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Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages | APuZ 25/1962 | bpb.de

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APuZ 25/1962 Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages

Genua und Rapallo 1922. Entstehung und Wirkung eines Vertrages

WALTER GROTTIAN

Der wiederbelebte „Geist von Rapallo"

Abbildung 1

Am 10. April 1922 traten die Vertreter von 28 europäischen Staaten in Genua zu einer Konferenz zusammen, um über Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas zu sprechen und gemeinsam Wege für die wirtschaftliche Wiedergesundung Europas zu finden. Bei der Schwierigkeit der zu lösenden Aufgaben mußte man mit einer Dauer von vielen Wochen für die Konferenz rechnen. Jedoch brachte ein für fast alle Teilnehmer überraschendes Ereignis diese Konferenz bereits nach einer Woche in eine solche Lage, daß ihr schnelles Ende unvermeidlich erschien. Zwei Teilnehmer dieser Konferenz — die deutsche und die sowjetische Delegation — hatten sich am Ostersonntag, dem 10. April, mittags in dem Genua nahegelegenen Ort Rapallo getroffen und abends dort einen Vertrag unterzeichnet. Als danach die beiden Vertragspartner das Ergebnis bekanntgaben, entstand unter den anderen Delegationen der Genueser Konferenz eine große Erregung. Sie fühlten sich nicht nur von der deutschen und sowjetischen Delegation hintergangen, sondern sahen zum Teil in dem Vertrag von Rapallo eine Verschwörung Deutschlands und Sowjetrußlands gegen den Frieden der Welt. Hinter dem veröffentlichten Text des Rapallo-Vertrages vermuteten die Delegationen Großbritanniens, Frankreichs und seiner Verbündeten eine geheime militärische Vereinbarung der beiden Staaten. Schien jetzt der Alpdruck des britischen Premierministers Lloyd George Wirklichkeit zu werden, der ihn am 25. März 1919 folgendes schreiben ließ? —: „Die größte Gefahr, die ich in der gegenwärtigen Lage sehe, ist, daß Deutschland sein Schicksal mit dem Bolschewismus teilen könnte und seine wirtschaftlichen Kräfte, seine Hirne, seine organisatorische Macht den revolutionären Fanatikern zur Verfügung stellen könnte, deren Traum es ist, die Welt für den Bolschewismus durch die Gewalt der Waffen zu erobern. Diese Gefahr ist keine bloße Schimäre.“ (Aus seiner Denkschrift vom 25. 3. 1919)

Besonders gegen Deutschland, als einen von den Westmächten damals viel abhängigeren Staat als Sowjetrußland, richteten sich die Vorwürfe und Drohungen. Auf dem Hintergrund zahlreicher friedfertiger Reden deutscher Regierungsmitglieder seit 1919 beurteilten die westeuropäischen Delegationen in Genua das Verhalten der von Reichskanzler Wirth und Außenminister Rathenau geführten deutschen Delegation in Rapallo als doppelzüngig und heuchlerisch. Sie verlangten von der deutschen Delegation den Verzicht auf den Vertrag von Rapallo und drohten für den Fall der deutschen Weigerung mit Konsequenzen.

Die Erregung über das Verhalten der deutschen Delegation in Rapallo griff von den westlichen Teilnehmern der Genueser Konferenz auf ihre Länder über und fand amtlich ihren schärfsten Ausdruck in einer Rede des französischen Ministerpräsidenten Poincare in Bar-le-Duc (24. 4. 22). Darin drohte er Deutschland militärische Maßnahmen an, falls es auch nur einen Versuch wagen sollte, sich in irgendeinem Punkte seinen Verpflichtungen gegenüber den Westmächten zu entziehen.

Auch in Deutschland löste das Verhalten der deutschen Delegation in Rapallo Erregung aus. Eine große Freude über den Vertrag war unter den Parteien nur bei der Kommunistischen Partei zu finden, während in den anderen Parteien sich überwiegend das beklemmende Gefühl gefährlicher Folgen ausbreitete. In der damals bei weitem stärksten Partei des Reichstages, der SPD, herrschte die Furcht vor einer noch weiteren Verschlechterung der Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien vor. Der Reichs-präsident Ebert, sehr mißtrauisch gegenüber einer sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit, fühlte sich in seinem verfassungsmäßigen Recht durch die vollendete Tatsache des Rapallo-Vertrages übergangen. Hatte er doch an der Sitzung des Reichskabinetts . über die zu befolgende Politik auf der Konferenz von Genua am 5. April 1922 teilgenommen und dabei darauf hingewiesen: „Ich muß nochmals nachdrücklichst darauf Gewicht legen, daß, wenn es zu sachlichen Abmachungen oder Festlegungen kommen sollte, ich dringend bitten muß, ein vorheriges Einvernehmen mit mir zu erzielen." Gerade das aber hatte die deutsche Delegation vor dem Abschluß des Rapallo-Vertrages nicht getan. Nicht nur den Reichspräsidenten, sondern auch den Reichstag hatte die deutsche Delegation übergangen. In dem Rapallo-Vertrag (Art.3) verpflichtete sich Deutschland zur sofortigen Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Sowjetrußland, d. h. ohne die Ratifizierung dieses Vertrages durch den Reichstag abzuwarten. Wie gegenüber allen als herausfordernd empfundenen Verträgen legte sich auch gegenüber dem Vertrag von Rapallo die Erregung jener, die sich getäuscht, übergangen oder gefährdet fühlten, in den folgenden Wochen bzw. Monaten. Man kam sowohl in Deutschland als auch in den westlichen Demokratien zu einer ruhigeren Beurteilung, die zumindest gefährliche Folgen für die Erhaltung des Friedens in Europa nicht mehr als gegeben ansah.

Dennoch sollte der Rapallo-Vertrag nicht das Schicksal der meisten anderen Verträge teilen. Von solchen einst so wichtigen Verträgen, wie z. B.dem Vertrag von Versailles, dem Flottenabkommen von Washington (1922), dem Vertrag über den Dawes-Plan (1924) und den Young-Plan (1930), dem Kellogg-Pakt (1928) u. a. sind kaum mehr als der Wortlaut übrig-geblieben, wichtig fast nur für den Erforscher und Darsteller historischer Ereignisse, doch ohne fortzeugende Wirkung bis auf die Gegenwart. Hingegen hat die schwindende Erregung über den Rapallo-Vertrag niemals zu der Gelassen- heit von Völkern und Regierungen geführt, wie man sie gegenüber vielen anderen Verträgen beobachten konnte. Von sowjetischer Seite aus wurde der Vertrag von Rapallo mit geringen zeitlichen Unterbrechungen immer wieder als verheißungsvoller Anfang einer immer engeren deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit gekennzeichnet. Damit verbindet die sowjetische Regierung gewöhnlich den Vorwurf, daß deutsche Regierungen bis zur Gegenwart diese großartige Chance für Deutschlands Aufstieg, kaum ergriffen, wieder fallen ließen.

Ein Rüdeblick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen seit 1922 zeigt die vielen Versuche der Sowjetregierung, falls ihr eine Annäherung an Deutschland zu irgendeiner Zeit zweckmäßig erscheint, diese mit dem Rapallo-Vertrag zu begründen. Dieses sowjetische Verhalten beschränkte sich keineswegs auf die Zeit der Weimarer Republik. Auch in den auf Initiative der Sowjetregierung begonnenen geheimen Verhandlungen mit der nationalsozialistischen Regierung, die schließlich zu der folgenschweren deutsch-sowjetischen Geheimvereinbarung über die Teilung Polens usw. führte (23. 8. 39), sollte der deutsche Partner zunächst durch Hinweise auf den Vertrag von Rapallo ermutigt werden. In einer damals geheimgehaltenen Aufzeichnung des Leiters der Wirtschaftspolitischen Abteilung des deutschen Auswärtigen Amtes, Schnurre, wird am 17. Mai 1939 über einen zweiten Besuch des sowjetischen Geschäftsträgers Astachoff bei Schnurre u. a. wie folgt berichtet: „Astachoff ging ausführlich darauf ein, daßkeine außenpolitischen Gegensätze zwischen Deutschland und der Sowjetunion bestünden und daß infolgedessen kein Grund für eine Gegnerschaft der beiden Staaten vorläge.

Man habe allerdings in der Sowjetunion das ausgesprochene Gefühl der Bedrohung durch Deutschland. Es sei gewiß möglich, dieses Gefühl der Bedrohung und das Mißtrauen in Moskau zu zerstreuen. Er erwähnte auch in dieser Unterhaltung wieder den Vertrag von Rapallo ... Zur Begründung seiner Ansicht über die Möglichkeit einer Veränderung der deutsch-sowjetischen Beziehungen verwies Astachoff mehrfach auf Italien und betonte, daß der Duce auch nach Schaffung der Achse zu erkennen gegeben habe, daß einer normalen Weiterentwicklung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Italien nichts im Wege stünde.“

Auch die Auslöschung Deutschlands als Staat im Jahre 1945 und die sich daraus ergebenden Folgen haben nicht dazu geführt, den Rapallo-Vertrag nunmehr auf seine historische Bedeutung zu beschränken. Schon vier Jahre später erschien in dem Blatt der sowjetischen Militär-verwaltung in Deutschland ein großer Leitartikel mit dem Titel „Der Geist von Rapallo“. Der Ausdruck . Geist'kommt tatsächlich in dem Artikel 5 des Rapallo-Vertrages vor, wo es heißt: „Die beiden Regierungen werden den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen.“ Der erwähnte Leitartikel nahm Stellung zu einer Denkschrift des Würzburger Professors Ulrich Noack über die Notwendigkeit, Deutschland zu neutralisieren. Er nahm Noack vor amerikanischen und deutschen Kritikern u. a. mit folgenden Worten in Schutz:

„Das Memorandum des . Nauheimer Kreises'

hat unter den englischen und amerikanischen Imperialisten in Deutschland und ihren deutschen Lakaien ungeheuerliche Wutausbrüche hervorgerufen ... Die amerikanische Zeitung «Neue Zeitung» schrieb in einer Kritik des Nauheimer Kreises, Professor Noack beschwöre den Geist von Rapallo. Aber es war gerade der Sinn von Rapallo, die Unabhängigkeit des besiegten Deutschlands zu festigen, das, wie in vielen ähnlichen Situationen seiner Geschichte, nur dann eine feste Grundlage für seine selbständige staatliche Entwicklung besaß, wenn es gute Beziehungen zum Osten (d. h. zu Rußland) unterhielt. Die Erfahrungen der Geschichte zeigen, daß Feindschaft und Kriege zwischen Deutschland und Ruß-land beiden Ländern stets geschadet und den englischen und amerikanischen Imperialisten stets genutzt haben. Die friedliche Zusammenarbeit der beiden großen Nachbarnationen dagegen hat ihnen immer Vorteil gebracht. * (Aus «Tägliche Rundschau», Ost-Berlin, 11.3.49).

Mit der Begründung der SBZ im Oktober 1949 überließ Moskau die Werbung für eine deutsch-sowjetische Zusammenarbeit im Zeichen von „Rapallo" der Regierung der SBZ. In einer Rede vor dem Zentralkomitee der SED im Juni 1951 sagte Ulbricht, daß es „auch heute noch" in Westdeutschland „solche bürgerlichen Demokraten" gebe, die bereit sein würden, Rathenaus und Wirths Beispiel zu folgen und ein Abkommen nach dem Muster des Rapallo-Vertrages zu unterzeichnen Zum Gedenken an den 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages von Rapallo veröffentlichte der damalige Präsident der SBZ, Wilhelm Pieck, einen großen Aufsatz über den „Rapallovertrag und seine nationale Bedeutung für das deutsche Volk". Er lobte darin die sowjetischen Vorschläge von 1952 für die Zukunft Deutschlands und meinte: „Sie sind aus demselben Geist, aus derselben Grundeinstellung der sowjetischen Außenpolitik erwachsen, die dem deutschen Volke den Vertrag von Rapallo gab ... Die Lehre der Vergangenheit, die Lehre von Rapallo besteht für uns heute darin, daß nur derjenige der Einheit Deutschlands dienen kann, der für die friedliche Lösung des deutschen Problems auf der Grundlage der Vorschläge der Sowjetunion kämpft. Nur derjenige dient der friedlichen Zukunft der deutschen Nation, der für die unverbrüchliche und dauernde Freundschaft mit der Sowjetunion eintritt, die dem deutschen Volke in schwerster Zeit mit dem Abschluß des Rapallovertrages den geschichtlichen Beweis für ihre konsequente Friedenspolitik und uneigennützige Freundschaft gegeben hat.“

Mit den wiederholten Empfehlungen kommunistischer Parteiführer der SBZ für den Rapallovertrag als Richtschnur zukünftiger deutscher Außenpolitik gewann dieser Vertrag auch in Westdeutschland wieder aktuelle Bedeutung. Regierung und Opposition, Zeitungen, Zeitschriften mußten positiv oder negativ zu den Möglichkeiten einer zukünftigen deutschen Außenpolitik nach dem Muster des Rapallovertrages Stellung nehmen, um nicht durch ihr Schweigen Mißdeutungen in den westlichen Demokratien und in den Ländern des „sozialistischen Lagers" ausgesetzt zu sein Auch dies ging nicht ohne Erregung ab. In scharfer Form hat die überwältigende Mehrheit der Sprecher der Regierung, der Oppositionsparteien, die Möglichkeit eines neuen Rapallovertrages abgelehnt. Die wiederholten Ermahnungen Moskaus an die Bundesrepublik Deutschland, nach dem Vorbild von „Rapallo“ zu handeln, riefen auch Besorgnisse der Westmächte hervor. Daher verging in dem letzten Jahrzehnt wohl kein Jahr, in dem Regierung und Opposition nicht noch einmal und noch einmal für die Westmächte beruhigende Erklärungen über die Unmöglichkeit eines neuen Vertrages mit der Sowjetunion nach dem Muster von „Rapallo“ abgaben.

Dieses Verhalten fast aller Politiker in Westdeutschland wurde mit verstärkten Angriffen der KP-Führung der SBZ beantwortet. Die deutschen Gegner eines neuen Rapallovertrages wurden als „charakterlos", als „Verräter am deutschen Volk" bezeichnet. Da die KP-Führung der SBZ noch immer nicht die Hoffnung auf einenWendepunkt der Außenpolitik der Bundesrepublik im Sinne eines neuen „Rapallo" aufgegeben hat, ließ sie den Generalsekretär der'CDU der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Gerald Götting, am 15. April 1962 in dem kommunistischen Organ «Neues Deutschland» u. a. folgendes schreiben:

„In diesen Tagen bezeichnete aus Anlaß des 40. Jahrestages von Rapallo der Hunnenbeschwörer von Brentano in einem Artikel die Neubelebung des Geistes von Rapallo als ein propagandistisches Mittel zur . unverantwortlichen Mythologisierung der völlig veränderten Gegebenheiten zwischen Deutschland und der Sowjetunion'.. Wäre Herr von Brentano ein nationalbewußter Politiker, wäre er der Christ, der er zu sein vorgibt, dann müßten er und seine . christlichen Demokraten'ihr Bemühen darauf richten, ein neues Rapallo zu schaffen und damit die Erhaltung des Friedens zu sichern, statt mit der NATO Kriegspläne zu schmieden.“

Als einzigen Beleg für die wachsende positive Beurteilung eines neuen Vertrages nach dem Muster von „Rapallo“ auch in Westdeutschland führt er den nichtkommunistischen Politiker Dehler an und knüpft daran folgende Schlußbetrachtung: „Rapallo ist heute aktueller denn je. Das beweist nicht zuletzt die groteske Angst der Vertreter des deutschen Imperialismus vor dem Geist von Rapallo. Die Deutsche Demokratische Republik handelt im Geiste von Rapallo. Dafür legt gerade das nationale Dokument beredtes Zeugnis ab. Sie handelt damit im Interesse einer friedlichen Zukunft unserer Nation. Trotz aller Beschwörungsversuche, trotz aller Verleumdungen und Verdrehungen aber setzt sich auch in Westdeutschland die Erkenntnis durch, daß der Geist von Rapallo — mit Leben und Kraft durch die Westdeutschen selbst erfüllt — eine neue furchtbare Katastrophe zu verhindern vermag.“

Folgt man den sowjetischen Darstellungen über den „Geist von Rapallo", dann hat man sich darunter eine deutsch-sowjetische Harmonie vorzustellen, die die Sowjetunion in einem entscheidenden Zeitpunkt als uneigennützigen Freund und Helfer Deutschlands gegenüber den Drohungen der Westmächte zeigt. Demzufolge bedurfte Deutschland dringend dieser Hilfe, um von den Westmächten nicht versklavt zu werden. Das sowjetische Verhalten ist den erwähnten Darstellungen zufolge auch immer so geblieben. Doch sollen es die deutschen Regierungen bald nach dem Abschluß des Rapallovertrages vorgezogen haben, die hilfreiche Hand der Sowjetunion mit Undank zurüdezuweisen. Ihre Wendung zu den Westmächten hätte Deutschland den Weg ins Unheil vorbereitet. Was liegt da vom sowjetischen Standpunkt aus näher, als die Bundesrepublik Deutschland an die schöne, aber kurze Zeit deutsch-sowjetischer Harmonie zur Zeit des Rapallovertrages zu erinnern und sie zu einem neuen Versuch aufzufordern?!

Wir fragen uns, ob es tatsächlich eine Phase engster, vertrauensvoller deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit zur Zeit des Rapallovertrages gab, die deutsche Regierungen dann in Verkennung der deutschen Interessen leichtsinnig aufs Spiel setzten. Die Darstellung der Umstände, die zur Unterzeichnung des Rapallovertrages führten, wird uns nähere Anhaltspunkte für den „Geist von Rapallo“ liefern. Da die Entstehung des Rapallovertrages eng mit dem Verlauf der Konferenz von Genua verknüpft ist, wird die folgende Darstellung, soweit hierfür notwendig, die Vorgänge auf dieser Konferenz und die Vorbereitungen einzelner Delegationen auf diese Konferenz mit einbeziehen.

I. Der Vorschlag von Lloyd George auf der Konferenz von Cannes

Auf dieser am 6. Januar 1922 begonnenen Konferenz des Obersten Alliierten Rates schlug der britische Premierminister Lloyd George u. a. eine internationale Wirtschaftskonferenz vor, die nach einer Analyse der wirtschaftlichen Lage Europas nach Wegen für eine grundlegende Wiederbelebung der Wirtschaft aller europäischen Staaten suchen sollte. Er hatte die Ansicht als falsch erkannt, daß sich das Aufblühen der Volkswirtschaften der Siegermächte des ersten Weltkrieges z. B. mit einer sehr starken Inanspruchnahme der wirtschaftlichen Kräfte in Deutschland ohne Gegenleistungen vereinbaren ließe. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus konnte es nach Lloyd George auch nicht im Interesse westlicher Demokratien liegen, Sowjetrußland dem wirtschaftlichen Chaos zu überlassen oder dieses sogar zu fördern. Daher schlug Lloyd George die Einladung Deutschlands und Sowjetrußlands als gleichberechtigte Teilnehmer an dieser Konferenz vor. Vielleicht würde sich nach Lloyd George im Ergebnis dieser Konferenz die Chance eines Friedensschlusses der westeuropäischen Staaten mit dem Sowjetstaat ergeben. Mit Zustimmung seines französischen Kollegen, des Ministerpräsidenten Briand und den anderen Teilnehmern der Konferenz wurde eine Resolution verfaßt, die u. a.

Grundsätze des Zusammenlebens von Staaten mit verschiedener Struktur enthielt. Diese Resolution, die vor allem Hindernisse im offiziellen Verkehr mit Sowjetrußland beseitigen sollte, erklärte, daß »Nationen kein Recht beanspruchen dürfen, sich gegenseitig die Grundsätze zu diktieren. nach denen ihre Systeme des Eigentums, der inneren Wirtschaft und der Regierung zu regeln sind. Es bleibt jeder Nation überlassen, für sich selbst das System zu wählen, das sie in dieser Hinsicht bevorzugt."

Ähnliche Vorstellungen über die Koexistenz von Staaten ließen sich auch von der Sowjetregierung erhoffen, jedenfalls wenn man die vorausgegangenen mehrfachen sowjetischen Appelle zum Friedensschluß mit den Westmächten, zu internationalen Verhandlungen über den gemeinsamen Wirtschaftsaufbau, über die Regelung der russischen Vorkriegsschulden usw. ernst nahm. Der Glaube der in Cannes versammelten Regierungsvertreter an den Ernst einer sowjetischen Zusammenarbeit in Fragen des europäischen Wirtschaftsaufbaus wurde vor allem durch zwei Maßnahmen Lenins gestärkt. Am 23. November 1920 hatte der Rat der Volkskommissare in einem Erlaß den ausländischen Industriellen und Banken die Möglichkeit eröffnet, Konzessionsgebiete in Sowjetrußland zur privatwirtschaftlichen Ausbeutung zu erwerben. Nach Abgabe eines Teiles der produzierten Erzeugnisse sollte es jedem ausländischen Inhaber von Konzessionen, z. B. für die Gewinnung von Eisen, von Kohle, Holz, Erdöl usw.freistehen, die übrigen Erzeugnisse zu seinem eigenen Gewinn ins Ausland zu exportieren. Um die ausländischen Unternehmer und Banken zum Erwerb solcher Konzessionen in Sowjetrußland zu ermutigen, wurde ihnen in dem Dekret die Sicherheit vor der Beschlagnahme ihrer investierten Kapitalien in Sowjetrußland versprochen. Die Regierung verpflichtete sich ferner, die abgeschlossenen Bedingungen bei der Vereinbarung der Konzessionen später nicht einseitig zu ändern Noch wichtiger für die günstige Beurteilung des kommenden sowjetischen Beitrages zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit anderen Staaten war der Übergang Lenins zur sogenannten Neuen Ökonomischen Politik im März 1921, d. h. mit der Rückkehr zur privatwirtschaftlichen Produktion fast in der gesamten Landwirtschaft, im Handwerk und zum Teil auch in den klein-und mittelindustriellen Betrieben. Auch die Wiederzulassung des privaten Binnenhandels in Sowjetrußland wurde in den westeuropäischen Staaten zum Teil optimistisch gedeutet. Auch bei diesen Maßnahmen ließ es sich Lenin nicht entgehen, einflußreiche Männer der ausländischen Privatwirtschaft zu Kapitalinvestionen in Sowjetrußland, zu Warenlieferungen auf Kreditbasis nach Sowjetrußland aufzufordern. Der Abschluß des sowjetisch-britischen Handelsabkommens vom 16. März 1921, zeitlich fast mit der Verkündung der Neuen Ökonomischen Politik zusammenfallend, ermutigte besonders die britische Regierung dazu, eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Sowjetrußland zu erhoffen.

Wie der wirtschaftliche Wiederaufbau Sowjetrußlands durch den „Westen“ grundsätzlich finanziert werden sollte, auch darüber beriet man in Cannes. Die britisch-französischen Verhandlungen ergaben eine Übereinstimmung dar-über, auf der kommenden Konferenz von Genua den Plan eines internationalen Konsortiums zum Wiederaufbau Sowjetrußlands vorzuschlagen. Außer den westeuropäischen Industriestaaten waren u. a. die Vereinigten Staaten und Deutschland als Teilnehmer dieses Konsortiums vorge-sehen. Für die langfristige Planung und zur Verteilung der aufzubringenden finanziellen Mittel empfahl sich eine solche Institution durchaus. Ob Sowjetrußland bereit war, eine solche Einrichtung in Sowjetrußland arbeiten zu lassen, war eine andere Frage. Die später zu der Kon-ferenz von Cannes eingeladene deutsche Delegation erklärte durch ihren Vorsitzenden Rathenau Deutschlands Bereitschaft, sich an einem internationalen Konsortium zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands zu beteiligen.

II. Die Vorbereitungen auf die Konferenz in Genua

Der Verlauf der kommenden Wirtschaftskonferenz in Genua hing entscheidend von dem Verhalten von vier Teilnehmern an dieser Konferenz ab: Großbritannien, Frankreich, Sowjetrußland und Deutschland. Die Vereinigten Staa-ten von Amerika sprachen sich gegen ihre offizielle Teilnahme an der vorgesehenen Konferenz aus, u. a. weil sie eine nähere Fühlungnahme mit der Sowjetregierung ablehnten. 1. Die Vorbereitungen der britischen und französischen Regierung Noch vor dem Ende der Konferenz in Cannes wurde der französische Ministerpräsident Briand von der französischen Kammer gestürzt. Sein Gegner und Nachfolger Poincare teilte nicht den Standpunkt Briands über die Nützlichkeit der geplanten Konferenz in Genua. Insbesondere mißfiel ihm die Aussicht, Deutschland und Sowjetrußland als gleichberechtigte Teilnehmer auf dieser Konferenz zu sehen, ganz abgesehen davon, daß eine solche Konferenz, sollte sie ihre Aufgabe erfüllen, sich u. a. mit den Folgen der von Deutschland geforderten Reparationsleistungen für die wirtschaftliche Lage Europas zu befassen hatte. Es kam zu einem Kompromiß zwischen den Wünschen Poincares und Lloyd Georges in Boulogne (25. 2. 22). Lloyd George nahm die Forderung Poincares an, daß das Reparationsproblem nicht auf der Wirtschaftskonferenz in Genua erörtert werden dürfe. Auch sollten nach dem Wunsch Poincares die Verhandlungen mit Sowjetrußland auf dieser Konferenz nicht zu einem Friedensvertrag mit Sowjetrußland und damit zu seiner Anerkennung führen. Das zu begründende Internationale Konsortium zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands war nach Poincare mit einer Macht auszustatten, die dem Konsortium zumindest einen erheblich größeren Einfluß auf die Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands sichern sollte, als es Lloyd George wollte. Von einer noch einzuberufenden Konferenz von Sachverständigen in London wurden nähere Einzelheiten über die Gestalt und die Aufgaben des Internationalen Konsortiums erwartet.

Am 20. März 1922 trat diese hauptsächlich aus Franzosen und Briten bestehende Sachverständigenkonferenz in London ohne die Hinzu-ziehung sowjetischer oder deutscher Sachverständiger zusammen. Die daraus hervorgehenden Vorschläge für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands machten die Wirtschaftshilfe an dieses Land von starken Eingriffen in die Souveränität des Sowjetstaates abhängig. In der Denkschrift der Sachverständigen, dem so-genannten Londoner Memorandum, sollte es zu den Verpflichtungen der Sowjetregierung z. B. gehören, einen Ausländer in Sowjetrußtand nur in Anwesenheit und mit Zustimmung des ausländischen Konsuls zu verhaften, keine Häuser und Betriebe der Ausländer in Sowjetrußland zu durchsuchen Von sowjetischen Gerichten über Ausländer verhängte Urteile durften nur nach Zustimmung des dafür zuständigen ausländischen Konsuls in Kraft treten. Ausländer, die mit der Sowjetregierung einen Vertrag, z. B. über Konzessionsbetriebe in Sowjetrußland ab-schlossen, sollten das Recht haben, das Land zu wählen, unter dessen Gesetzgebung Streitigkeiten zwischen der Sowjetregierung und dem Ausländer über die Auslegung des Vertrages entschieden werden durften Das Memorandum der Sachverständigen sah auch die ausländische Kontrolle der sowjetischen Währung vor; ebenso wurde die sowjetische Anerkennung der russischen Vorkriegsund Kriegsschulden, die Rückgabe des verstaatlichten Eigentums an seine früheren ausländischen Eigentümer verlangt.

Die Leistungen des Internationalen Konsortiums an Sowjetrußland umfaßten u. a. Kredite für die Stabilisierung der sowjetischen Währung, die Hilfe für die Errichtung von Konzessionsbetrieben, das Eisenbahnwesen und die Rohstoffproduktion in Sowjetrußland

Deutlich fanden damit die Vorstellungen Poincares von einem Internationalen Konsortium ihren Ausdruck. Es war fast sicher, daß Vorschläge dieser Art ein Übereinkommen zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits und Sowjetrußland andererseits aussichtslos machten. Doch hielten die beiden westeuropäischen Regierungen den Vorschlag der Sachverständigen für anziehend, auch Sowjetrußland zum Empfänger deutscher Reparationsleistungen auf Grund des Artikels 116 des Versailler Vertrages zu machen. In diesem Artikel hieß es u. a.: „Die alliierten und assoziierten Mächte behalten Ruß-land ausdrücklich das Recht vor, von Deutschland alle Entschädigungen und Wiedergutmachungen zu verlangen, die auf den Grundsätzen des gegenwärtigen Vertrages beruhen.“ Zur Zeit der Fertigstellung des Versailler Vertrages hatten die britische und die französische Regierung bei diesem Artikel nicht an eine fortlaufende Existenz Sowjetrußlands gedacht Neu war in dem Londoner Memorandum der Sachverständigen, daß die erwähnte Bestimmung des Versailler Vertrages auch Sowjetrußland zugute kommen sollte. Freilich war der unmittelbare Nutzen daraus für Sowjetrußland u. a. dadurch beschränkt, daß Sowjetrußland andererseits sich zur Zahlung der Schulden des zaristischen Ruß-land bereit erklären sollte.

Das von Lloyd George in Cannes vorgeschlagene Projekt eines internationalen Konsortiums hatte damit zwar eine festere Form angenommen, gleichzeitig aber damit die Aussichten für den Erfolg der bevorstehenden Konferenz sehr verschlechtert. Überdies geriet die seit Cannes versöhnlicher gewordene Haltung Lloyd Georges gegenüber Deutschland in ein Zwielicht. Er gab dem Wunsche Poincares nach, die Reparationsfrage aus den Verhandlungen der Genueser Konferenz auszuklammem. Ein solcher Rüdezug stellte nicht nur ein fruchtbares Ergebnis der Genueser Konferenz in Frage, sondern mußte sich besonders nachteilig auf Deutschland auswirken; hing doch seine wirtschaftliche Gesundung entscheidend von einer wesentlich anderen Lösung der Reparationsfrage als bisher ab.

Insgesamt zeichneten sich die britisch-französischen Vorbereitungen auf die Konferenz von Genua durch Uneinigkeit der beiden Mächte aus, die offen zu Tage trat. Der schließlich erzielte Kompromiß zwischen Poincare und Lloyd George hatte die in Cannes gefaßten Beschlüsse Lloyd Georges mit dem Vorgänger Poincares, Briand, wesentlich verändert, ja zum Teil ins Gegenteil verkehrt. Es gehörte schon der Leichtsinn des britischen Premierministers Lloyd George dazu, sich trotzdem irgendwie einen Erfolg der Genueser Konferenz, einen Erfolg für den Initiator dieser Konferenz zu erhoffen. 2. Die Vorbereitungen der Sowjetregierung Die am 7. Januar 1922 ergangene Einladung der italienischen Regierung zur Konferenz in Genua wurde bereits am 8. Januar von der Sowjetregierung angenommen. Gegenüber dem ausdrücklichen Wunsch nach einer sowjetischen Delegation unter Führung Lenins in Genua machte die Sowjetregierung in ihrer Antwort vom 8. Januar Vorbehalte geltend. Doch versicherte sie, daß unabhängig von der Teilnahme Lenins „in keinem Falle seitens Rußlands es irgendwelche Hindernisse gegen einen schnellen Gang der Arbeiten der Konferenz geben wird" Die britisch-französischen Gegensätze über die Aufgaben der geplanten Konferenz in Genua waren zu offensichtlich, als daß sie Lenin übersehen konnte. Die französischen Ansichten über Jen wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands konnten seine Theorie über den unver-

meidlich imperialistischen Charakter kapitalistischer Großmächte nur bestätigen. Es lag ihm aber auch nichts daran, die Position des gegenüber Sowjetrußland wesentlich milder handelnden Lloyd George zu stärken. Man mag vielleicht die grundsätzlich ablehnende Haltung Lenins zur Konferenz von Genua bezweifeln: zumindest nach dem Treffen von Lloyd George und Poincare in Boulogne (25. 2. 1922) tat er nichts für einen fruchtbaren Verlauf der Konferenz in Genua etwa durch eigene maßvolle Vorschläge. Bei aller zur Schau getragenen offiziellen Bereitwilligkeit an der Konferenz positiv mitzuarbeiten, benutzte der Vorsitzende der Sowjetregierung die in der Komintern zusam-mengefaßten kommunistischen Parteien dazu, die Konferenz von Genua schon mehrere Wochen vor ihrem Beginn in Verruf zu bringen. Auf seinen Wunsch trat am 24. Februar 1922 das Zentralexekutivkomitee der Komintern zu einer Tagung zusammen Die dort einstimmig angenommenen „Thesen zur Frage des Kampfes gegen Kriegsgefahr und Kriege“ vom 4. März 1922 ließen nichts Gutes an dem Sinn der für den 10. April 1922 einberufenen Konferenz von Genua: „ 9. Die bevorstehende Wirtschaftskonferenz zu Genua ist dazu bestimmt, das weltgeschichtliche Geschick des Kapitalismus — Weltkrieg oder proletarische Weltrevolution — von einem anderen Ausgangspunkte her zu wenden. Die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze der großen kapitalistischen Staaten Europas sollen überbrückt, ihre Kräfte sollen einheitlich, planmäßig, organisiert, international zusammengefaßt werden für den wirtschaftlichen Aufbau. Nach der Verständigung der Bourgeoisien dec verarmten Europas und ihrer ratlosen Regierungen über dieses Werk erwartet man die Bereitstellung der erforderlichen Riesenmittel durch die im Reichtum erstickenden Vereinigten Staaten.

Die Einberufung der Konferenz ist das Eingeständnis, daß der Versailler Frieden und die ihm wesensgleichen anderen Friedensverträge unhaltbar, daß sie nicht eine Grundlage für den Wiederaufbau Europas sind, sondern Mittel zu dessen weiterer Zerrüttung und Verarmung. Die Einberufung der Konferenz ist das Eingeständnis, daß die herrschende Bourgeoisie in den einzelnen Ländern außerstande ist, Ordnung und Stetigkeit in das wirtschaftliche Chaos zu bringen, das der Krieg hinterlassen hat, und neues höheres Leben aus den Ruinen erblühen zu lassen. Sie wird der Beweis sein, daß diese Riesenaufgabe auch die Kräfte der vereinigten Bourgeoisien Europas und Amerikas übersteigt. Sie kann nur nach Niederwerfung der Bourgeoisieherrschaft durch das revolutionäre Proletariat gelöst werden. Mit seiner eigenen Befreiung vom Jodie des Kapitalismus und der Befreiung der menschlichen Arbeitskraft von Ausbeutung und Knechtschaft befreit es auch alle sachlichen Produktivkräfte von den Schranken, die ihnen die kapitalistische Profitwirtschaft setzt, und schafft damit die Vorbedingungen für den vollkommeneren gesellschaftlichen Aufbau ...

Auf dem schwankenden und weichenden geschichtlichen Boden will die geplante Wirtschaftskonferenz den bis in seine Tiefen erschütterten Bau der kapitalistischen Wirtschaft Europas erhalten, festigen, verbessern. Sie soll die Quadratur des Zirkels lösen: die Ansprüche des französischen Imperialismus auf die Ausraubung der deutschen Wirtschaft befriedigen und diese gleichzeitig leistungsfähig genug erhalten, um in Deutschland lohnende Absatzmärkte für englische Waren zu bieten und die englische Industrie gegen deutsche Schmutzkonkurrenz zu sichern. Die Kosten des Interessenausgleichs zwischen dem französischen und englischen Kapitalismus werden die deutschen Proletarier und zufolge der internationalen Schicksalssolidarität der Ausgebeuteten aller Länder die Proletarier der ganzen Welt tragen. Die Kosten soll nach dem Wähnen und Wollen der internationalen Bourgeoisie vor allem der Staat tragen, in dem die Arbeiter und Bauern die Macht erobert haben: Sowjetrußland. Soll ein einziges Mammutsyndikat von Kapitalisten sich an Sowjetrußlands wirtschaftlichem Wiederaufbau beteiligen oder werden das mehrere, viele große Gesellschaften tun? Das scheint die Frage. Es ist die Trage von Räubern, die sich darüber verständigen, wie sie ihr Opfer ausplündern und wie sie miteinander die Beute verteilen wollen.

Die Vorbereitung der Konferenz, die Gutachten der Sachverständigen, das Geflüster der Diplomaten, die Reden der Minister, das Rate-und Ränkespiel der . einflußreichen Kreise', die Hinausschiebung des Tagungstermins: alles das läßt die unversöhnlichen Interessengegensätze und Interessenkonflikte scharf hervortreten, die die kapitalistische Welt zerklüften ..

Eines trat daraus klar hervor: die Wiedergesundung der Wirtschaft Europas unter kapitalistischem Vorzeichen zu verhindern, neue Hoffnungen aus den Gegensätzen zwischen den nichtkommunistischen Staaten zu schöpfen, sie gegenseitig zu diskreditieren und innerhalb der einzelnen Staaten ein haßerfülltes Proletariat gegen die „Bourgeoisie“ dieser Staaten anzu-stacheln. Dem entsprach auch die Resolution an einer anderen Stelle, in der gefordert wurde: „ 6. Die Schaffung legaler und illegaler Organe und Einrichtungen, die ein einheitliches und energisches internationales Zusammenwirken der Kommunisten jener Länder sichern, unter denen die Gegensätze am schärfsten sind“ Das bezog sich damals hauptsächlich auf die Beziehungen Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands zueinander.

Zugleich sollten die Kommunisten in allen Ländern die nichtkommunistische Mehrheit der Bevölkerung für folgende Forderungen gewinnen:

„Im Hinblick auf die internationale Wirtschaftskonferenz der Regierungen in Genua ruft die Sitzung der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale die Schaffenden und Ausgebeuteten aller Länder auf, in geschlossener Front durch gewaltige Kundgebungen ihren Willen dem Verlegenheitsversuch der internationalen Bourgeoisie zum Wiederaufbau der Wirtschaft entgegenzustellen. Das Schachern und Feilschen um ihre Haut und um Sowjetrußlands Haut müssen die Massen durch diese einmütigen Forderungen beantworten:

1. Aufhebung aller Verträge, die den imperialistischen Krieg von 1914— 1918 beendet haben. 2. Einschränkung der Rüstungen aller Art.

3. Abwälzung der Lasten des Krieges, der Reparationen und des Wiederaufbaues auf die Bourgeoisie allein.

4. Hände weg von der Selbständigkeit So-

wjetrußlands und Herstellung normaler politischer Beziehungen zu ihm.

5. Weitgehende Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus von Sowjetrußland durch private Unternehmungen wie durch den Staat.“

Es störte die Partei Lenins und ihre Verbündeten offenbar nicht, die Abwälzung der Reparationslasten allein auf die „Bourgeoisie“, gleichzeitig von ihr eine Unterstützung des wirt-schaftlichen Aufbaus in Sowjetrußland zu verlangen und ihr die „Herstellung normaler politischer Beziehungen“ zu Sowjetrußland zu empfehlen. Die planmäßige Zerstörung aller etwaigen Ansätze für einen positiven Verlauf der Konferenz von Genua (im Sinne der ihr gestellten Aufgabe) — das sprach auch aus den Anweisungen Lenins an Tschitscherin, dem offiziellen Vertreter sowjetischer Außenpolitik. Für das Verhalten Tschitscherins zu den anderen Delegationen auf der Konferenz von Genua sollten nach Lenins Brief vom 14. März 1922 folgende Gesichtspunkte maßgebend sein: „Genosse Tschitscherin!

Ich habe Ihren Brief vom 10. 3. gelesen. Mir scheint es, daß Sie selbst das pazifistische Programm in diesem Brief vortrefflich dargelegt haben.

Die ganze Kunst besteht darin, sowohl ihre als auch unsere kaufmännischen Vorschläge klar und laut vor der Sprengung mitzuteilen (wenn , sie‘ zu einer schnellen Sprengung führen werden).

Diese Kunst wird sich bei Ihnen und unserer Delegation finden.

Meiner Meinung nach haben Sie schon etwa 13 ausgezeichnete Punkte zusammengebracht (Bemerkungen zu Ihrem Brief schicke ich).

Wir werden die Neugierde aller reizen, wenn wir sagen: , wir haben das umfangreichste und vollständige Programm!'Läßt man es uns nicht vorlesen, veröffentlichen wir es mit einem Protest. Überall den . winzigen Vorbehalt machen:

. Wir Kommunisten haben zwar unser kommunistisches Programm (III. Internationale), aber wir halten es trotzdem für unsere Pflicht, als Kaufleute (mag es auch nur ein 1/10 000 Chance sein) die Pazifisten im anderen, d. h.

bürgerlichen Lager (einschließlich der darin enthaltenen II. und 21/2. Internationale) zu unterstützen.

Das wird sowohl giftig als auch . harmlos'

sein und wird helfen, den Feind zu zersetzen.

Bei einer solchen Taktik werden wir auch bei einem Mißerfolg in Genua gewinnen. Auf eine für uns unvorteilhafte Abmachung werden wir nicht eingehen."

Was darunter z. B. gemeint war, sollte u. a. die Rede Tschitscherins auf der Eröffnungssitzung der Konferenz von Genua zeigen. Unter dem Schein einer nur als Kaufleute auftretenden Delegation, was dem kapitalistischen Denken einflußreicher Kreise im „Westen" entgegenkam und westlichen Spekulationen über die harm-loser gewordenen Leninanhänger Auftrieb gab, galt es, politischen Zielen mit zerstörenden Wirkungen für die Genueser Konferenz zu dienen.

Gleichzeitig war mit diesen Anweisungen Lenins ein besonderes Vorgehen gegenüber Deutschland gemeint. Deutschland war möglichst vor dem Beginn der Konferenz von Genua zu einem Vertrag u. a. über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland zu bewegen. Wie die tatsächlich stattgefundenen Verhandlungen zwischen sowjetischen und deutschen Vertretern zeigen sollten, benutzte Sowjetrußland sogar starke Druckmittel, um zu dem erwünschten Erfolg zu gelangen. Als das nicht gelang, wollte die sowjetische Delegation dieses Ziel wenigstens während der Konferenz von Genua erreichen. Der nach Genua reisenden sowjetischen Delegation gab Lenin die Anweisung, „mit allen anzubändeln, aber mit niemandem sich zu binden, Deutschland ausgenommen.“ 3. Die Vorbereitungen der deutschen Regierung Zum besseren Verständnis für das Verhalten der deutschen Regierung zu der bevorstehenden Konferenz von Genua empfiehlt es sich wohl, diesem Zeitabschnitt einen kurzen Rückblick auf die Beziehungen Deutschlands zu Frankreich und Großbritannien seit der Unterzeichnung des Vertrages von Versailles (28. 6. 1919) voraus-zuschicken. a) Die deutsche Stellung gegenüber dem „Westen" und dem „Osten" von 1919 bis zur Konferenz von Genua Kein Zweifel, daß der Versailler Vertrag u. a. schon wegen der damit verknüpften Gebiets-abtretungen und der Entwaffnung Deutschlands auf eine überwiegende Ablehnung des deutschen Volkes stieß. Die darüber hinausgehenden Festlegungen unerfüllbarer deutscher Reparationsleistungen auf folgenden Konferenzen (Paris im Januar 1921, London im Mai 1921), ihre im Mai 1921 mit Drohungen (z. B. britisch-französische Besetzung des Ruhrgebietes) erzwungene Annahme durch die deutsche Regierung erweckten den nachhaltigen Eindruck in Deutschland, daß sich die Regierungen der westeuropäischen Industriestaaten ein andauerndes wirtschaftliches Chaos in Deutschland wünschten. Auch die Begründung für das Recht sehr hoher Reparationsforderungen mit der von Deutschland erzwungenen Anerkennung der Alleinschuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges wirkte wohl fast auf alle Deutschen aufreizend. Zusätzlich aber noch von Deutschland große Reparationsleistungen zu verlangen und ihm gleichzeitig fast alle Exportmöglichkeiten nach den westlichen Ländern zur Erzielung von Überschüssen für die Bezahlung von Reparationen zu verwehren — das erschien so greifbar widersinnig, daß der Glaube an die bösen Absichten der westeuropäischen Industriestaaten in Deutschland mehr und mehr Anhänger fand. Eine andere Quelle der Erbitterung des deutschen Volkes floß aus der erzwungenen Abtretung des wertvollsten Teiles Oberschlesiens an Polen (Oktober 1921), obschon sich 60 Prozent der Bevölkerung Oberschlesiens in einer Abstimmung für Deutschland entschieden hatten (März 1921). Das wurde in Deutschland nicht nur als eine indirekte Unterstützung der von Polen gewaltsam angemeldeten Ansprüche durch Frankreich und Großbritannien angesehen. Ihnen warf man damit auch einen Bruch des Vertrages von Versailles vor.

Jede Regierung in Deutschland seit der Revolution vom November 1918 sah sich daher einer fortschreitenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und der außenpolitischen Macht Deutschlands gegenübergestellt. Sie war gerade deshalb auch einer wachsenden Opposition in Deutschland gegen ihre Außenpolitik gegenüber dem „Westen“ ausgesetzt. Als Ausweg aus dieser Lage lagen Versuche der damals häufig wechselnden deutschen Regierungen nahe, die Vereinigten Staaten für eine intervenierende Politik zugunsten Deutschlands vor allem gegenüber dem damaligen schärfsten Gegner Deutschlands, Frankreich, zu gewinnen. Doch ließen sich die Vereinigten Staaten von ihrer seit Ende 1919 beschlossenen Abkehr von Europa (eine Folge des neu belebten Isolationismus) nicht abbringen.

Wenn der „Westen" als Ganzes Deutschland keine Hilfe zum Schutz gegen seine fortschrei-* tende Auflösung gewährte, ja zum großen Teil das Gegenteil davon tat, so wurde das wachsende deutsche Interesse an Möglichkeiten einer Hilfe aus dem „Osten“, d. h. in diesem Falle von Sowjetrußland, verständlich. Einige Gemeinsamkeiten zwischen Sowjetrußland und Deutschland lagen auf der Hand: die in Versailles geschaffene neue Ordnung Europas baute sich auf Gebietsverlusten vor allem Deutschlands und Sowjetrußlands auf. Beide Staaten ließen ihre Gegnerschaft gegen den Vertrag von Versailles erkennen; beide hatten ein gemeinsames Sicherheitsbedürfnis gegenüber einer polnischen Staatsführung unter Pilsudski, die über „Versailles“ hinaus weitere Gebiete auf Kosten Deutschlands und Sowjetrußlands forderte und sich in den Jahren 1920— 1922 dabei zumindest einer stillen Sympathie der französischen Regierung erfreute. Wenn man noch die starke wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschlands und Rußlands vor dem ersten Weltkrieg und die gegenseitigen wirtschaftlichen Bedürfnisse dieser Staaten nach 1918 berücksichtigte, dann sprach vieles für ihre enge Zusammenarbeit.

Dagegen sprach das immer wieder verkündete Ziel Lenins und seiner Mitarbeiter, die ganze Welt radikal umzugestalten und dabei vor keinem geeigneten Mittel zurückzuschrecken. Der immer wieder zur Gewalt auffordernde und gewaltsam handelnde Führer der Sowjetregierung veröffentlichte im Juni 1920 eine Schrift, in der er die Kommunisten insbesondere Deutschlands, Großbritanniens und Italiens zu Kompromissen mit anderen politischen Gruppen vielfach aufforderte. Es wurde ihnen z. B. empfohlen, nunmehr in den Parlamenten mitzuarbeiten und in die nichtkommunistischen Gewerkschaften einzutreten. Kommunistische Rüdezüge waren nach Lenin in bestimmten Lagen durchaus richtig. War diese Schrift („Der . linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus“) ein Zeichen für die Rüdekehr Lenins zu bescheideneren Zielen als bisher, für seinen Wunsch, mit politisch anders gesonnenen Gruppen zu einem Ausgleich zu gelangen? Wenn ja, so mußte dies die deutsche Regierung ermutigen, eine starke Zusammenarbeit mit Sowjetrußland zu suchen.

Die Schrift Lenins enthüllte sich aber als ein Versuch, alle bisher gemachten Erfahrungen von Kommunisten mit anderen politischen Organisationen zu einer Systematik zusammenzufassen, den Kommunisten aller Länder eine größere Anpassungsfähigkeit an wechselnden Lagen zu lehren, neben der Gewalt auch andere Methoden als nützlich im Dienst eines unverrückbar gebliebenen Zieles zu lehren. Warum sollten nach Lenin z. B. die Kommunisten in Deutschland ihre Opposition gegen die Mitarbeit im Reichstag und den deutschen Länderparlamenten auf'geben? „Nicht allein wenn . Millionen'und . Legionen', wenn einfach eine ziemlich bedeutende Minderheit der Industriearbeiter den katholischen Pfaffen und eine solche Minderheit der Landarbeiter den Junkern und Groß-bauern nachläuft, ergibt sich schon daraus unzweifelhaft, daß der Parlamentarismus in Deutschland sich politisch noch nicht überlebt hat, daß die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Paria-mentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären. Solange ihr nicht stark genug seid, das bürgerliche Parlament und alle sonstigen reaktionären Institutionen auseinanderzujagen, seid ihr verpflichtet, innerhalb dieser Institutionen zu arbeiten, gerade weil sich dort noch Arbeiter befinden, die durch die Pfaffen und in den Krähwinkeln des flachen Landes verdummt worden sind."

Seinen deutschen und westeuropäischen Anhängern riet Lenin in dieser Schrift, sogar allen Widerständen kommunistenfeindlicher Gewerkschaftsfunktionäre zum Trotz, in die nichtkommunistischen Gewerkschaften hineinzugehen und dabei auch vor Lügen und Listen nicht zu-rückzuschrecken: „Kein Zweifel, die Herren Gompers, Henderson, Jouhaux, Legien sind solchen . linken'Revolutionären sehr dankbar, die wie die deutsche . grundsätzliche'Opposition (bewahre uns der Himmel vor solcher . Grundsätzlichkeit'!) oder wie manche Revolutionäre unter den amerikanischen . Industriearbeitern der Welt'den Austritt aus den reaktionären Gewerkschaften und die Ablehnung der Arbeit in ihnen predigen. Kein Zweifel, die Herren . Führer'des Opportunismus werden zu allen möglichen Machenschaften der bürgerlichen Diplomatie greifen, werden die Hilfe der bürgerlichen Regierungen, der Pfaffen, der Polizei, der Gerichte in Anspruch nehmen, um die Kommunisten zu den Gewerkschaften nicht zuzulassen, um sie auf jede Art und Weise aus den Gewerkschaften zu verdrängen, um ihnen die Arbeit in den Gewerkschaften möglichst zu verleiden, um sie herabzusetzen, gegen sie zu hetzen und sie zu verfolgen. Man muß es verstehen, all dem zu widerstehen, muß zu allen und jedweden Opfern entschlossen sein und sogar — wenn es sein muß — zu allen möglichen Kniffen, Listen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit bereit sein, um nur in die Gewerkschaften hineinzukommen, in ihnen zu bleiben und in ihnen um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten."

Kompromisse mit anderen politischen Organisationen und die Anwendung von Gewalt gegenüber denselben Organisationen (mochte es sich dabei um Staaten oder Parteien oder anderes handeln) waren daher logisch im Sinne Lenins keine Gegensätze, sondern nur Instrumente, die je nach der Lage sich dem Ziel — der Zerstörung jener Organisationen — unterzuordnen hatten. Den Zusammenhang zwischen Kompromissen, zwischen Paktieren und Gewaltanwendung drückte Lenin in der erwähnten Schrift u. a. so aus:

»Die Imperialisten Frankreichs, Englands usw. provozieren die deutschen Kommuni-sten, stellen ihnen eine Falle: , Sagt doch, daß ihr den Versailler Frieden nicht unterschreiben werdet!'Und die linken Kommunisten gehen wie Kinder in die ihnen gestellte Falle, anstatt geschickt gegen den heimtückischen und im gegebenen Augenblick stärkeren Feind zu manövrieren, anstatt ihm zu sagen: . Heute würden wir den Versailler Frieden unterschreiben.'Sich im voraus die Hände zu binden, dem Feinde, der jetzt besser gewappnet ist als wir, offen zu sagen, ob und wann wir mit ihm Krieg führen werden, ist eine Dummheit, aber kein revolutionäres Verhalten. Den Kampf aufzunehmen, wenn dies offenbar für den Feind und nicht für uns günstig ist, ist ein Verbrechen, und Politiker der revolutionären Klasse, die nicht zu , laviren, zu paktieren, Kompromisse zu schließen'

verstehen, um einem offenkundig unvorteilhaften Treffen auszuweichen, sind keinen Pfifferling wert.“

Wie der Führer eines Staates auch nach fast drei Jahren seit der Oktoberrevolution es nicht unterließ, den Kommunisten in anderen Staaten so offen vor der ganzen Welt neben der Gewalt auch Verschlagenheit, Biegsamkeit, Lügen im Dienst der von Sowjetrußland unverändert zu führenden Weltrevolution zu lehren, stand wohl einzigartig da. Die Gegnerschaft gegen „Versailles“ rührte ebenfalls von ganz anderen Quellen her und war ganz anderen Zielen untergeordnet, als sie jeder nichtkommunistischen Regierung Deutschlands vorschwebten. Mochte im Vergleich dazu der wirtschaftliche und politische Druck des „Westens“ auf Deutschland noch so gefährlich und demütigend sein, so wurden andererseits alle Schritte der deutschen Regierung zum „Osten“ hin, d. h. in diesem Falle zu Sowjetrußland, durch die Angst vor den revolutionären Folgen für die innere Freiheit Deutschlands beeinträchtigt.

Alle deutschen Regierungen von der Novemberrevolution zumindest bis zum Beginn der Konferenz von Genua hielten die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen trotz der sowjetischen Wünsche nicht für zeitgemäß. Sowohl die erkannten revolutionären Gefahren einer solchen Annäherung für Deutschland als auch die Rücksicht auf das Mißtrauen vor allem. Großbritanniens und Frankreichs gegen eine deutsch-sowjetische Annäherung waren dafür bestimmend.

Die fortgesetzte Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung und der nationalen Demütigung Deutschlands durch Frankreich und Großbritannien machte es allerdings jeder deutschen Regierung ab 1920 schwieriger, an ihrem erwähnten Standpunkt festzuhalten. Der Suche nach einer außenpolitischen Entlastung gegenüber dem Druck der beiden Westmächte, nach einem Ersatz für die verschlossen gebliebenen Export-gebiete im Westen stand allerdings immer die Furcht vor den Folgen einer zu starken und zu schnellen Annäherung an Sowjetrußland gegenüber. Das Ergebnis dieses zwiespältigen Verhaltens war die Vereinbarung der deutschen Vertreter mit sowjetischen Vertretern, den im April 1920 errichteten deutschen und sowjetischen Fürsorgestellen für Kriegs-und Zivilgefangene in Berlin und Moskau gewisse konsularische Befugnisse zu verleihen (Juli 1921) Der zunehmende wirtschaftliche und politische Drude Frankreichs und Großbritanniens (Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921) wurde indirekt mit einem „Deutsch-Russischen Abkommen über die Erweiterung und Tätigkeit der bisherigen Delegationen für Kriegsgefangene“ (6. Mai 1921) beantwortet. Es erweiterte die konsularischen Befugnisse der bisherigen Vertretungen und ließ nunmehr auch Handelsvertretungen der beiden Staaten zu.

Deutlicher als es die deutsche Regierung tun konnte, äußerte sich der verstärkte Wunsch, sich Sowjetrußland zu nähern, im Reichstag. Die für Deutschland ungünstigen Ergebnisse der Verhandlungen mit den westeuropäischen Großmächten in Spa (Mitte Juli 1920) veranlaßte die Sprecher der demokratischen Parteien im Reichstag, die Reichsregierung zur Aufnahme der wirtschaftlichen Verbindungen zu Sowjetrußland dringend aufzufordem (Ende Juli 1920) Im Januar 1921 wurde von der SPD im Reichstag die „möglichste Beschleunigung der Wiederaufnahme nicht nur der Handels-, sondern auch der diplomatischen Beziehungen zu Rußland“ gefordert

Diese ‘ Veränderungen brachten keine grundlegende Änderung des Standpunktes der deutschen Regierung mit sich. Noch immer überwogen die Furcht vor den revolutionären Gefahren Moskaus und das Bemühen, sich nicht durch eine stärkere Annäherung an Moskau eine Annäherung an Paris und London zu verbauen. Von Moskau aus gesehen, sprachen gerade diese Gründe dafür, engere Beziehungen zu Deutschland herzustellen. Dafür sprach auch die besondere Wertschätzung Deutschlands als kommender Lieferant von Maschinen usw. für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Sowjetrußlands. Dementsprechend drängten die sowjetischen Vertreter wiederholt auf eine schnelle Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen. Dem verschloß sich die deutsche Regierung jedoch auch noch zu einer Zeit, da sie die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland zu einem späteren Zeitpunkt für möglich hielt. Maßgeblich für weitere Schritte in dieser Richtung sollten die Fortschritte in der Annäherung Londons an Moskau sein Um nicht das britische Mißtrauen zu erregen, war es seit 1921 der Standpunkt der deutschen Regierung, die offiziellen Beziehungen zu Moskau nur in dem Maße zu erweitern, wie die britische Regierung auf diesem Gebiet vorausging.

Das hier nur skizzierte Verhalten der deutschen Regierungen seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Versailles bedeutete natürlich nicht, daß es auch keine einzelnen Personen innerhalb der verschiedenen deutschen Regierungen oder in den ihr unterstehenden Verwaltungen mit einem davon abweichenden Standpunkt gegeben hat. In dem vom Reichs-kanzler Joseph Wirth am 10. Mai 1921 gebildeten Kabinett war er es selber, der die vermehrten Anzeichen für Frankreichs Streben nach der Besetzung des Ruhrgebietes, nach einer Loslösung Oberschlesiens von Deutschland mit einer irgendwie politisch und militärisch gearteten Verbindung zu Sowjetrußland beantworten wollte. Er deckte daher die bereits Anfang 1921 aufgenommenen geheimen Kontakte zwischen Vertretern der Reichswehr und der Sowjetarmee. Sie sollten nach den Plänen des damaligen Chefs der Reichswehr, General von Seeckt, u. a. auf die Errichtung von Rüstungsfabriken für deutsche Bedürfnisse, von Deutschland finanziert, abzielen Die Versuche, eine den Versailler Vertragsbestimmungen Zuwiderhandelnde Aufrüstung Deutschlands in Sowjetrußland zu betreiben, sah von Seeckt vor allem in seiner Überzeugung gerechtfertigt, daß Frankreich Schritt für Schritt die Vernichtung Deutschlands anstrebte. Diese Einstellung zu Frankreich kommt in einer später verfaßten Stellungnahme von Seeckts für den Reichspräsidenten Ebert und Reichskanzler Wirth vom 11. September 1922 so zum Ausdruck: „Über Frankreich sollte man sich klar sein. Es treibt Vernichtungspolitik pur et simple und muß sie nach den unverrückbar festliegenden Grundsätzen seiner Politik treiben. Die Aussicht, daß wirtschaftliche Entschlüsse die französische Politik in anderem Sinne lenken, ist gleich Null, abgesehen davon, daß es fraglich ist, ob eine Erstarkung Deutschlands in wirtschaftlicher Beziehung überhaupt im Interesse der maßgebenden französischen Industrie liegt“ So befremdlich dem Leser solche Gedanken beim Anblick einer heute immer enger werdenden französisch-deutschen Zusammenarbeit erscheinen, man muß sie aus einer Zeit heraus verstehen, in der ein Frankreih unter Führung Poincares nah Vorwänden für eine zu rehtfertigende Besetzung des Ruhrgebietes suhte, um der geplanten Lostrennung des Rheinlandes von Deutshland auh noh die Lostrennung des Ruhrgebietes hinzuzufügen. Reihskanzler Wirth, ähnlihes wie von Seeckt fürhtend, unterstützte von Seeckt, wobei beide die Deutshland verstärkt drohende bolshe-wistishe Gefahr für den Fall einer außenpolitisch-militärischen Zusammenarbeit mit Moskau niht hoh einshätzten. Wirth kannte auh das tiefe Mißtrauen des Reihspräsidenten Ebert und des Reihsaußenministers Rosen gegenüber einer Annäherung an Sowjetrußland und vershwieg auh ihnen gegenüber die geheimen Kontakte zwishen einigen Offizieren der Reihswehr und der sowjetishen Armee

Auh von der politishen Seite her versuhte Reihskanzler Wirth, eine zunähst geheim zu haltende Annäherung an Sowjetrußland mit dem Ziel eines Friedensvertrages ohne Reparationen zu erreihen. Dazu trieb ihn nah seinem eigenen Beriht eine Entsheidung der interalliierten Reparationskommission vom 28. April 1921, auh Polen das Reht auf Reparationen von Deutshland zu gewähren, allerdings nur in Verbindung mit dem Reht Rußlands auf solhe Leistungen Deutshlands, entsprehend dem Artikel 116 des Versailler Vertrages

Sollte es also später einmal zu einer Vereinbarung Deutshlands mit Sowjetrußland über die von Deutshland zu leistenden Reparationen kommen, dann sollte danah auh Polen als einstiger Bestandteil des zaristishen Rußlands berehtigt sein, Reparationsansprühe an Deutshland geltend zu machen. Gegen diese doppelte Gefahr einer zusätzlihen finanziellen Belastung Deutschlands würde ein deutsh-sowje-tisher Friedensvertrag ohne Reparationen ein endgültiges Hindernis errihten. Für den geeigneten Mann zur Herstellung hierfür geeigneter Kontakte mit sowjetishen Vertretern hielt Wirth den damaligen Inhaber des Rußland-Referates im deutshen Auswärtigen Amt: Ago von Maltzan. Während eines Spazierganges im Garten des Reihskanzlerpalais im Sommer 1921 besprah Wirth mit von Maltzan die möglihen Folgen des Artikels 116 des Versailler Vertrages für Deutshland und beide stimmten in der Beurteilung der immer shwieriger werdenden Lage voll überein Es sollte ihnen zufolge „die Versailler Klammer durh einen Ausbruh nah dem Osten gesprengt werden“ Bei den drohenden Gefahren westliher Reaktionen und der innenpolitishen Entwicklung Deutshlands für den Fall, daß die Öffentlihkeit von einem so gewagten Shritt zu früh erfährt, stimmten Wirth und von Maltzan unausgesprohen darin überein, sogar den Reihspräsidenten Ebert und den Reichsaußenminister Rosen vorläufig niht davon zu unterrihten Von Maltzan hatte das shwierige Unternehmen auf eigene Verantwortung durhzuführen; und Wirth legte Wert darauf, daß er von den zukünftigen Shritten von Maltzans in der vereinbarten Rihtung „nichts wissen" durfte. Wie Wirth viele Jahre später mitteilte, ließ er es „bis Genua“ mit Ago von Maltzan nur zu allgemein gehaltenen Besprehungen kommen, d. h. ohne die Unterrihtung über die erzielten einzelnen Fortshritte. Für von Maltzan bot die von Wirth gestellte Aufgabe eine verlockende Gelegenheit, seine vielfah überdurhshnittlihen Fähigkeiten zu erproben.

Auf dem Hintergrund der fortschreitenden Krise in dem Verhältnis der westeuropäishen Groß-mähte und Polens zu Deutshland während des Jahres 1921 ershienen die british-französishen Beshlüsse von Cannes wie eine Lihtbotshaft — nämlih allen deutshen Anhängern einer Verständigung mit dem „Westen". Hier wurde zum ersten Male seit dem Ende des ersten Weltkrieges ein Standpunkt verkündet, der ein mehr versahlihtes Verhältnis zwishen Deutshland und den westeuropäishen Großmähten erhoffen ließ. Zum ersten Male ein Ansatz, die gegenseitige Abhängigkeit der Volkswirtshaften der europäishen Staaten zu ihrem Wohl und Wehe zu sehen und auf einer kommenden großen Wirtshaftskonferenz in Genua Deutshland als gleihberehtigten Partner zur Mitarbeit an gemeinsam zu lösenden Aufgaben einzuladen! Der von Lloyd George und Briand gefaßte Beshluß in Cannes vom 6. Januar 1922 deutete eine neue Phase des Verhältnisses u. a. zu Deutshland an.

Einen shweren Stoß erhielten diese Hoffnungen durh den Sturz des Ministerpräsidenten Briand in der französishen Kammer bereits am 12. Januar 1922. Wie dargelegt, war sein Gegner und Nahfolger Poincare an dem in Cannes verkündeten Programm einer kommenden Wirtshaftskonferenz fast nur als Gegner interessiert. Das Treffen von Poincare und Lloyd George in Boulogne (25. 2. 22) ließ, wie dargelegt, einen starken Rückzug des englishen Premierministers vor Poincare erkennen. Damit sanken wieder die Hoffnungen der deutshen Regierung und des Deutshen Reihstages auf eine günstige Wende in den Beziehungen zum „Westen“. Wie sollte sih die deutshe Regierung nunmehr auf die Konferenz von Genua vorbereiten? In diese für sie wieder shwieriger werdende Lage hinein stießen die Versuhe sowjetisher Kreise in Berlin, Deutschland zu einem besonderen Vertrag mit Sowjetrußland zu veranlassen. b) Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen von Januar -4. April 1922

Unter dem 20. Januar 1922 notierte der damalige britishe Botshafter für Deutshland, Lord D'Abemon, in seinem Tagebuh: „Radek ist nah Berlin gekommen, um mit den deutshen Behörden und Geshäftsleuten die Richtlinien für die russische Haltung bei der kommenden Genua-Konferenz zu besprehen. Sein Be-suh sollte geheimgehalten werden; und deshalb hat keine Zeitung die Nahriht gebraht.“ Dieser Sonderbeauftragte Lenins bei verschiedenen Gelegenheiten, im Dezember 1918 auf illegale Weise nah Deutshland gelangt, um die Gründung der KPD zu fördern und Ratshläge für die kommunistish geführte Revolution zu geben, im Januar 1919 in Berlin •verhaftet und Ende 1919 zur Ausreise nah Sowjetrußland entlassen, teilte Ago von Maltzan vertraulih mit, französishe Vertreter hätten Verbindung mit der Sowjetregierung über die Möglihkeiten einer französish-sowjetishen Verständigung ausgenommen An einer längeren Dauer dieser Vertraulihkeit war Radek offenbar niht interessiert; sprah er doh fast in derselben Zeit über das gleihe Thema mit deutshen Ministem, Beamten und Parteipolitikern. Der britishe Botshafter Lord D’Abernon, der, weit über sein Amt hinausgehend, eine Vertrauensstellung bei der deutshen Regierung genoß und über Vorgänge in Deutshland ungewöhnlihe Informationen zu erhalten pflegte, zeihnete über Radeks Gesprähe in Berlin folgendes auf: „ 28. Januar 1922 Radek hat ununterbrohen Besprehungen mit den deutshen Ministem, Beamten und Par-teipolitikem. Er erzählt allen dieselbe Ge-sdiichte: daß Frankreich zu einem Geheim-abkommen mit Rußland bereit sei, und daß es ihm Handelskredite, die diplomatische Unterstützung in Angora, die wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau und die Zahlung einer Kriegsentschädigung durch Deutschland auf Grund des Artikels 116 des Versailler Vertrages versprochen habe. Seltsamerweise ist dies gar nicht Radeks Politik, sondern Tschitscherins. Radek lehnt sie im Grunde seines Herzens ab, macht von ihr jedoch aus taktischen Gründen Gebrauch. Er erklärt den deutschen Vertretern: , So steht es nun — wenn ihr uns nicht in die Arme Frankreichs treiben wollt, macht uns ein Gegenangebot. Gebt uns eine Anleihe und entschließt euch, die vollen diplomatischen Beziehungen mit uns sofort aufzunehmen, noch vor dem Zusammentritt der Genua-Konferenz. Wenn ihr erst die Konferenz abwarten wollt, wird uns diese späte Anerkennung nicht viel helfen. Ihr müßt auch unsere Bemühungen unterstützen, um eine Einladung an die Türkei zur Konferenz zu erwirken.'Die Deutschen wenden gegen dieses Angebot oder, besser gesagt, gegen diese Erpressung ein, daß sie noch keine Genugtuung für die Ermordung des deutschen Gesandten Graf Mirbach bekommen haben, daß in Deutschland eine große Geldknappheit herrscht und daß man Ruß-land keine großen Kredite einräumen kann, ohne sich erhöhte Forderungen der Reparationskommission zuzuziehen, die selbstverständlich darauf hinweisen würde, daß, wenn Deutschland Rußland Geld leihen könne, es auch imstande sein müsse, die Reparationen zu zahlen. Andererseits weisen die Sowjet-agenten in ihren Unterredungen mit den Franzosen darauf hin, daß die Vorbedingung einer französisch-russischen Verständigung die Loslösung Frankreichs von Polen sei. An diesem Punkt halten sie mit aller Zähigkeit fest. Sie versprechen Frankreich dagegen, ihm in Angora zu helfen, wo der französische Einfluß ihrer Behauptung nach stark im Verblassen ist.

Am Montag sollen Radek und Genossep mit dem deutschen Reichskanzler und den Vertretern von Krupp, Stinnes und der AEG zusammenkommen.

Der verstärkte sowjetische Druck auf die deutsche Regierung zeigte sich in den Anspielungen Radeks auf die Aussichten einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Frankreich (verschiedene Formen französischer Wirtschaftshilfe für Sowjetrußland). Im Zusammenhang damit deutete er die französische Unterstützung für Artikel 116 des Versailler Vertrages an, der, wie dargelegt, auch Rußland das Recht gab, Reparationen von Deutschland zu fordern. Sollten diese Darlegungen Radeks den Tatsachen entsprechen, so war für Deutschland zumindest ein großer wirtschaftlicher Schaden zu befürchten. Der sowjetische Vertreter benutzte diesen Drude, um von Deutschland die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland vor der Konferenz von Genua (Beginn: 10. 4. 22) zu verlangen.

Warum der sowjetische Vertreter eine solche zeitliche Grenze für die Aufnahme der diplo-matischen Beziehungen setzte, wird erst klar, wenn man den Standpunkt der deutschen Regierung während dieser Verhandlungen berücksichtigt. Sie erklärte sich zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen bereit, aber nach ihrer Meinung sollte ein solcher Vorgang erst nach der Konferenz von Genua stattfinden. Sie befürchtete, daß die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Sowjetrußland vor der Konferenz von Genua die Beziehungen zu Großbritannien und Frankreich noch weiter belasten würde. Sie wünschte das britische Mißtrauen gegen eine weitere deutsche Annäherung an Moskau besonders zu einer Zeit nicht herauszufordern, da auf der kommenden Konferenz von Genua entsprechend dem britischen Plan Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied der Konferenz willkommen geheißen werden sollte. Diese Aussicht nicht durch eine vorzeitige Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Moskau zu gefährden, erschien der deutschen Regierung um so wichtiger, als sie in den vergangenen Jahren seit 1919 nicht wenige Beispiele einer ungleichen Behandlung seitens der europäischen Westmächte erlebt hatte. Ein deutscher Schritt in Richtung Moskau vor der Konferenz in Genua barg die zusätzliche Gefahr in sich, daß die besonders mißtrauische französische Regierung Berlin einer für den „Westen“ gefährlichen Zusammenarbeit mit Moskau verdächtigen würde, was wiederum zu einer neuen gemeinsamen britisch-französischen Front gegen Deutschland führen könnte. Aus diesen und anderen Gründen lehnte die deutsche Regierung trotz der sowjetischen Druckmittel die Unterzeichnung eines Vertrages u. a. über die sofortige Aufnahme der diplomatischen Beziehungen ab.

Die Gründe der deutschen Regierung für ihren Standpunkt mußten die Sowjetregierung im Sinne der Theorie Lenins veranlassen, die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen gerade vor der Konferenz von Genua zu verlangen. In ihrer Sicht hatte sie alles zu tun, um die von Deutschland dringend gewünschte Verbesserung • der deutsch-britischen Beziehungen zu verhindern. Alle Tendenzen der Annäherung zwischen kapitalistischen Staaten waren zu bekämpfen. Die systematische Entfachung und Verschärfung von Gegensätzen zwischen den kapitalistischen Staaten (und damit ihre Schwächung insgesamt) ist ein wesentlicher Bestandteil der Theorie Lenins. In dem vorliegenden Fall würde z. B. die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland vor der Konferenz von Genua den Ausbruch eines neuen Konfliktes u. a. zwischen London und Berlin bedeuten, während sich gleichzeitig damit die Position Moskaus gegenüber Berlin, London und Paris verstärken würde.

Beharrlich verfolgte die Sowjetregierung ihre Ziele in Berlin weiter und entsandte im Februar 1922 zwei weitere sowjetische Unterhändler, nämlich Krassin und Rakowsky Den deutschen amtlichen Vertretern wie dem neuen Außenminister Walther Rathenau, dem inzwischen zum Leiter der Ostabteilung im Auswärtigen Amt aufgestiegenen Ago von Maltzan lag natürlich sehr daran, die zahlreichen sowjetischen Anspielungen auf eine fruchtbare französisch-sowjetische Zusammenarbeit auf der Grundlage des Artikels 116 des Versailler Vertrages näher zu erforschen. Rathenau hielt die Gefahr einer sowjetisch-französischen Zusammenarbeit zu Lasten Deutschlands für viel geringer als von Maltzan. Er vertrat in einem Gespräch mit dem britischen Botschafter Lord D'Abernon (12. 2. 22) den Standpunkt, daß „die Sowjets nur versuchen, Unstimmigkeiten zwischen Frankreich und England zu schaffen, um es zu einem Wettstreit um ihre Freundschaft kommen zu lassen“ Daß zwischen sowjetischen und französischen Vertretern Gespräche stattgefunden hatten, konnte als wahr unterstellt werden. Entsprach aber das Ergebnis dieser Gespräche auch nur annähernd den Aussichten, die Radek, Rakowsky, Krassin darüber gegenüber den Deutschen äußerten? Je nach diesem Ergebnis mußte der deutsche ablehnende Standpunkt zu den sowjetischen Forderungen nach der sofortigen Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, nach Krediten usw. folgenschwer sein. Die deutschen Nachforschungen nach dem tatsächlichen Stand der französisch-sowjetischen Beziehungen schufen keine Klarheit. Unter dem entscheidenden Einfluß Rathenaus versagte sich die deutsche Regierung den sowjetischen Forderungen u. a. mit Rücksicht auf die Gefahren für das britisch-deutsche Verhältnis.

Einen Teilerfolg konnte Radek als Ergebnis seiner geheimen Gespräche mit von Maltzan dennoch verbuchen. Im Verlaufe seiner Gespräche im Februar 1922 legte ihm von Maltzan in einem Protokoll die Punkte vor, die nach von Maltzans Ansicht für eine Paraphierung in einem deutsch-sowjetischen Vertragsentwurf reif waren. Hier handelte von Maltzan ohne das Wissen des deutschen Reichsaußenministers Rathenau, aber entsprechend dem geheimen Auftrag, den Reichskanzler Wirth ihm, wie dargelegt, im Sommer 1921 gegeben hatte. Daß von Maltzan bereits im Februar 1922 die Initiative zur Paraphierung eines deutsch-sowjetischen Vertragsentwurfs ergriff, geht aus dem vertraulichen Brief (8. 4. 22) eines Mitgliedes der sowjetischen Vertretung in Berlin an das Volks-kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten hervor 37“). Der Brief, in dem das Schriftstück von Maltzans als „geheimes Protokoll" bezeichnet wird, erwähnt zwei Punkte, die in dem Schriftstück Maltzans wegen der Meinungsverschiedenheiten keine Regelung fanden: die sowjetischen Verpflichtungen für die durch die Sozialisierung in Sowjetrußland entstandenen deutschen Vermögensverluste sowie das von Deutschland geforderte Recht der gegenseitigen Meistbegünstigung 37a). Was von Maltzans Schriftstück damals als Punkte der Einigung zwischen von Maltzan und Radek enthielt, geht aus dem erwähnten Brief nicht hervor. Vermutlich wurde bereits die deutsch-sowjetische Bereitschaft zur sofortigen Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und zum gegenseitigen Verzicht auf Kriegsentschädigungen verzeichnet.

Wie dem auch sei, die geheimen Bemühungen von Maltzans, einen deutsch-sowjetischen Vertragsentwurf mit Wissen Radeks vorzubereiten, mußten in Radek vor seiner Abreise Hoffnungen für ein weiteres Entgegenkommen der deutschen Regierung im Laufe der folgenden Zeit erwecken. „Die Bolschewisten Rakowsky, Radek und Krassin und ein oder zwei andere trafen sich hier zu einer Konferenz und fahren jetzt zusammen nach Moskau ab, um sich Direktiven für die Haltung Rußlands bei der Genua-Konferenz zu holen", schrieb Lprd D'Abernon in sein Tagebuch (19. 2. 22) Vor seiner Abreise von Berlin sprach Rakowsky mit einem sozialdemokratischen Parteimitglied über die sowjetischen Wünsche nach einer Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien. In diesem Zusammenhang wollte er den Eindrude einer geringen Bedeutung Deutschlands für Moskau erwecken. D'Abernon notierte darüber (19. 2. 22): „Rakowsky besprach die Lage mit einem meiner sozialistischen Bekannten und sagte ihm folgendes: . Rußland versucht, sich mit Frankreich anzufreunden, weil die Freundschaft mit England ihm nicht genügt. Wenn wir Frankreich unzugänglich finden sollten, werden wir uns mit Haut und Haaren in die Arme Englands werfen. Jetzt halten wir Frankreich für wichtiger ... Deutschland können wir im Augenblick beiseite lassen. Wenn wir zu einem Abkommen mit England gelangen sollten, würde uns Deutschland von selbst folgen 38).

Die systematische Verwirrung von kapitalistischen Staaten durch Lockungen und Drohungen, ein wichtiger Grundsatz Lenins, kam in den Worten Rakowskys wie in den vorangegangenen sowjetisch-deutschen Verhandlungen in Berlin zum Ausdruck. Als Rakowsky von dem deutschen Sozialdemokraten „gefragt wurde, warum die Russen Radeks Interview im »Marin« zugelassen hätten, aus dem man den Eindruck bekam, daß Moskau überall seine Köder auswirft und mit jedem gegen jeden intrigieren will, sagte Rakowsky: , Die Engländer sollen nicht glauben, daß sie mit uns alles machen können. Sie werden uns nur um so mehr schätzen, wenn sie fürchten, daß wir uns anderswohin wenden können.'“

Radeks und Rakowskys Absicht mit ihren Handlungen und Erklärungen war offensichtlich, in Berlin Furcht zu erregen vor einer sowjetischen Verständigung mit Paris und London, in London Furcht vor einer sowjetischen Verständigung mit Paris, in Paris Furcht vor einer sowjetischen Verständigung mit London oder Berlin, damit große Anstrengungen von Paris, London und Berlin um eine Zusammenarbeit mit Moskau auszulösen und gleichzeitig die Beziehungen zwischen Paris, London und Berlin untereinander zu verschärfen. Gelang dies alles, dann mußte eine Stärkung der Position Moskaus gegenüber den drei Mächten und eine gleichzeitige Schwächung dieser drei Mächte durch die unter ihnen geschürten Gegensätze die Folge sein. Das allgemeine Wunschbild in dieser Hinsicht hatte Lenin in einer bis 1924 geheim gehaltenen Rede vor den Moskauer Zellensekretären der KP am 26. November 1920 enthüllt: „Das Beispiel des Friedens von Brest-Litowsk hat uns viel gelehrt. Gegenwärtig stehen wir zwischen zwei Feinden. Wenn es unmöglich ist, sie beide zu besiegen, so müssen wir unsere Kräfte so gruppieren, daß die beiden miteinander in Streit geraten, denn wenn zwei Diebe sich in den Haaren liegen, so gewinnt der Ehrliche stets dabei. Sobald wir aber stark genug sein werden, um den gesamten Kapitalismus niederzuschlagen, werden wir ihn sofort am Kragen packen."

Der sowjetische Druck auf Deutschland, so wie er sich in den Verhandlungen sowjetischer Vertreter in Berlin durch Hinweise auf den Artikel 116, auf eine sowjetisch-französische Annäherung usw. äußerte, wurde durch Äußerungen kommunistischer Zeitungen und der Komintern in Moskau ergänzt. Die schillernde Haltung der sowjetischen Vertreter in Berlin, sich einerseits gegen den Artikel 116 des Vertrages von Versailles auszusprechen und dennoch die Möglichkeit seiner Anwendung gegen Deutschland nicht ganz auszuschließen, ließen auch sowjetische Zeitungen erkennen. Nachdem Radek im Gegensatz zu seinen vorangehenden Gesprächen mit deutschen Vertretern in Moskau in der „Prawda“ vom 27. Dezember 1921 die sowjetische Befürwortung des Artikels 116 nicht mehr ausgeschlossen hatte ergriff die sowjetische Zeitung „Iswestija“ Anfang Februar 1922 hierzu das Wort. Sie wandte sich gegen die Anerkennung des Artikels 116, ließ aber eine Reihe von Leserzuschriften abdrucken, in denen deutsche Reparationen für Sowjetrußland gefordert wurden. Wer weiß, wie bereits damals Leserzuschriften in Sowjetrußland einer zentralen Steuerung unterlagen, wird das schillernde sowjetische Verhalten zur Anwendung des Artikels 116 auf Kosten Deutschlands wieder erkennen.

Das schon damals erkennbare Instrument sowjetischer Außenpolitik, die Kommunistische Internationale, versuchte die hoffnungslose Lage Deutschlands hinsichtlich seiner Zusammenarbeit mit Großbritannien und Frankreich den Deutschen vorzuführen und im Kontrast hierzu auf die Verhandlungsposition Sowjetrußlands gegenüber Paris und London hinzuweisen: „Trotz des einigen Willens der Bourgeoisie aller Länder, Sowjetrußland zu einem Kolonialgebiet internationaler kapitalistischer Ausbeutung herabzudrücken, treten mit jedem Tag augenscheinlicher die Gegensätze hervor, die bei dem geplanten Auswucherungsgeschäft zwischen den Kapitalisten Frankreichs, Englands, der Vereinigten Staaten, Deutschlands bestehen. Der Kampf zwischen der französischen und englischen Regierung in der russischen Frage ist der unzweideutige Ausdruck dieser Gegensätze, ebenso das Verhalten der Regierung Deutschlands. In ihrer Politik Rußland gegenüber war dieses nichts als ein Schatten der Entente; und angesichts der Frage . Wiederaufbau Sowjetrußlands'tritt es jetzt als englischer Vasall auf. Das aber, obwohl sogar die kapitalistischen Interessen Deutschlands eine selbständige Politik fordern.

So unsicher der Ausgang der Konferenz ist, so ist heute schon dieses klar: Deutschland wird das Objekt sein, über das die Ententeimperialisten verhandeln. Deutschland wird nicht einmal die Frage einer Revision des Versailler Vertrages aufzurollen wagen, trotzdem man mit Händen greifen kann, daß ohne diese Revision der Aufbau der europäischen Wirtschaft auch auf kapitalistischer Grundlage nicht möglich ist. Mit Sowjetrußland dagegen werden die Ententeimperialisten verhandeln müssen. In dieser Tatsache kommt die Macht zum Ausdruck, die Sowjetrußland trotz des jammervollen Zustandes seiner Wirtschaft der proletarischen Revolution verdankt. Diese Revolution, die die Rote Armee zur Verteidigung der Räteordnung aus dem Boden gestampft hat, wird auch die Sowjet-macht stärken, dem Ansturm des Weltkapitalismus auf wirtschaftlichem Gebiet begegnen.

Die Anerkennung der Sowjetregierung de facto, wenn auch nicht de jure, durch die Einladung zur internationalen Wirtschaftskonferenz wird die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten vertiefen." (Aus der These 9 der „Thesen zur Frage des Kampfes gegen Kriegsgefahr und Kriege“ des Exekutivkomitees der Komintern vom 4. 3. 22) Das war wieder ein Appell an die deutsche Regierung, sich in ihrer Politik vom „Westen“ zu Sowjetrußland zu wenden. Sie sollte nach sowjetischem Wunsch die Nützlichkeit einer Zusammenarbeit mit Sowjetrußland erkennen, um gegenüber Frankreich und Großbritannien nur überhaupt bestehen zu können, während Sowjetrußland sich einer viel besseren Position gegenüber den Westmächten erfreute.

Noch einmal versuchte es die Sowjetregierung, den von ihr erwünschten Vertrag vor der Konferenz von Genua abzuschließen. Auf ihrer Durchreise nach Genua traf die sowjetische Delegation unter der Führung Tschitscherins am 1. April in Berlin ein. Am Abend dieses Tages beriet sich die sowjetische Delegation über die Taktik des Vorgehens und beschloß, zunächst den sowjetischen Plan einer deutschen Anleihe an Sowjetrußland mit den deutschen Vertretern nicht näher zu erörtern 44a) Zunächst sollten die Verhandlungen auf einen Vertrag über die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen und über den deutschen Verzicht auf Entschädigungen für das sozialisierte deutsche Vermögen in Sowjetrußland abzielen. Der Vorschlag von Maltzans in dem erwähnten Geheimprotokoll, das er Radek im Februar überreicht hatte, wurde /von der sowjetischen Delegation als „unannehmbar" angesehen 44b). Von Maltzan hatte darin einen Kompromißvorschlag gemacht, wonach die deutsche Regierung das Recht auf eine Entschädigung für die sozialisierten deut-schen Vermögenswerte in Sowjetrußland zwar aufrechthält, dafür aber faktisch das Recht so beschränkt, daß Sowjetrußland keine Entschädigung zu zahlen braucht 44b). An dem offiziellen Verzicht Deutschlands auf eine Entschädigung dieser Art lag der sowjetischen Delegation besonders, weil sie bei Forderungen der West-machte nach einer Entschädigung dieser Art auf einen Präzedenzfall, nämlich auf den deutschen vertraglichen Verzicht, hinweisen wollte. Einen solchen deutschen Verzicht vor der Konferenz von Genua zu erreichen, mußte die sowjetische Position auf der Konferenz gegenüber den sicher zu erwartenden Forderungen Frankreichs und Großbritanniens stärken. Dieser Verzicht vor der Konferenz in Genua lag aber nicht im Interesse Deutschlands, sofern es nicht sein Ziel war, die Westmächte durch die vertragliche Anerkennung des sowjetischen Standpunktes über die Entschädigungslosigkeit der Sozialisierung ausländischen Vermögens zu verärgern.

Während ihres Aufenthaltes in Berlin erkannte die sowjetische Delegation bald das Zögern der deutschen Regierung gegenüber neuen Verhandlungen vor der Genueser Konferenz. Aus ihrer Lage heraus, dem Mißtrauen in Frankreich und Großbritannien gegenüber deutsch-sowjetischen Verhandlungen nicht neuen Auftrieb zu geben und gleichzeitig die Gefahr einer sowjetischen Annäherung an diese Mächte zu vermindern, verhielt sich die deutsche Regierung gegenüber den neuen Besuchern vieldeutig. Sie stellte der am Sonnabend mittag in Berlin angekommenen sowjetischen Delegation den Empfang durch den Reichskanzler und Außenminister erst für den folgenden Montag (3. 4. 22) in Aussicht. Tschitscherin äußerte seinen Unwillen darüber in einem Brief an das sowjetische Außenkommissariat, worin er schrieb: „Die Abreise des Kuriers gibt die Möglichkeit, Sie mit unserem Aufenthalt in Berlin vertraut zu machen. Wir kamen am Sonnabend an, um am Dienstag wieder abzureisen. Jedoch empfangen uns Wirth und Rathenau erst am Montag. Wir zogen schon von den ersten Schritten an aus diesem Umstand den Schluß, daß die deutsche Regierung eine Komödie vor uns aufzuführen wünscht, in der sie leidenschaftlich ein Abkommen mit uns wünscht, aber es in Wirklichkeit so anlegen wird, daß es kein Abkommen gibt. Am Sonntag drängten wir auf ein einleitendes Treffen mit dem Leiter der Ostabteilung, Malt-zan." 44c)

Dieses Bild Tschitscherins von dem Verhalten der deutschen Regierung traf im großen ganzen die damalige Lage. Das Gespräch von Maltzans mit Tschitscherin am Sonntag, dem 2. April, drehte sich um die für Moskau so wichtige Forderung, daß Deutschland auf Entschädigungen für die von der Sozialisierung betroffenen Vermögenswerte in Sowjetrußland verzichtet 44c). Von Maltzan sagt in seinem Gespräch mit Tschitscherin den Mißerfolg einer solchen sowje-schen Absicht voraus. Von Maltzan konnte nur ein für Moskau erfreuliches Zeichen mitteilen, nämlich die Absicht des deutschen Außenmini-sters, am folgenden Tage feierlich die Übergabe des russischen Botschaftsgebäudes Unter den Linden an die Sowjetregierung anzukündigen 44d). Das würde nach von Maltzans Ansicht die politische Nähe zwischen Deutschland und Sowjetrußland vor Genua gebührend hervorheben 44d). Ein solches in Aussicht gestelltes Entgegenkommen der deutschen Regierung lag sicher weit hinter den Wünschen der sowjetischen Delegation zurück.

Auch der Besuch Tschitscherins am Montag, dem 3. April, zunächst bei dem Reichskanzler Wirth, danach bei dem Reichsaußenminister Rathenau erwies sich als erfolglos. Bei beiden stellte Tschitscherin ein ausweichendes Verhalten fest. Ihre Stellungnahme zu den sowjetischen Wünschen charakterisierte er in seinem vertraulichen Brief vom 10. 4. 22 wie folgt: „Am Montag morgen waren wir vor allem bei Wirth. Ich legte ihm in Kürze die Ge-schichte unserer Beziehungen während des letzten Jahres dar. Wirth verhielt sich zu allem gutherzig und mitfühlend, aber er antwortete ausweichend und ganz allgemein, indem er sich auf die Schwierigkeiten der deutschen Lage bezog, auf die Dürftigkeit der Mittel nicht nur der deutschen Regierung, sondern auch der Kapitalisten und auch auf die Schwäche der deutschen Regierung und ihren geringen Einfluß auf die deutschen Kapitalisten.

Von dort aus gingen wir zu Rathenau, der unendlich lange', sehr hübsch spricht, mit angenehmem Bariton und mit offensichtlichem Genuß seiner eigenen Stimme zuhört. Er er-ergießt sich in freundschaftlichen Gefühlen, spricht viel über ein Mißverständnis, weswegen er in unseren Augen in einem schlechten Lichte stehe, aber in den grundlegenden Fragen erweist er sich im wesentlichen als ganz ungesprächig, bei gleichzeitigem Überfluß an freundschaftlichen Phrasen." 44d)

In dem Gespräch mit Rathenau unterstrich Tschitscherin die sowjetische Ablehnung eines internationalen Konsortiums für den Wiederaufbau Sowjetrußlands. Er warf dabei Deutschland vor, sich als Instrument der Ausbeutung Sowjetrußlands den Westmächten zur Verfügung zu stellen, um dafür eine Prämie zu erhalten 44d). Rathenau hielt jedoch an dem Plan eines internationalen Konsortiums fest, weil Deutschland sich zur Mitarbeit verpflichtet habe Wie wenig er damit Sowjetrußland in eine schwierige Lage bringen wollte, ging aus seinem Vorschlag hervor, keinen Beschluß des geplanten Konsortiums ohne vorheriges sowjetisches Einverständnis zu unterstützen Als sowjetische Gegenleistung erwartete er, daß jede zu vergebende Konzession in Sowjetrußland an ausländische Unternehmer zunächst Deutschland angeboten wird. Es kam zu keiner Einigung zwischen den beiden in dieser Frage. Ebensowenig erfolgreih im sowjetischen Sinne war auch ihr Gespräch über die Frage der Entschädigung für die aus* Von Maltzan brachte am Dienstag, dem 4. April, Tschitscherin einen Vertragsentwurf. Dieser Vertragsentwurf stellte in der Sicht Tschitscherins verschlechterte Bedingungen dar im Vergleich zu den mündlichen Zusicherungen, die Rathenau Tschitscherin am Tage zuvor gemacht hatte 46a). Aber auch in dieser Form sollte der Vertrag nach der Ansicht der deutschen Regierung erst nach der Konferenz von Genua unterzeichnet werden. Das für Moskau negative Ergebnis der Verhandlungen drückte Tschitscherin in dem erwähnten Brief vom 10. April u. a. wie folgt aus: „So hätten wir im besten Falle nur ein paraphiertes Abkommen, aber kein unterschriebenes, gehabt. Das nutzte uns überhaupt nichts. Wir hatten alles nur deshalb getan, damit wir im Augenblick der Genueser Konferenz einen Präzedenzfall in der Form eines Vertragsmusters über den Verzicht auf die Entschädigung für die Nationalisierung ausländischen Eigentums haben. Während des Frühstücks bei Deutsch kam noch einmal Maltzan von Rathenau und sagte, daß weitere Zugeständnisse nicht gemacht werden können. „Auf diese Weise haben wir in Deutschland nichts erreicht, wobei es für uns unzweifelhaft ist, daß Deutschland wegen seiner Politik zur Entente es überhaupt vorzieht, ein Abkommen mit uns hinauszuzögern. Ungeachtet der für Deutschland äußerst schweren Note über Reparationen hegt die Regierung Wirth immer noch irgendwelche Hoffnungen auf die Möglichkeit, England zu bereden und zu begütigen. Wir sind daher von Deutschland mit nichts weggefahren. * 46b)

Selbst das deutsche Entgegenkommen in der geplanten Übergabe des russischen Botschaftsgebäudes Unter den Linden an die Sowjetregierung erwies sich nach der Meinung Tschitscherins als sehr zweifelhaft. Ihm zufolge hatte Rathenau gleich zu Anfang des Gesprächs die Übergabe des Gebäudes angekündigt. Dann aber machte nach Tschitscherin die deutsche Regierung der sowjetischen Delegation gegenüber dieses Anerbieten von der Wiederherstellung des deutschen Botschaftsgebäudes in Leningrad (damals Petrograd) abhängig. „Das Haus der deutschen Botschaft in Petrograd,“ fuhr Tschitscherin in seinem Brief vom 10. 4. 22 fort, „ist so gründlich zerstört und hat wegen der Verlegung der Botschaft nach Moskau so an Bedeutung verloren, daß diese Bedingung einfach eine Schikane ist, die die alten Methoden der deutschen Regierung wieder hervorbringt.“ 46c)

Die Deutung des veränderten deutschen Verhaltens zu der geplanten Übergabe des russischen Botschaftsgebäudes entsprach sicher nicht den Tatsachen. Jedoch drückte sich darin die offenbar nachträglich entstandene Furcht der deutschen Regierung aus, schon mit der angebotenen Übergabe des Botschaftsgebäudes ohne der Sozialisierung entstandenen deutschen Vermögensverluste in Sowjetrußland. Bedingungen zu stark eine deutsch-sowjetische Annäherung gegenüber den Westmächten hervorzuheben und damit die Aussichten Deutschlands auf der bevorstehenden Konferenz von Genua zu verschlechtern. Das von Tschitscherin als Schikane gedeutete Verhalten der deutschen Regierung dürfte ein verhüllter deutscher Versuch gewesen sein, durch eine wahrscheinlich unerfüllbare Bedingung die angekündigte Übergabe des russischen Botschaftsgebäudes mit Rücksicht auf die Stimmung im „Westen" hinauszuzögern.

Wenngleich Tschitscherin in seinem erwähnten Brief den vollen Mißerfolg der sowjetischen Delegation in Berlin (1. — 4. April 1922) unterstrich, so galt dies nur in dem Sinne, daß der erwünschte Vertrag mit Deutschland vor der Konferenz von Genua nicht zustande kam. Hingegen wurden in geheimen Besprechungen zwischen Tschitscherin und von Maltzan Fortschritte in der Formulierung eines Vertragsentwurfs erzielt. Von Maltzan führte in Befolgung des erwähnten geheimen Auftrages von Wirth hinter dem Rücken Rathenaus geheime Verhandlungen mit Tschitscherin, die sich zumindest mit dem Standpunkt des Reichsaußenministers und des Reichspräsidenten nicht vereinbaren ließen. H. Helbig zeichnet das Ergebnis seiner Nachforschungen über die geheimen Verhandlungen zwischen Tschitscherin und von Maltzan zusammenfassend so: „Um gegenüber den Verhandlungen, die Rathenau leitete, weiterzukommen, trieb sie Maltzan insgeheim mit Tschitscherin voran, formulierte die Punkte, über die sie sich einig geworden waren, und holte dazu sehr diskret, ohne daß sie untereinander davon wußten, den Rat einzelner Experten ein. Dieser in Form eines Protokolls abgefaßte Vertragstext bildete dann in Rapallo zum größten Teil wörtlich die Grundlage für den abgeschlossenen Vertrag.“

In diesem damals geheimen Vertragsentwurf war entsprechend dem sowjetischen Wunsch eine sofortige Aufnahme der diplomatischen Beziehungen vorgesehen Beide Teile verzichteten auf Kriegsentschädigungen ein sowjetisches Entgegenkommen gegenüber dem deutschen Wunsch, die Gefahr sowjetischer Reparationsansprüche auf Grund des Artikels 116 des Versailler Vertrages zu beseitigen. Auch einige andere weniger bedeutende Bestimmungen sollten in dem späteren Vertrag von Rapallo wieder auftauchen. Nicht enthalten war der deutsche Verzicht, Entschädigungen für die aus der Sozialisierung entstandenen deutschen Vermögens-verluste zu verlangen. Der erwähnte Brief Tschitscherins äußert sich nicht über irgendwelche Regelungen zwischen ihm und von Maltzan, die in einem neuen geheimen Protokoll ihren Niederschlag gefunden hatten.

Als die sowjetische Delegation am 5. April 1922 Berlin auf ihrer Reise nach Genua verließ, konnte sie sich immerhin eines Teilerfolges in Berlin erfreuen. Wie es sich später noch zeigen sollte, kam es ihr darauf an, diesen vorläufig geheim zu haltenden Teilerfolg in einen vollen öffentlichen Erfolg während der Konferenz von Genua auszubauen. c) Die Sitzung der deutschen Regierung vom 5. April 1922 und der zu befolgende Kurs für Genua Einen Tag nach dem Ende der Verhandlungen mit der sowjetischen Delegation trat das Reichs-kabinett in Anwesenheit des Reichspräsidenten zu einer Beratung über die zu befolgende Politik in Genua zusammen. Mit Recht konnte Rathenau seine Erwartungen von der Konferenz in Genua in dem Bewußtsein aussprechen, sich einer vieldeutigen Politik gegenüber dem „Westen“ streng enthalten zu haben. Allen drohenden und lockenden Versuchen sowjetischer Vertreter in den vergangenen Monaten hielt er stand, davon überzeugt, daß das vorrangige Problem ein Ausgleich mit dem „Westen“ sei — trotz aller zahlreichen bitteren Erfahrungen in den Jahren, Monaten und Wochen vor dieser Kabinettssitzung. Weder er noch der Reichs-präsident wußten etwas von den heimlichen Versuchen von Maltzans, anläßlich der Anwesenheit der sowjetischen Delegation in Berlin in den ersten Apriltagen einen Vertragsentwurf vorzubereiten

Daß dieses Verhalten Rathenaus der deutschen Delegation in Genua zum Segen gereichen werde, wurde von Rathenau skeptisch beurteilt. Wie enttäuschend waren alle Erklärungen und Handlungen von Lloyd George nach seinen für Deutschland hoffnungsvoll klingenden Formulierungen in Cannes! Deutlich hatte sich in der Zwischenzeit sein Interesse von Deutschland zu Sowjetrußland hin verlagert, nachdem Poincar 47 die Erörterung der für Deutschland besonders wichtigen Reparationsfrage als Programmpunkt für Genua Lloyd George verweigert hatte. Aber die Folgerung aus der möglichen Annäherung zwischen London und Moskau, vielleicht noch durch das Hinzutreten von Paris ergänzt, zog er nicht, weil die Annahme der sowjetischen Vorschläge Deutschland in einen noch verschärf-teren Konflikt mit den westeuropäischen Großmächten bringen würde. Warum nach alledem trotzdem nach Genua gehen? Es wäre nach Rathenau „ein Fehler, von ihr fernzubleiben, weil wir damit verzichten würden auf die Gelegenheit, Kontakte zu bekommen, und weil wir dort auch die Möglichkeit haben werden, eine Reihe von Gedanken in die Erörterung einzuwerfen, auch nachdem das Reparationsproblem ausgeschaltet ist.“

Rathenau folgend, äußerte sich der Reichs-kanzler Wirth über die Aussichten für Genua. Man sollte ihm zufolge die Ausschaltung des Reparationsproblems in Genua nicht dulden Nicht passives Abwarten der Handlungen der Westmächte und dann Handeln, sondern aktives Vorgehen bei der Frage, „insbesondere, ob wir gleich das russische Problem aufwerfen und anschließend die mitteleuropäische Frage anschneiden." Wußte damals Wirth schon von den geheimen Vorbereitungen von Maltzans zu dem deutsch-sowjetischen Vertragsentwurf in den letzten Tagen? Wir wissen es nicht. Aber auch aus „innenpolitischen Gründen" befürwortete Wirth „eine gewisse Aktivität“ 52). Diese allgemein gehaltenen Wendungen konnten nach der Lage der Dinge nichts anderes bedeuten, als sich auch für ein Handeln gegen die britischen Interessen in Genua vorzubereiten. Der Reichspräsident schloß sich den Andeutungen Wirths nicht an und machte seine Abneigung gegen etwaige schnelle Entschlüsse der deutschen Delegation in Genua zugunsten Sowjetrußlands dadurch deutlich, daß er, wie an anderer Stelle dargelegt, auf seiner vorherigen Zustimmung nachdrücklich bestand.

Ein klares Programm, das die Mitglieder der deutschen Delegation für Genua zu einer fest geschlossenen Gruppe vereinigte, konnte daher nicht das Ergebnis dieser Kabinettssitzung sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Louis Fischer: . The Soviets in World Affairs*, Bd. 1, Princeton (USA) 1951, S. 323.

  2. Herbert Helbig: . Die Träger der Rapallo-Politik', Göttingen 1958, S. 74.

  3. Department of State (Herausg.): „Das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion 1939-1941, Akten aus dem Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes“, Washington D. C. 1948, S. 5/6.

  4. „Kurier", Berlin, 18. 6. 1951.

  5. „Tägliche Rundschau”, Ost-Berlin, 17. 4. 1952.

  6. Louis Fischer: a. a. O., S. 321.

  7. Der Wortlaut des Dekrets abgedruckt bei W. Grottian: „Lenins Anleitung zum Handeln’, Köln 1962, S. 309/310.

  8. Louis Fischer: a. a. O., S. 327.

  9. a. a. O., S. 327/328.

  10. a. a. O., S. 328.

  11. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR (Herausg.): »Dokumente der Außenpolitik der UdSSR" (russisch), Bd. 5, Moskau 1961, S. 47.

  12. . W. I. Lenin: „ssotschinjenija" («Werke"), 3 Ausg., Bd. 27, Moskau 1937, S. 166.

  13. Bibliothek der Kommunistischen Internationale Nr. 27: «Die Taktik der Kommunistischen Internationale gegen die Offensive des Kapitals", Hamburg 1922, S. 156/157.

  14. a. a. O„ S. 159.

  15. a. a. O., S. 159.

  16. . Leninski Sbornik" (. Lenin-Sammelwerk*), Bd. 36, Moskau 1959, S. 454/455.

  17. Diesen Ausspruch Lenins erwähnte einer der damals besten Kenner der Moskauer Regierungspolitik, der 1921— 29 in Moskau lebende deutsche Journalist Paul Scheffer. Vgl.sein Buch: . Sieben Jahre Sowjetunion“, Leipzig 1930, S. 425. In fast derselben Form erscheint dieser Ausspruch bei H. von Raumer, einem Teilnehmer der deutschen Delegation in Genua, zitiert nach Ludwig Zimmermann: . Deutsche Außenpolitik In der Ära der Weimarer Republik“, Göttingen 1958, S. 117. Dort lautet er: »Verhandelt mit allen, schließt nur mit Deutschland ab.“

  18. Aus Lenins Schrift, veröffentlicht im Juni 1920: «Der . linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus“, abgedruckt bei Lenin: . Ausgewählte Werke in zwei Bänden“, Bd. II, Moskau 1947, S. 705.

  19. a. a. O., S. 700/701.

  20. a.a.O. S. 722

  21. G. Hilger: „Wir und der Kreml". Frankfurt a. M. 1956, S. 33.

  22. a. a. O., S. 72/74.

  23. H. Helbig: a. a. O., S. 44 über die Reichstags-debatten vom 26. bis 28. Juli 1920.

  24. a. a. O., S. 44.

  25. Viscount D'Abernon: „Ein Botschafter an der Zeitwende", Bd. 1, Leipzig o. J., S. 265/266, 329, führt dafür mehrere Gespräche an, die er als britischer Botschafter damals mit deutschen offiziellen Vertretern geführt hatte.

  26. H. Helbig: a. a. O., S. 58.

  27. Vgl. das Gutachten von Seeckts, abgedruckt in . Der Monat*, Berlin, November 1948, S. 44/47.

  28. H. Helbig, a. a. O., S. 57/58.

  29. a. a. O., S. 56.

  30. Die Darstellung folgt der Aufzeichnung des ehemaligen Generalkonsuls M. Schlesinger, die von ihm am 22. Oktober 1955 auf Grund seiner Besprechungen mit Wirth in Freiburg/Breisgau am 26. September und 17. Oktober 1955 gemacht wurde. Indirekte Wiedergabe dieses Berichtes bei H. Helbig: a. a. O., S. 56/57.

  31. Nach der Formulierung von H. Helbig: a. a. O., S. 57.

  32. a. a. O., S. 57.

  33. Viscount D’Abemon: . Ein Botschafter der Zeitenwende*, Bd. 1, Leipzig o. J., S. 279.

  34. H. Helbig: a.a.O. S.67

  35. Viscount D`Ábernon: a.a.O., S. 280/281

  36. H. Helbig: a.a.O. S. 68

  37. Viscount D'Abernon: a. a. O., S. 286.

  38. Viscount D'Abernon: a. a. O., S. 290.

  39. Eine damals einflußreiche und rechtsstehende Zeitung in Frankreich.

  40. Viscount DÀbernon: a.a.O. S. 291

  41. Lenin: „Ssotschinjenija" („Werke”), 3. Ausg., Bd. 25, Moskau 1937, S. 513, 633.

  42. Lenin: „Ausgewählte Werke in 12 Bänden”, Bd. 8, Moskau 1935, S. 296.

  43. H. Helbig: a.a.O., S. 61

  44. Bibliothek der Kommunistischen Internationale Nr. 27: a. a. O., S. 155.

  45. H. Helbig: a. a. O., S. 76/77. Ebenso die sowjetische Quelle vgl. Anmerkung 44d).

  46. H. Helbig: a. a. O., S. 77. Ebenso die sowjetische Quelle, vgl. Anm. 44d).

  47. H. Helbig: a. a. O., S. 79.

  48. a. a. O., S. 81.

  49. a. a. O., S. 80.

  50. a. a. O„ S. 74.

  51. a. a. O., S. 73/74.

  52. a. a. O„ S. 74.

Weitere Inhalte

Anmerkung: Walter Grottian, Dr. rer. pol., Prof, für Ost-politik, Lehrbeauftragter für Osteuropapolitik und Wirtschaft an der Freien Universität Berlin.