Auf dem Evangelischen Kirchentag in München im lahre 1959 charakterisierte ein Sprecher die geistige Situation in Deutschland mit folgenden Worten: „Das geschieht heute in Deutschland: Unsere Kinder werden im Osten und Westen mit verschiedenen Zielen erzogen. Unsere Berufe haben im Osten und Westen verschiedenen Wert. Die Worte haben im Osten und Westen verschiedenen Sinn. Es ist schlimm, daß sich viele stillschweigend damit abfinden". Die beunruhigende Frage, die aus diesen Worten klingt, lautet: Ist aus der jahrelangen erzwungenen äußeren Trennung auch eine innere, geistige und seelische Entfremdung eingetreten, die um so tiefgreifender und dauerhafter wird, je mehr in der heranwachsenden Generation in Mitteldeutschland — auf eine ganz natürliche Weise — das Gefühl der gemeinsamen Volkszugehörigkeit ersetzt oder überdeckt wird durch eine an anderen Werten orientierte Ideologie und ein neues Staatsgefühl, für das das „Vaterland" die „Deutsche Demokratische Republik" ist? Ohne Zweifel erhofft sich das in der Sowjetzone herrschende Regime gerade hieraus die größten Erfolge auf lange Sicht, und man sollte die Bemühungen, die darauf abzielen, keineswegs leicht nehmen. Es liegt auf der Hand, daß der Erziehung und Schule hierbei eine entscheidende Rolle zugemessen wird.
I. Die Etappen der Schulpolitik
Rüdeblickend stellt sich die Entwicklung der mitteldeutschen Schule und Hochschule seit 1945 als das Ergebnis einer Politik dar, die darauf abzielte, das deutsche Erziehungs-und Unterrichtswesen so bald und so stark als möglich an das sowjetische Vorbild anzugleichen. Dabei ist es relativ unerheblich, ob einzelne verantwortliche Kommunisten diesen Weg langsamer gehen wollten als andere oder in manchen Einzelheiten abweichende Lösungen vorschlugen; entscheidend bleibt, daß die mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht ans Ruder gelangten Altkommunisten Schule und Erziehung von vornherein als Instrument für die „Umgestaltung der Gesellschaft“ ansahen und die Pädagogik unter diesen Auftrag stellten. Es ist von heute aus gesehen möglich, schon in den Schulgesetzen der fünf mitteldeutschen Länder von 1946, die die „Demokratisierung der deut-sehen Schule" verkündeten, die Weichen-stellung für die spätere sowjetsozialistische EntWicklung zu erkennen. Schon hier findet sich die globale Verurteilung der gesamten Schultradition als undemokratisch; der neuen Schule wird die Aufgabe gestellt, „handelnde Menschen“ zu erziehen, „die fähig und bereit sind, sich ganz in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes zu stellen". Eine weiter«. — scheinbar nebensächliche — Bemerkung diente künftig als rechtmäßiger Bezugspunkt für alle politisch-ideologischen Zielsetzungen: die Schule wird, heißt es, jedem Kind und Jugendlichen „die seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende vollwertige Ausbildung geben — ausgehend von den gesellschaftlichen Bedürfnissen".
Wir sind heute nach den Erfahrungen mit totalitären Herrschaftssystemen hellhörig geworden bei solchen Formulierungen, aber man würde zahlreichen Lehrern und Mitarbeitern der Schulverwaltung in diesen Jahren 1945 bis 1948 Unrecht tun, wollte man nachträglich Vorwürfe erheben, daß sie die gefährlichen Ansätze hinter den offiziellen Proklamationen nicht erkannt hätten. Die Schulpolitik der Kommunisten war damals bestrebt, die Mitarbeit weiter demokratischer Kreise unter Erziehern und Eltern zu gewinnen, entsprechend der politischen Taktik einer gemeinsamen „antifaschistisch-demokratischen Front". Die Kommunisten in den führenden Verwaltungsstellen, wie vor allem unter den Lehrern, waren noch in der Minderheit; die geistige und schulpolitische Führung erlangten zunächst die bis 1933 aktiven sozialdemokratischen oder mit der Sozialdemokratie symphatisierenden Lehrer, welche den Grundsatz einer „Demokratisierung des Bildungswesens“ bejahten. Überhaupt wurden anfangs die ideellen und personellen Verbindungen zu den Reform-richtungen der Weimarer Zeit bewußt gepflegt; die an den Universitäten aufgenommene pädagogische Forschung und Lehre knüpfte vielfach hieran an.
Niemand unter den Anhängern der ersten Phase der sowjetzonalen Schulpolitik konnte unter den äußerst schwierigen Umständen des Neubeginns die Doppeldeutigkeit und Manipulierbarkeit von Begriffen wie „demokratisch", „humanistisch“ oder „friedliebend“ durchschauen. Es ist interessant und lehrreich — gerade unter dem heutigen Eindrude einer katastrophalen Entfremdung des west-und mitteldeutschen Bildungswesens — in den ersten schulpolitischen Äußerungen, Gesetzen und Verfassungsartikeln der westdeutschen Länder nachzuschlagen: für viele überraschend wird hier eine fast bis in den Wortlaut herrschende Übereinstimmung der Prinzipien sichtbar, von denen sich Erziehung und Schule nach dem deutschen Zusammenbruch leiten lassen sollten, mit eben den Äußerungen aus der Sowjetzone. Es ist bekannt, daß beispielsweise die Schulpolitik der amerikanischen Besatzungsmacht in ihrer sehr prononcierten Demokratisierungsabsicht an eben diesen Traditionen der deutschen Bildungsgeschichte an-knüpfte, wie das in dieser ersten Phase seitens der sowjetischen Besatzungsmacht der Fall war. Es scheint mir wichtig darauf hinzuweisen, um die Ausgangsposition klarzustellen und den Trugschluß zu vermeiden, als ob sofort mit der deutschen Kapitulation im Jahre 1945 die Auseinanderentwicklung des deutschen Bildungswesens begonnen habe. Wenn allerdings heute von kommunistischer Seite gegenüber der Schulentwicklung in Westdeutschland der Vorwurf erhoben wird, sie habe die demokratischen Grundsätze der Ausgangsphase völlig verlassen und sei zur Schule des Imperialismus, der Reaktion und des Militarismus geworden, dann muß man sich auch umgekehrt — unbeschadet der Unhaltbarkeit dieser Behauptung — die Frage gefallen lassen, was denn von den Prinzipien der Reform von 1945 in Mitteldeutschland wirklich übrig-geblieben ist, will man sich nicht nur an leere Worte klammern? Wenn es beispielsweise in der Verfassung der „DDR" von 1949 heißt: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei“ oder „Als Mittlerin der Kultur hat die Schu’e die Aufgabe, die Jugend im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker und einer echten Demokratie zu wahrer Humanität zu erziehen“, so haben wir allen Grund, heute an diese Grundsätze ausdrücklich zu erinnern.
Die Etappe der „demokratischen Schulreform“, welche eine achtjährige gemeinsame Grundschule, die völlige Verstaatlichung des Schulwesens und die eindeutige Trennung von Staat und Kirche im Raume der Schule brachte, wird in der offiziellen kommunistischen Selbstdarstellung jedoch nur als Vorstufe angesehen. In den Thesen der SED vom Januar 1959 heißt es über die nun folgende Entwicklung: „Die zweite Etappe der Entwicklung unseres Schulwesens begann mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik und dem Beschluß über die Durchführung des ersten Fünfjahrplans. Der Aufbau des Sozialismus erforderte den Über-gang von der antifaschistisch-demokratischen zur sozialistischen Schule, d. h. zu einer höheren Qualität im Bildungs-und Erziehungswesen. Die Partei der Arbeiterklasse faßte dazu seit 1950 auf mehreren Parteitagen und Parteikonferenzen richtungweisende Beschlüsse. Die Durchführung dieser Beschlüsse wurde jedoch jahrelang verzögert, weil leitende Mitarbeiter im Volksbildungswesen die sozialistische Perspektive nicht erkannten und die Auffassung vertraten. mit der demokratischen Schulreform sei die Umgestaltung des Schulwesens abgeschlossen. Dadurch entstand ein bedeutender Tempoverlust, besonders in der Entwicklung der Zehnklassenschule und der Einführung des polytechnischen Unterrichts“
Eine ähnliche Entwicklung machten auch die mitteldeutschen Universitäten durch. Anfangs genossen die sechs im Bereich der SBZ liegenden Universitäten (Berlin, Leipzig, Halle-Wittenberg, Jena, Rostode und Greifswald) noch eine relative Freiheit, auch wenn schon früh in der Personalpolitik und in der Studentenschaft der Einfluß der SED und der FDJ an Boden gewann. 1948/49 bringt auch hier einen Einschnitt, der sich auf den vershiedenen Gebieten des Hochschulwesens auswirkte. Drei Beispiele seien herausgegriffen: 1. 1949 wurden die ersten Arbeiter-und Bauernfakultäten an den Universitäten errichtet, die aus Vorstudienanstalten hervorgingen und Jugendlichen aus der „Arbeiter-und Bauernklasse“ mit einer achtjährigen Schulbildung in einem Lehrgang von zwei Jahren die Studienberechtigung verliehen. Die gesellschaftspolitische Zielsetzung, die der Gründung dieser Arbeiter-und Bauernfakultäten zugrunde lag, wird aus einem Artikel der Parteizeitschrift „Einheit“ vom Februar 1948 sichtbar: „Die alte bürgerliche Intelligenz hat als Träger deutscher Kultur völlig versagt. Es wird wahrscheinlich gelingen, sie zu neutralisieren, aber kaum mehr. Es gilt die Gelegenheit zur Schaffung einerneuen werktätigen Intelligenz voll auszunutzen. Die besonderen ökonomischen und politischen Verhältnisse, unter denen wir in der Ostzone leben, bedingen die besonderen Formen des Klassenkampfes. So sind die Universitäten und das gesamte Bildungswesen in unserer Zone zu Brennpunkten des Klassenkampfes geworden.“
II. Die Reform von 1959
Die eben an einigen Beispielen erläuterte Sowjetisierung der mitteldeutschen Schule und Universität wird amtlich als Übergang zur sozialistischen Schule und Hochschule bezeichnet. Anfang des Jahres 1956 taucht diese Bezeichnung für die neue Etappe der Entwicklung auf. Der V. Pädagogische Kongreß in Leipzig im Mai 1956, der die patriotische Erziehung und die polytechnische Bildung als die wichtigsten Aufgaben der Schule verkündete, markiert den Beginn dieser neuen Periode. Sie geht fortan auch zeitlich im wesentlichen parallel mit der gleichzeitigen Entwicklung in der Sowjetunion, wo seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eine grundlegende Schulreform vorbereitet wurde, die Ende 195 8 gesetzlich festgelegt wurde und bis 1964 beendet sein soll. Spätestens seit 1956 ist es daher nicht mehr möglich, die Entwicklung in Mitteldeutschland richtig zu beurteilen, ohne die gleichzeitigen Veränderungen in Sowjetrußland und in den übrigen osteuropäischen Volksdemokratien heranzuziehen. Es läßt sich im einzelnen nachweisen, wie die Reformschritte in der Sowjetzone jeweils einige Monate nach den entsprechenden Maßnahmen in der Sowjetunion vollzogen wurden. Die Veränderungen wurden eingeleitet durch den Beschluß des V. Partei-tages der SED im Juli 1958, der — in wörtlicher Anlehnung an Chruschtschow — verlangte, daß die „Kluft zwischen Schule und Leben, zwischen Theorie und Praxis" überwunden werden müsse. Am 1. September 195 8 begann dann an allen allgemeinbildenden Schulen der SBZ der „Unterrichtstag in der Produktion", mit dem Schuljahr 1959/60 traten ein neuer Stundenplan und neue Lehrpläne für die einzelnen Unterrichtsfächer in Kraft. Noch bevor der Gesetzgeber am 2. Dezember 1959 das Gesetz „Über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik" gebilligt hatte, waren alle entscheidenden Maßnahmen ergriffen worden; die Volkskammer brauchte die von der SED eingeleitete Entwicklung nur noch formell zu sanktionieren. Überblickt man das weite Feld der Neuerungen, die bis zum Jahre 1964 im wesentlichen abgeschlossen sein sollen, so treten als wichtigste Punkte hervor: 1. Die Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht von acht auf zehn Jahre; 2. die Gestaltung dieser zehnjährigen, allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule als Einheitsschule, mit Ausnahme der nach der 8.
Klasse abgezweigten zwölfjährigen Oberschule, die aber offensichtlich eine Randstellung einnehmen soll; 3. die Einschaltung einer beruflichen Ausbildung zwischen Schule und Hochschule. Es heißt im Gesetz (§ 6): „Der Weg von der Oberschule über die Berufsausbildung ist der Hauptweg zur Entwicklung des Fach-und Hochschulnachwuchses“
Will man die durch die Reform des Schul-und Hochschulwesens beabsichtigten Zwecke und die zugrundeliegenden Motive richtig beurteilen, so muß man von mehreren Gesichtspunkten ausgehen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß im Vordergrund der von der Reform erhoffte ökonomische Nutzeffekt steht. In der Schulordnung vom 12. November 1959, die „eine feste Ordnung an den allgemeinbildenden Schulen sichern“ soll, lauten die ersten beiden Sätze: „Die sozialistische Schule hat die Aufgabe, der Jugend ein allseitiges, lebensnahes und anwendungsbereites Wissen zu vermitteln und sie zu aktiven Staatsbürgern zu erziehen. Das ist ein bedeutsamer Beitrag der Schule bei der Verwirklichung des Siebenjahrplanes.“
Damit ist auch der größere Zusammenhang angedeutet, der für alle Schulreformen im Ostblock gilt: sie sind Teil der weitreichenden Wirtschaftspläne, für deren Erfüllung Schule und Erziehung die nötigen Voraussetzungen schaffen sollen. Eng damit verknüpft ist das politische Ziel des Kommunismus, die „kapitalistischen" Länder in den Produktionsziffern einzeln und im Weltmaßstab zu überholen. Llnter diesem Aspekt wird z. B.dem polytechnischen Unterricht die Aufgabe zugeteilt, durch eine praxisverbundene Ausbildung, die frühzeitig beginnen soll, die für das Erreichen der Plan-ziele notwendige Steigerung der Arbeitsproduktivität herbeizuführen. Dasselbe gilt für die Hochschulen. Kennzeichnend für das Ziel der kommunistischen Hochschulpolitik ist der Titel eines Aufsatzes im Novemberheft 1960 der Zeitschrift „Das Hochschulwesen": „Mehr Praktiker schneller an Hochschulen ausbilden“.
Neben diesem ökonomischen Aspekt dürfte ein sozialpolitischer mindestens ebenso bedeutsam sein. Er betrifft die Auswahl-und Zulassungskriterien für eine über die obligatorische Schulpflicht hinausgehende Ausbildung an den Hochschulen und Universitäten. Man könnte zugespitzt sagen, daß das von den Arbeiter-und Bauernfakultäten seit 1949 praktizierte System auf das gesamte Hochschulwesen ausgedehnt worden ist. In den Zulassungsrichtlinien für das Direktstudium vom 10. März 1960 heißt es: „In immer steigendem Maße (müssen) alle befähigten, mit dem Arbeiter-und Bauernstaat verbundenen Werktätigen, insbesondere Arbeiter, werktätige Bauern und deren Kinder, zum Hochschulstudium geführt werden. Die MobilisierungZehntausender Werktätiger zum Studium ist eine große gesellschaftliche Aufgabe“. Der Anteil der genannten Gruppen soll durchschnittlich 60 Prozent der Neuzulassungen betragen. Vorrangig werden zum Studium solche Bewerber zugelassen, „die mehrere Jahre in der sozialistischen Wirtschaft oder in staatlichen und gesellschaftlichen Organen und Einrichtungen erfolgreich gearbeitet haben und deshalb von ihrem Betrieb zum Studium delegiert werden; Bewerber, die den Ehren-dienst in den bewaffneten Organen der Deutschen Demokratischen Republik abgeleistet haben und von ihrer Einheit für ein Studium empfohlen werden."
Das politische Kriterium bei der Auswahl tritt auch darin zutage, daß bei der Empfehlung zum Studium und in den Auswahlkommissionen der Hochschulen politische Instanzen mitwirken (z. B. FDJ, Gewerkschaft). Auch die Einführung des praktischen Jahres für die Abiturienten der zwölfjährigen Oberschule hat deutlich politische Gründe. In der Verordnung vom 17. Oktober 1957 heißt es u. a.: „Das praktische Jahr soll die zukünftigen Studenten stärker mit der Arbeiterklasse verbinden, sie zu hohem Verantwortungsbewußtsein gegenüber unserem Arbeiter-und Bauernstaat erziehen und die Beziehungen zwischen den Hochschulen und den sozialistischen Betrieben enger gestalten. Voraussetzung für die Zulassung der Studienbewerber zum Studium ist, daß sie während des praktischen Jahres durch gute Arbeitsdisziplin und gesellschaftliche Haltung beweisen, daß sie würdig sind, ein Studium in unserem Arbeiter-und Bauerstaat aufzunehmen."
Daneben besitzt aber die „Mobilisierung Zehn-tausender Werktätigen zum Studium" auch einen von der politischen Zielsetzung relativ unabhängigen Aspekt. Es handelt sich auch darum, die Basis der für eine höhere Ausbildung befähigten Kräfte zu erweitern, indem eine Mehrzahl von Wegen zum Hochschulstudium geschaffen wird. Die „Bewerber aus der Produktion" sollen in der Praxis bewährte Menschen sein, denen eine weitere Bildungschance gegeben wird. Vom Staat aus gesehen geht es um eine „höhere Qualifizierung" der Arbeitskräfte — man wird jedoch nicht übersehen dürfen, daß der Anreiz, ja sogar die Pflicht zur Bildung latent vorhandene „Begabungsreserven" zu wecken vermag. Insofern handelt es sich um eine „Ausschöpfung der Talente“ und um die Entwicklung einer „Arbeiterintelligenz", die aus der praktischen Berufswelt kommt und durch die Verbindung von Studium und Berufsarbeit weiterhin in ihr verbleibt.
III. Die polytechnische Bildung
Der Grundgedanke einer Verbindung von „Ausbildung und Produktion“ spricht sich in dem tragenden Begriff der polytechnischen Bildung und Erziehung aus. Er besagt, daß nicht nur der weitere Weg der Jugendlichen nach einem zehnjährigen Schulbesuch in jedem Fall durch die praktische Berufsarbeit führt, sondern daß die Schule selbst von Anfang an und auf allen Stufen diese Verbindung herstellen soll, mehr noch, daß die Durchdringung von Fundamentalbildung und einer an der technisch-industriellen Arbeitswelt orientierten Spezialausbildung zum Unterrichtsprinzip in allen Fächern erhoben wird. Es ist hier nicht möglich, auf die Vielfalt der Probleme einzugehen, die mit der polytechnischen Bildung und Erziehung verbunden sind, und die teils historischer, teils politisch-ökonomischer, teils pädagogischer Art sind. Es genügt darauf hinzuweisen, daß dieses Problem die Schule in der Sowjetunion seit dem Jahre 1917 beschäftigt hat. In der frühsowjetischen Zeit bildete die „Arbeitsschule“ mit dem polytechnischen Unterricht ein Experimentierfeld verschiedener pädagogischer Ideen aus Westeuropa, Nordamerika und Rußland. Heute werden die Dinge weit mehr unter praktischen Gesichtspunkten betrieben. Auch die polytechnische Erziehung wird eindeutig in den Dienst der Erfüllung der Wirtschaftspläne gestellt. In der Sowjetzone gab es eine interessante Entwicklung: anfangs, bis etwa 1953, nahm man kaum Notiz von der polytechnischen Bildung, dann verstand man darunter lediglich die Berücksichtigung technischer und ökonomischer Fragen in den herkömmlichen Fächern, z. B. in Physik, Chemie, und erst seit 1956 wurden praktische Unterrichtsversuche unternommen. Seitdem erweiterte sich die polytechnische Bildung in zwei Richtungen; immer stärker trat die unmittelbare Teilnahme des Schülers am Produktionsprozeß in den Vordergrund, d. h. die praktische Arbeit in der Fabrik, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft; zum anderen übernahm die allgemeinbildende Schule bereits einen Teil der Berufsausbildung. Das Schulgesetz von 1959 erklärte die polytechnische Bildung und Erziehung zum „Grundzug und Bestandteil des Unterrichts und der Erziehung in allen Schuljahren. Im Mittelpunkt des polytechnischen Unterrichts steht in den unteren Klassen der Werkunterricht und von der Klasse 7 ab der Unterricht in der sozialistischen Produktion.“ Für diesen „Unterrichtstag in der Produktion“ wurde ein System von Grundlehrgängen über Metallbearbeitung, Elektrotechnik, Maschinen-kunde und für die ländlichen Schulen — entsprechend abgewandelt — über einzelne Land-wirtschaftszweige ausgearbeitet. In der erweiterten Oberschule erhalten die 16-bis 18jährigen Schüler eine berufliche Grundausbildung, die sie nach dem Abitur zum „Eintritt in die Produktion“ befähigt.
Neben diesen praktischen Zielen besitzt die polytechnische Erziehung aber auch einen ideologischen Aspekt. Die kommunistische Pädagogik sucht im Rückgriff auf Karl Marx nachzuweisen, daß durch die Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit, von geistiger und körperlicher Tätigkeit, der harmonische gesellschaftliche Endzustand, der vollendete Kommunismus erreicht werden wird. In den Worten eines heutigen sowjetzonalen Pädagogen malt sich diese Vision wie folgt aus: „Der allseitig entwickelte kommunistische Mensch wird die wechselnde geistige und körperliche Arbeit als erstes Lebensbedürfnis empfinden. Im Kommunismus kann die Arbeit ihre den Menschen umgestaltende Wirkung voll entfalten und das kollektiv denkende und handelnde, wahrhaft freie Individuum schaffen. Somit wird die klassenlose, geeinte Menschheit in den Stand gesetzt, all ihre Kräfte zur Erforschung und Nutzung der Natur gemeinsam einzusetzen und zu ungeahnten Höhen der menschlichen Entwicklung vorwärtszuschreiten.“
IV. Erziehung zum „sozialistischen Patriotismus
Die „sozialistische Erziehung“ ist der umfassende Begriff für die Prinzipien, Ziele und Methoden der in der SBZ angestrebten und praktizierten Erziehung. Sie hat mehrere Seiten: die politisch-weltanschauliche Schulung, die Erziehung zum Kollektivismus und zur sozialistischen Moral, die Arbeitserziehung und schließlich die Erziehung zum „sozialistischen Patriotismus“. Ihre Träger sind nicht nur die Schulen und Hochschulen; eine mindestens gleichwertige Rolle spielen die Jugendorganisationen der „Jungen Pioniere“ und der FDJ, die verschiedenen „gesellschaftlichen Massenorganisationen“ und in jüngster Zeit auch der „sozialistische Produktionsbetrieb". Schon die Vielzahl der genannten Faktoren zeigt, daß der junge Mensch in ein Geflecht von Erziehungskräften hineingestellt ist, die alle nach denselben Normen auf die Entwicklung der Person einwirken sollen. Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, daß dem Kommunismus der totale Erziehungsstaat vorschwebt; die Pädagogik soll möglichst lückenlos sein und den jungen Menschen von allen Seiten erfassen. Alle erzieherischen Gruppen sind der Idee nach nur Teile des umgreifenden Gesamtkollektivs „Gesellschaft“; da dieses anonyme Gebilde aber von sich aus keine sittlichen Normen schaffen kann, stellt die höchste politische Instanz, die im ZK der Partei verkörperte „kollektive Weisheit" der „Arbeiterklasse“, zugleich das moralische Zentrum dar, von dem aus die Direktiven für die Lebensführung ausgehen. Die von Ulbricht verkündeten „Zehn Gebote sozialistischer Moral“ sind ein solches Beispiel einer gesellschaftlichen Ethik mit umfassendem pädagogischen Anspruch, die sich außerdem eines pseudoreligiösen Gewandes bedient. Am Beispiel der Erziehung zum „sozialistischen Patriotismus“ sollen die hiermit zusammenhängenden Probleme etwas genauer beleuchtet werden. Auf keinem anderen Feld wird die Manipulierung traditioneller Werte und Ideale, ihre Anpassung an die Tagespolitik und das Absinken der Pädagogik zur bloßen Propaganda so sichtbar wie gerade hier. Der Begriff des »demokratischen" und seit 1956 des „sozialistischen Patriotismus“ ist in der zweiten Periode der sowjetzonalen Schulpolitik entstanden. In dem Maße, wie sich die SBZ zu einem eigenen Staatsgebilde konsolidierte, forderte man eine „Erziehung der Jugend zu einem sozialistischen Nationalbewußtsein". Um die gleiche Zeit begann auch in der Geschichtswissenschaft die Wendung zur „nationalen" Geschichtsbetrachtung, indem die „fortschrittlichen nationalen Traditionen“ der deutschen Geschichte besonders gewürdigt werden sollten. Es dürfte bekannt sein, wie man sich seitdem bemüht, große Gestalten der deutschen Geschichte, wie Stein und Schamhorst, aber auch Goethe und Schiller, mit den aktuellen Zielen des Staates in Verbindung zu setzen und sie als Vorläufer und Vorkämpfer des „sozialistischen Humanismus“ zu deklarieren. Diese Versuche könnte man als lächerlich abtun, wenn nicht dahinter etwas sehr Wichtiges sichtbar würde, was gerade auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Schulreform von Bedeutung ist: man sucht die Neuordnung des Schulwesens darzustellen als die endliche Erfüllung eines jahrhundertealten Sehnens der besten Geister der Vergangenheit und sich damit bewußt von der Geschichte her zu legitimieren. Mit höchstem Pathos verkündete Grotewohl vor der Volkskammer: „In unser sozialistisches Volksbildungswesen münden gleichsam die Ströme besten humanistischen Geistes und pädagogischen Wollens ein und werden aus einem edlen Traum der Vergangenheit zu einer lebendigen Wirklichkeit der Gegenwart und der Zukunft. Wir erfüllen damit das Vermächtnis der großen Pädagogen der Menschheit wie Comenius, Pestalozzi, Fröbel, Diesterweg, aber auch wie Goethe, Schiller, Herder und Humboldt.“
Solche Worte sind natürlich in erster Linie für festliche Staatsakte gedacht, aber aus ihnen spricht auch der Anspruch, einzig rechtmäßiger Repräsentant der deutschen Kultur, des deutschen Bildungserbes, deutschen Geistes zu sein.
Das neue Geschichtsbild erfüllt somit eine doppelte Funktion: die Bevölkerung und die Jugend Mitteldeutschlands soll die „DDR“
nicht als ein Provisorium, sondern als den von der Geschichte her einzig legitimen Staat ansehen. Daraus folgt der Appell an ein neues Staatsgefühl und an die Bereitschaft zur Verteidigung. Nach außen hin soll dieses Geschichtsbild den Anspruch auf ganz Deutschland begründen. Durch die nationalen Töne sollen ähnliche Emotionen in Westdeutschland geweckt werden, die sich dann gegen die demokratische Ordnung in der Bundesrepublik wenden. Gerade durch die jüngsten politischen Ereignisse um den
Diese Sätze sprechen für sich. Unüberhörbar ist der Anspruch der SED auf ganz Deutschland; auf diesem Hintergrund muß auch die neue Forderung einer „Erziehung zum bewaffneten Frieden" gesehen werden. Damit wird die in der Verfassung der „DDR“ (Art. 37) verankerte Erziehung der Jugend „im Geiste des friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker" als nicht mehr zeitgemäß verabschiedet. Neuner erklärte: „Eine solche allgemeine Friedenserziehung ist untauglich. Sie muß ersetzt werden durch die Erziehung zum bewaffneten Frieden, zur leidenschaftlichen Parteinahme, zur Bereitschaft und zur Fähigkeit, die Sache des Friedens und des Sozialismus zu verteidigen, auch mit der Waffe in der Hand“.
V. Die Politisierung der Erziehung nach dem 13. August 1961
'Der 13. August 1961 brachte auch für zahlreiche Eltern, Lehrer, Schüler und Studenten in der SBZ einen tiefgreifenden Einschnitt. Verfolgt man die Verlautbarungen der Partei-und Staats-funktionäre und die Berichte in den Zeitungen und Zeitschriften der Sowjetzone, dann wird deutlich, daß sich nach dem 13. August eine neue Welle der Politisierung über Schule und Erziehung ergießt, die alle bisherigen Maßnahmen in den Schatten stellt. Es scheint, als ob der 13. August und die durch ihn herbeigeführte Isolierung der SBZ den Verantwortlichen den schon lange erwünschten Ausweg aus der Krise der kommunistischen Erzieh ungspolitik in Mitteldeutschland eröffnet hat.
Diese Krise wurde von der SED selbst zugegeben; das Kommunique des Politbüros zu Problemen der Jugend vom Februar 1961 und die gelenkte Diskussion um den sogenannten „KarinBrief" enthüllten, daß „bei jungen Menschen viele Fragen und sogar Konflikte entstehen", die aus dem Widerspruch von Propaganda und Wirklichkeit, aus dem Zwang zur Verstellung, dem Opportunismus und dem mangelnden Vertrauen der Jugend in die „Perspektive des Sozialismus" erwuchsen. Wie schrieb doch die vier-zehnjährige Oberschülerin Karin? „Ich habe es jetzt satt, immer diese Komödie mitzuspielen.
Ich rede in der Schule anders als zu Hause und bei der mir befreundeten Familie wieder ganz anders. Es ist niemand da, der mir hilft, der mir einen Halt gibt.“
Nach dem 13. August fand diese „weiche Linie“
ein abruptes Ende. Fast über Nacht wurden andere Töne angeschlagen, drohender, radikaler, fanatischer. So forderte beispielsweise der schon erwähnte Gerhart Neuner „offensive Auseinandersetzungen im Schülerkollektiv", die „schädliche Elemente" aufdecken sollten. Man müsse „kämpferische Auseinandersetzungen unter den Schülern organisieren, Ordnung in den Köpfen schaffen und klare Verhältnisse in den Schulen" herbeiführen. An zahlreichen Einzelbeispielen ließe sich zeigen, was das in der Praxis der Schulen und Hochschulen bedeutet. Einen Höhepunkt erreichte die politische Kampagne in dem „Kampf gegen das Westfunkhören und Westfernsehen". In einer zentral gesteuerten Aktion, die sich von Ost-Berlin auf die gesamte Zone ausdehnte, wurden die Schulleitungen, Pädagogischen Räte und die Eltern aufgefordert, den Empfang westdeutscher Rundfunk-und Fernseh
Sendungen zu verbieten. Typisch ist der folgende Beschluß des Pädagogischen Rates der Kant-Schule in Berlin-Lichtenberg, der von der „Deutschen Lehrerzeitung" (Nr. 3 8/1961) als Vorbild für andere Schulen veröffentlicht wurde: „ 1. Es ist allen Schülern untersagt, westliche Rundfunk-und Fernsehsendungen zu empfangen und ihre Hetze zu verbreiten. Verstöße gegen diese Festlegung werden mit den in der Schulordnung § 34 festgelegten Maßnahmen bestraft. 2. Die Erziehungspflichtigen haben alle schädlichen, die sozialistische Entwicklung hemmenden Einflüsse, wie zum Beispiel den Empfang des Westfunks und Westfernsehens, von ihren Kindern fernzuhalten und die Lehrer bei der Verwirklichung dieses Beschlusses tatkräftig zu unterstützen.“
Zielscheibe der politischen Angriffe ist — wie schon so oft in der Vergangenheit — in erster Linie die zwölfklassige Oberschule, deren Lehrer und Schüler das Mißtrauen der SED am stärksten zu spüren bekommen. Ulbricht selbst erklärte noch Ende November 1961: „An einigen Schulen kam es zu direkten Provokationen gegen die Arbeiter-und-Bauern-Macht. Der Gegner ist bestrebt, seine Ideologie verstärkt an diesen Schulen zu verbreiten und Zersetzungsarbeit zu organisieren.“
Man braucht nicht zu schildern, welche Folgen eine derartige Atmosphäre des Mißtrauens, des Hasses, der offenen Unterdrückung für die Erziehungs-und Bildungsarbeit der Schule nach sich ziehen muß. Die radikale Politisierung des Unterrichts und der Erziehung ist der Tod jeder auf natürlicher Achtung und Vertrauen, auf echter geistiger Gemeinsamkeit beruhenden Pädagogik. Wir wissen, wieviele Menschen sich diesen deprimierenden Verhältnissen durch die Flucht entzogen haben. Zwischen 1954 und 1961 haben allein 3 877 Lehrer und 769 Hochschullehrer in der Bundesrepublik die Aufnahme als Flüchtling beantragt. Trotzdem gelingt es vielen Pädagogen unter den schwierigsten Bedingungen immer noch, den klein gewordenen Raum für eine Erziehung zu bewahren und zu nutzen, die nicht blindlings den staatlichen Direktiven folgt und die Schule zum Kampfplatz der Ideologien verfälscht — das sollte man auf keinen Fall vergessen.
VI. Heranbildung eines „neuen Menschen'?
Wird es der kommunistischen Pädagogik in der SBZ gelingen, den Menschen nach ihrem Leitbild umzuformen? Es besteht kein Zweifel, daß dies die entscheidende Frage ist, die sich aus den bisherigen Betrachtungen aufdrängt. Würde es nach den Absichten der Machthaber in der Sowjetzone gehen, dann würden wir es in zehn oder zwanzig Jahren mit Menschen zu tun haben, die zwar die deutsche Sprache sprechen — wenn auch durchsetzt mit Sowjetismen —, die aber in ihrer geistigen Haltung und seelischen Verfassung mit der überwiegenden Mehrheit des Volkes weniger gemein haben als mit den Menschen in Sowjetrußland oder China. Eine restlose Erfüllung der kommunistischen Erziehungsabsichten würde die betroffenen Menschen selbst so umgestalten, daß sie den Verlust der persönlichen Freiheit gar nicht mehr empfinden, weil sie sie gar nicht mehr kannten.
Eine Antwort auf diese Frage kann vielleicht erleichtert werden durch den Hinweis auf ein naheliegendes Erfahrungsbeispiel: In der über vierzigjährigen Geschichte Sowjetrußlands ist es dem Kommunismus offensichtlich bis heute nicht gelungen, einen „neuen Menschen“ heranzubilden, der alle diejenigen Eigenschaften besitzt, welche die kommunistische Ideologie von ihm verlangt, und der völlig von der Gesellschaft absorbiert ist. Der Grund hierfür mag darin liegen, daß der Mensch ein zur Freiheit aufgerufenes Wesen ist, daß seine Seele nicht beliebig manipulierbar ist, daß alle Beeinflussung von außen ihre Grenze finden kann an dem innersten Kern der Person. Es ließe sich im einzelnen sehr wohl abwägen, welche neuen Züge die heranwachsende Generation im anderen Teil Deutschlands aufweist oder künftig aufweisen wird, in welchen Lebensbereichen tatsächlich eine innere Entfremdung eintritt, welche sozialen Lebensformen neu entstehen und auf den Menschen wirken; dies alles braucht noch nicht an die Wurzel heranzureichen. Das mag nur ein geringer Trost sein, mehr Hoffnung als Gewißheit — aber wenn uns die Politik kaum eine Aussicht und Hoffnung zu bieten vermag, dann bleibt uns das Vertrauen auf den Menschen.