution von Cannes“ wider Erwarten nicht auf allgemein gehaltene Sätze. Er zählte noch einmal die verschiedenen Bedingungen in der Resolution von Cannes auf und zog ähnliche Folgerungen wie der italienische Ministerpräsident Facta. Jeder, der die Einladung nach Genua annahm, hatte in der Sicht von Lloyd George damit die Bedingungen der Resolution von Cannes angenommen.

Mit solchen mehr oder weniger versteckten Winken für die sowjetische Delegation wuchs das Interesse besonders an der kommenden Erklärung des sowjetischen Delegationsführers Tschitscherin. Nach Reden der Führer der japanischen, der belgischen und der deutschen Delegation wurde Tschitscherin das Wort erteilt. Damit trat zum erstenmal vor einer internationalen Versammlung von Vertretern bürgerlicher Staaten der Vertreter eines eingeladenen Staates auf, der den gewaltsamen Sturz der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung in der ganzen Welt nicht nur in zahlreichen Erklärungen angekündigt, sondern bisher auch möglichst alle revolutionären Strömungen in anderen Staaten, die gleiche Ziele verfolgten, unterstützt hatte. Schon allein diese Tatsache sicherte der Rede Tschitscherins ein besonderes Interesse der anderen Konferenz-teilnehmer. Von dieser Rede erwarteten sie aber auch eine eindeutige Stellungnahme zu den in Cannes formulierten Bedingungen der Zusammenarbeit.

Tschitscherin leitete seine Rede mit mehrfachen Bekenntnissen zum Frieden ein. Er betonte die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen kommunistisch geführten und anderen Staaten auf der Grundlage der „parallelen Existenz“ von unterschiedlich organisierten Staaten, wobei er den zeitlich beschränkten Charakter dieses Zustandes hervorhob: „Indem sie auf dem Standpunkt der Prinzipien des Kommunismus bleibt, erkennt die Russische Delegation an, daß in der gegenwärtigen Epoche, die eine parellele Existenz der alten und der entstehenden neuen gesellschaftlichen Ordnung möglich macht, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten, die diese beiden Eigentumssysteme darstellen, gebieterisch notwendig ist für die allgemeine wirtschaftliche Wiederherstellung. Die russische Regierung mißt dabei die größte Bedeutung dem ersten Punkt der Resolution von Cannes bei: über die gegenseitige Anerkennung der verschiedenen Eigentumssysteme und der verschiedenen politischen und ökonomischen Formen, die gegenwärtig in den verschiedenen Ländern bestehen. Die russische Delegation ist nicht hier erschienen, um ihre eigenen theoretischen Ansichten zu propagieren, sondern weil sie für geschäftliche Beziehungen mit den Regierungen und den Handels-und Industriekreisen aller Länder auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, der Gleichberechtigung und der vollen und bedingungslosen Anerkennung eintritt.“

Er war in diesem Zusammenhang bereit, den ersten Punkt der Resolution von Cannes anzuerkennen, d. h. jene Leitsätze über die von London und Paris vorgeschlagene Koexistenz, die keine konkreten Verpflichtungen für Sowjetrußland mit sich brachten. Dagegen lehnte er verhüllt die ganze übrige Resolution von Cannes ab, indem er das Erscheinen der sowjetischen Delegation in Genua mit der Forderung nach geschäftlichen Beziehungen zu anderen Staaten u. a. auf der Grundlage „der vollen und bedingungslosen Anerkennung“ begründete. Das stand, von Tschitscherin unausgesprochen, im Gegensatz zu den Bedingungen in der Resolution von Cannes über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ohne sich um diese Bedingungen zu kümmern, forderte Tschitscherin zu einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf und versuchte seinen Zuhörern den wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands durch die Hilfe anderer Staaten als unerläßlich darzustellen, wenn die anderen Staaten in ihrem eigenen Interesse eine wirtschaftliche Gesundung ganz Europas anstrebten. Um den anderen Staaten größere Opfer für den Wiederaufbau der damals chaotischen Wirtschaft Sowjetrußlands anziehend zu machen, schilderte er im Anschluß daran die verlockenden Aussichten für westliche Kapitalinvestitionen besonders in Sibirien und die leich-ten Möglichkeiten der Bereitstellung der dafür erforderlichen Kapitalien: „Das Problem der Wiederherstellung der Weltwirtschaft ist unter den gegenwärtigen Bedingungen so unermeßlich und breit, daß es nur gelöst werden kann, wenn alle euro-päischen und nichteuropäischen Länder den aufrichtigen Wunsch zu einer Koordination ihrer Handlungen haben und notfalls zu zeitweiligen Opfern bereit sind. Die wirtschaftliche Wiederherstellung Rußlands als des größten Staates in Europa, der unzählige Vorräte an natürlichen Reichtümern besitzt, ist die unabänderliche Bedingung einer allgemeinen wirtschaftlichen Wiederherstellung. Ruß-land seinerseits erklärt seine volle Bereitschaft, die Lösung der vor der Konferenz stehenden Aufgaben mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern — und diese Mittel sind bei weitem nicht klein.

Indem sie den Bedürfnissen der Weltwirtschaft und der Entwicklung ihrer Produktivkräfte entgegenkommt, ist die russische Regierung bewußt und freiwillig bereit, ihre Grenzen für internationale Transitwege zu öffnen, zur Bearbeitung von Millionen Desjatinen von fruchtbarstem Land 55a), die reichsten Holz-, Steinkohlen-und Erzkonzessionen einzuräumen, besonders in Sibirien, und auch eine Reihe anderer Konzessionen auf dem gesamten Territorium der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, und beabsichtigt eine solche wirtschaftliche Zusammenarbeit der westlichen Industrie mit der Landwirtschaft und Industrie Rußlands und Sibiriens, die die Rohstoff-, Getreide-und Brennstoff-grundlage der europäischen Industrie in einem Ausmaß erweitern kann, das das Vorkriegsniveau weit überschreitet. Ein ausführlicher Entwurf des Planes der allgemeinen Wiederherstellung kann von der russischen Delegation während der Konferenz vorgelegt werden. Für die volle Möglichkeit seiner Verwirklichung vom finanziell-wirtschaftlichen Standpunkt aus spricht schon jene Tatsache, daß die Kapitalien, die jedes Jahr in diese Sache, die die Zukunft der europäischen Industrie sichert, investiert werden sollen, nur einem kleinen Teil der jährlichen Ausgaben für die Armee und Flotte der Länder Europas und Amerikas gleichkommen würden."

Der Eindruck großer sowjetischer Aufgeschlossenheit für eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit kapitalkräftigen Staaten anderer gesellschaftlichen Struktur sollte einen Ausgleich gegenüber den erhofften finanziellen Opfern dieser Staaten für den wirtschaftlichen Wiederaufbau (Sowjetrußlands) bieten. Tatsächlich ging es Tschitscherin nur um den Eindruck, während das letzte Ziel nicht auf eine dauernde enge wirtschaftliche Verflechtung Sowjetrußlands mit anderen Staaten, sondern auf die Schaffung einer von den anderen Staaten unabhängigen Wirt-schaft gerichtet war. Lenin hat sich zu diesem Ziel sowohl als Theoretiker des Kommunismus als auch als Vorsitzender der Sowjetregierung bekannt. So erklärte er z. B. über den Sinn eines geplanten Handelsabkommens mit Großbritannien am 21. 12. 1920: „Unser Ziel ist gegenwärtig ein Handelsabkommen mit England zu erlangen, um einen regelmäßigen Warenaustausch aufzunehmen, um für unsere großzügigen Pläne des Wiederaufbaus der Volkswirtschaft die Möglichkeit zu bekommen, die notwendigen Maschinen aufs schnellste einzukaufen. Je schneller wir das tun, eine desto festere Grundlage werden wir für die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den kapitalistischen Ländern haben.“

Solange die sowjetische Wirtschaft wegen ihrer Rückständigkeit und Schwäche auf die Zusammenarbeit mit den Wirtschaften anderer Staaten angewiesen ist, ist es nach Lenin der Sinn des Warenaustausches und der Aufnahme ausländischer Kredite, die sowjetische Wirtschaft so zu stärken, daß sie die dringend benötigten Einfuhrprodukte durch Eigenerzeugung Schritt für Schritt ersetzt. Lind das Ziel der schließlichen Unabhängigkeit der sowjetischen Wirtschaft ist nach Lenin einem weiteren Ziel untergeordnet: die einstigen Kreditgeber und Warenlieferanten wirtschaftlich zu besiegen. Lenin sagte hierzu in der erwähnten Rede vom 21. 12. 1920: „Wenn wir den Warenaustausch mit dem Ausland wollen — wir aber wollen ihn, wir sehen seine Notwendigkeit ein —, so sind wir hauptsächlich daran interessiert, möglichst schnell von den kapitalistischen Ländern diejenigen Produktionsmittel (Lokomotiven, Maschinen, elektrische Apparate) zu erhalten, ohne die wir unsere Industrie halbwegs ernsthaft nicht wiederherstellen können, mitunter aber sie überhaupt nicht wiederherzustellen imstande sind, weil unsere Fabriken die notwendigen Maschinen nicht bekommen können. Es gilt, den Kapitalismus durch große Profite zu bestechen. Er wird einen Überprofit ein-heimsen. Mag er nur diesen Überprofit ein-stecken. Wir werden das Wesentliche bekommen, mit dessen Hilfe wir uns befestigen, endgültig auf die Beine kommen und ihn wirtschaftlich besiegen werden.“

Von diesen Zielen aus gesehen, war der Sinn der von Tschitscherin angebotenen Konzessionen im Steinkohlenund Erzbergbau, in der Wald-und Landwirtschaft Sowjetrußlands für ausländische Privatpersonen, daß sie die sowjetische Wirtschaft sehr kräftigen und ungewollt damit zur sowjetischen Unabhängigkeit von der Weltwirtschaft beitragen.

Mit dem Angebot Tschitscherins zur Vergebung von Konzessionen in Sowjetrußland an ausländische Kapitalgeber verfolgte Lenin nicht nur das Ziel, mit ausländischer Kapitalhilfe die sowjetische Wirtschaft für sowjetische Fernziele zu kräftigen. Seine politischen Hintergedanken richteten sich dabei u. a. auf die Hoffnung, mit der Vergabe von Konzessionen an die verschiedenen kapitalistischen Staaten die Gegensätze zwischen diesen Staaten im Wettbewerb um diese Konzessionen anzustacheln. Dies sollte diese Staaten insgesamt schwächen zugunsten eines inzwischen militärisch und wirtschaftlich erstarkenden Sowjetrußland. In der bis 1924 geheim gehaltenen Rede Lenins vor den Moskauer Zellensekretären der KP am 26. 11. 1920 machte er auf die politische Bedeutung der Konzessionen u. a. wie folgt aufmerksam: „Das Wesentliche in der Frage der Konzessionen ist vom politischen Standpunkt — und hier spielen sowohl politische als auch wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle — jene Regel, die wir nicht nur theoretisch erfaßt, sondern auch praktisch angewandt haben und für die uns lange Zeit, bis zum endgültigen Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt, die Grundregel bleiben wird, nämlich: daß man die Gegensätze und Widersprüche zwischen zwei Kapitalismen, zwischen zwei Systemen kapitalistischer Staaten ausnutzen und sie gegeneinander hetzen muß. Solange wir nicht die ganze Welt erobert haben, solange wir wirtschaftlich und militärisch schwächer sind als die übrige kapitalistische Welt, solange haben wir uns an die Regel zu halten, daß man es verstehen muß, sich die Widersprüche und Gegensätze zwischen den Imperialisten zunutze zu machen.“

Gute Aussichten für eine Verschärfung der Gegensätze zwischen den Vereinigten Staaten und den kapitalistischen Staaten Europas, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan, zwischen Deutschland und den westeuropäischen Staaten eröffneten sich nach Lenin durch die Gewährung von Konzessionen an die Kapitalisten jener Staaten: „Das sind die Gegensätze, die das ganze Spiel der Imperialisten hoffnungslos verwirren. Das aber ist das Wesentliche. Und eben deshalb müssen wir vom politischen Standpunkt mit unserem ganzen Herzen — oder besser — mit unserem ganzen Verstand für die Konzessionen eintreten.“

Wohl kaum einem Vertreter anderer Staaten auf der Genueser Konferenz waren diese sowjetischen Hintergedanken klar, als Tschitscherin in seiner Rede unter dem Schein einer gewollten großzügigen internationalen Zusammenarbeit zahlreiche Möglichkeiten von Konzessionen für ausländische Unternehmen in Europäisd-Rußland und besonders in Sibirien aufzeichnete. Nach dieser Darlegung hielt es Tschitscherin für angebracht, noch einmal die Resolution von Cannes zu erörtern. Als Meister schillernder sprachlicher Wendungen verstand es Tschitscherin, die Resolution von Cannes einerseits „zur Kenntnis zu nehmen", andererseits sie „anzuerkennen“ und dieses Bekenntnis durch die Ankündigung von Korrekturen und Ergänzungen zu der Resolution von Cannes wiederum seines Sinnes zu berauben: „Indem die russische Delegation diese Vorschläge macht, nimmt sie zur Kenntnis und erkennt im Prinzip die Leitsätze der Resolution von Cannes an, wobei sie sich das Recht vorbehält, sowohl ihre ergänzenden Punkte anzubringen als auch die bestehenden zu verbessern. Jedoch wird die Sache der wirtschaftlichen Wiederherstellung Rußlands und damit der Versuch, dem wirtschaftlichen Chaos in Europa ein Ende zu setzen, auf einen falschen und unheilvollen Weg gelenkt, wenn die wirtschaftlich stärkeren Nationen, anstatt die für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands notwendigen Bedingungen zu schaffen und seinen Weg in die Zukunft zu erleichtern, es mit die Kräfte übersteigenden Forderungen belastet, die von ihrer haßerfüllten Vergangenheit zurückgeblieben sind."

Trotz dieser verhüllten Absage an die Resolution von Cannes als Ganzes, konnte Tschitscherin seine Rede fortsetzen und die Behauptung hinzufügen, daß alle juristischen Garantien für die erwähnten ausländischen Kapitalgeber bereits vorhanden seien: »Wir halten es für notwendig, hierauf in gleicher Weise zu erklären, daß die letzten Maßnahmen, die von der russischen Regierung auf dem Gebiete der inneren Gesetzgebung durchgeführt wurden, die der neuen ökonomischen Politik Rußlands entsprechen, den in der Resolution von Cannes enthaltenen Wünschen entgegenkommen, die die juristischen Garantien berühren und notwendig sind für die wirtschaftliche Zusammenarbeit von auf dem Privateigentum beruhenden Staaten mit Sowjetrußland.“ 61)

Die hinter dieser Behauptung stehende Realität war gerade das Gegenteil dessen, was sich die Verfasser der Resolution von Cannes vorgestellt hatten. Sie wünschten vom Sowjetstaat unabhängige Gerichte zum Schutz der neu zu investierenden Kapitalien in Sowjetrußland, um die ausländischen Kapitalgeber der sowjetischen Klassenjustiz, d. h. ihrer Parteilichkeit zu entziehen. Was Lenin in seinem Dekret über die Gewährung von Konzessionen an ausländische Kapitalisten versprach, waren nur sowjetische Staatsgarantien für die ausländischen Kapitalinvestitionen. Garantien dieser Art erschienen den Verfassern er Resolution von Cannes höchst fragwürdig. Daher ihre Forderung nach vom Sowjetstaat unabhängigen Gerichten für Entscheidungen von etwaigen Streitigkeiten zwischen der Sowjetregierung und den ausländischen Inhabern von Konzessionen in Sowjetrußland. Nach Lenin sollten für solche Streitfragen nur die vom Staat abhängigen sowjetischen Gerichte zuständig sein: „Wir garantieren, daß der ins Unternehmen gestechte Besitz nicht konfisziert und nicht requiriert wird. Andernfalls können natürlich das Privatkapital und der Privatbesitzer keine Beziehungen zu uns aufrechterhalten. Aber hier ist die Frage der Gerichte ausgeschaltet worden, die zuerst im Vertragsentwurf berührt war. Später erkannten wir, daß das für uns vorteilhaft ist. Die richterliche Gewalt bleibt also auf unserem Territorium in unseren Händen. Im Falle eines Konfliktes werden unsere Richter über die Frage entscheiden. Das wird nicht eine Requisition sein, sondern die Anwendung der gerichtlichen Rechte unserer Gerichtsbehörden.“

Aus diesem Kommentar Lenins in seiner Rede vom 21. 12. 1920 ging seine Absicht hervor, zu'einem späteren, günstigeren Zeitpunkt die den Ausländern gehörenden Konzessionsbetriebe durch die sowjetischen Gerichte einziehen zu lassen. Sowjetische Gerichte, ebenso ein Instrument der Kommunistischen Partei wie die Gewerkschaften, der Kommunistische Jugendverband usw., würden z. B. die geplante staatliche Enteignung eines privaten ausländischen Konzessionsbetriebes in die Form eines Gerichtsbeschlusses auf Grund angeblicher Verfehlungen des ausländischen Inhabers des Konzessionsbetriebes kleiden und dadurch der Sowjetregierung helfen, den formellen Vertragsbruch zu vermeiden.

Auf diesem Hintergrund war die Behauptung Tschitscherins über das bereits gezeigte Entgegenkommen der Sowjetregierung bezüglich der juristischen Garantien entsprechend der Resolution von Cannes unwahr. Diese Tatsache blieb den nichtkommunistischen Zuhörern seiner Rede wohl zunächst verborgen.

Nachdem Tschitscherin mit verschleiernden Formulierungen den Eindruck der Zustimmung zu der Resolution von Cannes erwecken wollte und zugleich ihre Ablehnung durchblicken ließ, widmete er dem zweiten Teil seiner Rede fast nur Themen, deren Behandlung auf der Konferenz von Genua überhaupt nicht vorgesehen war.

So forderte er zur Vermeidung eines neuen Krieges die anderen Staaten auf, die Rüstungen zu beschränken und die Armeen zu verkleinern. Sowjetrußland würde alle Vorschläge in dieser Richtung unterstützen, „unter der Bedingung, daß die Armeen aller Staaten beschränkt und die Grundsätze des Krieges durch ein vollständiges Verbot seiner barbarischsten Formen ergänzt werden, wie der Giftgase, des Luftkrieges und anderer, besonders der Anwendung von Zerstörungsmitteln, die gegen die friedliche Bevölkerung gerichtet sind.“ Dieser Vorschlag war als Angriff vor allem gegen Frankreich und seine Verbündete auf dem europäischen Kontinent gerichtet, konnte gleichzeitig bei den Delegationen Deutschlands, Österreichs, Lingams und Bulgariens als den zur Abrüstung vertraglich gezwungenen Staaten Sympathie erwecken und war auf die Zustimmung der Völker im allgemeinen berechnet. Sollten z. B. Frankreich und seine Verbündeten eine Abrüstung im Sinne Tschitscherins durchführen, dann war das in jedem Fall ein besonderer Vorteil für Sowjetrußland, weil sich auf diese Weise die große militärische Überlegenheit Frankreichs gegenüber Sowjetrußlands verminderte und damit indirekt das Kräfteverhältnis zugunsten Sowjetrußlands verbesserte. Um aber die Rüstung und die Heeresstärke Sowjetrußlands für den Fall eines internationalen Abkommens über Abrüstung einer internationalen Kontrolle zu entziehen, verband Tschitscherin die sowjetische Bereitschaft zur Abrüstung mit dem Vorbehalt, daß Garantien u. a. gegen eine Einmischung in die innere Angelegenheiten Sowjetrußlands gegeben werden müßten: „Es versteht sich von selbst, daß Rußland seinerseits auch bereit ist, seine Rüstungen zu beschränken unter der Bedingung einer vollen und bedingungslosen Gegenseitigkeit und der Schaffung der für Rußland notwendi-gen Garantien gegen irgendwelche Angriffe und gegen die Einmischung in seine innere Angelegenheiten."

Hier finden wir bereits ein ständiges Element sowjetischer Außenpolitik, das in seiner großen Bedeutung allerdings erst nach 1945 erkannt wurde: die ständigen Forderungen Sowjetrußlands nach Abrüstung aller Staaten, während es sich gleichzeitig jeder wirksamen internationalen Kontrolle über die Fortschritte seiner Abrüstung entzieht. Eine verständliche Haltung Sowjetrußlands seit seinem Bestehen, wenn man die Lehre Lenins für seine Anhänger berücksichtigt: „Nur nachdem das Proletariat die Bourgeoisie entwaffnet hat, kann es, ohne an seiner weltgeschichtlichen Aufgabe Verrat zu üben, die Waffen zum alten Eisen werfen, was es auch ganz sicher dann — aber nicht früher — tun wird." Es kam Tschitscherin mit seinem Abrüstungsvorschlag daher mehr darauf an, einen propagandistischen Erfolg in der Öffentlichkeit außerhalb der Konferenz zu erzielen, als ernsthaft eine allgemeine und wirksam kontrollierte Abrüstung zu erreichen.

Nachdem Tschitscherin seine Abrüstungsvorschläge auf dieser Konferenz ungestört vortragen konnte, ging er dazu über, die vor kurzem eröffnete Konferenz von Genua nur als eine Vorstufe zu weiteren Konferenzen zu betrachten und als Höhepunkt aller weiteren Konferenzen einen „Weltfriedenskongreß" in folgender Zusammensetzung und mit folgender Wirksamkeit der dort zu fassenden Beschlüsse vorzuschlagen: „Die Regelung eines allgemeinen Friedens soll unserer Meinung nach von einem Weltfriedenskongreß durchgeführt werden, der einberufen wird auf der Grundlage der vollen Gleichheit aller Völker und der Anerkennung des Rechtes für sie alle, über ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen. Wir meinen, daß das System der Vertretung auf diesen Konferenzen geändert werden muß. Wir halten die offizielle Teilnahme von Arbeiterorganisationen an diesen Konferenzen für zwingend notwendig. Die Beschlüsse dieser Kongresse sollen in keinem Falle auf gewaltsamem Wege oder auf dem Wege des Druckes auf die Minderheit verwirklicht werden, sondern im Gegenteil durch eine freiwillige Vereinbarung aller Teilnehmer."

Dieser Vorschlag Tschitscherins bedeutete u. a. eine außerordentliche Erweiterung der zukünftigen Teilnehmer, weil nun auch Vertreter der zahlreichen Völker z. B. in den französischen und britischen Kolonien eingeladen werden sollten, mit den gleichen Rechten wie Frankreich und Großbritannien. Sie sollten als Vertreter von Völkern teilnehmen, denen Frankreich und Großbritannien zuvor das Selbstbestimmungsrecht gewährt hatten. Damit wollte Tschitscherin vor allem Frankreich und Großbritannien vor ihren Kolonialvölkern in Verlegenheit bringen und gleichzeitig Sowjetrußland als Kämpfer für das Selbstbestimmungsrecht der Völker und für die Gleichberechtigung der Völ-ker, unabhängig von ihrer Größe, darstellen. Es störte Tschitscherin offenbar nicht, daß Sowjetnißland vor weniger als zwei Jahren (1920/21) noch drei anderen Völkern des ehemaligen zaristischen Rußland das Selbstbestimmungsrecht wieder genommen hatte: den drei transkaukasischen Republiken Aserbeidschan, Armenien und Georgien.

Die Einladung der Vertreter der Kolonialvölker, die von Großbritannien und Frankreich ihre Unabhängigkeit erlangen sollten, genügte Tschitscherin noch nicht. Auch die verschiedenen Arbeiterorganisationen aller Länder waren „offiziell" zu dem kommenden „Weltfriedenskongreß" einzuladen. Damit versuchte Tschitscherin, Sowjetrußland bei der Arbeiterschaft aller Länder beliebt zu machen.

Wenn die Regierungen der anderen an der Genueser Konferenz teilnehmenden Staaten wider Erwarten diese Vorschläge Tschitscherins annehmen würden, ließ sich bei einer derartigen Fülle von vorgesehenen Teilnehmern eine Einigung über die zu ergreifenden Maßnahmen, z. B. für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas, nicht erwarten. Um selbst Mehrheitsbeschlüsse dieser geplanten riesigen Konferenz zu verhindern, mit denen Sowjetrußland nicht einverstanden sein sollte, empfahl Tschitscherin, die Minderheit zur Annahme dieser Beschlüsse nicht zu zwingen. Tschitscherins Vorschlag erstrebte also ein Höchstmaß an propagandistischer Wirkung auf die unterdrückten Völker außerhalb Sowjetrußlands und ließ erkennen, daß ihm an einem positiven, sachlichen Ergebnis der Konferenz von Genua, den folgenden Konferenzen und des „Weltfriedenskongresses“ nichts lag. Nicht Klärung, sondern Verwirrung war das Ziel.

Nach der Darlegung dieses Vorschlages richtete er in verhüllter Form noch einen Angriff gegen die damals wichtigsten Mitglieder des Völker-bundes, Frankreich und Großbritannien. In der Verkleidung eines scheinbaren sowjetischen Entgegenkommens gegenüber bestehenden Verträgen, forderte er in Wirklichkeit die Revision der Völkerbundssatzung: „Die russische Regierung ist bereit, zum Ausgangspunkt sogar die früheren Vereinbarungen der Mächte zu nehmen, die die internationalen Beziehungen regeln, indem sie in diese Vereinbarungen die notwendigen Änderungen einfügt, und auch an einer Revision der Völkerbundssatzung mit dem Ziel teilzunehmen, sie in ein echtes Bündnis der Völker ohne die Herrschaft der einen über die anderen, mit der Aufhebung der gegenwärtig bestehenden Teilung in Sieger und Besiegte."

Ein solcher Vorschlag fand sicher Zustimmung bei den vom Völkerbund damals besonders enttäuschten Völkern Deutschlands, Österreichs, Ungarns, Bulgariens, der Türkei. Hingegen für Frankreich und Großbritannien bedeutete dieser Vorschlag nichts weniger als eine Provokation. Ganz abgesehen davon gehörte dieses Thema nicht zu den Aufgaben der Genueser Konferenz.

Wie ersichtlich, war Tschitscherin nicht gesonnen, der dringenden Bitte des italienischen Außenministers Schanzer, ausgesprochen im Na-

men von Lloyd George, Folge zu leisten, d. h. ---•———alle Streitfragen in seiner ersten Rede zu vermeiden. Er tat das Gegenteil, wenngleich in einer Form, die den Eindruck eines Entgegenkommens Sowjetrußlands erwecken sollte. Ebenso wurden die westlichen Wünsche nach einer sowjetischen Anerkennung der Resolution von Cannes höchst fragwürdig erfüllt.

Die Rede Tschitscherins im ganzen war ein Meisterwerk im Sinne der Absichten Lenins. Nach den dargelegten Anweisungen Lenins an Tschitscherin vom 14. März 1922 sollte die Rede Tschitscherins „sowohl giftig als auch harmlos'sein" mit dem Ziel, „den Feind zu zersetzen". Lenin hatte auch die Notwendigkeit „winziger" Vorbehalte in der Rede eines kommunistischen Vertreters gegenüber Vertretern anderer Staaten betont. Auch dies hatte Tschitscherin an menireren Stellen seiner Rede befolgt. Es entsprach auch durchaus der Vorstellung Lenins, als Tschitscherin, trotz seiner von Lenin gewünschten Uninteressiertheit an dem Erfolg der Konferenz, seine Rede mit folgenden Behauptungen schloß: „Indem die russische Delegation noch einmal die europäische Konferenz in Genua begrüßt und ihre lebhafteste Dankbarkeit gegenüber der italienischen Regierung für ihre Gastfreundschaft ausdrückt, erklärt sie feierlich ihre Entschlossenheit, mit allen Kräften den Erfolg ihrer Arbeiten zu fördern.“

Gleich nach der Rede Tschitscherins kam es zu einem Zusammenstoß mit dem französischen Delegationsführer. Barthou bestritt entschieden die Zweckmäßigkeit mehrerer folgenden Konferenzen und protestierte gegen die Absicht Tschitscherins, die Abrüstungsfrage zum Gegenstand der Konferenz von Genua zu machen: „Daher erkläre ich einfach, aber sehr entschieden, daß in der Stunde, da z. B. die russische Delegation der ersten Kommission vorschlägt, diese Frage zu erörtern, sie nicht nur der Zurückhaltung der französischen Delegation begegnen wird, nicht nur dem Protest, sondern der ausdrücklichen und kategorischen, endgültigen und entschiedenen Ablehnung.“

Das waren starke Worte, die vielleicht den Auftakt für die Abreise der französischen Delegation bildeten, nachdem die Rede Tschitscherins die eindeutige Verpflichtung Sowjetrußlands durch die Resolution von Cannes vermissen ließ. Wider Erwarten faßte die französische Delegation die-sen Entschluß auch nach der für Frankreich unbefriedigenden Antwort Tschitscherins auf Barthous Protest nicht. Lloyd George versuchte mit leichter Hand die entstandene Spannung zu glätten, indem er um gegenseitiges Verständnis bat. Stillschweigend verzichtete er darauf, an den Bedingungen der Resolution von Cannes für die eingeladenen Teilnehmer der Konferenz festzuhalten, obschon er sie noch vor etwa einer Stunde in seiner ersten Rede ausdrücklich und ausführlich hervorgehoben hatte. Bei der französischen Delegation fiel das inkonsequente Verhalten besonders auf. Sie hatte bis kurz vor dem Beginn der Konferenz noch vorherige Garantien der sowjetischen Delegation gefordert, war aber auch jetzt nach der in der Rede Tschitscherins deutlich gewordenen negativen Haltung der sowjetischen Delegation nicht entschlossen genug, die Konferenz zu verlassen. Fügt man noch hinzu, welche verhüllt vorgetragenen Provokationen in der Rede Tschitscherins sich Frankreich, Großbritannien und Italien gefallen ließen, dann läßt sich das Bild der Schwäche verstellen, das die sowjetische Delegation am ersten Tage der Genueser Konferenz gewann. Wohl recht befriedigt über den Verlauf des ersten Konferenztages — des 10. April — schrieb Tschitscherin in seinem Brief (10. 4. 22) an das sowjetische Volks-kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten: „Morgen wird die politische Kommission, d. h. die Kommission für Rußland, ihre Arbeit beginnen. Der Wunsch Englands und Italiens ist vollkommen klar, irgendetwas zu erreichen, wenigstens zum Schein. Italien fürchtet sich vor einem Skandal einerseits von Frankreich, andererseits — von uns. Aus den Gesprächen mit zahlreichen französischen Journalisten wird klar, daß die Stimmung in Frankreich sich scharf zu unserem Nutzen verändert hat. Der allmögliche Kontakt mit den Delegationen und Journalisten nimmt eine Masse Zeit weg, ist aber notwendig für die Erläuterung der Lage.“

Es galt für Tschitscherin, daraus die richtigen Folgerungen für die Taktik der folgenden Tage zu ziehen mit dem wichtigsten Ziel: Deutschland, wenn nicht vor, dann wenigstens während der Konferenz von Genua in eine Lage hineinzumanövrieren, die seinen Vertretern in Genua möglichst keine Wahl läßt, als den von Sowjetrußland gewünschten Vertrag zu unterzeichnen. 2. Die Bildung von Kommissionen und die sowjetischen Forderungen (11. 4. 1922)

Wie bereits vor dem Beginn der Konferenz geplant, wurden am zweiten Tage der Konferenz Kommissionen für die Erörterung einzelner Fragen gebildet. Die erste Kommission, die politische Kommission, erhielt die Aufgabe, sich unter dem Vorsitz des italienischen Ministerpräsidenten Facta mit Fragen der Konsolidierung des europäischen Friedens zu beschäftigen. Ihr gehörten die Vertreter aller an der Konferenz teilnehmenden Staaten an. Hieraus ging eine Unterkommission speziell für Rußlandfragen hervor. Sie stand unter dem Vorsitz des italieni-sehen Außenministers Schanzer und zählte zu ihren Mitgliedern je einen Vertreter Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Japans, Deutschlands, Sowjetrußlands, Belgiens, Polens, Rumäniens, Schwedens und der Schweiz. Wohl überraschend für alle anderen Delegationen erhob Tschitscherin auf der ersten Sitzung der politischen Kommission Protest gegen die Teilnahme Rumäniens an dem Unterausschuß für Rußlandfragen. Er begründete den Protest damit, daß Rumänien mit Gewalt Bessarabien erobert hätte, „das früher Territorium Rußlands war und jetzt der Ukraine gehört. Die russische Delegation wünscht nicht, ihre Meinung der Delegation aufzudrängen, aber sie kann sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, gegen diese Tatsache zu protestieren." Desgleichen protestierte er unter Hinweis auf den bereits schriftlich eingereichten Protest noch einmal mündlich gegen die Teilnahme Japans, weil japanische Truppen ein Gebiet besetzt hielten, das früher zu Rußland gehörte (Fernostgebiet). Auch hierbei sagte er, daß die sowjetische Delegation nicht die Absicht habe, „ihre Wünsche der Konferenz aufzudrängen, aber sie kann nicht umhin, ihren Protest anläßlich dieser Tatsachen zu erklären.“Die sowjetischen Proteste hatten keine Wirkung.

Wenn man sich noch der vor wenigen Tagen fragwürdigen Zulassung der sowjetischen Delegation erinnert, dann wird man erst richtig die Bedeutung der sowjetischen Proteste gegen die Teilnahme zweier Staaten in Kommissionen ermessen. Selber noch vor wenigen Tagen unsicher hinsichtlich der eigenen Zulassung, fühlte sich die sowjetische Delegation nunmehr stark genug, um bereits gegen die Teilnahme von zwei Staaten zu protestieren. Das Selbstbewußtsein der sowjetischen Delegation hatte sich angesichts der sich ihr bietenden Uneinigkeit und Ziellosigkeit Frankreichs, Großbritanniens und Italiens außerordentlich gekräftigt.

Auf der ersten Sitzung der Unterkommission für Rußland schlug Lloyd George vor, die Arbeit mit einer Prüfung des Berichtes zu beginnen, den, wie dargelegt, eine Gruppe von westlichen Sachverständigen Ende März 1922 in London angefertigt hatte (das sog. Londoner Memorandum).

Es enthielt wie angeführt (S. 308) detaillierte Bedingungen für die ausländische Kredithilfe für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands und räumte damit zusammenhängend Sowjetrußland das Recht ein, Reparationen von Deutschland auf Grund des Artikels 116 des Vertrages von Versailles zu verlangen. Tschitscherin erklärte, daß der Sowjetregierung das Londoner Memorandum völlig unbekannt sei. Er forderte daher Zeit für das Studium dieses Memorandums. Überraschend für jeden derTeilnehmer der Unterkommission bat Tschitscherin darum, die Besprechungen über diese Denkschrift zunächst auf die Westmächte und Sowjetrußland zu beschränken, d. h. Deutschland zunächst davon auszuschließen. Was für einen Erfolg diese sowjetische Bitte hatte, wurde von dem Herausgeber der Tagebücher des ehemaligen britischen Botschafters D’Abernon wie folgt beschrieben: „Aber auf die Bitte der Sowjetdelegation — einer Bitte, die seltsamerweise dem Poincareschen Veto gegen die Beteiligung Deutschlands als den alliierten Mächten ebenbürtiges Verhandlungsmitglied entsprach, wurde beschlossen, daß der betreffende Bericht zuerst von Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien und Sowjetrußland geprüft werden sollte, wobei Deutschland ausgeschlossen blieb. Ob die Sowjetdelegation mit dieser Forderung den Zweck verfolgte, jede Versöhnung zwischen den Alliierten und Deutschland zu verhindern, läßt sich nicht sagen, jedenfalls brach ein erbitterter Streit zwischen der Entente und den Deutschen aus, als die Deutschen und die Sowjetdelegation am 16. April den Vertrag von Rapallo unterzeichneten.“ 3. Ungünstige Nachrichten für die deutsche Delegation (12.

— 15. 4. 1922)

Die Prüfung des Berichtes der alliierten Wirtschaftssachverständigen durch die britischen, französischen, italienischen, sowjetischen Vertreter unter Ausschluß Deutschlands in den Tagen vom 11. — 15. April sollte die deutsche Delegation in eine sehr schwierige Lage bringen. In den britischen und französischen Vertretern vermochten die sowjetischen Unterhändler offenbar schnell die Hoffnung zu wecken, daß ein Sonderabkommen mit Sowjetrußland die Frage der Entschädigung für britische und französische Vermögensverluste in Rußland in ihrem Sinne günstig regeln könnte. Für diesen Fall ließ in der Sicht von Paris und London sich eventuell auch eine Zusammenarbeit wirtschaftlicher und politischer Art anregen, die jedenfalls die Gefahr einer engen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit ausschließen würde. Sowohl für die Erfüllung des ersten als auch des zweiten Wunsches von London und Paris bot der Artikel 116 des Versailler Vertrages möglicherweise eine gute Grundlage. Verständlich waren daher die Besorgnisse der vorläufig ausgeschlossenen deutschen Delegation über eine kommende Einigung zwischen Paris, London, Rom und Moskau auf Kosten Berlins. Hatte nicht der sowjetische Vertreter Radek während seinen Verhandlungen in Berlin (Januar, /Februar 1922) die Möglichkeit einer weitgehenden sowjetisch-französischen Verständigung mit schädlichen Folgen für Deutschland angedeutet?

Mehrfach vergeblich versuchte Rathenau, Lloyd George zu sprechen und ihn über die deutsche Politik gegenüber Sowjetrußland und Großbritannien aufzuklären. Ihm lag auch daran, Lloyd George von einer Befürwortung deutscher Reparationen für Sowjetrußland (auf Grund des erwähnten Artikels 116) abzuhalten. Nur Besprechungen mit einigen weniger wichtigen Mitgliedern der Delegationen der westlichen Groß-mächte gelangen. Der nicht zu sprechende Lloyd George führte seit Donnerstag, dem 13. April, in der Villa de Albertis zusammen mit den französischen, italienischen und sowjetischen Vertretern geheime Gespräche. Die Sorgen der deutschen Vertreter mußten sich verstärken, als sie von den wachsenden Aussichten einer Einigung in der Villa de Albertis hörten. Die immer noch ausgeschlossene deutsche Delegation sah sich am Freitag, dem 14. April, nach dem Bericht des deutschen Mitgliedes Harry Graf Kessler vor folgender Lage: „Am Freitag, dem 14. April verdichteten sich die Gerüchte, daß in der Villa de Albertis die Franzosen gerade den Artikel 116 und die sich daraus abzuleitenden neuen Repara-tionslasten Deutschlands als Handelsobjekt gegenüber den Russen benutzten. Für den Fall der Anerkennung der Vorkriegsschulden durch Rußland sollten die russischen Forderungen aus Artikel 116 Frankreich gegenüber als Sicherungen dienen, diese Sicherungen in Form einer Abgabe von allen aus Deutschland nach Rußland ausgeführten Waren durchgeführt werden. Abends 11 Uhr erschien unerwartet im Auftrage des italienischen Außenministers Schanzer der Commendatore Gianini beim Reichskanzler. Er sei gekommen, um dem Reichskanzler mitzuteilen, daß die Besprechungen zwischen den . einladenden Mächten und den Russen einen günstigen Verlauf nähmen. Die . einladenden Mächte'seien der Ansicht, daß die deutsche Regierung, so sagte er wörtlich, , die Sache wohl billigen würde'. Als Gianini nun in die Einzelheiten eintreten wollte, bat ihn der Reichskanzler, mit zu Rathenau zu gehen und begleitete ihn persönlich nach dem Erdgeschoß des Hotels, wo dann eine einstündige Unterredung zwischen dem Reichskanzler, Rathenau, Maltzan, dem Staatssekretär von Simson und Gianini stattfand. Gianini führte aus: In den Besprechungen am Donnerstag und Freitag in der Villa von Lloyd George zwischen Russen und . einladenden Mächten'habe man sich dahin geeinigt, daß die Kriegsschuld Rußlands gegen seine Forderungen an die Entente aus den Unternehmungen von Denikin, Koltschak, Judenitsch aufgerechnet, dagegen die russischen Vorkriegsschulden bestehen bleiben und dafür Obligationen ausgegeben werden sollten, über deren Amortisation, Zinsen und Befristung sicherlich Übereinstimmung zu erzielen sein werde. Rathenau fragte, ob dieser Vorschlag für sich allein gelten sollte oder im Rahmen des Londoner Memorandums? Gianini antwortete: . Selbstverständlich im Rahmen des Londoner Memorandums.'Rathenau dankte in höflichsten Worten Gianini für den Besuch und führte aus, daß Deutschland unter diesen Umständen an den Vorgängen ein Interesse zu nehmen außerstande sei. Als Gianini seine Verwunderung darüber ausdrückte, sagteRathenau:, daß die Abmachungen ohne uns mit Rußland getroffen worden seien. Man habe ein schönes Diner arrangiert, uns nicht dazu eingeladen, aber gefragt, wie uns das Menü gefalle!'Auf mehrfache Wiederholung dieser Äußerung fand Gianini nur die Worte: C'etait seulement prepare pour nous.'Rathenau sagte: . Solange die Punkte aus Artikel 116 bestehen blieben, könnten wir uns nicht mit dem Memorandum einverstanden erklären.'Gianini deutete in keiner Weise an, daß Möglichkeit für eine Änderung des Memorandums gegeben sei. Worauf Rathenau ihm zu verstehen gab, daß wir uns dann nach anderen Sicherungen umsehen müßten. Gianini erklärte auch dann noch: , Idi bin nicht autorisiert, irgendwelche anderen Erklärungen abzugeben. Mein Auftrag ging lediglich dahin, das eben Gesagte zur Kenntnis der deutschen Delegation zu bringen.'

Die deutsche Delegation gewann aus dieser Unterredung die Überzeugung:

1. daß die Verhandlungen der Westmächte mit Rußland am Abschluß standen; 2. daß die bevorstehende Verständigung zwi-

schen den Westmächten und Rußland, die aus dem . Londoner Memorandum'in drei Punkten sich ergebenden schweren Nachteile für Deutschland nicht beseitigen würde; und 3. daß die Information durch Gianini lediglich eine Aufforderung zum Beitritt Deutschlands zu einem Abkommen darstelle, auf das Deutschland keinen Einfluß mehr nehmen könne.

Am Sonnabend, dem 15. April, um 10 Uhr traf Maltzan Joffe und Rakowsky verabredungsgemäß im Palazzo Reale. Er besprach mit ihnen die Ereignisse der letzten Tage und bekam von ihnen genaue Aufschlüsse über die Verhandlungen in der Villa Lloyd Georges. Sie erwähnten, daß die geheimen Verhandlungen trotz bestehender Schwierigkeiten im ganzen einen guten Verlauf nähmen. Es bestünde bei den . einladenden Mächten'anscheinend die Absicht, sich zunächst mit den Russen zu verständigen und dann erst wieder vor die Unterkommission zu treten. Maltzan sondierte die Russen vorsichtig über die eventuelle Wiederaufnahme der Berliner Besprechungen. Er stellte ihnen vor, daß bei einer Separatverständigung in der Villa Lloyd Georges Deutschland kaum mehr in der Lage sein würde, ihnen die bisherige wirtschaftliche Unterstützung zu gewähren. Er stellte ihnen diese Hilfe auf Grund der mit der Industrie schwebenden Verhandlungen in erneute Aussicht, verlangte aber als Gegengabe, daß sie uns an den Sondervorteilen, die die Entente in den Verhandlungen in der Villa Lloyd Georges erhalten habe, durch die Meist-begünstigung teilnehmen ließen und uns Garantien für den Artikel 116 gewährten. Joffe und Rakowsky betonten, daß sie trotz der Sonderverhandlungen mit Lloyd George auf eine Zusammenarbeit mit Deutschland, wie bekannt sei, größtes Gewicht legten, daß sie die von Maltzan gewünschten Garantien am besten durch Unterzeichnung des Vertrages erteilen könnten (des in Berlin vorbereiteten deutsch-russischen Vertrages)."

Daß die erwähnten „genauen Aufschlüsse“ Joffes und Rakowskys über den Stand der geheimen Verhandlungen nichts über die eigentlichen sowjetischen Absichten aussagten, mußte wohl dem deutschen Gesprächspartner entgehen. Auch der Vorschlag Joffes und Rakowskys, die von Sowjetrußland und Deutschland gewünschte Zusammenarbeit am besten durch die Unterzeichnung des in Berlin zunächst anläßlich der Anwesenheit Radeks, dann Tschitscherins, vorbereiteten Vertrages, d. h. u. a. durch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, zu fördern, ließ noch nichts einwandfrei erkennen. Denn die sowjetischen Vertreter boten dies nicht als Alternative zu den bevorstehenden Vereinbarungen Sowjetrußlands mit den Westmächten an.

Bemerkenswert war der Kontrast zwischen der Zurückhaltung der britischen Delegierten, im Vergleich zu den sowjetischen Delegierten, sich mit den deutschen Delegierten zu treffen. »Tschitscherin und Litwinow sahen währenddes-sen Wirth häufig und erweckten bei ihm den Ein-druck des Vergnügens, in dem die Gespräche in der Villa de Albertis vor sich gingen.“

Noch immer von der Teilnahme an den Verhandlungen ausgeschlossen, kam die deutsche Delegation am Sonnabend, dem 15. April abends, ab 6. 30 Uhr nach den ihr zugehenden Nachrichten etwa zu folgendem Urteil:

„Nach dem Abschied Wises, der gegen 6. 30 Uhr erfolgte mehrten sich von allen Seiten die Meldungen, wonach im Laufe des Abends eine Verständigung zwischen den . einladenden Mächten'und den Russen in der Villa de Albertis erfolgt sei. Die folgenden Nachrichten erschienen der deutschen Delegation besonders bedeutungsvoll: a) In den offiziellen Mitteilungen der italienischen Presse an die fremden Journalisten wurde von Seiten Italiens zugegeben, daß seit einigen Tagen Sonderbesprechungen zwischen den . einladenden Mächten'und Rußland in der Villa Lloyd Georges stattgefunden hätten, die anscheinend heute abend zu einer vorläufigen Verständigung geführt hätten.

b) Der Berichterstatter der , Vossischen Zeitung', Herr Reiner, meldete dem Reichskanzler und Rathenau, daß auf Grund guter In-formationen die Russen mit den Alliierten in der Villa Lloyd Georges heute abend abgeschlossen hätten.

c) Gelegentlich eines Essens, welches der Sachverständige Dr. Hagen am gleichen Abend gab, wurde dem Reichskanzler unter Berufung auf eine authentische Äußerung von Benesch mitgeteilt, daß das Abkommen zwischen den Russen und den Alliierten getroffen sei. d) Der zum Essen eingeladene Holländer Van Vlissingen bestätigte das aus neutraler Quelle.

In diesem Zusammenhang äußerte der Reichs-finanzminister Hermes dem Staatssekretär von Simson und Maltzan gegenüber große Sorge und Enttäuschung über den Abschluß Rußlands mit den Alliierten. Hierdurch seien wir nunmehr auch im Osten ganz abgeschnürt. Er stellte Maltzan insbesondere sehr eindringlich vor, ob dieser auf Grund seiner bekannten Beziehungen zu den Russen nicht im rechten Moment noch irgend etwas von ihnen erreichen könne, es müsse doch alles aufgeboten werden, damit wir nicht auch im Osten abgeschnürt würden. Alle gingen in ziemlich gedrückter Stimmung nach Hause.“ 4. In Rapallo am 16. April 1922

Was sich in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag (15. /16. April) ereignete und im Verlauf des Sonntags eine völlig neue Lage schaffen sollte, wurde von verschiedenen Teilnehmern der deutschen Delegation berichtet. Wir legen den mündlichen Bericht Ago von Maltzans zugrunde, den er dem britischen Botschafter in Berlin, Lord D’Abernon, am 1. Oktober 1926 gab. Die schriftliche Aufzeichnung D’Abernons erwähnt Tschitscherin als Teilnehmer des nächtlichen Telefongesprächs mit Ago von Maltzan. Nach anderen Darstellungen soll es Joffe bzw. Rakowsky gewesen sein.

„ 2. Oktober 1926 Berlin

Ich traf gestern Maltzan beim Abendessen und ergriff die Gelegenheit, um ihn nach der wirklichen Geschichte des Rapallo-Vertrages zu fragen. Er erzählte nur, daß der Vertrag mit den Russen schon um Weihnachten herum im Wortlaut vereinbart war, daß Rathenau sich jedoch weigerte, ihn während der Genua-Konferenz zu unterzeichnen. Rathenau war eigentlich ein Gegner der Bindung mit dem Osten und trat für eine Annäherung an Frankreich und England, vielleicht noch mehr an Frankreich, ein.

Am Sonntagabend ist der Rapallo-Vertrag unterzeichnet worden. In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag bekam die deutsche Delegation aus verschiedenen Quellen, von den Holländern, den Italienern und anderen Delegierten, die Nachricht, daß Rußland zu einer Vereinbarung mit England und Frankreich gelangt sei und Deutschland dabei ausge-schaltet wurde. Rathenau war verzweifelt.

Die deutschen Delegierten sprachen hin und her über die ganze Lage, und da sie feststellen mußten, daß im Augenblick nichts zu machen war, beschlossen sie, ins Bett zu gehen. Um zwei Uhr morgens wurde Maltzan von dem Hotelkellner geweckt: . Ein Herr mit einem komischen Namen will Sie am Telefon sprechen.'Es war Tschitscherin. Maltzan ging in einem schwarzen Kimono in die Hotelhalle hinunter und begann ein Telefongespräch, das eine Viertelstunde dauerte. Selbstverständlich wurde das ganze Gespräch von den italienischen Detektiven belauscht, die die Hotelhalle unsicher machten. Der Kern der Unterredung mit Tschitscherin war, daß er die Deutschen bat, ihn am Sonntag aufzusuchen und darüber zu verhandeln, ob man nicht doch zu einer Vereinbarung gelangen könnte. Er sagte nicht, daß die Verhandlungen mit den westlichen Mächten sich zerschlagen hatten, aber Maltzan begriff sofort, daß die der deutschen Delegation überbrachten Nachrichten von einer erfolgten Vereinbarung zwischen Rußland und den Westmächten falsch sein mußten. Sobald Maltzan herausgefunden hatte, daß die Russen Deutschland nachliefen, sagte er, daß es sehr schwer sein würde, für den Sonntag eine Verabredung zu treffen, da die deutsche Delegation ein Picknick organisiert habe und er selbst die Absicht hätte, in die Kirche zu gehen. Aber als schließlich Tschitscherin sich ausdrücklich bereit erklärte, Deutschland die Meistbegünstigungsklausel zuzubilligen, versprach Maltzan, seine religiösen Pflichten zu opfern und die Russen am Sonntag aufzusuchen.

Dann ging er um halb drei Uhr nachts zu Rathenau. Er fand ihn in seinem Zimmer in einem malvenfarbenen Pyjama, auf und ab gehend — ein verstörtes Gesicht, Augen, die aus den Augenhöhlen hervorzutreten schienen, blickten ihm entgegen. Als Maltzan hereinkam, sagte Rathenau: „Ich nehme an, daß Sie mir das Todesurteil bringen.', 1m Gegenteil'— beruhigte ihn Maltzan — . gute Nachrichten. ’ Er berichtete ihm dann über die Unterredung, worauf Rathenau sagte: Jetzt wird mir die ganze Lage klar. Ich werde zu Lloyd George gehen und ihm alles auseinandersetzen: und wir werden uns schon verständigen.'Maltzan erwiderte: . Unmöglich — es wäre ehrlos gehandelt. Wenn Sie es tun, werde ich sofort meine Demission einreichen und mich ins Privatleben zurückziehen. Zu einem solchen Verrat an Tschitscherin werde ich mich nicht hergeben.'

Allmählich ließ sich Rathenau zu dem Standpunkt Maltzans bekehren und beschloß, wenn auch widerwillig, die Russen am Sonntag aufzusuchen. Am Sonntag morgen fand eine Konferenz zwischen den Russen und den Deutschen statt. Beide waren eigensinnig und man kam zu keinem Ergebnis. Da die Deutschen zu einem Frühstück außerhalb Genuas eingeladen waren, brachen sie um ein Uhr die Beratungen ab und fuhren zum Essen. Während des Frühstücks wurde eine telefonische Mitteilung von Lloyd George folgenden Inhalts übermittelt: , Es liegt mir besonders daran, Rathenau so bald wie möglich zu sehen; würde es ihm passen, heute zum Tee oder morgen zum Frühstück zu kommen?'Die Russen müssen auf irgendeine Weise von diesem Telefonanruf Kenntnis bekommen haben. Jedenfalls zeigten sie sich daraufhin viel versöhnlicher, und am Nachmittag wurde der Rapallo-Vertrag ohne weitere Verzögerung unterzeichnet.

Wir wurden unterbrochen, bevor mir Maltzan erzählen konnte, was sich nachher zwischen Lloyd George und Rathenau ereignet hat. Aber er bestätigte mir die Äußerung Lloyd Georges, die ich aus anderer Quelle gehört hatte. Als Rathenau ihm sagte, die Deutschen hätten Wise die ganzen Schwierigkeiten ihrer Lage auseinandergesetzt, erwiderte Lloyd George: , Wer ist Wise?'

Die deutsche Delegation ist sich des rein rhetorischen Charakters dieser Frage nicht bewußt geworden — da sie keine Ahnung hatte, daß im wallisischen Dialekt Verwünschungen und Flüche sich häufig unter der Frageform verbergen.“

Spätestens am Montag, dem 17. April, als die angekündigten weiteren Sonderverhandlungen der westlichen und sowjetischen Vertreter unter Ausschluß Deutschlands nicht Stattsanden, wurde der Sinn der sowjetischen Taktik offenbar: es galt, zunächst bei den Westmächten den Eindruck zu erwecken, als wäre Sowjetrußland zu großem Entgegenkommen in allen die Westmächte interessierenden Fragen bereit. Das wird auch zum Teil durch den leider unvollständig veröffentlichten Brief Tschitscherins an das sowjetische Außenkommissariat vom 15. 4. 1922 bestätigt. Dort schreibt er unter Bezugnahme auf ein bevorstehendes Gespräch, das am Freitag, dem 14. April zwischen Tschitscherin und Lloyd George, Barthou, Schanzer und dem belgischen Vertreter stattfinden sollte: „Weil unsere Taktik unser Streben nach einem Abkommen zeigen soll, konnten wir natürlich ein Treffen nicht ablehnen, das speziell mit dem Ziel einberufen wurde, den Abschluß eines Abkommens zu erleichtern." Bei der deutschen Delegation sollten hierdurch Gefühle der Verwirrung, Enttäuschung und einer gefährlichen Isolierung entstehen, die nunmehr eine deutsche Bereitschaft auslösen könnten, zur Vermeidung von nachteiligen Folgen den von der Sowjetunion gewünschten Vertrag schon während der Konferenz von Genua abzuschließen. Damit ließen sich, von Moskau aus gesehen, heftige Auseinandersetzungen zwischen den Westmächten und Deutschland erwarten. Daraus konnte eine neue erweiterte Kluft zwischen Deutschland und den Westmächten entstehen, die Deutschland Sowjetrußland zumindest außenpolitisch in die Arme treiben würde. Das war eine von Moskau immer wieder angestrebte Entwicklung angesichts der außerordentlichen Folgen, die sich Lenin von einem deutsch-sowjetischen Bündnis als letztes Ziel versprach.

Die sowjetischen Verhandlungen mit den Vertretern Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Belgiens, aber unter Ausschluß Deutschlands, hatten die deutsche Delegation bis zum Sonnabend, dem 15. April, in eine ihr sehr schwierig erscheinende Lage gebracht. Den Triumph der sowjetischen Wünsche am 16. April in dem Vertrag von Rapallo zeigten die Artikel 2 (Verzicht Deutschlands auf sowjetische Entschädigungen für die Sozialisierung deutscher Vermögenswerte in Sowjetrußland), Artikel 3 (sofortige Ausnahme der diplomatischen Beziehungenzwischen beiden Staaten), noch ergänzt durch den Artikel 6, der das sofortige Inkrafttreten dieser Artikel, d. h. vor der Ratifizierung des Vertrages durch den Deutschen Reichstag, vorsah. Der Widerstand der deutschen Regierung gegen einen deutsch-sowjetischen Vertrag vor oder während der Genueser Konferenz hatte sich vor allem gegen die sowjetischen Forderungen gewandt, die in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages jetzt erfüllt wurden. Die gegenseitige Bereitschaft beider Staaten, für den Fall der internationalen Regelung von sie interessierenden Wirtschaftsfragen, vorher in einen Gedankenaustausch einzutreten, mußte vor allem als sowjetischer Erfolg gewertet werden. Denn darin verzichtete Deutschland verhüllt auf die Mitarbeit in dem von London und Paris geplanten internationalen Konsortium, insoweit Sowjetrußland damit nicht einverstanden war Wie erinnerlich, wollte Rathenau während der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Berlin Anfang April 1922 diesen Verzicht von der bevorzugten Behandlung Deutschlands bei der Vergebung sowjetischer Konzessionen abhängig machen. Dieses

Vorrecht erhielt Deutschland nicht. Einen Erfolg zugunsten Deutschlands wies der Vertrag in dem Artikel 1 auf, worin nicht nur Deutschland, sondern auch Sowjetrußland auf Kriegsentschädigungen verzichtete und damit das im Artikel 116 des Versailler Vertrages vorgesehene Recht Rußlands auf deutsche Reparationsleistungen vertraglich aufgab. Auch war das im Artikel 4 gegenseitig zugestandene Recht der Meist-begünstigung vor allem ein deutscher Erfolg gegenüber der früher teils ablehnenden, teils zögernden Haltung der sowjetischen Unterhändler in Berlin. Die deutsche Delegation mußte diesem Erfolg eine um so größere Bedeutung beimessen, als z. B. Frankreich und Großbritannien damals auf einer einseitigen Meistbegünstigung nur zu ihren Gunsten bestanden. „Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen" — dieser im Artikel 5 stehende Satz mußte seine Bedeutung erst in der Zukunft erweisen.

Es folgt nunmehr der Text des Vertrages: „Die Deutsche Regierung, vertreten durch Reichsminister Dr. Walther Rathenau, und die Regierung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, vertreten durch Volkskommissar Tschitscherin, sind über nachstehende Bestimmungen übereingekommen:

Artikel 1. Die beiden Regierungen sind darüber einig, daß die Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik die Fragen aus der Zeit des Kriegs-zustandes zwischen Deutschland und Rußland auf folgender Grundlage regeln wird: a) Das Deutsche Reich und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik verzichten gegenseitig auf den Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden, d. h.derjenigen Schäden, die ihnen und ihren Angehörigen in den Kriegsgebieten durch militärische Maßnahmen einschließlich aller in Feindesland vorgenommenen Requisitionen entstanden sind. Desgleichen verzichten beide Teile auf den Ersatz der Zivil-schäden, die den Angehörigen des einen Teiles durch sogenannte Kriegsausnahmegesetze oder durch Gewaltmaßnahmen staatlicher Organe des anderen Teiles verursacht worden sind. b) Die durch den Kriegszustand betroffenen öffentlichen und privaten Rechtsbeziehungen, einschließlich der Frage der Behandlung der in die Gewalt des anderen Teiles geratenen Handelsschiffe werden nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit geregelt werden.

c) Deutschland und Rußland verzichten gegenseitig auf Erstattung der beiderseitigen Aufwendungen für Kriegsgefangene. Ebenso verzichtet die Deutsche Regierung auf die Erstattung der von ihr für die in Deutschland internierten Angehörigen der Roten Armee gemachten Aufwendungen. Die Russische Regierung verzichtet ihrerseits auf Erstattung des Erlöses aus den von Deutschland vorgenommenen Verkäufen des von diesen Internierten nach Deutschland gebrachten Heeresgutes. Artikel 2. Deutschland verzichtet auf die Ansprüche, die sich aus der bisherigen Anwendung der Gesetze und Maßnahmen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik auf deutsche Reichsangehörige oder ihre Privatrechte, sowie auf die Rechte des Deutschen Reiches und der Länder gegen Rußland, sowie aus den von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik oder ihren Organen sonst gegen Reichsangehörige oder ihre Privatrechte getroffenen Maßnahmen ergeben, vorausgesetzt, daß die Regierung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik auch ähnliche Ansprüche dritter Staaten nicht befriedigt.

Artikel 3. Die diplomatischen und konsularischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik werden sogleich wieder ausgenommen. Die Zulassung der beiderseitigen Konsulen wird durch ein besonderes Abkommen geregelt werden.

Artikel 4. Die beiden Regierungen sind sich ferner auch darüber einig, daß für die allgemeine Rechtsstellung der Angehörigen des einen Teiles im Gebiete des anderen Teiles und für die allgemeine Regelung der beiderseitigen Handels-und Wirtschaftsbeziehungen der Grundsatz der Meistbegünstigung gelten soll. Der Grundsatz der Meistbegünstigung erstreckt sich nicht auf die Vorrechte und Erleichterungen, die die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik einer Sowjetrepublik oder einem solchen Staate gewährt, der früher Bestandteil des ehemaligen Russischen Reiches war.

Artikel 5. Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen. Bei einer grundsätzlichen Regelung dieser Frage auf internationaler Basis werden sie in vorherigen Gedankenaustausch eintreten. Die Deutsche Regierung erklärt sich bereit, die ihr neuerdings mitgeteilten, von Privatfirmen beabsichtigten Vereinbarungen nach Möglichkeit zu unterstützen und ihre Durchführung zu erleichtern.

Artikel 6. Die Artikel 1 b) und 4 dieses Vertrages treten mit der Ratifikation, die übrigen Bestimmungen dieses Vertrages treten spfort in Kraft.

Ausgefertigt in doppelter Urschrift in Rapallo am 16. April 1922. — gez.: Rathenau gez.: Tschitscherin"

Wer den Text ohne die Kenntnis der vorangehenden Vorgänge liest, dürfte kaum die Erregung in den westlichen Demokratien und in Deutschland verstehen, die der Vertrag unmittelbar auslöste. Er dürfte es auch kaum begreifen, wieso der Vertrag den sowjetischen Darstellungen zufolge für deutsche Entscheidungen in der Gegenwart aktuell sein soll.

IV. Die Wirkungen des Vertrages von Rapallo

1. Die unmittelbaren Wirkungen Die einleitend dargestellte große Erregung über diesen Vertrag äußerte sich u. a. in den schweren Vorwürfen Frankreichs und Großbritanniens gegen eine angeblich doppelzüngige Politik Deutschlands. Die beiden Mächte vermuteten hinter dem veröffentlichten Text des Vertrages sogar ein geheimes militärisches Abkommen u. a. gegen Frankreich und seine Verbündeten.

Aus der vorangehenden Darstellung läßt sich wohl jetzt ersehen, wie sehr das Verhalten der französischen und britischen Delegation gegenüber der deutschen dazu beitrug, das Gefühl der Überrumpelung, z. B. bei Lloyd George und Bar-thou, zu erzeugen. In der Illusion über die wachsenden Aussichten eines für sie befriedigenden Abkommens mit der sowjetischen Delegation (falls notwendig, auch auf Kosten Deutschlands) waren beide der sowjetischen Anregung über Sonderbesprechungen unter Ausschluß Deutschlands gefolgt. Dies stand besonders im WiderSpruch zu dem mehrfach vorher verkündeten Grundsatz von Lloyd George, Deutschland auf der Konferenz als gleichberechtigt anzuerkennen. So angeregt durch das von den sowjetischen Unterhändlern zur Schau getragene Entgegenkommen, lehnte Lloyd George die mehrfachen Bitten Rathenaus um eine Aussprache ab. Gerade diese Aussprache sollte im Sinne Rathenaus den britischen Premierminister auf die immer schwieriger werdende Lage der deutschen Delegation aufmerksam machen. Sie sollte wegen des von Rathenau befürchteten Verlaufes der geheimen Verhandlungen zwischen den westeuro-Päischen und sowjetischen Vertretern ein vielleicht notwendig werdendes Umschwenken der deutschen Delegation zugunsten Sowjetrußlands andeuten. Die deutsche Delegation war zu großen Befürchtungen über den Verlauf der er-wähnten Besprechungen um so mehr berechtigt, als die ihr von den Mitgliedern der italienischen Delegation (sie war Teilnehmerin an den Sonder-besprechungen)überbrachten Nachrichten und die Mitteilungen sowjetischer Delegationsmitglieder über einen guten Verlauf der Verhandlungen keinen anderen Schluß zuließen. Wie sehr es besonders Rathenau daran lag, durch die zunehmende Notwendigkeit eines baldigen Vertragsabschlusses mit Sowjetrußland vor allem Großbritannien nicht zu verstimmen, bewies er mit seiner Absicht, Lloyd George sofort aufzusuchen, als ihn von Maltzan am frühen Morgen des 16. April über das gerade vorher stattgefundene Telefongespräch mit einem Vertreter der sowjetischen Delegation unterrichtet hatte. Er gab schließlich dem Widerstand besonders des Reichskanzlers Wirth und Ago von Maltzans nach und verzichtete auf sein Vorhaben.

Damit gewann jener Teil der deutschen Delegationsmitglieder die Oberhand, der schon vor der Reise nach Genua einen Kurswechsel der deutschen Delegation in Genua erwogen hatte, falls das Verhalten der europäischen Westmächte zu Deutschland die Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Vertrages bereits während der Konferenz von Genua nahelegen sollte. Wie Rathenau beabsichtigten auch Wirth und von Maltzan nicht, einen Vertrag mit Sowjetrußland vor oder während der Konferenz von Genua zu unterzeichnen. Während Rathenaus Haltung keine Ausnahme davon ins Auge faßte, machten die beiden anderen ihre Haltung von der sich in Genua ergebenden Lage abhängig. Der von Wirth beauftragte von Maltzan hatte in seinen Papieren bereits einen noch vor Rathenau und dem Reichspräsidenten Ebert geheim zu haltenden Entwurf zu einem deutsch-sowjetischen Vertrag mitgebracht. Für Wirth, von Maltzan u. a. war im Gegensatz zu Rathenau am frühen Morgen des 16. April der Fall für ein nun vom „Westen“ unabhängiges Handeln der deutschen Delegation gegeben. Daß an der Entstehung eines solchen Falles nicht nur Frankreich und Großbritannien, sondern auch Sowjetrußland aktiv mitwirken würde, überraschte sicher auch Wirth und von Maltzan. Beide aber schlossen sich der Meinung an, daß vor der Fahrt der deutschen Delegation am Sonntag vormittag des 16. April zur sowjetischen Delegation in Rapallo die britische Delegation noch vorher davon verständigt werden sollte. Von Maltzan versuchte, das britische Delegationsmitglied Wise zu erreichen, mit dem er schon mehrere Gespräche an den vorangehenden Tagen geführt hatte. Das deutsche Delegationsmitglied Harry Graf Kessler schrieb darüber: „Am Ostersonntag früh 7. 30 Uhr telephonierte Malzan Wise an und erhielt von seinem Bureau die Mitteilung, daß er noch schliefe. Auf Maltzans Bitte, ihn zu wecken, erhielt er die Mitteilung, daß Wise ihn selbst, sobald er aufgestanden sei, anrufen würde. Als dieser Anruf bis 9. 30 Uhr nicht erfolgte, rief Maltzan zwischen 9. 30 Uhr und 10 Uhr noch einmal an und bekam die Mitteilung vom Bureau, daß die Herren aus wären. Rathenau, Simson, Gaus und Maltzan begaben sich daraufhin nach Rapallo, wo sie gegen 12 Uhr eintrafen.“

Daß die Entscheidung der deutschen Delegation, am späten Morgen des 16. April nach Rapallo zu fahren und dort gegen Abend mit den sowje-tischen Vertretern einen Vertrag zu unterzeichnen, sehr unangenehm überraschte, war nach alledem nicht der deutschen Delegation vorzuwerfen. Wieweit waren auch alle Beschuldigungen gegenüber Deutschland, sich zu einer Verschwörung gegen London und Paris bereitgefunden zu haben, von der Wirklichkeit entfernt! Die Aufnahme militärischer Kontakte zwischen einigen Offizieren der Reichswehr und der sowjetischen Armee hatte mit dem Rapallo-Vertrag nichts zu tun. Sie kam bereits Anfang 1921 zustande. Es war eine zumeist von Irrtümern ge-nährte Erregung, der sich die deutsche Delegation zu ihrer eigenen Pein vor allem von Seiten Frankreichs und Großbritanniens ausgesetzt sah.

Das dadurch zunächst entstehende Zerwürfnis Frankreichs und Großbritanniens mit Deutschland verschaffte der sowjetischen Delegation einen zusätzlichen Triumph. Hatte sie doch durch-ihre Täuschungen über ihre wahren Absichten sowohl die westeuropäischen Delegationen als auch die deutsche Delegation so verwirrt, daß der deutschen Delegation in einem ihr besonders ungünstig erscheinenden Zeitpunkt kein anderer Ausweg erschien, als nun den Vertrag aus Angst vor schlimmeren Konsequenzen (Zusammenarbeit zwischen Paris, London und Moskau auf Kosten Deutschlands) so schnell wie möglich zu unterzeichnen. Berücksichtigt man die vom „Westen" abweichenden Vorstellungen über den konkreten Inhalt des Friedens, dann ist der sowjetischen Darstellung über die dem Rapallo-Vertrag vorausgegangene sowjetische Taktik nichts mehr hinzuzufügen: „Mit dem Vertrag von Rapallo hat die Sowjetregierung eine Bresche in die Front der imperialistischen Mächte geschlagen. Sie hat es meisterhaft verstanden, die imperialistischen Widersprüche im Interesse des Friedens und der Sicherheit Sowjetrußlands auszunutzen."

Hätte freilich die deutsche Delegation die sowjetische Taktik rechtzeitig erkannt, dann wäre es für sie nicht notwendig gewesen, den Vertrag während der Konferenz von Genua zu unterzeichnen. Man kann ihr das jedoch nicht besonders vorwerfen, weil die Delegationen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Belgiens sich während der Geheimverhandlungen mit Sowjetrußland nicht weniger täuschen ließen wie die davon ausgeschlossene Delegation Deutschlands. Wieweit der tatsächliche Abgrund zwischen den britisch-französischen und den sowjetischen Vorstellungen von einem Abkommen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands war, sollte die sowjetische Delegation in der Antwort vom 20. April 1922 auf das ihr am 11. April überreichte Londoner Memorandum enthüllen. Nachdem es Sowjetrußland am 16. April gelungen war, Deutschland zur Unterzeichnung des erwünschten Vertrages zu bringen, hatte es den erwünschten Präzedenzfall für seine Verhandlungen mit den westeuropäischen Demokratien in Genua geschaffen. Jetzt konnte es auf einen Mustervertrag für den Verzicht eines Staates auf Entschädigung jeder Art hinweisen. Er sollte den Verzicht auch der westeuropäischen Demokratien auf irgendwelche Entschädigungen nahe-legen.

In der erwähnten Antwort vom 20. April 1922 sprach die Sowjetregierung dieses Ziel noch nicht direkt aus, machte aber die sowjetische Bereitschaft. Entschädigungen zu zahlen, von möglichst unannehmbaren Bedingungen abhängig. Die Zahlung von Kriegsschulden wurde darin mit der Begründung abgelehnt, daß „das russische Volk zum Opfer für die verbündeten Kriegsinteressen mehr Menschenleben gebracht hat als die übrigen Verbündeten zusammen; es erlitt einen ungeheuren Vermögensschaden und verlor als Folge des Krieges große und für die staatliche Entwicklung wichtige Gebiete.“ Dagegen erklärte sich die Sowjetregierung bereit, für den Fall der Gegenseitigkeit die aus der Sozialisierung entstandenen Vermögensverluste, z. B. von französischen und britischen Staatsbürgern, zu ersetzen. Die zu ersetzende Gesamtsumme wurde in der sowjetischen Note mit annähernd 4, 5 Mrd. Rubel beziffert. Dafür verlangte die Sowjetregierung von denselben Staaten einen Ersatz für die Sowjetrußland zugefügten Schäden während des Interventionskrieges und der über Sowjetrußland verhängten Blokkade. Diese zu zahlende Summe berechnete sie mit über 39 Mrd. Rubel Ein sowjetisches Anerbieten dieser Art sollte indirekt die westeuropäischen Mächte zu riesigen Schuldnern Sowjetrußlands machen und damit ihnen verhüllt den Verzicht auf alle Entschädigungswünsche gegenüber Sowjetrußland empfehlen. Hinzu kam die entschiedene Ablehnung aller im Londoner Memorandum niedergelegten Vorschläge über die juristischen Grundlagen für ausländische Kapitalinvestitionen und die in Konzessionsbetrieben tätigen Ausländer in Sowjetrußland. Wenn man sich die Illusionen der westlichen Delegationen über die Aussichten der Sonder-verhandlungen mit Sowjetrußland unter Ausschluß Deutschlands in Genua vergegenwärtigt, dann wird ihr Außmaß angesichts der sowjetischen Antwort vom 20. April sichtbar. Man darf wohl mit Sicherheit sagen, daß diese Noten den vollkommen ablehnenden sowjetischen Standpunkt ohne den vorherigen Abschluß des Rapallo-Vertrages mit Deutschland nicht so den Westmächten gegenüber vertreten hätte. Was noch bis zum Ende der Konferenz von Genua (19. 5. 1922) in Gesprächen und Noten zwischen den westeuropäischen Delegationen und der sowjetischen Delegation erörtert wurde, führte zu keinem anderen Ergebnis der Konferenz, als für den Juni 1922 eine neue Konferenz in Den Haag einzuberufen. Dort sollten die in Genua bereits geprüften sowjetischen Vorschläge von einer gemischten Kommission von Wirtschaftssachverständigen noch einmal geprüft werden

Nachdem das französische Verlangen, das Reparationsproblem nicht zu erörtern, der Konferenz von Genua die Aussichten für positive Ergebnisse von vornherein stark beschränkte, ließ der verbliebene Spielraum fast nur noch Aussichten für ein Abkommen zwischen Sowjetrußland und den anderen Staaten, insbesondere Großbritannien, Frankreich und Deutschland zu. Auch dieser Spielraum verschwand mit der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages. Durch diesen Vertrag hatte die Konferenz von Genua den zweiten entscheidenden Stoß zu ihrem unfruchtbaren Ende erhalten. Das lag unzweifelhaft in der sowjetischen Absicht. Von der Zielsetzung jeder Delegation aus gesehen, ging Sowjetrußland als der größte Gewinner aus dieser Konferenz hervor. Mit Recht hebt das eine sowjetische Darstellung dieser Konferenz hervor und führt als Grund für den sowjetischen Erfolg vor allem an: „Die von Lenin geführte Sowjetregierung nutzte mit großer Kunst die Widersprüche zwischen den Besiegten und Siegern aus im Interesse der Festigung der internationalen Stellung des sozialistischen Staates.“ Einen entscheidenden Beitrag hierzu leistete der Abschluß des Vertrages mit Deutschland nach den ersten Tagen der Konferenz von Genua.

Wir müssen noch einen Blick auf die Wirkung des Rapallo-Vertrages in Deutschland werfen. AIs die Nachricht über seine Unterzeichnung in Deutschland eintraf, rief sie überwiegend Sorge über die zu erwartenden Maßnahmen Frankreichs und Großbritanniens hervor. Die Sorge des Reichspräsidenten Ebert wurde noch von einer großen Verstimmung über das Verhalten Wirths und Rathenaus begleitet. Beide hatten den nachdrücklichen Wunsch Eberts, vor der Unterzeichnung eines Vertrages konsultiert zu werden, mißachtet. Wirth und Rathenau standen vor der nicht leichten Aufgabe, ihr Handeln in der in ihrer Sicht besonders schwierigen und zu raschen Entscheidungen drängenden Lage in Genua zu rechtfertigen. Der damalige britische Botschafter in Berlin, D Abernon, verfolgte die deutsche Reaktion auf den Abschluß des Rapallo-Vertrages und trug acht Tage nach diesem Ereignis Folgendes in sein Tagebuch ein:

„ 24. April 1922 Berlin Der Abschluß des Rapallo-Vertrages ist von der öffentlichen Meinung hier nicht besonders günstig ausgenommen worden. Es gibt keine einflußreichen Kreise in Deutschland, die eine enge Zusammenarbeit oder ein Bündnis mit den Bolschewisten, die von allen Parteien (mit Ausnahme einiger extremer Fanatiker)

mit Mißtrauen und Furcht angesehen werden, wirklich wünschen würden. Man ist im allgemeinen der Ansicht, daß die Deutschen von den Russen in Genua überrumpelt worden sind; die Mitglieder der deutschen Delegation fanden sich in einer Sackgasse (oder glaubten es wenigstens) und unterzeichneten den Vertrag in einem Augenblick der Verzweiflung.

Es ist ganz offensichtlich, daß die Unterzeichnung des Vertrages weder das Ergebnis einer zielbewußten Politik noch einer geschickten . Verschwörung'war.

Die Auffassung, daß die Richtlinien der deutschen Politik sich von nun an ändern werden, wird hier nicht geteilt. Der Vertrag wird als bloße Verständigung mit Rußland, die Deutschland von gewissen finanziellen Drohungen befreit, aufgefaßt, und nicht als eine Neuorientierung der deutschen Politik. Aber wenn dies auch heute nicht der Fall ist, so kann sich die Sachlage in Zukunft doch ändern. Unter einem unerträglichen Druck oder in einer schweren wirtschaftlichen Not könnten die Deutschen zu der Überzeugung gelangen, daß eine Änderung ihrer Politik notwendig ist. Sollte ein solcher Umschwung sich vollziehen, so würde die Schuld die französischen Chauvinisten treffen, die ihr möglichstes tun, um die Gefahr heraufzubeschwören, die wir und sie am meisten zu fürchten haben.“ Mit Ausnahme der KPD und einigen links-und rechtsradikalen Splittergruppen gab es in Deutschland keine größere Organisation, die in Jen ersten Tagen den Vertrag von Rapallo begrüßte. Nachdem die schwindende Erregung in Deutschland und den westeuropäischen Demokratien ein klareres Bild über den Schaden und Nutzen dieses Vertrages gestattete, fand sich am 4. Juli 1922 eine große Mehrheit im Reichstag, die dem Vertrag zustimmte. 2. Die Fernwirkungen Allein die zahlreichen Hinweise sowjetischer und sowjetzonaler Erklärungen und Darstellungen auf den Rapallo-Vertrag machen deutlich, daß dem Vertrag auch viele Jahre nach seinem Erscheinen Lebenskraft zugeschrieben wird. Im Lichte der Tatsachen war seine Fernwirkung auf vielen Gebieten gering.

Die aus dem Vertrag erwachsende deutsch-sowjetische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft enttäuschte sehr die Hoffnungen der deutschen Exportindustrie. Auch eine Untersuchung des kommunistischen Wirtschaftswissenschaftlers in der SBZ, Jürgen Kuczynski, kann, den Tatsachen entsprechend, nur zu dem Ergebnis gelangen: In allen Jahren von 1924 bis 1930 gingen jährlich weniger als vier Prozent des deutschen Exports nach Sowjetrußland Der höchste Anteil am deutschen Export wurde in den Jahren 1931 mit rund acht Prozent und 1932 mit rund 1] Prozent erreicht aber diese zuletzt genannten Anteile sind nicht eine Folge des Rapallo-Vertrages, sondern eine Folge von viel späteren Handelsabkommen. Im Hochkonjunkturjahr 1929 nahm Holland vom deutschen Export fast viermal so viel auf wie die Sowjetunion.

Auf dem rein politischen Gebiet sollte der Rapallo-Vertrag als Kraft der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit das Jahr 1923 nicht überstehen. Der Einmarsch der französischen Truppen in das Ruhrgebiet Anfang Januar 1923 und die Gegenmaßnahmen der deutschen Regierung schufen ab Juli 1923 ein immer deutlicher sich abzeichnendes Chaos. Anstatt durch eine zurückhaltende sowjetische Politik die Lage in Deutschland nicht noch zu verschlimmern, bereitete sich die Sowjetregierung auf eine deutsche Oktoberrevolution vor. In den Monaten September und Oktober 1923 trafen sowjetische Funktionäre geheim in Deutschland ein, um die in Sachsen und Thüringen aufzustellenden militärischen Einheiten auszubilden und die in Moskau beschlossene Taktik, koordiniert mit der KPD, für den gewaltsamen Sturz der deutschen Regierung Schritt für Schritt anzuwenden. Jedoch setzte der plötzliche Einmarsch der Reichswehr auf Anordnung des Reichspräsidenten in Sachsen und Thüringen (Oktober 1923) den Vorbereitungen ein Ende.

In den Jahren 1924 bis 1929 verging kein Jahr, in dem der Sowjetstaat nicht selbst die sonst üblichen Beziehungen zwischen zwei Staaten durch sein Verhalten gegenüber Deutschland schwer gefährdete. Trotz der inzwischen schon sichtbar gewordenen Brüchigkeit der deutsch-sowjetischen Beziehungen bekannte sich der Ende 1922 nach Moskau entsandte deutsche --------------

Botschafter, Graf Brockdorff-Rantzau, anläßlich des bevorstehenden zweiten Jahrestages von Rapallo öffentlich zu folgendem Entschluß: „Mit meinem Können und meiner Person werde ich mich dafür einsetzen, zu beweisen, daß der Vertrag von Rapallo eine neue Ära eingeleitet hat für das deutsche Volk und die Völker der Sowjetunion und damit nicht nur für Europa, sondern für die gesamte Welt. Selbständig und zielbewußt wollen beide Völker vertrauensvoll zusammenwirken, nicht nur um wiederaufzubauen, was zerstört wurde, sondern um der Menschheit neue Kultur-werte zu schaffen.“

Dreieinhalb Jahre später hatte dieser um gute deutsch-sowjetische Beziehungen besonders bemühte deutsche Botschafter am Ort seines Wirkens nach vielen vorangehenden Enttäuschungen eine neue schwere Enttäuschung. Anläßlich der zehnten Wiederkehr des Tages der Oktoberrevolution erhielt Max Hölz, bekannt durch seine kommunistische Terrorherrschaft im Vogt-land (1920/1921), von einem deutschen Gericht deswegen zum Tode verurteilt und später nach der Sowjetunion entlassen, den höchsten Orden der sowjetischen Armee für seine revolutionären Leistungen in Deutschland. Hier wurde nach Graf Brodcdorff-Rantzau die Geduld der amtlichen deutschen Stellen untragbar strapaziert. Wie sich bei dem deutschen Botschafter in den letzten Jahren vor seiner Rückkehr nach Deutschland (1928) der Konflikt zwischen seinen Enttäuschungen und seiner beharrlich aufrechterhaltenen Hoffnung verschärfte, schildert sein Freund und häufiger Besucher Paul Scheffer. Der Versuch Graf Brockdorff-Rantzaus, den Vertrag von Rapallo zum Symbol einer gegenseitig verständnisvollen Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau zu machen, obwohl schon die Geburtsstunde dieses Vertrages die beiden Partner nicht unter diesem Zeichen zusammenführte, beschreibt Paul Scheffer u. a. wie folgt: „Er war zu stolz, bis zu seinem Ende, nach außen seine Enttäuschung merken zu lassen. Aber seine Haltung änderte sich im inneren Verkehr. Bis zum November 1927 hatte er die Fiktion aufrecht zu erhalten versucht, daß noch so viele eingeworfene Fensterscheiben nicht die Temperatur im Luftschloß von Rapallo herabsetzen könnten. Als Max Hölz von der Sowjetregierung zum zehnjährigen Jubiläum des Bestehens des Roten Staates der höchste Orden der Roten Armee für seine Verdienste um die Revolution in Deutschland verliehen wurde, verlangte er in Berlin, daß unbedingte Genugtuung gefordert werde. Rantzau hielt hier die Grenze für überschritten und die Konstruktion von Rapallo nur für rettbar, wenn die Grenze revolutionären Beliebens gegenüber Deutschland bei dieser Gelegenheit deutlich gezogen wurde. Die bisher geübte Nachsicht nahm die Partei offenbar als Ermunterung zu den unwahrscheinlichsten Herausforderungen auf. Geschähe nichts, so fürchtete Rantzau Übergriffe von solcher Unerträglichkeit, daß Deutschland eines Tages keine andere Wahl bliebe, als mit dem Bruch zu antworten."

Die deutsche Regierung tat weder das eine noch das andere, u. a. weil sie sich durch ein solches Verhalten nicht einer etwaigen Stütze in der noch schwierig gebliebenen Position gegenüber Frankreich und besonders dessen Verbündeten Polen berauben wollte. Aber mit den sich verstärkenden deutschen Hoffnungen, nach der Lösung der territorialen Streitfragen mit Frankreich und Großbritannien auch zu einer Einigung über das Reparationsproblem und die Deutschland vorenthaltene Gleichberechtigung zu gelangen, wurden der deutschen Regierung die zahlreichen laut verkündeten sowjetischen Erklärungen über die Wohltaten des Rapallo-Vertrages immer peinlicher. Sie sah sich hierdurch oft Verdächtigungen einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit gegen Paris und London ausgesetzt. Solche Verdächtigungen erschwerten aber das Vertrauen Frankreichs und Großbritanniens zu Deutschland, eine unerläßliche Vorbedingung für französisches und britisches Entgegenkommen in der Frage der Reparationen und der Gleichberechtigung Deutschlands. An einer solchen Annäherung Deutschlands an die Westmächte war aber Moskau nicht interessiert. Deshalb hob es, bei vielen Deutschland unerwünschten Gelegenheiten, den „Geist von Rapallo“ als Symbol harmonischer Zusammenarbeit mit Deutschland hervor, ohne auch nur annähernd die Folgerungen daraus für seine Politik zu ziehen.

Die damalige deutsche Zwiespältigkeit, sich in erster Linie mit Frankreich und Großbritannien gut zu stellen und doch dabei die Sowjetunion möglichst nicht zu verstimmen, äußerte sich z. B. in der deutschen und sowjetischen Haltung zum Gedenken an das zehnjährige Bestehen des Vertrages von Rapallo, am 16. April 1932. Der Sowjetregierung lag sehr daran, dieses Ereignis groß herauszustellen, während die deutsche Regierung dieses Ereignis möglichst unbemerkt vorbeigehen lassen wollte. Ein plastischer Ausdrude dafür war die Gedenkfeier unter Führung des Reichskanzlers Brüning und des Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Litwinow. Beide befanden sich wegen ihrer Teilnahme an der internationalen Abrüstungskonferenz zu jener Zeit in Genf. Litwinow schlug Brüning zum zehnjährigen Jubiläum des Rapallo-Vertrages ein Mittagessen vor, bei dem sie Reden zu Ehren dieses Vertrages halten sollten. Brüning als Gastgeber erhob sich erst gegen Ende dieser Veranstaltung zu der immer ungeduldiger erwarteten Rede. Er erhob sich mit seinem Glas und beschränkte sich auf die Worte: „Herr Volkskommissar, auf Ihr Wohl!"

Darauf erhob sich Litwinow ebenso zu seiner Antwortrede: „Herr Reichskanzler, auf Ihr Wohl!“

Faktisch war bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik vom Rapallo-Vertrag als wirksamer Realität nichts als der Wortlaut eines unbefristeten Vertrages übriggeblieben. Man könnte einwenden, daß er damals immer noch wegen des sowjetischen Verzichtes auf deutsche Reparationen (Artikel 116 des Versailler Vertrages) bedeutend blieb. Dabei würde man wohl übersehen, daß die Gefahr sowjetischer Reparationsforderungen an Deutschland nur mit Unterstützung von Paris und London für Moskau bestand. Ein solche etwaige Unterstützung hing aber entscheidend von der sowjetischen Bereitschaft ab, diesen Staaten die russischen Vorkriegsschulden, ferner die Entschädigungen für das sozialisierte Auslandsvermögen zu zahlen. Da Moskau dies zunächst in verhüllenden und schließlich immer deutlicher werdenden Worten ablehnte, bestand auch nicht mehr die in Rapallo vorhandene Gefahr, daß Moskau den Artikel 116 gegenüber Deutschland durchsetzen könnte.

In derselben Zeit, in der die Bedeutung des Rapallo-Vertrages als reale Grundlage der deutsch-sowjetischen Beziehungen sich Schritt für Schritt verminderte, versuchte die Sowjetregierung durch zahlreiche sich wiederholende Erklärungen der Entstehung und dem Inhalt des Vertrages einen für Deutschland anziehenden Wert zu geben, den er niemals besessen hatte. Die seitdem in sowjetischen Veröffentlichungen häufig geschilderte Harmonie deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit, die den Rapallo-Vertrag zustande gebracht und bei deutscher Stetigkeit die künftige Zusammenarbeit beider Staaten immer überstrahlt hätte, ließ den Rapallo-Vertrag aus der Diskussion der Öffentlichkeit Deutschlands und der westeuropäischen Industriestaaten nicht ver-schwinden. Die tatsächlichen Umstände zum größten Teil entstellend, versuchte die Sowjetregierung mit diesem Bild von Rapallo Einfluß auf die deutsche Außenpolitik der Weimarer Republik zu nehmen und sie zur Abkehr von Frankreich und Großbritannien zu ermuntern. Bei den vielfach unklaren Vorstellungen in der Öffentlichkeit Frankreichs und Großbritanniens über das Verhalten der deutschen Regierung vor, während und nach „Rapallo" verstand es die Sowjetregierung gleichzeitig, mit ihren Darstellungen von „Rapallo“ in diesen Ländern das sich legende Mißtrauen gegenüber Deutschland immer wieder zu entfachen.

Die Außenpolitik Hitlers gab der Sowjetregierung nur selten Gelegenheit, mit den sowjetischen Darstellungen über „Rapallo" Deutschland zu locken. Wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg nahm die Sowjetregierung wieder ihre alten Versuche auf. Das von ihr dabei gezeigte Bild von der Bedeutung des Rapallo-Vertrages ist dasselbe, das die Weimarer Republik zur Abkehr von den Westmächten verlocken sollte. Auch dieses Mal kommt ihr die Unkenntnis in den westlichen Demokratien und selbst in Deutschland über das tatsächliche Verhalten der deutshen Regierung bei der Vorbereitung und Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages zugute.

Es müßte wohl für jeden Deutschen auf der Hand liegen, daß die Umstände, die am 16. April 1922 zu der Unterzeichnung dieses Vertrages führten, nicht mehr bestehen. Damals waren es die europäischen Westmächte, besonders Frankreich, die Deutschland einem immer größeren wirtschaftlichen Chaos zuführten, ihm wichtige Gebietsabtretungen auferlegten und seit Januar 1922 zumindest den Gedanken erwogen, neben ihren Reparationsforderungen an Deutschland auch noch Sowjetrußland das Recht auf Reparationen von Deutschland zuzugestehen. Die daraus erwachsenden Gefahren für Deutschland wurden um so größer, als die Vereinigten Staaten als mögliche Vermittler zwischen den deutschen und westeuropäischen Interessen wegen der Rüdekehr zum amerikanishen Isolationismus ausfielen. In einer durch die sowjetische Taktik noch erhöhten Bedrängnis tat die deutsche Regierung den Schritt zu „Rapallo“. Wer sich diese Lage für den Rapallo-Vertrag vergegenwärtigt und die heutige Lage damit vergleicht, dürfte den radikalen Unterschied unschwer erkennen.

Wenn heute die Führung der Sowjetunion und der von Moskau völlig abhängigen SBZ der Bundesrepublik Deutschland den Rapallo-Vertrag als Muster zukünftiger harmonischer Zusammenarbeit empfiehlt, dann fordert sie damit verhüllt die Auflösung der engen Beziehungen der Bundesrepublik zu den Westmähten. Sie spricht dabei gerne von der Notwendigkeit „selbständigen Handelns“ deutscher Politiker nah dem Muster von „Rapallo“ und hofft dabei, deutshen Illusionen über eine vom „Westen“ unabhängige Politik zu shmeiheln. Die Wendung der Bundesrepublik vom Westen zum Osten wäre der erste Shritt zu dem sowjeti-shen Ziel: diesem drittwihtigsten Industrie-land der Welt nah vielen den Westen verwirrenden Einzelzügen sowjetisher Außenpolitik, je nah dem Kräfteverhältnis zwishen beiden Lagern, den Status der SBZ zu verleihen. Es dürfte dann Moskau wesentlih leihter fallen, den Kampf um die wirtshaftlihe Überlegenheit gegenüber den westlihen Industriestaaten zu gewinnen und die starken kommunistischen Parteien Frankreihs und Italiens zu folgen-shweren Aktionen für die ganze westlihe Welt zu ermutigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): . Dokumente der Außenpolitik der UdSSR', Bd. 5, Moskau 1961, S. 191, Telegramm Litwinows vom 9. 4. 1922.

  2. A. a. O. S. 196.

  3. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): „Dokumente der Außenpolitik der UdSSR" (russisch), Bd. 5, Moskau 1961. S. 191/192.

  4. A. a. O. S. 192/193.

  5. Aus Lenins „Referat über Konzessionen", abgedruckt in Lenin: „Sämtliche Werke“, 3. Ausg., Bd 26. Moskau 1940, S. 12/13.

  6. A. a. O. S. 20/21.

  7. Lenin: „Ausgewählte Werke in zwölf Bänden*, Bd. 8, Moskau 1935, S. 293/294.

  8. A. a O. S. 305.

  9. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): a. a. O. S. 193.

  10. Lenin: . Sämtliche Werke“, 3. Ausg., Bd. 26, Moskau 1940, S. 19.

  11. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): a. a. O. S. 193.

  12. Lenin: „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution", veröffentlicht im Sept. /Okt. 1917, vgl. Lenin: „Ausgewählte Werke in zwei Bänden", Bd. 1, Moskau 1947, S. 879/880

  13. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): a. a. O. S. 194.

  14. Vgl, Anmerkung 65).

  15. A. a. O. S. 195.

  16. A. a. O. S. 201.

  17. A. a. O. S. 207.

  18. A. a. O. S. 208.

  19. Viscount D’Abernon: a. a. O. S. 322/323.

  20. Harry Graf Kessler: . Walther Rathenau — sein Leben und sein Werk", Berlin 1928, S. 336/339.

  21. Louis Fischer: a. a. O. S. 339.

  22. Gemeint ist hier das Ende der Unterredung zwischen dem britischen Delegationsmitglied Wise und dem deutschen Delegationsmitglied von Maltzan um 6. 30 Uhr abends.

  23. Harry Graf Kessler: a. a. O. S. 340/341.

  24. Viscount D'Abernon: a. a. O. S. 351/353.

  25. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): a. a. O. S. 218.

  26. In diesem Sinne tauschten im Anschluß an den unterzeichneten Vertrag der deutsche und der sowjetische Delegationsführer zwei Noten vom 16. 4. 1922 aus. Vgl. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): a. a. O. S. 225/226.

  27. H. Helbig: a. a. O. S. 79/81.

  28. Harry Graf Kessler: a. a. O. S 342.

  29. Aus der amtlichen Neuausgabe der „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion', Ost-Berlin 1960, S. 453.

  30. Akademie der Wissenschaften der UdSSR: „Sowjetrußland und die kapitalistische Welt 1917 bis 1923'(russisch), Moskau 1957, S. 635/636

  31. A. a. O. S. 636

  32. Viscount D Abernon: a. a. O. S. 323/324.

  33. Akademie der Wissenschaften der UdSSR: a. a. O. S. 639.

  34. Viscount D’Abernon: a. a. O. S. 334.

  35. Kuczynski /G. Wittkowski: „Die deutsch-russischen Handelsbeziehungen in den letzten 150 Jahren , Berlin 1947, S. 59.

  36. A. a. O. S. 67.

  37. Aus der übergebenen Erklärung an die „TASS“, abgedruckt bei Paul Scheffer: „Sieben Jahre Sowjet-Union", Leipzig 1930, S. 368.

  38. Paul Scheffer; a.a.O. S. 460

  39. Nadi der Erzählung von Karl Radek, wiedergegeben von A. W. Just in . Rußland und Europa’, Stuttgart 1949, S. 35/36. Vgl. auch den damaligen deutschen Botschafter in Moskau, H. von Dirksen, in seinem Buch: «Moskau—Tokio—London*, Stuttgart 1950, S. 77/78.

Weitere Inhalte

Anmerkung: Protessor Dr. Walter Grottian, geboren am 15. 2. 1909, studierte Nationalökonomie, Geschichte und Jura. Bis zur Auflösung der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin (1. 4. 1959) dort stellvertretender Abteilungsleiter. Seitdem vorwiegend mit Forschungsarbeiten über historische, politische und wirtschaftliche Probleme beschäftigt. Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen, u. a.der Bücher: «Das sowjetische Regierungssystem* (1956) und «Lenins Anleitung zum Handeln* (1962).